Charles Baudelaire – 200. Geburtstag.

Ein Poet – auch des Religiösen?

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Warum an Charles Baudelaire erinnern? Sein 200. Geburtstag am 9. April 2021 ist ein willkommener Anlass, an ihn zu denken, sein Werk zu lesen, auch als einen Zeugen des religiösen Umbruchs, der vom 19. Jahrhundert aus bis heute bestimmend ist. (Baudelaire ist am 31. August 1867in Paris im Alter von 46 Jahren gestorben).
Baudelaire ist ein Meister der Poesie, seine Worte überraschen, führen ins Fragen, stören und verstören. Er spricht von der Transzendenz, von Gott, aber nicht nur von einem guten Gott. Der göttliche Tyrann ist ihm genauso nahe wie das Böse. Baudelaire erlebt, wie Bindungen an die herrschende katholische Religion schwinden und eine neue spirituelle Pluralität entsteht
Er ist ein Poet der Widersprüche, auch in seiner politischen Haltung. Den Aufstand der Arbeiter im Juni 1848 unterstütze er, den erzreaktionären Autor und Politiker Joseph de Maistre respektierte er.
Dass die Poesie eigenständig ist und sich nicht unmittelbar einem Zweck zur Verfügung stellen darf, ist seine bleibende Einsicht.
Als Poet erlebt er radikal die sozialen Umbrüche in seinem 19. Jahrhundert. Er ist erschüttert über den radikalen Umbau von Paris, er sieht, was die Herrschaftsarchitektur (von Haussmann betrieben) anrichtet, also auch das Vertreiben der Armen aus dem Zentrum der Metropole.
In seiner Poesie will er nichts „Fremdes“ wiedergeben, sondern nur die eigenen inneren Erfahrungen zu Wort bringen. Seine Gedichte (auch seine „Poesie als Prosa“) finden kaum Zustimmung, werden als Skandal empfunden von einer sich moralisch korrekt fühlenden „Elite“.
Baudelaire lebt also in einem Moment spiritueller wie politischer Konfrontationen. Es ist ein Pluralismus, den manche als Durcheinander der Orientierungslosigkeit deuten. Das Negative, Belastende, Ausweglose, Ungewisse beherrscht das Lebensgefühl. Den Zustand der Gegenwart, die von den Herrschern als gut und von Gott gewollt ausgegeben wird, ist auch für ihn nur eine systematische Form der Unterdrückung.

2.
Charles Baudelaires Vater Joseph-Francois Baudelaire war katholischer Priester (geb. 1759, gestorben 1827), aber schon während der Revolution gab er im Jahr 1793 sein Priesteramt auf. Der Sohn wird in katholischen Schulen und Internaten erzogen. Dort ist die Prügelstrafe noch üblich, Baudelaire hat den damals unverschämten Mut, sich dagegen öffentlich zu wehren. Das Zusammenleben der Menschen, von Gewalt geprägt, erlebt er als krankhaft, pathologisch.

3.
In dieser Welt muss Baudelaire als Poet leben. Er gerät in finanzielle Abhängigkeit, weil Lyrik, Dichtung, Literatur ins Feuilleton der Zeitungen verwiesen werden und damit dem launischen Geschmack der Massen ausgesetzt sind. Was der Masse nicht passt, wird eben nicht gedruckt…

4.
Als Poet will er zeigen, wie dann „mitten im Schmutz“ auch die Blumen, das Schöne, entstehen kann. In einem seiner Gedichte (Epiloge der „Blumen des Bösen“) sagt Baudelaire (wie in einem Anklang an Alchemie?) über Paris: „Tu m` a donné ta boue, j en ai fait de l or“ („Du hast mir deinen Dreck gegeben, ich habe daraus Gold gemacht“). Er muss zum Hässlichen Stellung nehmen, es aussagen, erst dann kann die Überwindung des Hässlichen, des Negativen, eventuell gelingen. Baudelaire opponiert gegen das Bestehende. Schönheit als solche kann er selbst vor allem in der Musik und der Malerei erleben.

5.
Das Hauptwerk Baudelaires ist ein Gedichtband mit dem bezeichnenden Titel „Les fleurs du mal“, „Die Blumen des Bösen“, das Werk ist in drei Fassungen zwischen 1857 (1.100 Exemplare) und 1868 erschienen. Es enthält etwa 100 Gedichte, und es war schon im Moment des Erscheinens hoch umstritten: Dem Autor wurde von dem insgesamt reaktionären Regime Napoléons III. die Missachtung der Moral und die Gotteslästerung vorgeworfen, sechs Gedichte wurden als besonders anstößig empfunden und durften nicht publiziert werden.
„Die Blumen des Bösen“ sind das poetische Hauptwerk, ein Durchbruch für die französische Poesie insgesamt. Inhaltlich geht es in den Gedichten auch um die seelischen Erfahrungen des Menschen in der großen Stadt. Wie lebt der Mensch, der sich inmitten der Massen langweilt und am Leben leidet, im Erleben des Bösen. Auswege sucht Baudelaire selbst im Rausch durch Opium und Haschisch und Alkohol… mit Geld kann er nicht gut umgehen. Diese Unfähigkeit gilt in der Zeit der „moralischen, kirchlichen Ordnung“ als eines der schlimmsten Übel, das bestraft werden muss. Schon 1844, als Baudelaire erst 23 Jahre alt, leitet tatsächlich die eigene Mutter (inzwischen als Madame Aupick mit einem Major verheiratet) das Entmündigungsverfahren gegen ihren Sohn ein, am 21.9.1844 erhält Baudelaire einen Vormund, Maitre Ancelle.

6.
Er lebt in einer Epoche, die zunächst von Louis Philippe, dann in einer kurzen Phase einer liberalen Republik (1848), danach aber von dem sehr konservativen und dem Klerus ergebenen Regime Napoléons III. bestimmt ist. Es ist eine Zeit, in der es kleine Kreise „liberaler Katholiken“ (Lamennais, Montalambert, Lacordaire) gibt, sogar christliche Sozialisten (Philippe Buchez). Aber im Ganzen lassen sich der Adel und die „braven Bürger“ (nicht die Republikaner, nicht die Arbeiter, nicht die Armen) von der starren, auf Prinzipien und Dogmen bedachten Katholischen Kirche (wenigstens nach außen hin) bestimmen. Oder sie benutzen diese Dogmen als Stütze der eigenen politischen Ideologie, die monarchistisch, reaktionär und antisemitisch ist.
Für Baudelaire ist religiöser Glaube auch eine Frage der Ästhetik. Kunst wird für ihn etwas Heiliges!

7.
Etwa 50 Gedichte in den „Blumen des Bösen“ haben Anklänge an religiöse Themen. Über die religiöse Bindung Baudelaires ist vieles Unterschiedliche publiziert worden. Der Literaturkritiker und Theologe im Dominikanerorden, Pater Jean Pierre Jossua, (Paris), hat darüber einen ausführlichen Bericht geschrieben ( Quelques interprétations de la religion de Baudelaire | Cairn.info)
Ein „definitives“ Urteil, welche Bedeutung der christliche Glaube für Baudelaire hatte, wird kaum möglich sein, dazu sind dessen entsprechende Äußerungen zu vielfältig und zum Teil doppeldeutig, wenn nicht widersprüchlich. Aber auch dies ist zunächst kein Mangel, sondern ein Beweis dafür, wie tief Baudelaire dem religiösen Suchen und Zweifeln in seiner Zeit verhaftet ist.
Das kann man auch beobachten an seiner Tendenz zu einem gewissen Satanismus. Als große List Satans nannte er dessen Fähigkeit, den Menschen glauben zu machen, dass es ihn, den Satan nicht gebe. Baudelaire dachte, es gebe einen ewigen Kampf zwischen Gott und dem Satan. Aber vielleicht war das auch nur Phantasie? Da war sich Baudelaire nicht sicher.

8.
Jean Pierre Jossua meint in einer Art vorsichtigen Gesamteinschätzung: Baudelaire sei schon aufgrund seiner Herkunft und Bildung auf betont eigene Weise christlich gewesen: In seinen letzten Gesprächen mit dem Freidenker Nadar sei er noch für den Glauben an Gott eingetreten. Und auch Beten sei ihm immer wichtig gewesen, freilich in der Form einer individuellen frommen Poesie. Was das Christentums ihm doch bedeutet, bringt Baudelaire noch einmal zur Sprache in dem Gedicht „Mon coeur mis à nu“, das erst 20 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurde.
Darin bekennt Baudelaire, dass er an jedem Morgen sich im Gebet Gott zuwendet, der für ihn eine Art Reservoir aller Kraft und aller Gerechtigkeit ist. Aber, so sagt Baudelaire in der ihm eigenen Spiritualität, er wende sich im Gebet auch seinem verstorbenen Vater, dann auch Mariette (dem guten Dienstmädchen aus der Kindheit) und dem Dichter Edgar Allan Poe zu, und er meint sie als Fürsprecher bei Gott. (siehe: https://fr.wikisource.org/wiki/Page:Baudelaire_-_%C5%92uvres_posthumes_1908.djvu/139)

9.
Jean-Pierre Jossua ist überzeugt: Der christliche Gedanke an eine Erlösung war Baudelaire sicher fremd und die Erfahrung der Macht des Bösen wohl zu stark. Sie wurde verstärkt durch den Augustinismus und Pessimismus des reaktionären Autors von Joseph de Maistre. Über die Bindungen an reaktionäres politisches Denken wäre eigens kritisch zu sprechen.

10.
Trotz aller Spannungen der widersprüchlichen Person Baudelaire gehört sein Werk als Anregung in unsere heutige Zeit, weil er dadurch typisch ist, dass er auf die religiösen Umbrüche in einer Art subjektiven Sensibilität immer wieder irritierend reagierte. Als Mensch des 19. Jahrhunderts gehört er insofern auf seine Art auch in eine Reihe mit Nietzsche oder dem ganz anderen, dem prophetischen Karl Marx. Baudelaire hat auf seine Art die Menschen der Moderne erinnert, dass der damals schon allgemeine Glaube des Materialismus tödlich ist für Geist und Seele. Für Yves Bonnefoy, den kürzlich verstorbenen Poeten und Baudelaire Kenner, steht fest: Die Poesie Baudelaires kann wirksam auf das menschliche Verlangen antworten, das Gefühl für die Transzendenz zu bewahren, dies gilt auch, wenn man annimmt: Gott ist tot. (Vgl. Yves Bonnefoy, Le siècle de Baudelaire, Ed. Du Seuil, Paris 2014.)

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Über die Unendlichkeit. Zum neuen Film von Roy Andersson.

Zugleich auch Hinweise zum Unendlichen, das die Endlichkeit und das Endliche in sich umfasst. Inspiriert von Hegel und (am Schluss) mit einem Zitat des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy.

Von Christian Modehn, zuerst publiziert am 21.9.2020.  Überarbeitet publiziert am 29.3.2021. Und noch einmal ergänzt am 4.4.2024.

