Die Lehrer der Weisheit und die Flüchtlinge in Deutschland. Zum neuen Heft „Philosophie Magazin”

Die Lehrer der Weisheit und die Flüchtlinge in Deutschland: Zum neuen Heft „Philosophie Magazin“

Ein Hinweis von Christian Modehn

Wie die „TAZ“ am 16. Januar 2016 auf Seite 2 berichtet, hatte Wolfram Eilenberger, Chefredakteur des „Philosophie Magazin“ in Berlin, eine Art philosophische Erleuchtung: Er fand die Planung des ursprünglichen Schwerpunktthemas fürs neue Heft („Sind wir dafür geschaffen in Paaren zu leben?“) höchst unpassend angesichts der drängenden aktuellen politischen Entwicklung in Deutschland und Europa: Darum setzte er durch, dass das Thema Flüchtlinge im Mittelpunkt des Februar Heftes steht. In Abwandlung des ursprünglich vorgesehenen Themas hätte man auch sagen können: „Sind wir Deutschen und Europäer dafür geschaffen, mit vielen tausend Flüchtlingen zusammenzuleben“? Die Antwort “Ja” hätte von verschiedenen Seiten begründet werden können!

Wie auch immer: Man kann ihm und seinem Team nur gratulieren: 27 PhilosophInnen (mehr Männer als Frauen) sind also in dem Heft auf 20 Seiten, nach einer Einleitung von Wolfram Eilenberger, versammelt. Sie geben unter der großen Leitfrage „Was tun ?“ – angesichts der Flüchtlinge (in Deutschland) – Impulse zum Weiterdenken und Widersprechen, hoffentlich auch zum politischen Handeln. Nicht alle 27 Autoren sind so genannte „Fach-Philosophen“ an Universitäten, einige sind z.B. Professoren der Literaturwissenschaftler oder Politologen. Und das ist auch gut so, denn philosophische Dimensionen melden sich bekanntlich in jeder Wissenschaft und Forschung, vor allem in jedem nachdenklichen Menschen förmlich von selbst. Schade ist in unserer Sicht, dass kein Religionswissenschaftler und kein kritischer Theologen zu Wort kommt. Zeigt sich da eine traditionelle, tief sitzende Abwehr philosophisch arbeitender Journalisten, diese Ablehnung von Religionswissenschaft und kritischer Theologie? Das ließe sich und sollte sich ändern, unserer Meinung nach.

Und schade ist auch, dass kein „Engagierter“ aus der Flüchtlingshilfe, der oder die ja zweifelsfrei auch philosophierend nachdenkt, zu Wort kommt. Denn Philosophie ist sicher immer sehr viel mehr als das, was sich an den philosophischen Uni-Seminaren oder in Fachpublikationen für ein Fachpublikum von ca. 500 Buchkäufern so alles abspielt. Das Philosophie Magazin, in gewisser Weise eine Dependance des großen „Philosophie Magazine“ aus Paris, hält dagegen und vermittelt ein anderes Bild von Philosophie! Dafür sollte man diese Initiative loben. Aber schade ist auch, dass bei dem Thema kein philosophierender Mensch oder gar ein „Fachphilosoph“ aus dem arabischen Raum, und das heißt immer auch aus dem muslimischen Raum, zu Wort kommt. Abgesehen von Souleymane Bachir Diagne, New York und Lamya Kaddor, Bochum.

Aber : Diese kritischen Hinweise einmal beiseite lassend: Das Februar Heft des Philosophie-Magazin verdient alle Aufmerksamkeit allein schon des Schwerpunktthemas wegen. Nebenbei kann man sich auch u.a. mit Henri Bergson befassen und seiner Lehre vom Gedächtnis… und viele wichtige Buchempfehlungen lesen. Wir empfehlen ebenso das Buch “Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild” (Rowohlt Verlag Berlin ) von Steffen Martus. Besonders wichtig und zu neuem Handeln auffordernd ist sicher das ausführliche Interview mit dem französischen Philosophen und Soziologen Bruno Latour unter dem Titel:”Die Natur muss ins Parlament”. Dabei geht Bruno Latour von der Erkenntnis aus, dass die Natur nicht länger Objekt, sachliches Ding, ist; sondern Lebewesen, wie die “Große Mutter der griechischen Mythologie”. “Die Erde ist nicht leblos, unsere Umwelt besteht komplett aus Lebendigem”. Dabei bezieht sich Latour oft auf James Lovelock und dessen “Gaia-Hypothese”, ohne dass Latour dabei in eine “esoterische Position” gerät. Die Ergebnisse des Pariser Klimagipfels 2015 sieht Latour als ermutigend, wenn auch nur als ersten Schritt” (S.38). Fast noch utopisch, aber richtig, ist Latours Vorschlag, ein Parlament zu schaffen, in dem Vertreter der konfliktreichen Gebiete vertreten sind, Vertreter, die also die bedrohten Wälder, die verschmutzten Gewässer, die sich zurücknehmenden Küsten verteidigen, direkt und ständig. “Wir brauchen einen Rat, der auch die Nicht-Menschen” vertritt, also die Natur, das ist ein Parlament der Dinge=”.

