„Mit Platon in Palästina“. Das neue Buch von Carlos Fraenkel.

„Mit Platon in Palästina“.

Das neue Buch von Carlos Fraenkel hat den Untertitel: „Vom Nutzen der Philosophie in einer zerrissenen Welt“

Von Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Dieses Buch liest man mit Begeisterung, weil man entdeckt: Philosophie ist tatsächlich mehr als die allzu oft „abgehobene“ Forschung und die elitäre Debatte in den notwendigerweise begrenzten Räumen der Universitäten. Der Philosoph Carlos Fraenkel (geb. 1971), aufgewachsen in Brasilien und Deutschland, jetzt Professor an der McGill University in Montreal, hat Philosophie an der Basis erprobt, unter benachteiligten arabischen Studenten der al-Quds Universität in der Nähe von Jerusalem oder mit Studenten (der Alauddin state Islamic University) auf der eher entlegenen Insel Sulawesi, Indonesien, aber auch mit philosophischen „Laien“, wie Fraenkel sagt, hat er philosophiert, etwa in Brooklyn mit ultra-Orthodoxen Juden, mit Mitgliedern des Mohawk-Volkes oder in Brasilien mit Oberschülern. Es ist schon erstaunlich, wenn nicht vorbildlich, wenn ein junger Philosoph sich „in die Fremde“ begibt, weil er zurecht vermutet, dass er fragend und suchend dort vielleicht mehr lernt als in ein paar Monaten in einer kanadischen Bibliothek. Diesen „Ortswechsel“ der Philosophie sollte man viel breiter diskutieren … Das Thema “Philosophie in Brasilien” (S. 91- 111) könnte wenigstens am Rande noch einmal aktuell werden, wenn in 2016 dort die Olympiade stattfinden soll. Es wird sich doch nicht jeder und jede hoffentlich nur für den Sport in Brasilien interssiere…

Der Anfang einer Basis-Beziehung der Philosophie ist gemacht, durch Carlos Fraenkel! In Deutschland, so mein Eindruck, sicher auch in Frankreich, überlässt man das Philosophieren an der Basis bisher den freien, d.h. frei- beruflichen Philosophen. Bestens bezahlte Universitätsprofessoren lassen sich an der Basis äußerst selten „blicken“, verachten gar diese elementare Form der Philosophie, und das ist das Philosophieren. Hoffentlich lesen die etablierten deutschen Professoren das Buch von Fraenkel und lassen sich zu neuem Denken bewegen! Sie sollten doch mal nach Holland schauen: Dort gibt es seit vielen Jahren, immer im April, den „Monat der Philosophie“ („Maand van de filosofie“) unter reger Beteiligung der denkenden “Laien”, begleitet von Universitätsprofessoren; eine leider weithin unbekannte Erfolgsgeschichte. In diesem Jahr 2016 ist das Thema in Holland, klug gewählt, „Grenzen“. Ich habe vor einigen Jahren über diesen “maand van de filosofie” berichtet, ohne sichtbare Wirkungen. Leider! Zur Lektüre dieses Beitrags von 2011 klicken Sie bitte hier.

Was Carlos Fraenkel in den mehrwöchigen Workshops erlebt hat, welche Themen debattiert wurden, beschreibt er im ersten Teil des Buches in sehr lebendiger, gut nachvollziehbarer Sprache. Man nimmt förmlich teil an der leidenschaftlichen Abwägung der Argumente, sieht aber auch, wie schwer oft kulturelle oder religiöse Traditionen das kritische Denken „bremsen“. Carlos Fraenkel hat das große Glück, sehr gut die muslimischen Philosophen des 10. Jahrhunderts – natürlich auf Arabisch – interpretieren zu können, genauso wie die jüdischen Philosophen aus der Zeit, als etwa in al andalus (Anadalusien) ein tolerantes Miteinander von Muslims, Juden und Christen möglich war. Dass er die europäischen und amerikanischen Philosophen kennt, ist sowieso klar. Erfreulich in unserer Sicht ist, dass die lateinamerikanische Theologie der Befreiung wenigstens erwähnt wird. Da hätte man sich „mehr“ gewünscht, zumal es auch die „Philosophie der Befreiung“ gibt… In seinen Workshops ist Fraenkel nicht als Besserwisser aufgetreten, sondern als Gesprächspartner. Er wollte das gemeinsame Suchen und Fragen einüben, eine Kultur fördern und pflegen, die das Debattieren als einen der höchsten Werte schätzt: Nur wer in der Debatte seine eigenen Überzeugungen kritisch betrachtet, stagniert nicht, er wächst und nähert sich der je größeren Wahrheit.

Im zweiten Teil seines Buches plädiert Fraenkel, die „Basis-Erfahrungen“ im Hinterkopf, dafür dass die Förderung einer Debattenkultur weltweit so wichtig ist. Und er sieht zurecht, dass da die Philosophen eine riesige Aufgabe hätten, wenn sie denn diese Debattenkultur an der Basis fördern und begleiten würden. Fraenkel zeigt, wie jeder Mensch naturgemäß seine festen Überzeugungen hat, ja diese durchaus braucht zur Orientierung im alltäglichen Leben. Aber das Festklammern an den überlieferten Überzeugungen ist gefährlich, weil das geistige Leben im sturen Nachsprechen traditioneller (Glaubens)-Formeln erstarrt. Auf die Debattenkultur kommt es an, durchaus auch auf Streit, als Austausch von Argumenten. Fraenkel schreibt, bei allem Respekt vor der Relativität der je eigenen Meinungen, dass man nur in der Streitkultur „der Wahrheit näher kommen kann“ (S. 194).