1.
Der neueste Film von Roy Andersson „Über die Unendlichkeit“ liegt nun endlich als DVD, auch auf Deutsch, vor. Und er kann in der ARTE Mediathek bis zum 9.4.2024 betrachtet werden. LINK !!!  Betrachten ist der treffende Ausdruck.

Andersson zeigt wie in früheren Filmen wieder Denk-Bilder, vielfältige Szenen, die ins Philosophieren führen. Ein großartiger, gelungener Versuch! Denkbilder entstehen nur, wenn die Bilder wirklich stehen, wenn keine Schnitte geschehen, wenn alles oder das meiste ruht, sich darbietet zum Schauen, Betrachten und Verweilen. Und diese Bilder Anderssons prägen sich dem Gedächtnis ein, so werden sie Denkbilder über die man nach dem mehrfachen Betrachten wieder …dnekt. Und man schaut dann wütend auf die Flut der rasanten Schnitte der schnellsten action, die uns heute in den meisten Filmen das Zuschauen verderben.

2.
Der Titel “Über die Unendlichkeit” lässt keinen Zweifel, dass es Andresson entschieden um die Frage nach dem Ewigen, dem Göttlichen und vielleicht Gott geht. Die Fragen nach einem echten, freundlichen Leben in Achtsamkeit und Solidarität führt ja bekanntlich als ethische Frage ins Religiöse. Ein lutherischer Pfarrer hat in dem Film ein Problem: “Wenn man den Glauben verloren hat, was kann man dann noch tun?” fragt der Pfarrer, als er Hilfe bei einem hilflosen Psychiater sucht. Wenn er in seiner Not am Ende der Sprechstunde erneut Beratung sucht, wird er rausgeschmissen. Der Arzt darf seinen Bus nicht verpassen…

3.
Die vielfältigen Bilder werden durch eine Kommentatorin eingeleitet, die OFF-Stimme beginnt immer mit den Worten: “Ich sah … einen Mann”…bzw. “Ich sah … eine Frau”. Wer das Neue Testament kennt, wird dabei sehr deutlich an das Buch “Apokalypse des Johannes” (Offenbarung des Johannes) erinnert. Die allermeisten Kapitel dieses biblischen Buches werden mit den Worten “Und ich sah…” eingeleitet.

Andersson bindet seinen Film also an apokalyptische Erfahrungen. Das macht die eindrucksvolle Szene am Anfang deutlich, in der ein eng umschlungenes Liebespaar über die zerstörte Stadt Köln schwebt. Die Zerstörung erscheint total, sie ist in gewisser unendlich: Unendlich wird die Ruinenlandschaft jetzt (April 2024) auch in Gaza, auch in der russisch besetzten Ukraine, auch in den endlosen Elendshütten Haitis und so weiter.

Man denke auch an die lange ruhige Einstellung in dem Film, die Gefangene zeigt auf dem Weg ins Straflager Sibiriens. Da sagt der Geist des Zuschauers: So viel Erniedrigung darf und soll nicht sein. Es wächst förmlich von selbst die Sehnsucht nach einer guten, humanen Unendlichkeit.

Das Ewige und Bleibende wird sozusagen naturwissenschaftlich angesprochen in einem Bild: Studenten unterhalten sich über die Gesetze der Thermodynamik, über das (ewige?) Erhaltenbleiben der Energie…Die Studentin möchte dann lieber als Tomate denn als Kartoffel nach Millionen Jahren wieder auftreten, auf Witz und Ironie kann Roy Andersson niemals verzichten.

4.
Der Film ermuntert natürlich, philosophisch weiter über das Unendliche nachzudenken. Bei dem Thema kann ich auf Hinweise zu Hegel nicht verzichten. Hegel ist DER Denker des Verbundenseins von Endlichem und Unendlichem.

5.
Zum Phänomen des Endlichen: Das Endliche ist das Geschaffene, Begrenzte, Sterbliche, Zerstörbare, auf andere Verwiesene und von Anderen Abhängige. Der Mensch fühlt sich manchmal autonom; dabei weiß der endliche Mensch, dass er nicht aus eigener Kraft entstanden ist, dass er etwa die körperlichen Funktionen im eigenen Leib nicht wirklich selbst bestimmen und steuern kann, dass er nicht nur nicht sein Geborenwerden bestimmt hat noch – wahrscheinlich – die Stunde des eigenen Sterbens kennen wird.
Menschliche Autonomie gibt es, „Gott sei Dank“, aber sie ist doch sehr begrenzt. Und dennoch erleben wir und wissen wir endliche Wesen manchmal, dass wir über das Endliche hinausreichen, in einer Art geistigen Dynamik, die uns Grenzen und Begrenzungen, also Endliches, überschreiten lässt.

6.
Schon in der „Differenzschrift“ Hegels, verfasst in jungen Jahren, 1801 in Jena, geht es in dem ersten Kapitel um die Überwindung des üblichen „alltäglich geglaubten“ Gegeneinanders von Endlichem und Unendlichem, ein Thema, das Hegel sein ganzes Leben beschäftigt. In der „Differenzschrift“ heißt es (zitiert nach der Suhrkamp Ausgabe, Band 2, Seite 21): “Das Unendliche, insofern es dem Endlichen entgegengesetzt wird, …drückt für sich nur das Negieren des Endlichen aus“.
Damit will Hegel sagen: Ein Unendliches, das sich nur im permanenten Negieren des Endlichen zeigt, ist das, wie er sagt, „unwahre Unendliche“. Wie kommt Hegel zu dieser Erkenntnis?

Wir überscheiten im Denken (und Handeln) ständig das Endliche, „negieren“ es, schreiten von einem Endlichen zum nächsten Endlichen, das wir dann auch wieder als Endliches überwinden. Das ist gerade in den Naturwissenschaften ein normaler Vorgang, der grenzenlos erscheinende, deswegen unendlich genannte Weg von einem Endlichen zum anderen.
Wie auf einer Linie ohne Ende schreitet förmlich das Denken von einem zum anderen, dem dann meist besser Erkannten. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie erleben wir, wie die Forschung sich langsam von einer Erkenntnis zu nächsten vortastet. Diese Forschung ist, indem sie immer alte endliche Erkenntnisse negiert, ein unendlicher Prozess, und es ist gut, dass ihn Forscher betreiben.

7.
Aber ist dieser unendliche Weg der Überwindung einer Endlichkeit zu einer anderen Endlichkeit schon eine Erfahrung der Unendlichkeit? Ist Unendlichkeit Grenzenlosigkeit auf einer horizontalen Linie, auf der wir von einer endlichen Erfahrung zur nächsten gehen?
Hegel sagt dazu entschieden Nein, so sehr er auch die oben beschriebene Forschung als Fortgang von einem Endlichen zum nächsten schätzt und für notwendig hält.

8.
Die wahre Unendlichkeit zeigt sich erst, wenn der Mensch in seinem Geist diese gerade beschriebene ständige Überwindung des Endlichen noch einmal reflektiert und fragt, wie ist sie eigentlich möglich? Welche innere geistige Kraft treibt mich über jedes Endliche hinweg zum nächsten Endlichen?
Und dabei wird entdeckt: Es lebt eine Kraft im menschlichen Geist, die diese Dynamik des Lebens im Endlichen (auch im Forschen des Endlichen) sozusagen ständig belebt und ermöglicht. Schon 1801 in der genannten „Differenzschrift“ (S. 25) schreibt Hegel: „Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, das Endliche IN das Unendliche als Leben zu setzen“.
Das heißt: Das Endliche, also auch der Mensch, ist in das Unendliche hineingesetzt, als Bedingung der Möglichkeit seines geistigen Lebens.

9.
Das wahre Unendliche im Sinne Hegels ist die im Inneren des menschlichen Geistes anwesende, sozusagen „vertikal“ ins Innere gelagerte Unendlichkeit, dies ist für Hegel der unendliche Geist, man könnte im Sinne Hegels sagen: Das Göttliche, Gott.
Diese Erkenntnis mag für einige heute ungewöhnlich sein:
Hegel betont: Es ist die Anwesenheit des unendlichen Geistes (als des Geistes des Unendlichen, also Gottes), die das geistvolle Leben, dieses ständige Suchen nach dem Unendlichen ermöglicht. DIESE Unendlichkeit drückt sich in der Wirklichkeit aus, wenn der Mensch, künstlerisch, schöpferisch tätig ist, voller Phantasie, die den Alltag überschreitet. Der Mensch formt sich dann auch Religionen, schafft sich in bunten Erzählungen die heiligen Schriften (Bibel, Koran usw.). Der endliche Mensch liebt den und die anderen, dabei schwingt er manchmal aus sich heraus; er steigert sein Selbstgefühl.

10.
Der Mensch ist das transzendierende, d.h. die eigene Endlichkeit überschreitende Wesen.

Das (schöpferische) Unendliche umfängt förmlich als innere Struktur im Endlichen das Endliche, ohne dieses in seiner Freiheit und Tätigkeit einzuschränken. So wird das Endliche, also der endliche Mensch, nicht nur zum Überschreiten jeglicher Endlichkeit aufgefordert. Das Endliche weiß zudem, dass er gleichzeitig mit dem unendlichen Geist verbunden ist. So gibt es also eine wahre Einheit von Endlichem und Unendlichem.

11.
Was hat das alles mit dem Film „Über die Unendlichkeit“ zu tun? Die vielen Beispiele des Verstricktseins in die Endlichkeit, in das Leiden der Menschen, werden wenigstens gedanklich versöhnt, weil im Nein zu diesen endlichen Situationen ein Licht der Anwesenheit des Unendlichen aufleuchtet. Dieses Licht bleibt, es kann von Menschen übersehen, totgeschwiegen, aber nicht „abgeschaltet“ werden. Der Geist lässt sich nicht töten!
Diese Erfahrung der wahren Unendlichkeit inmitten des (Schreckens des) Endlichen kann man ein Aufleuchten von Transzendenz nennen.
Insofern ist der neue Film von Roy Andersson „Von der Unendlichkeit“ nicht nur ein philosophischer, sondern ein leiser Film schwacher religiöser Sehnsucht.
Aber diese Sehnsucht nach dem Unendlichen ist nicht ein Spleen, schon gar nicht ein Wahn, diese Sehnsucht ist vielmehr selbst „geistgewirkt“, sie weckt eine begründete Hoffnung, nicht in der Endlichkeit zu versinken.

12.
Das ist der praktische Sinn, wenn Hegel auf die wahre Unendlichkeit hinweist: Die unwahre, also die bloß horizontale und immer endliche Unendlichkeit bleibt ja bestehen, und sie muss zum Beispiel als Gestalt der endlosen Forschung bestehen bleiben.

Aber erst wenn auch die wahre Unendlichkeit erkannt und bewusst erlebt wird, auch als die innere Ermöglichung der endlosen, horizontalen Unendlichkeit, findet der menschliche Geist seine Erfüllung. Man möchte sagen seine seelische Harmonie und lebendige Beruhigung, ja auch dies: seinen Frieden, trotz aller Katastrophen, die nun einmal in den vielen Endlichkeiten auftreten.