Um etwas Geschmack am Heft zu machen, und um zum Lesen der Texte selbst aufzufordern, nur einige Zitate aus den Beiträgen zum Thema Flüchtlinge, Beiträge, die zu denken geben. Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann (Konstanz) schreibt im Blick auf die unsäglichen Versäumnisse der Deutschen angesichts der Judenvernichtung unter den Nazis: “Die Lehre aus der Geschichte kann nur heißen: Nie wieder ein solcher Mangel an Mitgefühl gegenüber Menschen, die am Nullpunkt ihrer Existenz angekommen sind. Weil wir genau wissen, wozu es führen kann, Menschen als fremd zu etikettieren und ihnen unsere Empathie zu entziehen…“ (S. 48). Der vielseitige, höchst interessante Philosoph Armen Avanessian (von dem wir hoffentlich noch sehr viel hören und lesen werden) schreibt: “Kriegsflüchtlinge sind Opfer einer bellizistischen Wirtschaftspolitik. Und Wirtschaftsflüchtlinge sind Opfer einer Durchsetzung geopolitischer Interessen mit anderen, „nur“ ökonomischen Mitteln“. Und Prof. Julian Nida-Rümelin (München) schreibt im Blick auf die „deutsche Leitkultur“: „Es bedarf keiner spezifisch deutschen Leitkultur, sondern einer alltäglich praktizierten Leitkultur der Humanität, des wechselseitigen Respekts, der gleichen kulturellen Anerkennung, der Akzeptanz von weltanschaulichen und kulturellen Unterschieden“.

Wir könnten uns vorstellen, dass das Heft Philosophie Magazin mit seinem Schwerpunkt „Flüchtlinge“ auch weiter die Philosophie und das Philosophieren mit den aktuellen politischen und sozialen und religiösen Fragen verbindet, damit das Hegelsche Projekt „Philosophie ist die Zeit in Gedanken erfasst“ immer neu belebt wird. Ein Schritt dahin ist mit diesem Heft gemacht.

Im August 2015 hat unser religionsphilosophische Salon einen Beitrag (als Forschungsprojekt) verfasst zum Thema “Philosophen und Theologen, die Flüchtlinge sind”, zur Lektüre klicken Sie bitte hier.

Das Philosophie Magazin erscheint in Berlin, es ist in größeren Zeitungsläden zu haben. Tel. des Verlages:

030 47377118.   email: redaktion@philomag.de

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

 

Der Mensch als Gabe, die Welt als Gabe

Der Mensch als Gabe, die Welt als Gabe

Hinweise von Christian Modehn

Im Umfeld des Weihnachtsfestes haben wir in kleinem Kreis versucht, einige Elemente einer Philosophie der Gabe und des Gebens deutlicher zu sehen. Damit versuchten wir, dieses besonders unter französischen Philosophen der Gegenwart diskutierte Thema uns näher zu bringen.

Wir sind als Menschen immer schon Gebende (und Nehmende) und manche deuten das Dasein, ihr eigenes Dasein, nicht in der objekthaften Weise des bloßen Vorhandenseins, sondern eben als Gegebensein, als Gabe, bzw., wie bei Heidegger (und dann auf andere Art auch) bei Sartre, als „Geworfensein“. Auf die Unterschiede der beiden Daseinverständnisse (Gegebensein/Geworfensein) folgen weiter unten einige Fragen und Hinweise.