Man würde sich wünschen, wenn Fraenkel in einem nächsten Buch die Frage aufgreifen könnte: Was aber tun wir mit Menschen, die sich jeder Debatten-Kultur entziehen? Die sich selber aussperren aus der Öffentlichkeit? Man muss ja nicht nur an IS denken, sondern an die vielen anderen ideologisch und/oder religiös-fundamentalistisch Verblendeten. Wird man diese Menschen erst dann wieder in eine Debattenkultur einbeziehen können, wenn sich die materiellen/sozialen Verhältnisse so weit verbessert haben, dass sie sich ökonomisch gerecht behandelt fühlen? Welche Fehler werden gemacht, wenn man rechtslastige Kreise von öffentlichen Debatten bewusst ausgrenzt? Verstärkt man dadurch das sektiererische Sich- Abgrenzen dieser Leute?

Aber abgesehen von diesen „schweren“ Debatten-Projekten: Es wäre viel gewonnen, wenn die liberalen, gebildeten Schichten überhaupt viele freie (natürlich angenehm gestaltete) Räume vorfänden für die Pflege der Debatten, gerade in Großstädten wäre das so geboten! Warum kann es nicht „Häuser der Philosophie“ geben, wo sich doch mit großer Selbstverständlichkeit „Literaturhäuser“ längst etabliert haben? Warum könnten da nicht erfolgreiche Verlage als Initiatoren auftreten? Es muss ja nicht gleich ein Haus sein, eine hübsche Etage wäre schon prima….

Diese Fragen werden zurecht angestoßen durch die Lektüre des wichtigen Buches von Carlos Fraenkel, das ja den Untertitel hat: “Vom Nutzen der Philosophie in einer zerrissenen Welt“. Über den Begriff „Nutzen“ könnte man in diesem philosophischen Zusammenhang natürlich weiter diskutieren: Ist Philosophie einsetzbar in gewisse „Nützlichkeits-Erwägungen“, oder ist sie eher hilfreich, inspirierend, erschütternd? In der englischen Ausgabe kommt das Wort „Nutzen“ auch nicht vor. Gut so.

Carlos Fraenkel, „Mit Platon in Palästina. Vom Nutzen der Philosophie in einer zerrissenen Welt“. Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Fienbork. Carl Hanser Verlag, 2016, 240 Seiten, 19,90 €.

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Ist Gott bald obsolet? Die Übersetzung eines Beitrags von André Comte-Sponville

Ist Gott bald obsolet, überholt und altmodisch?

Ein Beitrag von André Comte-Sponville, Philosoph in Paris

Aus dem Französischen Übersetzt von Christian Modehn

Dieser Beitrag ist im Magazin „Le Monde des Religions“ (Paris) im März 2016 erschienen. Diese Zeitschrift ist konfessionell-unabhängig, sie gehört zur Verlagsgruppe von Le Monde und ist an vielen Kiosken und in Buchhandlungen in Frankreich, auch der Schweiz, selbst in Québec, zu finden. Diese alle 2 Monate erscheinende Zeitschrift sollte eine Inspiration sein für Verleger und kompetente Journalisten zu Fragen der Religionen in Deutschland, endlich auch hier eine Zeitschrift zu machen, die den Namen “öffentlich”  verdient und eben an Kiosken und in Buchhandlungen zu haben ist. Natürlich auf hohem, aber “nachvollziehbaren” Niveau. Und völlig unabhängig von jeglichem Einfluss einer Religion oder Kirche.

André Comte-Sponville ist einer der wichtigsten französischen freien Philosophen und international geschätzten philosophischen Autoren. Er bekennt sich selbst zum Agnostizismus, er befasst sich mit der eigentlich selbstverständlichen Spiritualität von und für Atheisten und Agnostiker. Dass es Spiritualität von und für Atheisten gibt, ist evident: Jeder Mensch hat als „Geist-Wesen“ (Spiritus) eben auch seine eigene Spiritualität, wie bescheiden und alltäglich sie auch sein mag. Ich habe André Comte-Sponville vor 8 Jahren in Paris interviewt, ich hatte starkes Interesse, mehr zu erfahren, dass es Spiritualität eben auch für und von Atheisten gibt. Danach erschien in der Zeitschrift PUBLIK-Forum mein Beitrag, der durchaus die Diskussionen zum Thema belebt hat, zur Lektüre klicken Sie hier.

Der Beitrag von André Comte-Sponville aus der empfehlenswerten Zeitschrift “Le Monde des Religions”:

Nietzsche hat sich also getäuscht. Gott ist nicht tot, da Milliarden von Individuen noch an Gott glauben. Von denen sind aber viele bereit zu sterben, das heißt zu töten, leider, für ihren Glauben an Gott. Mehr als ein Jahrhundert nach der Veröffentlichung von „Also sprach Zarathustra“ gibt dies zu denken: Sowohl über die Blindheit der Philosophen wie über die Vitalität der Religionen.

Vermeiden wir es trotzdem, von einer Übertreibung in die andere zu fallen. Wer von der Rückkehr des Religiösen spricht, wie es viele tun, meint nur eine Übertreibung. Der Anteil der Gläubigen in der Welt, selbst wenn sie weithin die Mehrheit bilden, tendiert doch dazu, eher geringer als größer zu werden. Mehr als die Hälfte der Franzosen beziehen sich heute auf keine Religion. Es gibt nicht mehr als 4 Prozent der Katholiken, die sonntags in Frankreich zur Messe gehen. Selbst in den USA, die so viel religiöser sind als die europäischen Länder, gibt es den Atheismus und den Agnostizismus als die am meisten wachsenden spirituellen Strömungen. Der Anteil der Nordamerikaner, die sich „ohne Religion“ nennen, ist von 2 Prozent im Jahr 1960 auf 16 Prozent im Jahr 2014 gestiegen.