Ein Zitat von Jean-Luc Nancy:Wir sind unendlich. Unendlich sein heißt nicht, unendlich lange zu leben. Es heißt, dass es etwas in uns gibt, was nicht von der Zeit abhängig ist. Etwas, das über die Zeiten trägt, das uns nicht auf unsere kurze Lebenszeit reduzieren lässt“. (Aus einem Gespräch, das Michael Magercord mit Jean-Luc Nancy geführt hat).

Es lohnt sich, beim zweiten oder dritten Mal des Betrachtens dieses Film von Roy Andersson LINK (wikipedia) eigens und genau auf die wunderbare Musik zu achten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ein Buchtipp zur Pariser Commune und ein Hinweis auf Bismarcks Beitrag, die Commune zu zerschlagen

Von Christian Modehn

1.
In Frankreich sind zahlreiche neue Studien zur Pariser Commune erschienen, meines Wissens aber keine Arbeiten, die speziell das Thema „Pariser Commune und die Kirche“ diskutieren.
Ich möchte auf einen umfangreichen Band hinweisen, der unter dem Titel „La Commune de 1871 – une relecture“ im Verlag Creaphiseditions 2019 veröffentlicht wurde (sous la direction Marc César et Laure Godineau).
Im Vorwort wird etwa daran erinnert, dass im Jahr 2016, zum 145. Jahrestag der Commune, der Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon ausdrücklich an die Commune erinnert hatte, in einer symbolischen „Eroberung“ des „Platzes der Republik“ in Paris am 18.März.

2.
Unter den zahlreichen Aufsätzen spricht Laurent Le Gall von den Spuren der Pariser Commune im Département Morbihan in der Bretagne unter dem Titel „Le silence et la peur“, „Das Schweigen und die Angst“ (S. 115 ff.):
In der Zeitschrift „La Semaine religieuse du diocèse de Vannes“ wird Ende Mai und Anfang Juni 1871 von der „blutigen Woche“ in Paris sehr ausführlich berichtet bzw. polemisch kommentiert, immer „gegen die aufständischen und gotteslästerlichen Communarden“ (S. 117). Es wurde, schreibt der Autor, ein Bruch konstruiert zwischen „den Leuten da“, also den gotteslästerlichen und anarchistischen Communarden UND den „hier Geborenen, den Frommen, also denen, die die Gesetze gehorsam beachten“.
Diese Zeitung des Bischofs spricht von einer „grauenhaften Komödie“, die sich in Paris – wegen der Commune – abspielt“. Dieses Blatt diente dem Klerus in der Bretagne als Vorlage für die Sonntagspredigten. Diese Ideen fanden also weite Verbreitung. Manche Leser sahen nach der Lektüre der Zeitung „Anzeichen einer Apokalypse, die bald kommt“ (S. 118). Jedenfalls gab es im berühmten Wallfahrstort Sainte Anne d Auray in den Wochen der Commune zahlreiche Konversionen, Bekehrungen, zum Katholizismus – aus Angst vor der Apokalypse.

3.
Interessant ist auch die „micro-analytische historische Studie“ über das Viertel Popincourt in Paris (11. Arrondissement) von Iain Chadwick (S. 254ff). Der Autor berichtet, dass dort die Commune „bien géré“, also gut „gehandhabt“ wurde. Es gab, so zeigt er, dort einen gewissen moderaten Antiklerikalismus, „aber man sah in Popincourt keine Zerstörung einer Kirche“. Der „Club der Proletarier“ versammelte sich in der dortigen Kirche Saint-Ambroise nach dem 7. Mai, aber der Pfarrer setzte die Feier der Messe dort fort“ (S 269). In dem Zusammenhang möchte ich auf den Beitrag „Les Eglises de Paris sous la commune“ hinweisen. LINK

4.
Die Pariser Commune und Deutschland
Ebenfalls ein weites Forschungsthema. Von Bismarck müsste gesprochen werden, der gern die französischen Kriegsgefangenen wieder nach Frankreich ziehen ließ, damit sie dort die auch von ihm verhassten Sozialisten bekämpfen und erschießen, was sie dann auch nachweislich taten (die „blutige Woche“).
Es ist eine Tatsache, dass die Pariser Commune nur durch diese raffinierte Hilfe Bismarcks (Freilassung der kriegsgefangenen französischen Soldaten) blutig niedergeschlagen werden konnte. Bismarck wollte wie der französische Regierungschef Thiers unter allen Umständen eine demokratische Regierung der Arbeiter (in der Pariser Commune vorbildlich organsiert) verhindern und zerschlagen.
Der Sozialdemokrat August Bebel hielt schon am 24. April 1871 im Reichstag eine Rede, die seine Solidarität mit den Arbeitern in Paris ausdrückte. Er freute sich, dass die Communarden die Macht in Paris erobert hatten. Das sagte er schon am 24.April 1871!
Auch darauf weist ein Artikel (von Daniel Mollenhauer) in dem genannten Buch aus den creaphiseditions hin, (S. 446). Ebenso wird aber auch daran erinnert, dass die nationalistischen Deutschen Frankreich als den Erbfeind betrachteten. Daniel Mollenhauer weist auch auf eine Studie zu den Predigten der deutschen Militärpfarrer 1870 hin (Christian Rak, „Krieg, Nation und Konfession“, Paderborn 2004).

FORTSETZUNG der Berichterstattung folgt…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wer darf übersetzen? Über Identität und allgemeine Vernunft

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Wer ist in der Lage, das Gedicht von Amanda Gorman, der schwarzen Lyrikerin, der US – Amerikanerin, zu übersetzen? Man denkt: Natürlich jemand, der kompetent ist und sehr gute Kenntnisse des amerikanischen Englisch und auch Erfahrungen im Umgang mit den Nuancen der Poesie hat und dies auch auf Deutsch z.B. vermitteln kann.
Das war bisher allgemeine Auffassung. Aber so einfach ist das nicht mehr: Jetzt darf die Poetin und Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld aus Holland nicht das berühmte Gedicht von Amanda Gorman übersetzen. Der in der Öffentlichkeit verbreitete, sich durchsetzende Vorwurf: Die Übersetzerin hat die Hautfarbe weiß und sie sei deswegen inkompetent, das Gedicht einer Schwarzen zu übersetzen. So behaupten autoritär die Verfechter der Identität: Nur eine Schwarze versteht den Text einer Schwarzen so gut, dass sie als Übersetzerin in Frage kommt. Dabei hatte Amanda Gorman, die Schwarze, die weiße Übersetzerin ausdrücklich begrüßt. Aber die kritische Power der auf Identität („hier Schwarz – da Weiß“) fixierten Leute setzte sich durch. Auch in Barcelona ist das so. Dort darf ein weißer Übersetzer (ein Mann noch dazu) auch nicht das Gedicht der Schwarzen Frau Gorman übersetzen.

2.
Wissen wir eigentlich, dass sich an diesem Beispiel so etwas wie eine kulturelle Wende andeutet? Grundsätzlich formuliert: Mit der Debatte um neue „identische“ Kriterien für die Qualitäten eines kompetenten Übersetzers könnte das Bewusstsein einer allen Menschen gemeinsamen, also allgemeinen menschlichen selbstkritischen Vernunft verloren gehen. Dabei steht im Hintergrund die nach wie vor universale philosophische Einsicht: „Übersetzen“ ist nur ein anderes Wort für „Verstehen“: Wer im Alltag einen anderen Menschen versteht, übersetzt also immer dessen Aussage, dessen Begriffe, in seine eigne Denk/Gefühlswelt hinein, in sein eigenes Leben. Das kann ganz alltäglich banal beginnen: Wenn mir eine Person A von ihrer „Frömmigkeit“ erzählt, verstehe ich von meinen Erfahrungen mit „Frömmigkeit“ ihren Begriff Frömmigkeit auf meine Art. Der Begriff Frömmigkeit der Person A wird durch mein Verstehen also „verändert“, und das ist notwendigerweise so. Trotzdem sind wir beide in der einen Sprachwelt verbunden.

3.
Auf die Identität von Übersetzen und Verstehen hat bekanntlich der Philosoph Hans -Georg Gadamer in seiner großen Studie „Wahrheit und Methode“ ausführlich hingewiesen. Ich nenne hier nur einige zentrale Erkenntnisse Gadamers, bezogen auf die Ausgabe von „Wahrheit und Methode“ von 1965 (Tübingen):
S. 361: „Verstehen, was einer sagt, ist sich in der Sache Verständigen und nicht: Sich in einen anderen Versetzen und seine Erlebnisse Nachvollziehen.“ Ergänzend auf S. 365: „Die Übersetzung eines Textes, mag der Übersetzer sich noch so in seinen Autor eingelebt und eingefühlt haben, ist keine bloß Wiedererweckung des ursprünglichen seelischen Vorgangs des Schreibens, sondern eine Nachbildung des Textes, die durch das Verständnis des in ihm Gesagten geführt wird. Hier kann niemand zweifeln, dass es sich um Auslegung handelt..“
S. 362:“Jede Übersetzung ist Auslegung“

4.
Wer Übersetzen in der Weise einschränkt, dass nur ein Schwarzer in der Lage ist und befugt ist, den Text eines Schwarzen zu übersetzen, der zerstört eine kulturelle Errungenschaft, die die Menschheit bislang tatsächlich als allgemein gültig bewertet hat, selbst wenn es in Einzelfällen selbstverständlich immer Debatten gab und gibt, ob diese oder jene Übersetzung treffend ist. Darum wird ja auch immer wieder neu übersetzt, einen definitiven Abschluss der Übersetzungen kann es nicht geben, weil immer neue Aspekte im Text, immer neue Nuancen entdeckt werden, die in immer neuen Nuancen dann ausgesagt werden in der Übersetzung.

5.
Wenn man das Beispiel ausdehnt: Nur Schwarze Frauen dürfen die Poesie schwarzer Frauen übersetzen, wie verhält es sich dann mit der bislang selbstverständlichen und uns eigentlich als normal vertrauten Übersetzung als Interpretation?
Ist die Interpretation (das ist Verstehen, das ist Übersetzung!) Mozarts durch einen japanischen Dirigenten etwa abwegig und aus Gründen der Identität nicht (mehr) erlaubt? Dann sollte kein russischer Pianist mehr Beethoven spielen. Kein deutscher Übersetzer dürfte einen buddhistischen Autor übersetzen und so weiter. Diese Identität konsequent gedacht, würde zu einer kulturellen Verarmung und zu einer Abkapselung der einen Menschenwelt in viele kulturelle Sonderwelten führen. Atheistische Historiker und Sprachwissenschaftler dürfen dann nicht mehr die Bibel oder den Koran übersetzen. Es wäre zu prüfen: Wie ist früher die Kirche mit Übersetzern der Bibel umgegangen, die nicht auf der „orthodoxen“ Linie waren? Da herrschte sicher auch auf Identität fixiertes Denken vor, Bekanntlich durften Katholiken nicht die Übersetzung der Bibel durch Martin Luther lesen, bloß weil der Protestant Luther der Übersetzer war. Solches identitäre Denken ist sicher noch in muslimischen Kreisen dominant: Welche muslimische Organisation benutzt etwa eine Koran – Übersetzung eines – selbstverständlich wissenschaftlich kompetenten – Christen oder eines Atheisten? Wahrscheinlich keine muslimische Organisation. Ein heilig erklärtes Buch (Koran) kann nur ein heilig erklärter frommer Muslim übersetzen…
Ein weiteres Beispiel: Die Übersetzungen der Werke des Homosexuellen James Baldwin müssten diesem Denkmodell folgend eigentlich eingestampft werden, weil die Übersetzer heterosexuell wohl waren oder gar Frauen, also sich beim Übersetzen gar nicht in die Welt Baldwins einfühlen konnten. Wenn er – möglicherweise – das Wort „Schw..z“ verwendet, meint er eben nicht „Glied“ und auch nicht „Penis“, wer diese Begriffe in der Übersetzung verwendet, übersetzt falsch. Aber die Nuancen weiß jeder gebildete heterosexuelle Übersetzer!
Diese wenigen Beispiele zeigen schon: Die geistige Welt fällt auseinander in viele isolierte kleine Sonderwelten, wenn man an dem nun offenbar üblich werdenden Prinzip der Identität im Vorgang der Übersetzung festhält.