Die Frage nach der Gabe und dem Geben ist also kein philosophisches und religionsphilosophisches (auch theologisches) Sonderthema etwa einer speziellen Anthropologie, die sich mit „allerhand“ Nebenaspekten des Daseins befasst…Vielmehr: Diese Frage ist fundamental für das Selbstverständnis der Menschen. „Ich bin eine Gabe“, ist ein beinahe poetisches Selbst-Bekenntnis zu einer Wirklichkeit, die über alles Technisch-Fixierte hinausgeht, die in eine Herkunft „von weither“ verweist…

Dabei bleibt offen, warum sich Menschen etwa in buddhistisch geprägten Kulturen nicht als Gegebene, nicht als Gabe, verstehen. Es hängt wohl damit zusammen, dass die Vorstellung einer Schöpfung, einer schaffenden und gebenden (göttlichen) Kraft in buddhistischen Kulturen nicht in den Blick gerät. Daraus können wir schließen, dass der Gabe-Begriff und die Realität des Gebens und des Gegebenseins in den europäischen Raum gehört, der von biblischen Vorstellungen geprägt bleibt, zumindest in der Annahme, auch bei vielen ernstzunehmenden Denkern, dass es einen schlechthin Gebenden, einen „Schöpfer“ der Erde und damit der Menschen „gibt“. Aber inwieweit dieses „Gegebensein“ des „Göttlichen“ von den anderen Gebenden verschieden ist, muss noch geklärt werden. Es „gibt“ Gott in einer alltäglichen Form, außerhalb jedes Analogiedenkens, natürlich nicht!

Damit gibt es dennoch die Vermutung, dass Gabe, Geben, Gegebensein, ja selbst Geworfensein (Wer wirft?) mit einer Vorstellung einer göttlichen schöpferischen Kraft verbunden sein können. Wer aufmerksam die Texte des Neuen Testaments liest, wird an vielen Stellen auf die Gabe als Zentralbegriff christlicher Spiritualität stoßen. Die Texte der Weihnachtsliturgie aktivieren alttestamentliche Texte, wenn es etwa heißt: “Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt (gegeben), und die Herrschaft liegt auf seinen Schultern. Man nennt ihn wunderbarer Ratgeber, starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens“. (Aus dem Buch des Propheten Jesaja 9, 6 in der Einheits-Übersetzung).

Zahlreiche Weihnachtslieder beziehen sich sehr direkt auf diese Zusage des Propheten; diese sehen die Christen in der Gestalt des Jesus von Nazareth erfüllt. Und das ist „eigentlich“ Weihnachten, das Fest, in der die Gabe des göttlichen Kindes, besser des von Gott geprägten Menschen Jesus von Nazareth gefeiert wird.

Alle Geschenke, die an diesem Tag ausgetauscht werden, wenn sie denn Ausdruck der Freude sind, also mehr sind als ein banaler Konsumrausch, der sich schon selbst nicht mehr versteht, beziehen sich (oder bezogen sich) auf diese Gabe Gottes! Wegen der „Gabe“ Gottes geben wir Menschen weiter. Unser Geben ist Antwort. Für die kapitalistische Konsum-Unkultur sind diese Sätze unbrauchbar, wenn nicht lächerlich.

Es ist letztlich die Erhöhung „des“ Menschen als Menschen, die da Weihnachten gefeiert wird. Diese Erhöhung des Menschen als Menschen, Religionsphilosophen, auch Mystiker sprechen von dem „göttlichen Kern, göttlichen Funken“, ist DIE Gabe schlechthin. Auf dieser Basis können sich Menschen als „gegeben“ (also geschaffen) und beschenkt erfahren und deuten.

Die religionsphilosophische Basis fürs Schenken ist die Erkenntnis: Dass jeder Mensch sich selbst als Gabe versteht: Ich bin jemand, der von anderen Menschen gegeben wurde; ich bin selbst ein Geschenk, das sagen ja Eltern oft von ihren Kindern, wenn sie sich denn über ihre Kinder freuen. Aber nun sind die Eltern selbst wiederum Geschenke für ihre damaligen Eltern usw. Das heißt, jeder Mensch ist eigentlich ein Geschenk. Diese unendliche Reihe von Schenkenden (Eltern) und Beschenkten (Kinder als Geschenk) kann durch die Hebung auf eine neue, qualitativ andere Ebene verstanden werden: Indem ein prinzipiell Schenkender, den die Menschheit auch Schöpfer nennt, gedacht wird: Die konkrete Gestalt dieses ursprünglich, gründend Schenkenden, kann natürlich im Detail nicht exakt, schon gar nicht wissenschaftlich beschrieben werden, weil diese Wirklichkeit des ursprünglich Schenkenden, alles weitere Schenken erst stiftenden, nicht in die materielle Welt der Forschungs-Objekte gehört. Wenn dieser Schöpfer also nicht wissenschaftlich, d.h. für alle Leute ja immer noch „naturwissenschaftlich“ beweisen werden kann, ist das auch richtig so: Dieser alles gründende Schöpfer kann nicht bewiesen, er kann nur als notwendige „Ursache“ gedacht und vor allem erfahren werden, als erstaunlicher, sagen wir ruhig, wunderbarer Stifter des Lebens. Welche Eltern meinen denn im Ernst, sie allein seien die Schöpfer und die Macher (und damit dann wohl auch die Herren) ihres Kindes? Wahrscheinlich kann nur Poesie, kann nur Musik umfassend diese Einsicht ausdrücken…