Was wir seit etwa zwei Jahrzehnten erleben, ist weniger eine Zunahme der Religiosität als die sehr spektakuläre, sichtbare Behauptung dieser Religiosität, auch in der öffentlichen Sphäre. Das trifft besonders auf den Islam zu, bei dem diese Betonung der Religiosität oft beängstigende Aspekte annimmt. Aber auch das Christentum entkommt dem nicht. Schauen Sie doch auf die evangelikalen Kirchen in den USA oder schauen Sie auf gewisse militante Leute bei den Anti-Gay-Ehe- Demonstrationen in Frankreich. Eine Rückkehr des Religiösen, wer könnte das statistisch erfassen? Sicher niemand. Aber es gibt eine Wiederbelebung der Darstellungen des Religiösen, wenn es sich nicht dabei sogar um eine Rückkehr zum Fundamentalismus ist, zum Integrismus und sogar speziell in der islamischen Welt zum Fanatismus handelt. Aber die meisten Glaubenden in unseren Ländern sind weit entfernt von solchen Übertreibungen, glücklicherweise. Sie leben ihren Glauben ruhig, und sie stellen dabei fest, dass ihr Glaube – statistisch gesehen – aufgehört hat bestimmend zu sein.

Aber lassen wir die Statistiken den Soziologen.

Die Religionen sind genauso alt wie die zivilisierte Menschheit. Es gibt allen Grund zu denken, dass sie genauso lange währen wie die Menschheit.

Das Universum ist ein Mysterium, niemals genau zu erklären. Das Leben, eine Prüfung, ist auf immer zerbrechlich. Das Gewissen, ein Leiden, wie es das alttestamentliche Buch Ecclesiasticus sieht, das auf immer untröstlich ist. Warum gibt es einige Dinge und nicht vielmehr Nichts? Wir wissen es nicht. Und wir werden es niemals wissen. Warum sind wir da? Was erwartet uns, zum Beispiel nach dem Tod? Wir wissen auch das nicht. Das lässt den Religionen eine gute Zukunft und auch dem Atheismus, denn er vermutet auch eine Idee Gottes, die er dann aber kritisiert. Die Gottesfrage bleibt, philosophisch gesehen, offen. Man kann diese Frage nur in Begriffen des Glaubens oder des Unglaubens beantworten. Beide Antworten sind subjektiv, ohne dass ein Wissen jemals diese Gottesfrage und diese Debatte um die Gottesfrage beenden könnte. Dies ist eine Lektion der Toleranz für jeden, und eine Lektion der Bescheidenheit für alle.

Übrigens: Verwechseln wir nicht die Spiritualität, die ein persönliches Abenteuer ist, mit den Religionen, die immer kollektiv sind. Der Rückgang der Religionen speziell in Europa, lässt nicht das Bedürfnis nach Spiritualität verschwinden. Das Gegenteil, so scheint mir, zeigt sich: Unsere Zeitgenossen befassen sich um so mehr mit Spiritualität, je weniger sie mit den institutionellen Religionen zufrieden sind. Was aber ist Spiritualität? Dies ist das Leben des Geistes, speziell in seiner Beziehung zum Unendlichen, zur Ewigkeit, zum Absoluten. Wie könnten die Kirchen dem entsprechen? Und wie könnten die Atheisten darauf verzichten?

Sollen wir etwa an den Menschen glauben? Das würde nur einen traurigen Gott ergeben und eine armselige Religion. Besser ist es zu fragen, wie wir unsere endliche Beziehung zum Unendlichen gestalten können, unsere zeitliche Beziehung zur Ewigkeit, unsere relative Beziehung zum Absoluten. Das heißt, treu zu bleiben zum Monotheismus, das gilt selbst für die, die aufgehört haben, an ihn zu glauben. Also: Nicht den Idolen Opfer darbringen. Nicht auf den Geist verzichten.

Copyright: Le Monde des religions, Paris, und Andre Comte-Sponville.

Die Internetadresse: http://www.lemondedesreligions.fr/

 

 

 

Für ein modernes Völkerrecht: Der Niederländer Hugo Grotius, geboren am 10.4.1583

In unserer Reihe “Eckige Gedenktage” erinnern wir am 10.April an den Geburtstag des niederländischen Juristen und Philosophen Hugo de Groot, auf Deutsch Hugo Grotius, geboren 1583 in Delft. Zudem war er ein Freund der auf Toleranz setzenden Remonstranten-Kirche in Holland. Grotius gilt als einer der “Väter” des modernen Völkerrechts. Er ist am 28.8.1645 in Rostock (!) gestorben.

Wenn Historiker und Theologen heute wie früher über „Toleranzdiskurse in der frühen Neuzeit“ (so ein neues Buch hg. von Friedrich Vollhardt, erschienen 2015) sprechen und über Duldung religiöser Pluralität, „dann ist es auffällig, dass die großen Vordenker der Toleranz intensive Kontakte zu den Remonstranten in Holland gepflegt haben“, schreibt Professor Yves Bizeul (Rostock) in seinem Beitrag über den Philosophen Pierre Bayle. Dass sich nach all den Kriegen und Religionskämpfen die Toleranz-Idee immer mehr dann doch durchsetzte, hat verschiedene Gründe; ein entscheidender Grund ist, dass sich der „liberale Flügel des Protestantismus“ in Holland, also die Remonstranten, als starke intellektuelle christliche wie humanistische Kraft erweisen konnte. Yves Bizeul erwähnt den großen Hugo Grotius, „er stand den Remonstranten nahe“, Bizeul nennt weiter Spinoza, auch Locke „der lange Gespräche führte mit dem Remonstranten Philippe von Limborch; erwähnt wird auch, dass Pierre Bayle befreundet war mit dem Remonstranten Adrian de Paets.. (Vgl. in dem genannten Buch die Seiten 205 f.)