6.
Dieses identitäre Denken und praktisch – rabiate Verhalten ist eine Ideologie, sie führt in eine furchtbare Sackgasse. Denn um noch einmal auf das Beispiel der Übersetzung des Gedichtes von Amanda Gorman zurückzukommen: Eigentlich müsste die dann korrekterweise selbstverständlich schwarze Übersetzerin vom Alter her etwa so jung sein wie Frau Gorman, die Übersetzerin hätte auch in bescheidenen Verhältnissen in Los Angeles groß werden müssen, möglichst die gleiche Schule besucht haben, möglichst ähnliche soziale Kontakte wie das junge Mädchen Amanda haben müssen und so weiter: Das führt dazu, dass eigentlich idealerweise Amanda Gorman allein, nur sie selbst, in der Lage wäre, ihr Gedicht zu übersetzen. Aber selbst wenn Amanda Gorman perfekt Deutsch, Niederländisch oder Finnisch sprechen und verstehen würde: Sie könnte aus ihrem englischen „Urtext“ eben nur nach eigenem (und damit wie bei allen Menschen begrenzten) Verstehen des eigenen Textes übersetzen und auch nur einige Aspekte, Nuancen, in den anderen Sprachen wiedergeben. Mit anderen Worten: Die Übersetzung der Autorin Gorman hätte eigentlich dieselbe Qualität wie die eines anderen Menschen, etwa eines männlichen weißen Übersetzers. Denn man vergesse nicht: Es ist keineswegs so, dass der Autor eines Gedichtes oder eines Romans selbst am besten weiß, was er da in der feinen Komposition seiner Sprache sagen will. Genauso sind die großen Künstler von Gemälden keineswegs die besten Interpreten ihrer eigenen Werke. Sie wissen oft selbst nicht, wie ihnen „das eigene Werk gelungen“ ist. Dies ist das bleibende Rätsel des schöpferischen Prozesses von Autoren, Malern, Komponisten etc.

7.
Aber es keineswegs so, dass nun wiederum nur Menschen, die selber den schöpferischen Prozess wie die Autoren, Maler, Komponisten durchgemacht haben, die Werke dieser Künstler zu übersetzen. Indem diese Werke in die Öffentlichkeit treten, geben sie sich dem allgemeinen Verstehen und das ist immer dem individuell je verschiedenen Verstehen und Übersetzen preis. Da eine exklusive, berufene Clique der mit den Autoren Identischen zu schaffen, wäre maßlos und ausgrenzend und hätte einen nicht mehr demokratischen Charakter.

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer-salon.de

Zur „Philosophie des Weins“ – bedenkenswert nicht nur in „Corona-Zeiten“

Ein Gastbeitrag von Richard Pestemer, veröffentlicht am 14.3.2021

Der Beitrag ist eine kurze Vorstellung der Grundauffassungen von Béla Hamvas zum Wein, die er in seinem Buch „Philosophie des Weins“ (1994) präsentierte.
Richard Pestemer wählte dafür die Form eines fiktiven Interviews mit Béla Hamvas, posthum gestaltet.

Vorbemerkungen von Richard Pestemer

Die 1947 erstellte Abhandlung Philosophie des Weins von Béla Hamvas (1897–1968) — in Zeiten bitterster Not im Ungarn der Nachkriegszeit und brillant übersetzt aus dem Ungarischen von Hans Skirecki — ist ein einzigartiges „Glaubensbekenntnis“ zum Wein und dessen Schöpfer, Gott.
In „heiliger Trunkenheit“ und darin im Bunde mit den weinseligen Poeten wie Goethe (1749- 1832), Hafis in Persien (1315–1390) und Li Bai in China (chin. 李白: 701–762) bekundete Béla Hamvas sein leidenschaftliches Bekenntnis zum Leben, hier und jetzt. Als gläubiger Humanist widerstand er den zukunftsheischenden materialistischen Ideologien des Kommunismus und des Faschismus. Sein Credo lautete vielmehr: Festhalten an dem Fortwährenden, dem Allumfassenden, an der Harmonie des Sinnlichem und Übersinnlichem durch Überwindung der Spaltung von Materie und Spiritualität.

Béla Hamvas träumte sein Leben lang davon – trotz auch vieler bitterer und harter Erfahrungen sowie Enttäuschungen und stets vom Wein begleitet, zur Weisheit zu gelangen. Letztendliche Weisheit bedeutet für ihn nicht Ansammlung von Wissen, sondern Einswerden mit dem „ureigenen Zustand einer Seele, in der alles vom Rausche, vom Frohsinn, von der Vision, vom Wunder und vom Enthusiasmus gelenkt wird (Földényi 1994: 75).“
Wie schon erwähnt verfasste er 1947 in bitterster Not, wo er jeden Tag um sein Brot kämpfen musste und bestenfalls billigen, schlechten Wein trinken konnte, seine einzigartige Abhandlung von der Philosophie des Weins.
In Form eines fiktiven Interviews werden nachfolgend die grundlegenden Auffassungen von Béla Hamvas dargeboten, wobei seine Antworten — bis auf drei Fußnoten, welche von mir eingefügt wurden, — originalgetreu seinem Werk (Hamvas 1994: 7, 10-12, 30-31) entnommen wurden. Die Rechtschreibung der Zitate folgt daher den Regeln vor der Rechtschreibreform in 1996. Ebenso sind die Fragen von Richard Pestemer an Béla Hamvas in der Rechtschreibung dementsprechend angepasst worden.
Die Verehrer eines edlen Tropfens göttlichen Weines, sie mögen dieses fiktive Interview als eine „philosophische Weinprobe“ verkosten, um auf den Geschmack des gesamten Glaubens- bekenntnis von Béla Hamvas vorzudringen, bis hin zu der alles umgreifenden Erkenntnis:

„Zwei bleiben schließlich übrig, Gott und der Wein“. (ibid.: 7)

Das fiktive Interview mit Béla Hamvas, posthum durchgeführt von Richard (Richie) Pestemer:

Richard (Richie) Pestemer (Abkürzung: R(R)P): „Zwei bleiben schließlich übrig, Gott und der Wein“ ist zu einem in Ihrem Heimatland Ungarn zu einem geflügelten Wort geworden. Was hat Sie dazu bewegt, diese ja schon prophetische Feststellung zu entäußern?
Béla Hamvas (Abkürzung: BL): Ich weiß, dass ich Gott nicht einmal erwähnen darf. Ich muß ihn bei einem beliebigen Namen nennen, wie z.B. Kuß oder Rausch oder gekochter Schinken. Als Hauptnamen habe ich den Wein gewählt. Daher der Titel des Buches: Philosophie des Weins, und deshalb das Motto: Zwei bleiben schließlich übrig, Gott und der Wein (Hamvas 1994.: 7).

R(R)P: Aber warum dieser Hokuspokus mit Gott als Kuß, Rausch oder gekochtem Schinken?
BL: Zu diesem Hokuspokus zwingen mich die Umstände. Die Atheisten sind bekanntlich bedauernswert hochmütige Menschen. […] Ich glaube, wenn ich von Speise, Trank, Tabak, Liebe spreche, wenn ich die heimlichen Namen nenne, kann ich sie überlisten. Denn sie sind nicht nur überheblich, sie sind auch ebenso dumm. Diese Art des Gebetes beispielsweise kennen sie überhaupt nicht. Sie glauben, Beten kann man nur in der Kirche oder indem man geistliche Wörter murmelt (ibid.).

R(R)P: Also ist Ihr Buch Philosophie des Weins eine Art Gebetbuch? Und wenn dem so ist, welche Bedeutung hat dabei der Wein?
BL: Dieses Buch muß sich notwendigerweise in drei Teile gliedern. Notwendigerweise, weil sich jedes gute Buch in drei Teile gliedert, die Drei also eine vollkommene Gliederung bedeutet, aber auch, weil die Drei die Zahl des Weins ist, was auch in der Gliederung zum Ausdruck kommen soll (ibid.: 10).
Der erste Teil ist eine Metaphysik des Weins. Ich habe nicht nur die Absicht, sondern auch den Ehrgeiz, mit diesem Teil ein Fundament für alle künftigen Philosophen zu legen. Wie Kant die entscheidenden Gedanken ausspricht für alle nachfolgenden Philosophen, die man billigen oder ablehnen, nie aber umgehen und als ungesagt ansehen kann, so möchte ich in diesem Teil die gemeingültigen und zeitlosen Ideen der Metaphysik des Weins aufzeichnen (ibid.: 10-11).
[…] Der zweite Teil [handelt]1 vom Wein als Natur. Dieser Teil ist seinem Charakter nach deskriptiv. Er beschäftigt sich mit den Reben, den Rebsorten, dem Verhältnis zwischen Boden und Wein, Wein und Wasser mit besonderer Rücksicht auf unsere Weine, aber auch mit Blick auf die namhafteren ausländischen Weine (ibid.: 11).
Der dritte Teil behandelt die Weinzeremonielle. Dieser Teil untersucht, wann man trinken soll und wann nicht, wie, wo und woraus man trinken soll und wann nicht, ob allein, ob zu zweit, ob mit einem Mann oder einer Frau. Er handelt von den Beziehungen zwischen dem Wein und der Arbeit, dem Wein und dem Spazierengehen, dem Wein und dem Bad, dem Wein und dem Schlaf, dem Wein und der Liebe. In ihm sind Regeln enthalten, bei welcher Gelegenheit was für Wein getrunken werden sollte, wie viel und zu welchen Speisen, an welchen Orten und in welcher Mischung (ibid.).
[…] Die Gliederung in drei Teile steht in engstem Einklang mit den drei großen Epochen in der Weltgeschichte des Weins. Der metaphysische Teil entspricht sinngemäß dem Zeitalter von der Sintflut, als der Mensch den Wein nicht kannte und nur von ihm träumte. Nach der Sintflut pflanzte Noah die ersten Rebstöcke, und in der Weltgeschichte begann damit eine Epoche.
Die dritte setzte mit der Verwandlung von Wasser in Wein ein, und in ihr leben wir gegenwärtig. Die Weltgeschichte wird enden, wenn aus den Quellen und Brunnen Wein fließt, wenn es aus den Wolken Wein regnet, wenn die Seen und Meere zu Wein werden (ibid.: 11-12).