Von daher ergeben sich weitere Konsequenzen: Wir erleben uns selbst und damit die Welt im ganzen als eine gegebene. Wir leben also in einem vor-gegebenen Umfeld, über das wir wesentlich nicht verfügen können. Selbst wenn wir die Natur zerstören, zerstören wir die uns gegebene (und uns anvertraute) Natur. Und wenn bald Roboter an unserer Seite stehen mit einer angeblichen Intelligenz, dann sind es eben von uns gemachte Wesen, von uns gemacht, die wir selbst „gemacht“, also gegeben sind. Erst wenn die von uns gegebenen Roboter sich selbst vermehren, wird es problematisch, aber dann sind es doch immer noch Roboter, die wir so gemacht haben, dass sie sich selbst vermehren…Dies nur als kleiner Ausblick zum Thema Relativität und Beschränktheit unserer Autonomie.

Jean-Paul Sartre sprach in „Das Sein und Nichts“ von dem Geworfensein als der alles gründenden Existenzform des Menschen. Darin durchaus Heidegger folgend, siehe Sein und Zeit. Geworfenheit bei Heidegger bedeutet „die konstitutive Form jedes Lebens, ungefragt und ohne persönliche Zustimmung in die Welt gekommen zu sein. Diese Struktur der Faktizität bedeutet für jeden Lebenden, `sein Da sein zu müssen`“, so Thomas Rentsch, in „Heidegger Handbuch“, Stuttgart-Weimar, 2003, Seite 63). Thomas Rentsch schreibt: „Die formale Grundstruktur menschlicher Existenz, wie sie Heidegger freigelegt hat, trägt Züge einer gottlosen Theologie: Der (christlichen) Lehre von der Schöpfung entspricht die von der Geworfenheit….“ (ebd. S. 74).

Bei Sartre wird der Gedanke zur Freiheit (also zum eigenen Leben) verurteilt zu sein, mit eigenen Erfahrungen verbunden. In seiner Kindheitsbiografie schreibt Sartre: “Er lernte einen Gott kennen, den seine Seele gerade nicht erwartete, ich brauchte einen Weltschöpfer, aber man gab mir einen obersten Chef“. Sartre erlebte also einen Gott als einen obersten Polizisten, dies empfang Sartre so wörtlich „als grobe Taktlosigkeit“ (vgl. Lexikon der Religionskritik, Herder-Verlag, S. 270).

Es lohnt sich vielleicht, die inhaltlichen Bestimmungen von Geworfensein und Gegebensein weiter zu bedenken. Ich meine: Mit dem Wort „Geworfen“ klingt mit das Hingeschleudert-, Abgelagert-, Hingelegtsein. Tiere werfen bekanntlich, wenn sie Junge zur Welt bringen. Die Mutter Tiere ziehen die Kleinen auf, aber wenn sie stark sind, verliert man sich aus den Augen. Der Mensch als Geworfener weiß eigentlich nicht, wer oder was da ihn warf. Er MUSS sein Leben gestalten, so recht und schlecht. „Jeder Existierende fühlt sich überflüssig alles ist grundlos, exstieren ist nur einfach Dasein“, so Sartre (zit. in Lexikon der religionskritik, S. 272). Der Mensch ist eine nutzlose Leidenschaft. Soweit Sartre…

Zur aktuellen französischen Philosophie der Gabe:

Sie ist sehr vielfältig, aber meist beziehen sich die Philosophen auf den grundlegenden Text des Ethnologen und Soziologen Marcel Mauss, er hat 1924 – auf Französisch – das Werk veröffentlicht: „Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften“.