Es gab also schon der Mitte des 17. Jahrhunderts – in Holland – eine unter kritischen Intellektuellen angesehene (kleine) protestantische Kirche, die auch humanistische Ideale als die eigenen verstand. Über die Entwicklung einer theologisch – engen lutherischen Orthodoxie im 17. Jahrhundert ist viel geklagt worden. Es wäre wohl hilfreich zu erinnern, dass es einmal ein protestantisch-humanistisches Christentum der Toleranz gab und auch heute noch in der Remonstranten Kirche gibt. Dies wäre auch ein Thema der Reformationsfeierlichkeiten 2017. Humanismus und Protestantismus!

Nebenbei: Es gibt gelegentlich gemeinsame Veranstaltung der „Jungen Mitglieder des Niederländischen Humanistischen Verbandes NL“ und der „Jungen Remonstranten“. Eine Mitarbeiterin des neuen theologischen Instituts der Remonstranten an der „Vrije Universiteit van Amsterdam“, Christa Anbeek, hat etliche Jahre an der „Humanistischen Universität“ von Utrecht als Dozentin gearbeitet.

copyright: Christian Modehn

 

Für eine weltliche Religiosität: Zur Spiritualität von Umberto Eco

Für eine weltliche Religiosität: Zur Spiritualität von Umberto Eco

Ein Hinweis von Christian Modehn

Er hat sich in seinem großen Roman „Der Name der Rose“ als bester Kenner der mittelalterlichen (und sicher nicht nur der mittelalterlichen) Kloster-Welt gezeigt. Das verwundert nicht, hat doch Umberto Eco z.B. seine philosophische Dissertation über das Denken des Dominikanermönchs (und bis heute berühmten Theologen und Philosophen) Thomas von Aquino (1225-1274) verfasst.

Über die Spiritualität bzw. den Glauben Umberto Ecos ist nach meinem Eindruck auf Deutsch nicht viel publiziert worden.

Eco berichtet, dass er bis zu seinem 22. Lebensjahr („da kam der Bruch“) sehr stark auch innerlich vom Katholizismus geprägt war, er hat sich zu seiner agnostischen Haltung durchgerungen, „erkämpft“ wie er sagt. Die alte katholische Welt sei er aber nicht losgeworden, wie er in dem Buch „Woran glaubt, wer nicht glaubt?“ betont (S. 82 f.). Lesenswert ist immer noch der Briefwechsel (vom Ende der neunzehnhundertneunziger Jahre) mit dem Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini (1927-2012) aus dem Jesuitenorden. Er kann als ausdrücklich progressiver Denker bezeichnet werden. Manche bedauern, dass er nicht anstelle von Joseph Ratzinger Papst wurde…

Allein schon die Tatsache, dass sich ein eher agnostisch fühlender Philosoph mit einem Kardinal ausführlich in Briefen (!) austauscht, verdient große Beachtung. Gibt es ähnliches aus dem deutschsprachigen Raum??

Auf Deutsch ist das Buch unter dem treffenden Titel „Woran glaubt, wer nicht glaubt“ im DTV Verlag 1999 erschienen. Denn klar ist für Umberto Eco: Mein Agnostizismus ist eine Glaubenshaltung! Die Zeiten sind inzwischen vorbei, in denen sich Atheisten und Agnostiker als Spitze der Weltentwicklung fühlten und ihre Überzeugung als Wissenschaft, somit als beweisbare Lehre, verkündeten.. Nur in einer Glaubenshaltung kann man sich der Frage nach dem „Ganzen“ usw. stellen, die glaubende Antwort kann dann unterschiedlich ausfallen.

Wichtig und zur Lektüre zu empfehlen ist vor allem Umberto Ecos Text „Wenn der andere ins Spiel kommt, beginnt die Ethik“, S. 82 ff. Und man möchte in den heutigen Schlammschlachten, die von rechtslastigen und populistischen Parteien Europas angezettelt werden, diesen Text – wieder mal – als Pflicht-Lektüre empfehlen. Den fundamentalistischen Mörderbanden, die sich auf den Islamismus beziehen, sowieso. Falls sie lesen.

Nur zwei Zitate von Umberto Eco: „Wir müssen in erster Linie die Rechte der Körperlichkeit anderer respektieren…“ S. 85. Rechte des Körpers: Darauf besteht Ecos weltliche Ethik: „Sie gründet auf dem natürliche Faktum unserer Körperlichkeit und auf dem Gedanken, dass wir instinktiv wissen, dass wir nur durch die Gegenwart anderer (d.h. durch den Blick des anderen auf uns) eine Seele haben“. (89) „Diese natürliche Ethik kann auch der Gläubige nicht verkennen“ (90). In der natürlichen Ethik sieht Eco sogar eine „tiefe Religiosität“ (93) ganz neuer, humanistischer Art. Diese natürliche Ethik trifft sich für Eco mit der Ethik der Glaubenden. Ein Thema, das unbedingt vertieftwerden müsste: “Natürliche Ethik als tiefe Religiosität”: Das weist – wieder einmal – zu Immanuel Kant.

Nebenbei, für Theologen: Auch die moderne katholische Ethik basiert auf der Autonomie der Moral, entwickelt etwa durch den Theologen Franz Böckle und andere, inspiriert aber letzten Endes von Thomas von Aquin. Die aus dem Evangelium stammende Moral kann dann diese vernüftige Moral vertiefen und provozierende Fragen stellen, wie zum Thema “Feindesliebe”… Aber an erster Stelle steht dieVernunft-Moral, die alle Menschen verbindet.