R(R)P: Ja, so und nicht anders sollte Weltgeschichte enden, da kann ich nur zustimmen. Nun zum Schluss unseres kurzen aber intensiven Gesprächs sollten wir es nicht mit einem guten Schluck eines edlen Weines ausklingen lassen. Aber mit welchem Wein?
BL: Jeder Wein stellt einen vor neue und wieder neue Unterscheidungsaufgaben. Nun, der Schomlauer2 ist für mich der solare, baritonstimmige, doch symphonische, blonde, männliche Wein, der das Öl der höchsten schöpferischen Spiritualität enthält, und zwar unter allen unseren Weinen in einzigartiger, konzentrierter Reinheit (ibid.: 30). […] Ein Wein der Weisen, jener Menschen, die endlich das höchste Wissen erlernt haben, die Heiterkeit. Es ist eine ganz persönliche Sache, und ich erzähle sie nur, weil sie zu den großen Ergebnissen meiner Meditation in Szigliget3 gehört: In der hieratischen Maske des Schomlauer Weines fühlte ich mich jener ausgereiften Heiterkeit und Weisheit, jenem intensiven und produktiven Rausch am nächsten, die diese Welt erschaffen haben (ibid.: 30-31).

R(R)P: Ja, so ist es, ja, jetzt dämmert es mir: „Zwei bleiben schließlich übrig, Gott und der Wein.“ Danke, Danke und nochmals Danke für Ihre eingehenden Darstellungen zur Trinität der „Philosophie des Weins“. Aber bevor wir beide mit einem Schomlauer Wein dieses erhellende Gespräch beschließen, erlauben Sie mir ein Kurzgedicht vorzutragen, angelehnt an die japanischen Haikus, welche im Deutschen in Form eines Drei-Zeilers mit der Versabfolge 5-7-5- Silben verfasst werden, dies auch, weil Sie ein Liebhaber ostasiatischer Philosophie und Poesie sind.
Meine poetische Danksagung lautet:
Also sprach einst Gott Noah,
pflanze Reben endlich:
Wasser werde Wein

––––––––––––––––––––––
Literatur:
Földényi, László (1994). „Die Ausstrahlung des Weins — Über Béla Hamvas“. Übersetzt aus
dem Ungarischen ins Deutsche von Anikó Klostermann. In: Hamvas, Béla (1994),
Philosophie des Weins. Berlin: Brinkmann & Bose. 69-76.
Hamvas, Béla (1994). Philosophie des Weins. Berlin: Brinkmann & Bose. Übersetzt von
Hans Skirecki aus dem Ungarischen ins Deutsche. Originaltitel: A bor filózfiája.

Hier für diejenigen, die nach dieser „philosophischen Weinprobe“ ihren weiteren Durst stillen wollen:
Brinkmann & Bose: http://www.brinkmann-bose.de/
Matthes & Seitz Berlin: www.matthes-seitz-berlin.de/autor/bela-hamvas.html

https://www.vinaet.de/2021/02/26/bela-hamvas-die-philosophie-des-weins/

1 Das Verb in eckigen Klammern wurde von mir eingefügt.
2 Schomlauer Weine. Siehe WEINKOMPLOTT UNGARN WEIN-SPEZIALIST: www.weinkomplott.de/catalog/Ungarische-Weine_Somlo.php
3 Siehe BADACSONY RÉGIÓ: www.badacsony.com/de/region-badacsony/szigliget-de/

Die Pariser Commune – vor 150 Jahren, lebendig, dann ermordet.

Zwei Beiträge von Christian Modehn über “Die Pariser Commune und die katholische Kirche”

1. Die Pariser Commune 1871 als Experiment der Republik unter reaktionären Bedingungen.
Dieser Beitrag erschien auch in einer – von der Redaktion veränderten Form – in der Zeitschrift PUBLIK – FORUM (12.3.2021).
Dieser Artikel von Christian Modehn hier ist besonders wichtig, weil er auch auf die Beziehungen der Communarden zur katholischen Kirche hinweist. Dieser Zusammenhang wurde bislang eher selten dokumentiert.

2. Ein anderer Beitrag bietet ergänzende Details, um zu weiteren Studien zu ermuntern. CM.

1.
Die Feindschaft der „zwei Frankreich“
Über die Pariser Commune

Von Christian Modehn
Die Pariser Commune konnte nur 72 Tage überleben, von Mitte März bis Ende Mai 1871: Die Communarden hatten eigenmächtig ein demokratisches und soziales Gemeinwesen aufgebaut. Es war ein Aufstand der Handwerker, Arbeiter und Intellektuellen, unerträglich für die reaktionären, monarchistischen Führer der jungen „Dritten Republik“. Ihre „heilige Ordnung“ wollen sie mit einem Bürgerkrieg retten, darin unterstützt vom katholischen Klerus und den „anständigen Bürgern“. Die Communarden waren zwar „linke“ Demokraten und antiklerikal, aber doch auch getaufte Katholiken. Sie wurden von ihren eigenen „Glaubensgenossen“ zu tausenden abgeschlachtet. Ein Trauma, das bis heute wirkt.
Paris – „die“ Metropole Europas voller Glanz und Gloria, der Stolz Kaiser Napoléons des Dritten. Er lässt Baron Haussmann riesige Boulevards mit „Sichtachsen“ errichten, sie sollen bei Aufständen dem Militär den schnellen Zugriff erlauben. Arme, Handwerker und Arbeite sind für das Regime eine Bedrohung.

Im Juli 1870 erklärt Napoleon III., im Wahn des Nationalismus befangen, Preußen den Krieg. Das Gemetzel endet für Frankreich schnell mit einer Niederlage, der Kaiser kapituliert. Die „Dritte Republik“ startet offiziell am 13.2.1871 mit der Wahl zur Nationalversammlung. Die Monarchisten und die Getreuen von Papst Pius IX. erreichen die absolute Mehrheit. Wenige Tage später wird der „Vorfrieden“ mit Bismarck unterzeichnet.
Die Bürger von Paris erleben, dass ihre Stadt immer noch von deutschen Truppen umzingelt ist. Das stärkt ihre Entschlossenheit, aus eigener Kraft eine selbstverwaltete republikanische Stadt aufzubauen. Ein unerträglicher Gedanke für Regierungschef Adolphe Thiers. Nach der Niederlage gegen Preußen will nun er endlich einen Sieg vorweisen, im Kampf gegen die eigenen Landsleute in Paris. Aber die verfügen über eine Nationalgarde mit 300.000 Mann, und sie besitzen noch die Waffen, bestimmt für den Krieg gegen die Deutschen.
Am 17. März 1871 wollen Regierungstruppen Paris entwaffnen. Aber die Soldaten verweigern den Befehl, auf die Bürger zu schießen. Empört über den Bürgerkrieg nehmen die Pariser zwei Generäle fest, sie werden erschossen. Nun kann die Regierung, das „Morden und Töten der Commune“ groß herauszustellen. Bis zum 21.Mai 1871 aber wird „von Seiten der Communarden kaum Blut vergossen“ (Johannes Willms).

Die Regierung mit ihren Truppen flieht am 18. März 1871 nach Versailles. Und sofort beginnen die Pariser Bürger mit dem Aufbau ihrer „direkten Demokratie“. In ihrer demokratisch gewählten Selbstverwaltung sind 92 Abgeordnete unterschiedlicher politischer Optionen vertreten, vor allem Sozialisten verschiedener Orientierung, auch liberale Bürgerliche sowie einige Anarchisten sind dabei. Sie alle wollen eine Republik, die den Namen verdient: Die Stadtverwaltung fördert die Gewerkschaften; das öffentliche, kostenfreie Schulwesen – auch für Mädchen – wird ausgebaut; Künstler schaffen ihre eigenen Vereine, sie unterstützen die Commune. Frauen haben das Recht, als politische Akteure selbständig zu handeln. Sie gehören zu den Mutigsten, wie die Lehrerin Louise Michel in ihren Erinnerungen betont.
Die Commune lebt von der Begeisterung der Bürger in den neu gegründeten Debattierclubs. Man trifft sich in mehr als 20 (von insgesamt 67) katholischen Kirchen: Dort wird eine „Umwidmung“ durchgesetzt: „Gotteshäuser sind auch Menschenhäuser“. Und dafür gibt es unterschiedliche Modelle: Manche dieser „Club-Kirchen“ sind wie üblich tagsüber für Gottesdienste geöffnet, am Abend treffen sich die „Clubs“. Dann wird der Altar beiseite geräumt und nach der Debatte mit Brot, Wein und Tabak mit Hunderten gefeiert. In anderen Kirchen wird der Klerus vertrieben, Messgewänder für ein frivoles Spektakel gebraucht. Der antiklerikale Geist ist seit der Französischen Revolution (1789) unter „einfachen Leuten“ noch immer bestimmend. Die Commune ist überzeugt: Der Katholizismus, „die Religion der allermeisten Franzosen“, darf nicht länger die staatlich privilegierte Konfession bleiben. Die Trennung von Kirche und Staat ist das erste Dekret der Commune: Der Klerus soll nicht länger vom Staat gut bezahlt werden. Und die Ordensleute dürfen nicht länger das Schulwesen bestimmen und den Lehrstoff nach kirchlicher Weisung gestalten. Trotzdem: In den meisten Kirchen geht das übliche Leben weiter.

Es gibt jedoch nur sehr wenige Priester, die auch nur die geringsten Sympathien für die Commune haben: Abbé Jean-Hippolythe Michon betont: „Die Arbeiter haben die Sehnsucht, dass die Leiden des Proletariates gelindert werden. Die Arbeiterklasse will endlich ihre Emanzipation, es geht um das schreckliche Problem des nicht gelösten Ausgleichs von Kapital und Arbeit“. Der Kirchenhistoriker Pierre Pierrard fasst zusammen: „Im Ganzen war die Kirche 1871 contra-revolutionär aus Überzeugung. Die Commune deutete sie als einen Aufstand, der von der Hölle und dem Teufel angestoßen wurde“. Zahllose Pamphlete und Artikel dokumentieren den abgründigen Hass des Klerus auf die Demokraten. Abbé Vidieu schreibt: „Die Leute der Commune sind undurchsichtige Schurken, ehrgeizige Proleten, sie beleidigen Gott, zerstören die Kirche“. Die Priester und ihre Bischöfe sind fixiert auf Weisungen Papst Pius IX.: Er hat 1864 in seiner Erklärung, dem „Syllabus“, Menschenrechte, Republik und Religionsfreiheit heftigst verurteilt. Weil er sich seit 1870 unfehlbar nennt, muss er wohl recht haben…

Am 21. Mai beginnt die katholische monarchistische Regierung, ihren finalen Rachefeldzug. Es ist die „Blutwoche“, ein unvorstellbares Inferno mitten im „christlichen“ Europa. Wahllos erschießen die Regierungstruppen Communarden auf offener Straße. Die völlig enthemmten Soldaten wurden gerade aus Kriegsgefangenen-Lagern Preußens entlassen: Bismarck hatte sie „freigegeben“, damit viele Sozialisten vernichtet werden. In Pariser Kasernen finden Massen-Hinrichtungen statt: „Bald floss von der Kaserne Lobau das Blut in zwei Bächen Richtung Seine, deren Wasser lange rot bliebt“, schreibt Louise Michel.