Nur ein erster kurzer Hinweis für das weitere Studium: Mauss zeigt, wie das Geben und Nehmen, dann das Antworten mit Geschenken auf die Gabe, eine Art gründende Funktion hat für den Aufbau einer Gesellschaft in archaischen, frühen Zeiten der Menschheit. Es läuft darauf hinaus, dass sich Menschen als Gebende gegenübertreten und dadurch in dieser Form der Bekundung von Nähe, wenn nicht Freundschaft, dann Feindseligkeiten, ja Gewalt überwinden. Es wird durch die Gabe ein soziales Band gestiftet. Dabei geht es nicht zuerst um Tausch, also um ein Zurückgeben einer Sache im gleichen Wert, sondern die Gabe kann durchaus als selbstloses Geschenk verstanden werden. So können Formen von Verbindungen, Bündnisse, entstehen, auch Formen der wechselseitigen Anerkennung.

Das Thema Geben wird in Frankreich heute vertieft. Wir können hier nur andeuten zur weiteren Vertiefung: Etwa Marcel Hénaff, „Der Preis der Wahrheit“, Hénaff ist sicher einer der ganz großen Denker der Gabe heute. Kritisch dagegen Pierre Bourdieu, etwa in seiner „Praktischen Vernunft“: Beim Geben werden die realen Interessen verschleiert. Geben und Gabe beschönigen nur die Verhältnisse.

Ich meine: In unserer kapitalistischen Gesellschaft ist der großzügige Mensch, der schenkende Mensch, eigentlich ein Narr. Diese Gesellschaft will keine Schenkenden. Sie liebt nicht die freie Gabe, die Großzügigkeit, das Nicht-Berechnete, sie liebt nicht die überraschend eintretende Freiheit als Handlung der Liebe. Alles wird in Geld-Beträge umgerechnet. „Wie du mir, so ich dir“, heißt dann das Prinzip, das auch bis ins Militärische sich ausweitet. Kann die freie Gabe diese Gesellschaft noch „retten“? Sie wertet den Menschen auf, befreit von der materiellen Verwertbarkeit, schafft Raum für ein befreites Dasein.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

 

 

Was sind unsere Mythen des Alltags? Zur Aktualität von Roland Barthes, anlässlich seines 100. Geburtstages

Was sind unsere Mythen des Alltags? Zur Aktualität von Roland Barthes, anlässlich seines 100. Geburtstages (am 12. November 2015)

Ein Hinweis von Christian Modehn

Roland Barthes ist ein Philosoph der besonderen Art, er wählt fürs Philosophieren auch eher seltene Themen, man denke an die „Mythen des Alltags“. Sein 100. Geburtstag am 12. November 2015 ist ein Anlass, sich auf seine Arbeiten (wieder) einzulassen. Barthes ist, man verzeihe den Ausdruck, ein „typisch“ französischer Denker: Er fühlte sich eher den Essayisten zugehörig als den „Systemdenkern“, die – vor allem in Deutschland – häufig an den Universitäten als verbeamtete Philosophie-Professoren anzutreffen sind. Schon Michel Foucault hat in einem Radio Interview 1975 von dieser philosophischen Begabung Barthes „am Rande“ des/der Etablierten gesprochen. Foucault meint, Barthes hätte das Etablierte „erschüttert“.

Barthes, am 12. 11. 1915 in Cherbourg geboren, hat etliche Jahre als Gymnasiallehrer, Lektor und Redakteur gearbeitet, ehe er an der „Ecole Pratique des Hautes Etudes“ in Paris arbeitete und später noch, bis zu seinem plötzlichen Tod am 26.3.1980, am Collège de France Vorlesungen hielt. Die Berufung ins „Collège“ ist sicher eine der höchsten Auszeichnungen für diesen Denker „am Rande“ der Etabliertheiten.

Seine Arbeiten sind sehr vielschichtig, manche sagen, wie Professor Eric Marty, ein Freund und Interpret, sie seien manchmal zweideutig und im Grunde oft nicht sehr leicht lesbar. In den letzten Jahren erschienen posthum einige Werke von Barthes, erstaunlich etwa sein „Journal de deuil“, erschienen bei Seuil 1999. Durchaus ein Buch der Melancholie, sehr persönlich, manchmal intim. Im Herbst erscheinen ebenfalls bei Seuil Vorlesungen, die Barthes am Collège de France gehalten hat (1978-1980).