 

Copyright: Christian Modehn

 

An (und mit) Montaigne denken: Am 28. Februar

Am 28. Februar 1533 wurde Michel de Montaigne geboren. Gestorben ist er am 13. September 1592. Wohl kaum ein anderer philosophierender Autor, den wir durchaus Philosoph nennen sollen, (denn dieser Titel ist doch nicht Universitäts-Professoren vorbehalten), hat in den letzten Jahren so viel Beachtung gefunden, so viele Leser, die mit Vergnügen seine skeptischen und wahrhaftigen Essais lesen. Und als Inspiration begreifen, das Leben “trotz allem” zu lieben.

Ein Hinweis mit einer Lese-Empfehlung:

Michel de Montaigne: Er lehrt die Menschen „wie sie mit sich selbst sprechen sollen“

Ein Hinweis von Christian Modehn

Eigentlich muss man das Werk Michel de Montaignes nicht mehr empfehlen, er ist jetzt beliebt selbst bei Menschen, die sich sonst schwer tun mit philosophischer Lektüre. Dabei wäre es auch falsch, Montaignes Denken „leicht“ zu finden. Ihm gelingt es, komplexe Lebens-Erfahrungen nachvollziehbar und in angenehmer Sprache zu benennen. Er macht Lust am Selber-Denken. Und er ist in Zeiten der Religionskriege des 16. Jahrhunderts kritisch und selbstkritisch, man lese etwa Essay 56 „Über das Beten“ bzw. über die Verlogenheiten beim Beten und die offiziell erwünschte Frömmigkeit.

Was die Lektüre der Essais, also des Hauptwerkes von Montaigne, so erfreulich macht, ist die man möchte sagen umfassende, nahezu absolute Wahrhaftigkeit des Autors; ist die Tatsache, dass da ein Mensch im Angst-besetzten 16. Jahrhundert sich ganz frei zeigt, „ich“ sagt, eigene Überzeugungen begründet, immer als Beispiel, wie Leben auf dieser verrückten und feindseligen Welt doch noch einen Schimmer des Gutseins und der Hoffnung bewahrt. Man lese seine Empfehlung zum Selbst-Denken: “Worauf ihr zu sinnen habt, ist nicht mehr, dass die Welt von euch spreche, sondern wie ihr MIT EUCH selbst sprechen sollt. Zieht euch in euer Inneres zurück, vorher aber macht alles bereit, euch dort empfangen zu können…“ (Essay 39, Über die Einsamkeit). Und vor allem: “Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten, ganz für uns, ganz ungestört, um aus dieser Abgeschiedenheit unseren wichtigsten Zufluchtsort zu machen, unsere wahre Freistatt…“

Unpolitisch war er nicht, bei aller Liebe zu einer skeptischen Lebenshaltung: Schon als junger Mann hat er sich als Stadtrat von Bordeaux um das Wohl der Bürger gekümmert. Und vor allem kann er darauf verweisen, dass er vier Jahre lang als Bürgermeister von Bordeaux tätig war, zur Zufriedenheit der Bürger übrigen. Allerdings hat er selbst auch negative Erfahrungen gemacht: „Die Gesetze werden oft von Hohlköpfen gemacht und noch öfter von Leuten, die die Gleichheit aller Menschen hassen und dabei ihres Sinnes für die Gerechtigkeit beraubt werden. Diese Gesetzgeber sind windige und wetterwenderische Macher…. Ich finde die Gemeinwesen am gerechtesten, die am wenigsten Ungleichheit zwischen Oben und Unten in der Gesellschaft, sagen wir zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, zulassen“.

Nach wie vor empfehle ich die Übersetzung der Essais durch Hans Stilett, eine großartige Leistung. Zuerst 1998 im Eichborn Verlag 1998 in einer prächtigen Ausgabe erschienen.

Copyright: Christian Modehn

Ohne Zweifeln keine Sicherheit im Leben. Warum Descartes hilfreich bleibt.

Ohne Zweifeln keine Sicherheit im Leben. Warum Descartes hilfreich bleibt.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Inmitten der Katastrophen des Dreißigjährigen Krieges, der Religionskriege in Frankreich, der gesamt-europäischen Verfolgung von Ketzern als Folge der brutal agierenden Inquisition, also inmitten einer Zeit allgemeiner Angst und Verwirrung, bietet der Philosoph René Descartes einen Vorschlag geradezu als Lebenshilfe: Es ist seine Lehre vom Zweifeln. Sie öffnet einen Weg, inmitten der Katastrophen noch einen letzten vernünftigen Boden der Lebens-Gewissheit für sich als einzelnen zu entdecken. Dies gilt, auch wenn einige seiner Lehren, etwa die Spaltung von Innenwelt und Außenwelt oder seine Einschätzung der Tiere als Gegenstände, heute überwunden werden müssen. Darin werden die Grenzen seines Denkens sichtbar.

Es gilt jedoch: Wahrheit zeigt sich dem einzelnen denkenden Menschen nur, wenn er sich seines eigenen Verstandes selbständig bedient. Die Kraft der Vernunft ist autonom, von keinem Einspruch eines Herrschers abhängig; einzig Gott, so meinte Descartes, garantiert die richtigen Leistungen der Vernunft. Auf den einzelnen kommt es an, zu fragen, zu zweifeln, darin lebt die Form des „klaren Denkens“. So muss sich der einzelne an den vorgegebenen Lehren, Dogmen, Ideologien, an den Propaganda-Sprüchen abarbeiten, um „sicheren Boden“ selbst für sich zu finden.