Und die Communarden? Sie kämpfen verzweifelt auf den Barrikaden. Und: Sie töten den Pariser Erzbischof Georges Darboy. Ihn hatten die Bürger festgenommen, als Geisel sollte er gegen einen ihrer gefangenen politischen Führer, Auguste Blanqui, ausgetauscht werden. Aber der Regierungschef lehnt ab: „Ein toter Erzbischof ist für uns propagandistisch wertvoller als ein lebender“. Erzbischof Darboy wird mit 6 anderen Klerikern erschossen.
Der verzweifelte Kampf der Commune auf den Barrikaden endet auf dem Friedhof Père Lachaise. Bis zum Juni geht diese „Orgie des Klassenhasses“ (Johannes Willms) weiter: Erst der Gestank der Leichenberge sorgt für ein Ende. Es wurden, so schätzen Historikern übereinstimmend, etwa 30.000 Communarden hingerichtet. Und die Communarden? Sie haben 1.300 Soldaten im Kampf erschossen.

Die katholische Kirche hat keinen Versuch gemacht, Frieden zu stiften. Anders die damals bedeutenden Freimaurer: In Paris unterstützen sie die Commune, während in Versailles Logenbrüder“ der Regierung nahestehen. Trotzdem suchen die Logenbrüder das Gespräch mit der Regierung und erreichten einen Waffenstillstand, um Menschen im Ort Neuilly zu evakuieren.
Die Kirche unterstützte auch nach der Auslöschung der Commune die antirepublikanischen und zunehmend auch antisemitischen Kräfte. Die reationäre Regierung setzte sich für den Bau der Basilika Sacré-Coeur auf dem Montmartre ein, als „Sühne für die Verbrechen der Commune“. Vom Massenmord an den Pariser Bürgern sprach niemand. Später wird sogar eine Kirche „Unsere liebe Frau der Geiseln“ gebaut.
In der marxistischen Geschichtsphilosophie wird die Commune als eine wichtige Etappe der „Revolution“ gewürdigt. Aber mit dem Bolschewismus hat sie nichts gemeinsam.
Die katholische Kirche hat die Commune nur als Unglück gedeutet. 1905 setzten die Republikaner die Trennung von Kirche und Staat durch. Die Kirche versucht zwar die Arbeiter zu gewinnen, richtet Vereine ein oder fördert das caritative Engagement der Laien, etwa in Suppenküchen. Die tiefe Kluft zu den Linken und Republikanern wird so nicht überwunden. Einige katholische Intellektuelle verteidigten die Republik, und sie wurden von 1930 -1970 öffentlich beachtet, aber sie haben kaum Nachfolger gefunden.
Erst nach 1945 begann die katholische Kirche, sich langsam mit der Republik zu versöhnen. Aber Demokratie, Aufklärung, Selbstbestimmung sind der Kirche immer noch suspekt. Heute nennen sich nur noch 35 % der Franzosen katholisch. Vor 75 Jahren z.B. waren es noch 90 Prozent.

Zum Thema “Pariser Commune und Katholische Kirche”: Pierre Pierrard, L église de France face aux crises révolutionnaires (1789 – 1871), Le Chalet, 1974. ders.,”l Eglise et la Révolution”, ed. Nouvelle Cité, 1988, dort die Seiten 213 – 246.

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin
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2.
Die Pariser Commune – damals und heute: Hinweise, um weiter zu studieren.Von Christian Modehn

1.
Die Pariser Commune ist kein „Ereignis unter vielen“. Sie ist ein Einschnitt in der politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Geschichte nicht nur Frankreichs. Dieser kurze Aufstand der Republikaner gegen die Herrschaft der Reaktionäre der 3. Republik wird nie vergessen werden: Denn es waren die Herrschenden, Bürger, die sich brav nannten und katholisch waren und die rebellischen, „linken“ republikanischen Mitbürgern in Paris abschlachteten. Dies ist ein Trauma, das bis heute Frankreich ideologisch – politisch spaltet.
Und die katholische Kirche? Sie stand auf Seiten der Schlächter. Die Katholiken fühlten sich ideologisch – theologisch unterstützt von Papst Pius IX., der ganz offiziell von seinem Thron herab Menschenrechte als Verirrung und Sünde titulierte. Und dieser Stellvertreter Jesu Christi wurde auch noch im Jahr 2000 (!) „selig gesprochen“. Eine Tat Papst Johannes Paul II.

2.Zur allgemeinen politischen Situation:
Es gab Versuche, auch in anderen Städten „Communen“ der Selbstverwaltung der Bürger aufzubauen. Etwa in Lyon, vom 22.3 bis 25. 3. 1871, danach auch in Marseille, Narbonne, Saint Etienne und Toulouse. Sogar in Limoges gab es den Versuch, eine Commune zu errichten.
In Paris war die Gründung einer Commune deswegen sehr wichtig, weil die Bürger endlich eine eigene, selbstgewählte Stadtverwaltung haben wollten. Diese wurde ihnen vom zentralistischen Regime verwehrt.

3. Zur politischen Situation nach der blutigen Zerschlagung der Pariser Commune:
Bis 1876 wurden noch Mitglieder der Pariser Commune von der 1871 von der mordenden Regierung verurteilt. Erst 1880 wurde eine Amnestie für die Verurteilten und Verbannten ausgesprochen. Auch die bekannte Aktivistin und Autorin Louise Michel kehrte aus der Verbannung zurück und wurde von Georges Benjamin Clemenceau (zur Zeit der Commune war er Bürgermeister des 18. Pariser Arrondissements) empfangen.
Bei den Wahlen 1876 erlangten dann die Republikaner die Mehrheit in der Assemblée Nationale. Danach gab es Entscheidungen zugunsten der Republik und entsprechend zu Ungunsten der katholischen Kirche.
1880 wurden die ersten Gedenkfeiern an die Pariser Commune gestaltet.
Und am 14. Juli 1880 wurde wieder der – unter der reaktionären Regierung verbotene – Nationalfeiertag gefeiert, in Erinnerung an den Beginn der Revolution 1789.
Mit der Niederschlagung der Commune wurden die Arbeiter in Paris – aufgrund der radikalen Umgestaltungen der Wohnverhältnisse durch Haussmann – in die Vororte von Paris vertrieben (Banlieue). (siehe: Johannes Willms, „Paris, Hauptstadt Europas“, München, 1988, S. 451). Diese Vertreibung der Arbeiter, der einfachen Leute, der „Ausländer“, aus Paris, hat wohl bisher wohl kein Ende gefunden, die Gentrifizierung ist total: Paris gehört den Reichen.

4. Die „Belle Epoque“: Oder wie die (reichen) Bürger die Commune vergessen:
Die Ausführungen von Johannes Willms sind sehr aufschlussreich: Nach der Zerschlagung der Pariser Commune ist Paris nach außen hin wieder die glanzvolle Metropole, die Welt der Café – Concerts und der Music-Halls; das Paris, in dem „nicht immer (!) schamlos gesungen, getanzt und geschauspielert wurde“ (S.452). Paris, als „das Paradies der Libertinage“ (ebd.). An das Gemetzel und die Ströme von Blut auf den Straßen im Mai 1871 dachten die oberen Schichten und die vielen neugierigen Touristen, vor allem aus England, nicht mehr. Drei Weltausstellungen fanden in der so genannten „Belle Epoque“ in Pais statt. Walter Benjamin sprach in dem Zusammenhang von den „Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware“ (Passagen-Werk). Maupassants Roman „Bel ami“ ist das erhellende literarische Zeugnis für dieses Paris. „Es wurde von einer geldgierigen und machthungrigen Gesellschaft beherrscht“ (Johannes Willms, S. 457). Wenige Jahre nach dem Versuch, eine demokratische Commune zu errichten, herrschte also in Paris „das trügerische Versprechen käuflicher Freiheit von den alltäglichen Zwängen der Moderne“ (S 457)

5. Zur Situation der Katholiken bzw. der katholischen Kirche vor der Commune:
Der Katholizismus war seit dem Konkordat von 1801 die anerkannte und „wichtigste Religion der Franzosen“, der tatsächlich weit mehr als 90 Prozent der Einwohner durch Taufe angehörten. Unter Napoléon III. gab es zwar Spannungen mit der französischen Kirche wegen dessen sehr unterschiedlichen Eintretens für den Kirchenstaat. Das berühmte Gesetz „Loi Falloux“ brachte 1850 der Kirche aber viel finanzielle Unterstützung für die katholischen Schulen. Insgesamt war der offizielle, sich nach außen so furchtbar gläubig zeigende Katholizismus unter Napoléon III. sehr bürgerlich, sehr monarchistisch und sehr antirepublikanisch. Die Kirche blühte auf, die Klöster füllten sich mit neuen Mitgliedern, die Marienverehrung war kaum zu bremsen, zumal Maria in Lourdes (im Jahr 1858) angeblich „höchstpersönlich“ dem Mädchen Bernadette Soubirous als Wunder erschienen war.
Auch schon in den Jahren vor der Pariser Commune gab es keinen Raum für ein freies theologisches Denken. Das wird am Schicksal etwa der Theologe Lamennais, Lacordaire oder des Schriftstellers Montalambert deutlich. Ihr Bemühen, Katholizismus und individuelle Freiheit, Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit endlichzu verbinden, wurde von Papst Pius IX. verboten. Katholizismus und geistige Tyrannei – dieser Gesamteindruck herrschte im Volk, auch in Paris vor, bei einem republikanischen Volk, das nicht länger an Wunder und päpstliche Unfehlbarkeit (1870) glauben wollte.

6. Der Gebrauch der Pariser Kirchengebäude während der Commune:
Es muss genau beachtet werden, in welcher Vielfalt die in sich politisch auch vielfältige Pariser Commune mit der Nutzung der Kirchengebäude umging. So hatte die Commune den Beschluss gefasst, die berühmte „Sühnekapelle zum ehrenden Gedenken an König Ludwig XVI. und Marie Antoinette“ (im 8. Arrondissement) abzureißen. Diese Kapelle sollte vor Gott Abbitte leisten für die Untaten des Volkes, also die Tötung des Königspaares während der Revolution. Aber die „Sühnekapelle“ rührten die Communarden nicht an. Nur ein Kirchengebäude wurde zerstört: Notre Dame de Bercy. Die Kirche St. Pierre de Montmarte wurde geschlossen und im großen Kirchenschiff wurde ein Schneiderwerkstatt eingerichtet, zur Produktion von Uniformen der Pariser Nationalgarde. Sehr beliebt war die Kirche St. Ambroise im 11. Arrondissement, dort gaben die Debattierclubs sogar eine eigene Zeitung heraus.
Diese Clubs in den Kirchengebäuden spielten für die Commune eine wichtige Rolle: Es ging um die „Befreiung des Wortes“ auch bei denen, die bisher ihre Meinung eher selten frei äußern konnten.