Eric Marty hat im Barthes Gedenkjahr 2015 einen Band herausgegeben über Barthes als Briefschreiber, so wird die biographische Entwicklung noch deutlicher, auch der Umgang mit der Krankheit, die sein Leben bestimmte. Eine sehr differenzierte, leicht nachvollziehbare Biographie hat Thiphaine Samoyault vorgelegt, (Editions du Seuil, 720 Seiten nur 28 €, jetzt auch auf Deutsch bei Suhrkamp für 39,95 €), sie erinnert natürlich auch an seine Kindheit in Südwestfrankreich, spricht von seiner Liebe zum Licht, sein Verschmähen des Konformismus, seiner Leidenschaft für das Reale, Wirkliche…

Eher traurig macht das Urteil von Eric Marty (Le Monde, 23. Januar 2015), dass die (französischen) Philosophen überhaupt nicht (mehr) Barthes lesen. Er werde stärker „auf dem literarischen Feld“ beachtet. Tatsächlich hatte Barthes kein Interesse am Einsortiertwerden in Schubfächer und an Aufteilungen des intellektuellen Lebens in fixe Kategorien. Darum lebt der philosophische Gedanke in vielen seiner Werke. Diese implizite und explizite Anwesenheit des Philosophischen in den Werken der Kunst, der Literatur, der Soziologie ist unseres Erachtens das eigentlich Spannende am philosophischen Denken.

Nur auf einige Ansätze im Denken Barthes kann hier hingewiesen werden. Bekannt und weit verbreitet auch in Deutschland sind „Die Mythologien des Alltags“ und „Fragmente einer Sprache der Liebe“.

Besonders aktuell, so scheint uns,  sind die „Mythen des Alltags“, das Buch geht auf Texte aus den Jahren 1954 bis 1956 zurück, 1957 erschien die erste Buchausgabe der Mythologies bei Seuil. Seit 5 Jahren liegt übrigens eine neue, eine vollständige Ausgabe dieses Textes zu den Zeichen des Alltags auch auf Deutsch vor, sie ist bei Suhrkamp erschienen, hat 325 Seiten und kostet 28€. Gegenüber der knappen Textauswahl als Taschenbuch (seit 1964 auf Deutsch) ein enormer Gewinn!

Wir empfehlen dringend diese vollständige Ausgabe der „Mythen des Alltags“. Darin wird der falsche Schein der Wirklichkeit enthüllt, nämlich die Behauptung, Phänomene des Alltags seien bloß natürliche, sozusagen “normale”;  dabei wird das geschichtliche Gewordensein dieser Phänomene unterschlagen. Man lese etwa das Kapitel  “Stumme und blinde Kritik” in den “Mythen des Alltags”: Dort wird die Arroganz der Kritiker gegenüber Themen/Autoren freigelegt, von denen sie, die Kritiker, dann stolz ihren Lesern bekennen: “Dies verstehen wir nicht”. Damit rücken sie sich in die Position der Herrschenden, die den Autor, den angeblich unverstehbaren, schlecht machen. Hinter dieser Arroganz der Kritiker, die nichts als Dummheit ist, sieht Barthes die Macht des “gesunden Menschenverstandes”, dessen vorausgesetzte Gesundheit die Kritiker selbstverständlich nicht prüfen. Die Kritiker glauben sich absolut auf der Seite des vorausgesetzten gesunden Menschenverstandes zu befinden. Deswegen können sie den Autor, sein Werk, niedermachen. Aber Barthes tröstet sich und die Leser damit, dass die Philosophie den angeblich “gesund-vernünftigen” Kritikern überlegen ist. Denn der Philosoph erkennt und begreift beide, den Kritiker und das Werk. Während der Kritiker in seiner kleinen Welt befangen bleibt.