Philosophie des Zweifelns wird so zur Befreiung von der Macht der Autoritäten und uralten, deswegen oft falschen (weil etwa wissenschaftlichen erwiesenermaßen überholten) Traditionen.

Die religiösen Autoritäten haben genau erkannt, dass ihre Macht und Verfügung über die geistige Orientierung der Menschen durch Descartes stark bedroht wird. Sie fürchteten vor allem Descartes als Lehrer dieser neuen, emanzipatorischen Geisteshaltung. Seit 1653, drei Jahre nach seinem Tod in Stockholm, stehen seine Schriften auf der päpstlich verfügten Liste der Verbotenen Bücher (Index), 1691 folgte das königliche Verbot in Frankreich, seine Lehren an französischen Schulen zu unterrichten. Auch Universitäts-Professoren wird es untersagt, das Denken von Descartes zu verbreiten und zu lehren. Die Jesuiten veröffentlichen 1706 ein Buch, das die Lehre vom „Systematischen Zweifel“ im Sinne Descartes verbietet (Siehe Georges Minois, Geschichte des Atheismus, 2000, Seite 251), Aber diese Verbote verbunden mit der Drangsalierung von Descartes-Forschern, nützten wenig. In der allmählich antiklerikal eingestellten Gesellschaft etwa Frankreichs wurden seine Bücher mit Begeisterung gelesen, populäre Interpretationen wurden verbreitet („L art de vivre heureux selon les principes de M. Mesdcartes“ aus dem Jahr 1667. Oder, man stelle sich das heute vor, es gab spezielle Descartes-Einführungen für die Damen gelehrter Salons, etwa von René Bary. Und Madame de Sévigne, die berühmte Pariser Salonnière, ist voll des Lobes für Descartes.

Descartes ist nur ein Beispiel, wie zuvor schon in Italien, der Zweifel zu einer Art „Habitus Mentis“ wurde, wie Minois schreibt (S. 117), zu einer allgemeinen Geisteshaltung. Dabei war Descartes persönlich eher ängstlich, er wollte die Auseinandersetzungen mit der Inquisition meiden. In seinen Briefen wird seine Persönlichkeit sichtbar. Dem Philosophen Pater Mersenne vertraut er an: “Mein Wunsch in Frieden zu leben, zwingt mich dazu, meine Theorien für mich zu behalten“ (in Minois, Seite 248). D.h. er hat längst nicht „alles“ öffentlich gesagt, was ihm wichtig war. Trotzdem galten seine veröffentlichten Lehren den Herrschern bereits zu Lebzeiten als hoch gefährlich: Der Philosoph Prof. Theodor Ebert (Erlangen) hat in seiner Studie (Der rätselhafte Tod des René Descartes) gezeigt, dass Descartes in Stockholm sehr wahrscheinlich von dem französischen Priester François Viogué aus dem Augustiner-Orden vergiftet wurde, offensichtlich um Descartes „kritischen (antikatholischen) Einfluss“ auf die zum Katholizismus tendierende König Christine definitiv zu beenden.

Jedenfalls hat sich der Katholizismus in seiner Abwehr des Zweifelns (auch als gültige Dimension der Wissenschaften, der Theologien, der Bibel-Deutung usw.) selbst ins Getto der „Ewig-Gestrigen“ begeben und sich von der intellektuellen Debatte weithin verabschiedet. Die Mentalität der „von Feinden belagerten Stadt“, wie der Historiker Jean Delumeau („Angst im Abendland“) treffend sagt, galt im Katholizismus sozusagen noch bis vorgestern. Diese Abwehr von neuen Erkenntnissen zeigt sich heute etwa im rigorosen Nein zur Vielfalt der Formen der Ehe, also auch der Homo-Ehe. Dabei berufen sich die meisten Katholiken und ihre leitenden ehelosen (!) Bischöfe und Prälaten auf einige Verse aus der Bibel und praktizieren so die Methode, die einige fundamentalistische Muslime in ihrer Koran-Interpretation leisten: Wenn im biblischen Buch Genesis steht: „Als Mann und Frau schuf Gott die Menschen“, (Genesis 1, 27) so schließen die Prälaten aus dieser schlichten Tatsachen-Behauptung: Also hat Gott für alle Zeiten nur die EHE von Mann und Frau zugelassen. Solche Schlüsse entbehren jeder Logik, sie sind Ausdruck fundamentalistischer Bibellektüre. Könnte man nicht gleichermaßen den Satz aus Genesis 2, 18 zitieren: „Es ist nicht gut, dass der Mensch (hier ist der Mann gemeint), allein sei“ und folgern: Also ist wegen der göttlichen Abwehr des Alleinseins auch eine Homoehe eben als Überwindung des Alleinseins gottgefällig? Aber lassen wir den fundamentalistischen Wahn: Jedenfalls glauben die frommen und oft theologisch-dumm gehaltenen Massen diese steilen Sprüche ihrer Glaubens-Hüter, sie können und wollen eben nicht zweifeln (!), wie jetzt, anlässlich der Diskussionen und Demonstrationen gegen die „eingetragene Partnerschaft von Homosexuellen“ in Italien. Bisher hat der Vatikan das Gesetz, selbst im katholischen Spanien seit langem üblich, verhindern können. In Italien darf es eben keine Politik ohne den Vatikan geben. Die auch staatliche, gesetzliche Gestaltung der Sexualität ist die letzte eigene „Bastion“, um die die Kirche heute kämpft. Da will sie die alte Übermacht des Geistlichen über das Weltliche (so die Kämpfe seit dem Mittelalter) noch einmal demonstrieren. Langfristig ist dieser Kampf – Gott sei Dank – vergeblich.