7. Die Entwicklung des katholischen Glaubens nach der Commune:
Der Glaube, nach außen hin jedenfalls, blühte auf. Die royalistischen und reaktionäre Politiker unternahmen als fromme Katholiken Wallfahrten nach Chartres. Die riesige Kirche Sacre Coeur de Montmartre wurde von höchster politischer Seite gefördert: Dort, wo die Rebellion der Pariser Commune begann, sollte eine monströs wirkende Kirche, hoch oben auf Paris herabblickend, Sühne leisten für die Verbrechen der Communarden. Diese Verbrechen waren zwar auch schlimm, aber als Widerstand gegen den Aggressor, zahlenmäßig betrachtet, her unbedeutend gegenüber den viel umfassenderen Verbrechen und Morden der katholischen Regierung.
Als die Republikaner die Mehrheit im Parlament hatten, wurde die Macht und der Einfluss der katholischen Kirche – wie zur berechtigen Strafe, möchte man sagen – immer mehr eingeschränkt, bis hin zum Gesetz zur Trennung von Kirchen und Staat im Jahr 1905. Dieses Gesetz der „laicité“ des Staates bestimmt bis heute die Debatten der Politik. Der Antisemitismus gehörte zu der Zeit förmlich zum Glaubensbekenntnis der Katholiken, in der schrecklichen Dreyfus – Affäre war die katholische Presse (aus dem Verlagshaus der französischen Augustiner „La Bonne Presse“, sic) führend in der unverschämten Polemik. Dann war in den zwanziger Jahren die ebenfalls antisemitische katholisch sich gebende „Action Francaise“ einflussreich; Marschall Pétain wurde als guter Katholik verehrt, später gründete dann Erzbischof Marcel Lefèbvre seine traditionalistische Priesterbruderschaft, tatsächlich eine eigene Kirche am Rande des römischen Katholizismus. Sie ist in Frankreich bis heute sehr bedeutend und hat Neugründungen, die so tun, als wären sie auf der Linie des Papstes, wie das „Institut du Bon Pasteur“, de facto aber sind diese Kreise (auch das Kloster le Barroux bei Avignon) so reaktionär wie schon seit 1920. Aber mit diesen reaktionären Kreisen wollte sich schon Papst Benedikt XVI. unbedingt versöhnen, d.h. diese Leute in der römischen Kirche integrieren, auch von Papst Franziskus werden ähnliche Ambitionen berichtet. Es geht dabei um eins: Die römische Kirche braucht die vielen jungen Priester, die tatsächlich in diesen eher fundamentalistischen Kreisen ihre „göttliche Berufung“ finden, wie man so sagt.

8. Über einen „linken Katholizismus“ in Frankreich
Eine „ferne“ Wirkung des Geistes der Pariser Commune ist bei den Arbeiterpriestern lebendig. Es gab bekanntlich ab ca. 1950 Arbeiterpriester in den Fabriken, die dann Mitglieder der Gewerkschaft CGT (und bewusst nicht der christlichen Gewerkschaft CFTC) wurden, diese CGT war kommunistisch orientiert. Sie wurde 1895 von Aktivisten gegründet, die dem Geist der Commune nahestanden, sie wurden „Liberatier“ genannt (vgl. den Aufsatz von Alain Dalotel, Die Pariser Commune 1891: https://transversal.at/transversal/0805/dalotel/de)

Nach einem anfänglichen Misstrauen der CGT gegenüber den Priestern in der Fabrik entwickelte sich bald ein Vertrauensverhältnis. „Die Arbeiterpriester mussten, um militante Gewerkschaftler zu sein, Partei ergreifen, sie mussten die übliche Neutralität des Priesteramtes verlassen, es bildete sich – etwa bei dem Arbeiterpriester Henri Barreau, eine vitale Synthese von christlichem Bewusstsein und Klassenkampf.“
( zit in: https://books.openedition.org/pur/18915?lang=de, ein Artikel von Nathalie Vier-Depaule).
Ein Arbeiterpriester wird in dem Aufsatz zitiert, er lässt förmlich den Geist der Commune noch einmal ahnen:“ Für uns Priester geht es nicht darum zu evangelisieren im Sinne des Indoktrinierens. Sondern es geht um die aktive Zusammenarbeit mit den Kollegen, die sich um die ihre Befreiung bemühen… Durch unsere Gegenwart in der Fabrik wie in der Gewerkschaft CGT heben wir eine schreckliche Last auf, die des Schweigens, des Unverständnisses und der Feindschaft der Kirche gegenüber den Taten der Arbeiter.“ 1954 hat dann Papst Pius XII. in seiner panischen Angst vor den Kommunisten das Experiment der Arbeiterpriester verboten. Das war eine Katastrophe für den Versuch, einen pluralen Katholizismus zu leben, der auch solidarisch verbunden mit den Arbeitern ist. Alle Versuche, „die“ Arbeiter wieder in eine Nähe zur Kirche zu bringen, sind seitdem gescheitert. Die Kirche ist die Kirche der biederen, wohlhabenden mindestens der „honnetes gens“ bis heute: Wer noch Priester wird, kommt in Frankreich aus diesen Kreisen (aus Versailles oder den wohlhabenden Arrondissements von Paris oder aus Neuilly etc) .

9.
Wirkungen der Pariser Commune in der Theologie des Katholizismus heute:
In der frühen Geschichte der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, also Mitte der neunzehnhundertsiebziger Jahre, wurde diskutiert: Mit welchen politischen Aktionen können sich die Menschen und die christlichen Gemeinden aus der Dependenz, also der Abhängigkeit vom Imperialismus und den USA, befreien. Die einen gaben die „klassische“ Antwort: Dies kann mit Hilfe der sozialistischen und kommunistischen Parteien geschehen. Andere bezogen sich auf die Selbstverwaltung und die Arbeiterräte, und sie sahen darin eine Inspiration in der Selbstverwaltung der Pariser Commune. Der Historiker Agustín d Acunto (Buenos Aires, Argentinien) berichtet im Jahr 2012 in der Zeitschrift „Virajes§ über die entsprechenden Forschungen von Miguel Mazzeo zum Thema: (http://vip.ucaldas.edu.co/virajes/downloads/Virajes14(2)_4.pdf)
Dies ist eine der wenigen Studien über eine Wirkungsgeschichte der Pariser Commune in katholischer Theologie und Praxis.
Das bedeutet: Die Pariser Commune hat wegen der maßlosen Hetze der katholischen Konservativen, der Anti-Republikaner, einen ganz üblen Ruf in der Kirche behalten. Manchmal mag der Geist der Commune noch aufgeflackert sein bei einzelnen Theologen, wie dem Dominikanerpater Jean Cardonnel und seinen Predigten bzw. Vorträgen im Pariser Mai 68.

10.
Die Protestanten und die Juden waren zur Zeit der Pariser Commune zahlenmäßig sehr unbedeutend. Und sie waren eher aufseiten der Republikaner, weil sie wussten: “Erst die Französische Revolution hat uns Protestanten und Juden in Frankreich die Möglichkeit geboten, frei unseren Glauben zu leben”. Sie waren also schon aufgrund früherer Verfolgung durch die Monarchie selbstverständlich republikanisch…

11.
Die französische Nationalversammlung hat am 29. November 2016 die Pariser Ciommunarden, die Opfer der staatlichen Repression, offiziell rehabilitiert. Die Initiative dafür ging von den regierenden Sozialisten aus mit der offenen Verurteilung durch die Parteien der Rechten. Der Präsident der Kommission für kulturelle Angelegenheiten, der sozialistische Abgeordnete Patrick Bloche (Paris), nannte diesen feierlichen Akt des Staates eine Pflicht der Geschichte und der Gerechtigkeit!

12.
Der „Verein der Freunde und Freundinnen der Pariser Commune“ (Adresse siehe unten) hat im Jahr 2020 dagegen protestiert, dass der berühmten Basilika „Sacre Coeur de Montmartre“ der Ehrentitel „historisches Monument“ verliehen wird. „Diese Kirche ist wie ein Symbol der damaligen sogenannten „moralischen Ordnung“ (der mordenden Regierung in Versailles) und diese Kirche ist auch ein Symbol par excellence für den Geist der „Anti-Commune“. Diese Auszeichnung ist nicht würdig für die heutige Republik und sie passt auch nicht zu einem jenem Teil der christlichen Welt, der sich heute in den Werten der Pariser Commune wiedererkennt“. (Bekanntlich war die Kirche Sacre Coeur de Montmartre als Sühnekirche für die Verbrechen der Communarden gedacht, von den Verbrechen der Regierung sprach niemand).

13.
Es wurde auch eine weitere Kirche in Paris zur Verehrung derer errichtet, die von den Communarden als Geiseln festgehalten, dann aber erschossen wurden, weil sich Staatschef Thiers weigerte, die Geiseln gegen einen der großen Inspiratoren der Commune, Louis – Auguste Blanqui, auszutauschen:
Über diese katholische Gemeinde „Notre Dame der Geiseln“ in Paris 20. LINK

14.
Es gibt in Paris einen sehr aktiven „Verein der Freunde der Pariser Commune“ mit vielen Informationen und Publikationen: LINK
15.
Zum weiteren Studium empfehle ich den Beitrag: “Aux origines de la commune”, 2018, von Marc Lagana, LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die leeren Kirchen und die Fülle der Theologie. Über Tomás Halík.