Man sieht, wie aktuell Descartes heute sein kann: Der Zweifel als Lebenshaltung wäre gerade heute eine Tugend, sie könnte die Leichtgläubigkeit beenden, das schnelle Urteilen einschränken, das mediale „Immer schon wissen, was genau passiert ist“. Der Zweifel als Haltung auch der Politiker würde Abstand bringen zum Stress, den Propaganda-Sprüche verursachen. Der Zweifel könnte eventuell den Wahn religiöser Fundamentalisten eben zweifelhaft und falsch erscheinen lassen. Aber die Macht derer, die schnelle Sicherheit versprechen, ist so groß, dass die Tugend des Zweifelns wenige Chancen hat, bestimmend zu werden. Gerade in Zeiten, die von übereilten, so wenig kritischen und selbstkritischen Äußerungen zum Thema Flüchtlinge bestimmt sind, wäre Zweifeln sozusagen die „heilige Tugend“ der Menschen. Aber wehrt lehrt das Zweifeln? Sind Schulen und Universitäten Orte des systematischen Zweifelns? Sollten es christliche oder buddhistische oder jüdische und muslimische Gemeinden nicht auch sein, Orte des selbstkritischen Zweifelns?

Aber viele Menschen können das eigene Zweifeln kaum aushalten, weil sie sich lieber selbst an schnelle, falsche Antworten halten als an das geduldige, die Wahrheit erkundende Fragen. Weil sie im Zweifeln also eine Bedrohung ihrer Existenz sehen und nicht wahrnehmen, dass die ganze Kunst des Lebens darin besteht, am angenommenen und gelebten Zweifeln nochmals selbst zu zweifeln. Um dabei zu entdecken, dass der Zweifel eine Dimension und eine Form der Aktualisierung des menschlichen Geistes ist.

 

Copyright: Christian Modehn

 

An René Descartes denken: 11. Februar

An René Dscartes denken:

Am 11. Februar 1650 ist René Descartes in Stockholm gestorben, zweifellos einer der wichtigsten Philosophen der Neuzeit, geboren am 31. 3. 1596 in der Touraine. Sein Denken hat die grundlegende “Mentalität” der europäischen Moderne und der “modernen” Menschen grundlegend bestimmt.

Ohne Zweifeln keine Sicherheit im Leben. Ein Hinweis von Christian Modehn. Veröffentlicht am 30.1.2016

Inmitten der Katastrophen des Dreißigjährigen Krieges, der Religionskriege in Frankreich, der gesamt-europäischen Verfolgung von Ketzern als Folge der brutal agierenden Inquisition, also inmitten einer Zeit allgemeiner Angst und Verwirrung, bietet der Philosoph René Descartes einen Vorschlag geradezu als Lebenshilfe: Es ist seine Lehre vom Zweifeln. Sie öffnet einen Weg, inmitten der Katastrophen noch einen letzten vernünftigen Boden der Lebens-Gewissheit für sich als einzelnen zu entdecken. Dies gilt, auch wenn einige seiner Lehren, etwa die Spaltung von Innenwelt und Außenwelt oder seine Einschätzung der Tiere als Gegenstände, heute überwunden werden müssen. Darin werden die Grenzen seines Denkens sichtbar.

Es gilt jedoch: Wahrheit zeigt sich dem einzelnen denkenden Menschen nur, wenn er sich seines eigenen Verstandes selbständig bedient. Die Kraft der Vernunft ist autonom, von keinem Einspruch eines Herrschers abhängig; einzig Gott, so meinte Descartes, garantiert die richtigen Leistungen der Vernunft. Auf den einzelnen kommt es an, zu fragen, zu zweifeln, darin lebt die Form des „klaren Denkens“. So muss sich der einzelne an den vorgegebenen Lehren, Dogmen, Ideologien, an den Propaganda-Sprüchen abarbeiten, um „sicheren Boden“ selbst für sich zu finden.

Philosophie des Zweifelns wird so zur Befreiung von der Macht der Autoritäten und uralten, deswegen oft falschen (weil etwa wissenschaftlichen erwiesenermaßen überholten) Traditionen.

Die religiösen Autoritäten haben genau erkannt, dass ihre Macht und Verfügung über die geistige Orientierung der Menschen durch Descartes stark bedroht wird. Sie fürchteten vor allem Descartes als Lehrer dieser neuen, emanzipatorischen Geisteshaltung. Seit 1653, drei Jahre nach seinem Tod in Stockholm, stehen seine Schriften auf der päpstlich verfügten Liste der Verbotenen Bücher (Index), 1691 folgte das königliche Verbot in Frankreich, seine Lehren an französischen Schulen zu unterrichten. Auch Universitäts-Professoren wird es untersagt, das Denken von Descartes zu verbreiten und zu lehren. Die Jesuiten veröffentlichen 1706 ein Buch, das die Lehre vom „Systematischen Zweifel“ im Sinne Descartes verbietet (Siehe Georges Minois, Geschichte des Atheismus, 2000, Seite 251), Aber diese Verbote verbunden mit der Drangsalierung von Descartes-Forschern, nützten wenig. In der allmählich antiklerikal eingestellten Gesellschaft etwa Frankreichs wurden seine Bücher mit Begeisterung gelesen, populäre Interpretationen wurden verbreitet („L art de vivre heureux selon les principes de M. Mesdcartes“ aus dem Jahr 1667. Oder, man stelle sich das heute vor, es gab spezielle Descartes-Einführungen für die Damen gelehrter Salons, etwa von René Bary. Und Madame de Sévigne, die berühmte Pariser Salonnière, ist voll des Lobes für Descartes.

Descartes ist nur ein Beispiel, wie zuvor schon in Italien, der Zweifel zu einer Art „Habitus Mentis“ wurde, wie Minois schreibt (S. 117), zu einer allgemeinen Geisteshaltung. Dabei war Descartes persönlich eher ängstlich, er wollte die Auseinandersetzungen mit der Inquisition meiden. In seinen Briefen wird seine Persönlichkeit sichtbar. Dem Philosophen Pater Mersenne vertraut er an: “Mein Wunsch in Frieden zu leben, zwingt mich dazu, meine Theorien für mich zu behalten“ (in Minois, Seite 248). D.h. er hat längst nicht „alles“ öffentlich gesagt, was ihm wichtig war. Trotzdem galten seine veröffentlichten Lehren den Herrschern bereits zu Lebzeiten als hoch gefährlich: Der Philosoph Prof. Theodor Ebert (Erlangen) hat in seiner Studie (Der rätselhafte Tod des René Descartes) gezeigt, dass Descartes in Stockholm sehr wahrscheinlich von dem französischen Priester François Viogué aus dem Augustiner-Orden vergiftet wurde, offensichtlich um Descartes „kritischen (antikatholischen) Einfluss“ auf die zum Katholizismus tendierende König Christine definitiv zu beenden.

Jedenfalls hat sich der Katholizismus in seiner Abwehr des Zweifelns (auch als gültige Dimension der Wissenschaften, der Theologien, der Bibel-Deutung usw.) selbst ins Getto der „Ewig-Gestrigen“ begeben und sich von der intellektuellen Debatte weithin verabschiedet. Die Mentalität der „von Feinden belagerten Stadt“, wie der Historiker Jean Delumeau („Angst im Abendland“) treffend sagt, galt im Katholizismus sozusagen noch bis vorgestern. Diese Abwehr von neuen Erkenntnissen zeigt sich heute etwa im rigorosen Nein zur Vielfalt der Formen der Ehe, also auch der Homo-Ehe. Dabei berufen sich die meisten Katholiken und ihre leitenden ehelosen (!) Bischöfe und Prälaten auf einige Verse aus der Bibel und praktizieren so die Methode, die einige fundamentalistische Muslime in ihrer Koran-Interpretation leisten: Wenn im biblischen Buch Genesis steht: „Als Mann und Frau schuf Gott die Menschen“, (Genesis 1, 27) so schließen die Prälaten aus dieser schlichten Tatsachen-Behauptung: Also hat Gott für alle Zeiten nur die EHE von Mann und Frau zugelassen. Solche Schlüsse entbehren jeder Logik, sie sind Ausdruck fundamentalistischer Bibellektüre. Könnte man nicht gleichermaßen den Satz aus Genesis 2, 18 zitieren: „Es ist nicht gut, dass der Mensch (hier ist der Mann gemeint), allein sei“ und folgern: Also ist wegen der göttlichen Abwehr des Alleinseins auch eine Homoehe eben als Überwindung des Alleinseins gottgefällig? Aber lassen wir den fundamentalistischen Wahn: Jedenfalls glauben die frommen und oft theologisch-dumm gehaltenen Massen diese steilen Sprüche ihrer Glaubens-Hüter, sie können und wollen eben nicht zweifeln (!), wie jetzt, anlässlich der Diskussionen und Demonstrationen gegen die „eingetragene Partnerschaft von Homosexuellen“ in Italien. Bisher hat der Vatikan das Gesetz, selbst im katholischen Spanien seit langem üblich, verhindern können. In Italien darf es eben keine Politik ohne den Vatikan geben. Die auch staatliche, gesetzliche Gestaltung der Sexualität ist die letzte eigene „Bastion“, um die die Kirche heute kämpft. Da will sie die alte Übermacht des Geistlichen über das Weltliche (so die Kämpfe seit dem Mittelalter) noch einmal demonstrieren. Langfristig ist dieser Kampf – Gott sei Dank – vergeblich.

Man sieht, wie aktuell Descartes heute sein kann: Der Zweifel als Lebenshaltung wäre gerade heute eine Tugend, sie könnte die Leichtgläubigkeit beenden, das schnelle Urteilen einschränken, das mediale „Immer schon wissen, was genau passiert ist“. Der Zweifel als Haltung auch der Politiker würde Abstand bringen zum Stress, den Propaganda-Sprüche verursachen. Der Zweifel könnte eventuell den Wahn religiöser Fundamentalisten eben zweifelhaft und falsch erscheinen lassen. Aber die Macht derer, die schnelle Sicherheit versprechen, ist so groß, dass die Tugend des Zweifelns wenige Chancen hat, bestimmend zu werden. Gerade in Zeiten, die von übereilten, so wenig kritischen und selbstkritischen Äußerungen zum Thema Flüchtlinge bestimmt sind, wäre Zweifeln sozusagen die „heilige Tugend“ der Menschen. Aber wehrt lehrt das Zweifeln? Sind Schulen und Universitäten Orte des systematischen Zweifelns? Sollten es christliche oder buddhistische oder jüdische und muslimische Gemeinden nicht auch sein, Orte des selbstkritischen Zweifelns?

Aber viele Menschen können das eigene Zweifeln kaum aushalten, weil sie sich lieber selbst an schnelle, falsche Antworten halten als an das geduldige, die Wahrheit erkundende Fragen. Weil sie im Zweifeln also eine Bedrohung ihrer Existenz sehen und nicht wahrnehmen, dass die ganze Kunst des Lebens darin besteht, am angenommenen und gelebten Zweifeln nochmals selbst zu zweifeln. Um dabei zu entdecken, dass der Zweifel eine Dimension und eine Form der Aktualisierung des menschlichen Geistes ist.

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