Hinweise auf das neue Buch von Tomás Halík „Die Zeit der leeren Kirchen“ (Herder Verlag 2021)
Von Christian Modeh am 7.3.2021

1.
Tomás Halík (Jahrgang 1948) ist inzwischen zu einem der bekanntesten katholischen Priester und Theologen in Europa geworden. Er lebt in Prag und ist seit vielen Jahren für die von ihm gegründete „Akademische Gemeinde“ in der St. Salvatorkirche verantwortlich. Auch die „Christliche Akademie“ in Prag leitet er als ihr Gründer. In den letzten Jahren hat Halík immer wieder über seine Schwerpunkt – Themen publiziert. Darin wehrt er sich gegen die Ausgrenzung „unkirchlicher Menschen“ durch den Titel „Atheisten“. Für Halik sind „Atheisten“ meistens „Suchende“. Und er warnt immer wieder und immer heftiger vor dem endgültigen Niedergang der katholischen Kirche, etwa in der Tschechischen Republik, wenn nicht endlich der Klerikalismus, der Moralismus und der Dogmatismus überwunden werden. Ob dazu die sehr konservativen tschechischen Bischöfe noch die Kraft haben, bezweifelt Halik wie viele andere Theologen. Er sieht den Weg des Katholizismus in Europa zur zahlenmäßig kleinen wie theologisch schwachen Sekte. Reformen bzw. Reförmchen der Kirchenleiung heute nennt Halik „nur das Hin und Herschieben der Liegestühle auf der Titanic“ (S. 98). Welch treffendes Bild, auch Ausdruck des feinen tschechischen Humors!
Dass sich Halík in dieser durchaus provozierenden Haltung sozusagen vor dem Zorn der Hierarchie schützen muss, ist ihm klar. Aber Halik kann sich doch etwas sicher fühlen: Er hat inzwischen den international hoch angesehenen und bestens dotierten (mehr als eine Million Euro) Templeton-Preis erhalten. Und zudem kann er sich einer gewissen Sympathie vonseiten Papst Benedikt XVI. erfreuen: Der ernannte Halik nicht nur zum „Päpstlichen Prälaten“, sondern hat ihn auch in seinen eigentlich konservativ geprägten Schülerkreis – mit Treffen in Castelgandolfo – einbezogen. Unter diesen sicheren Bedingungen ist es dann doch für Halík eher ungefährlich,kritisch zu werden, wenn er natürlich auch nicht zu eigenwillig handeln darf: Er folgte etwa dem Verbot des konservativen Prager Kardinals Duka, in der St. Salvator Kirche wie schon angekündigt einen Gottesdienst mit und für Homosexuelle zu gestalten, das war im Jahr 2015. Heute regt sich Halik allerdings auf, wenn „Homosexuellen und Migranten“, so wörtlich, „von faschistischen Kampfgruppen attackiert werden“ Dies schreibt er in einem Beitrag, der sich mit der Pseudoreligion des Fundamentalismus und des Fanatismus befasst. Der Artikel wurde am 14.11.2020 auf der Website des „Münsteraner Forum Theologie und Kirche“ veröffentlicht (gelesen am 7.3.2021).
2.
Nun hat der Herder-Verlag im Februar 2021 ein neues Buch Haliks herausgebracht, erschienen ist es in Prag 2020. Es hat den Titel „Die Zeit der leeren Kirchen“, der Untertitel ist „Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens“. Mit „leere Kirchen“ meint Halik die aufgrund der Corona-Epidemie 2020 auch in Tschechien geschlossenen Kirchen. Und in einer leeren Kirche, „seiner“ St. Salvatorkirche, hat denn auch Halik Predigten bzw. kurze theologische Vorträge gehalten. Sie wurden als Video-Aufnahmen life gesendet und fanden viel Beachtung auch außerhalb Tschechiens.
3.
Das neue Buch „Die Zeit der leeren Kirchen“ ist also vor allem ein Buch der Predigten. Dies wird in der Verlagswerbung allerdings nicht gesagt. Und dies ist für viele erst einmal eine Überraschung, die das Buch in der Hand haben. Predigten als Titel verkaufen sich wahrscheinlich nicht so gut. In einem Vorwort von 20 Seiten fasst er noch einmal seine Grundideen zusammen, erinnert an die jüngste Geschichte der katholischen Kirche in Tschechien und erläutert die äußeren Umstände, die zu diesen Video-Predigten/Vorträgen führten. Die Leser können nun überprüfen, welche speziellen theologischen Ideen in der Corona-Pandemie (gemeint ist hier die Zeit vom Dritten Fastensonntag bis zu Pfingsten) von Halík verbreitet werden.
Auch in den Predigten werden die seit langem bekannten „Halík“ – Themen angesprochen:
Er unterscheidet wieder zwischen dem vulgärem Atheismus der „primitiven Vorstellungen von Gott“ und dem suchenden Atheismus derer, die zwar kirchenfern, aber doch irgendwie insgeheim vielleicht sogar Mystiker sind. Glauben und Nichtglauben spielt sich für Halik eher auf der bewusstseinsmäßigen Ebene ab, in der Theorie sozusagen. Der Gedanke Jesu, dass fromm jener ist, der die Nächstenliebe tätig tut, wird nicht so stark akzentuiert. Dann wird oft auch die Haltung der offiziellen katholischen Kirchenführung beklagt: Wenn Ehepaaren, die „geschieden, aber – nach staatlichem Recht – wiederverheiratet sind, der Empfang der Eucharistie/des Abendmahles verweigert wird.
Deutlich wird in den Predigten erneut, wie eindringlich Halik die Leistungen seiner Gemeinde beschreibt bzw. lobt, die tatsächlich in großer Offenheit für Kultur, Diakonie und Mystik eigentlich alles richtig macht. Und auch viel Erfolg hat, was die Anzahl der Taufen in der Gemeinde betrifft. Und nun hat die Gemeinde, Halik spricht auch von „Salvator-Gemeinschaft“, sogar in der Stadt Kolin (bei Prag) ein eigenes Meditationshaus.
4.
Aber es wird in den Predigten / Kurzvorträgen nicht recht deutlich, was denn nun diese Gemeinde, vor allem die jüngeren Leute, an elementarer praktischer Hilfe etwa für alte und kranke Menschen in der Not der Pandemie geleistet haben. Konnten die Gemeindemitglieder wenigstens Lebensmittel den Alten vor die Tür stellen, gab es telefonische Beratung, wie wurden Bestattungen gefeiert: Dazu erfährt der Leser nichts.
5.
Und ein weiterer Mangel in meiner Sicht ist: In diesen Predigten in Prag im Jahr 2020 soll ja wohl Elementares des christlichen Glaubens in einer neuen, also nicht verbrauchten und angestaubten formelhaften Sprache mitgeteilt werden. Aber der schöpferische Mut, aus dem Alten und Angestaubten wirklich zu neuen Einsichten und neuen Worten zu kommen, also alte Begriffe mutig in neuen Bildern zu formulieren, das fehlt, nicht nur mir.
Nur ein Beispiel: Warum kann Halík die Bedeutung Jesu von Nazareth nicht als erlösendes Vorbild darstellen? Und warum muss er schreiben: “Es war nicht der Glaube der Jünger, der Jesus zum Leben auferweckte“ (S. 139). Warum eigentlich nicht? Was denn sonst, war es wieder mal ein Wunder, ein völlig unverständliches Eingreifen des himmlischen Gottes nun mal auf dem Kalvarienberg? Die theologische Lösung ist doch einfach: Die Jünger vom Heiligen Geist geprägt, erkennen nach Jesu Tod: Derselbe Geist Gottes, der uns zur Erkenntnis bringt, hat auch den verstorbenen Jesus in eine ganz neue Lebendigkeit geführt, in die Ewigkeit Gottes geführt. Der ewige, göttliche Geist ist lebendig, ist auferweckend, bei den Jüngern wie im Fall des verstorbenen Jesus von Nazareth. Im ewigen göttlichen Geist wird deutlich: Dass alle Menschen kraft des Geistes auferstehen. Ich vermute, wenn man solche oder ähnliche Worte fände, wären sie verständlich in einem „atheistischen Milieu“. Halík hingegen hält sich viel zu oft an die Dogmatik des offiziellen Katechismus (von Ratzinger!) und spricht auch vom Abstieg Jesu in die Hölle (S. 121). Und er sogar, der Hinweis eines japanischen Jesuiten sei für Euripa hilfreich: Der Jesuit, Pater Kadowaki sagt: „Auf dem Weg in die Tiefe des Geheimnisses wird dir das Licht der westlichen Rationalität nicht helfen“ (S. 123). Warum das so ist, also warum der Vernunft wieder einmal die totale Unfähigkeit zum Verstehen Jesu von Nazareth und seines Lebens und Auferstehens bescheinigt wird, bleibt ohne Erklärung. Schade.
6.
In Pandemie Zeiten mit den Lock-Downs muss natürlich auch über Politik und Politiker gesprochen werden. Das macht Halik äußerst sparsam in seinen Predigten, er erwähnt den von vielen kritischen Beobachtern letztlich unfähigen populistischen tschechischen Präsidenten Zéman in einer Fußnote auf Seite 206. Das ist alles explizit Politische.
Da ist Halík in dem genannten Aufsatz „Pseudeoreligion“ vom November 2020 schon etwas weiter, aber da gilt die politische Kritik dem Nachbarn Polen, Kaczynskis Regime nennt Halík einen „autoritären Staat“.
7..
Interessant ist, dass Haliks Predigen nicht Teil einer tatsächlichen, aber virtuellen Eucharistiefeier waren. Für den Prager Theologen kann es Eucharistiefeiern nur mit leibhaftig anwesenden Gläubigen geben (S. 61). Ein diskutabler Gedanke. Aber andererseits berichtet Halik, wie er als Priester in der Zeit der Kommunismus für sich ganz allein – offenbar trotz aller Gefährdungen gern – ganz privat die Messe feierte. War die Not im Kommunismus größer als in der Corona Pandemie? (vgl. die Darstellung auf S. 90: „ich selbst habe – im Kommunismus – Tag für Tag elf Jahre lang, meistens allein oder mit eine paar getreuen, die Messe gefeiert)
8.
Halik deutet die Unmöglichkeit (für ihn) alleine in der St. Salvatorkirche Eucharistie zu feiern als eine Art göttlichen Eingriff: „Das erzwungene Fasten von der Eucharistiefeier und anderen Sakramenten hielt ich für einen wertvollen Ausdruck der göttlichen Pädagogik“… eben tiefer im „Fasten“ als Verzicht auf Eucharistiefeier nachdenken zu können, S. 14f. Auf der anderen Seite aber wehrt sich Halik dagegen, die Pandemie irgendwie mit dem Handeln Gottes, etwa eines strafenden Gottes, in Verbindung zu bringen (S. 25). Gilt also: Strafender Gott: Nein, pädagogischer Gott: Ja?
9.
Auch die Deutung der atheistischen Lebensformen in Tschechien scheinen mir zwiespältig zu sein: „Die tschechische Gesellschaft ist stark entkirchlicht, aber nicht atheistisch“ (S. 23) Die größte Gruppe derer, die sich nicht zu den Kirchen bekennen, seien die Menschen „die gleichgültig sind gegenüber der Religion“ (S.23)
Andererseits meint Halik, die große Mehrheit ´der Tschechen hat Ostern schon lange als Feiertag des Frühlings erlebt, freie Tage, die höchstens durch die folkloristische Nachahmung der heidnischen (! sic) Bräuche farbenfroh gemacht wurden.“ (S. 27)
10.
Mich freut, dass Halik wenigsten in einer knappen Formulierung das Grundprinzip der neuen protestantischen liberale Theologie für sich akzeptiert: „Jeder Mensch hat eine geistige Dimension seiner Persönlichkeit, jeder Mensch fragt auf irgendeine Weise nach dem Sind seines Lebens“ (S 23). Das ist die Grundlage für eine ökumenische Theologie, die alle Menschen bewegen kann.

Tomás Halìk, Die Zeit der leeren Kirchen. Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens. Herder Verlag, 2020, 207 Seiten, 20 Euro. Übersetzt aus dem Tschechischen von Markéta Barth und Benedikt Barth.

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