Ich meine, das Inspirierende des Buches “Mythen des Alltags” liegt ja gerade darin, diesen Text immer weiter fortzuschreiben, aktuell, über die konkreten Beispiele von Barthes hinaus. Denn die „Barthes-Mythen“ werfen beim Lesen dringend die Frage auf: Wo sind heute unsere „Alltagsmythen“? Wer kann von ihnen so nüchtern – distanziert schreiben, wie Barthes? Wer hat den Mut der Entdeckerfreude, wer wagt es,  heutige Alltags-Themen tatsächlich als einflussreiche Mythen, die das Bewusstsein prägen, zu beschreiben? Ist Fußball etwa der größte und allmächtigste Mythos der Gegenwart, ist die fast religiös anmutende Lust am Fußball so stark, dass selbst heftigste Verfehlungen korrupter Fußball-Manager von den Fussball-Gläubigen verziehen und “überspielt” werden? Das klingt dann fast wie in der Kirche: Der Klerus ist korrupt, aber das stört die Frommen nicht so sehr, denn der vom Klerus gepredigte Gott bleibt offenbar unanstastbar! Ist auch die Lust an der Tätowierung des eigenen Körpers ein Mythos? Oder ist der so häufige Ortswechsel der nicht ganz Armen in Form des häufigen Reisens, der Seefahrten usw. ein Mythos? Gibt es Alltags-Mythen, die nach einer längeren Zeit, den Charakter des Mythos wieder verlieren, etwa der Mythos einer vegetarischen Lebensweise oder jetzt die Form veganen Lebens? Ist unsere ständige Fixierung auf Gedenktage im kulturellen Leben ein Mythos, weil man sich vor der Utopie und dem Blick nach vorn, der Zukunftsgestaltung,  scheut? Ist die gelegentliche Abgabe von Stimmzetteln bei Wahlen ein Mythos, weil uns eingeredet wird, das „Kreuzchenmachen“ auf Wahlzetteln sei schon das Wichtigste am „demokratischen Bekenntnis“? Aber sind wir nur von Mythen umgeben? Ist im Alltag alles Mythos und möglicherweise so vieles Mystifizierung? Wohl kaum, es gibt noch den Blick der klaren Vernunft auf die Realität der Welt. Wer Mythen als solche entdeckt, will ja gerade Raum schaffen für die Erfahrung der unverstellten Wirklichkeit.

Der Begriff vom Mythos ist bei Barthes verbunden mit dem Begriff der Mystifizierung, der bewusst eingesetzten Positionierung ins Außergewöhnliche, man möchte fast sagen der Heiligsprechung.  Die Aufgabe heißt: Entschleierung, Aufklärung, Licht (lumière), umfassende Kritik.

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Franzosen, die in den angeblich heiligen Krieg ziehen…

Franzosen, die in den „heiligen Krieg“ ziehen

Ein Hinweis von Christian Modehn

Ein Wort vorweg:

Es gibt in Frankreich eine angesehene Zeitschrift, die sich unabhängig von konfessionellen Bindungen –das Blatt ist selbstverständlich an den großen Kiosken zu kaufen – der Welt der Religionen widmet: „Le Monde des Religions“ ist der Titel. Da klagen immer noch Leute in Deutschland, die von Frankreich wenig (bzw. gar keine) Ahnung haben, dass dort der totale Laizismus herrscht und religiöse Themen in der Öffentlichkeit nicht vorkommen. Das ist natürlich falsch, diese Meinung wird allein schon widerlegt, dass in Frankreich an jedem Sonntag seit Jahrzehnten von 8.30 bis 12 Uhr alle großen Religionen in eigener Verantwortung ! (also Buddhisten, Juden, Muslime, Orthodoxe, Protestanten und Katholiken) ihr eigenes religiöses Programm gestalten können, auf France 2. Und nebenbei nur ganz schnell: Es gibt in Frankreich immer noch eine lesbare, sogar zitierfähige, dogmatisch nicht allzu enge katholische Tageszeitung, La CROIX mit Namen, Auflage ca. 90.000. Zu solchen Leistungen ist die Milliarden-reiche deutsche katholische Kirche gar nicht in der Lage. Bekanntlich sind die Kirchen aufgrund der Trennung von Kirchen und Staat eher „arm“.

Zurück zu dem Heft „Le Monde des Religions“. Dort wurde am 22. 9. 2015 ein interessanter Beitrag auf der website des Blattes publiziert über die jungen Leute, die aus Frankreich in den angeblich „heiligen Krieg“ in Syrien etwa ziehen. Wir wollen den deutschen LeserInnen einige Erkenntnisse dieses Artikels nicht vorenthalten, weil ja leider (!) Französisch eine Sprache in Deutschland (und fast überall) ist, die nur noch Minderheiten sprechen.

Es gibt in Paris ein Zentrum, das sich mit der Prävention gegen das Abgleiten ins Sektiererische im Islam befasst. Es heißt CPDSI, siehe: http://www.cpdsi.fr/. : Dounia Bouzar leitet, vom Innenminister beauftragt (!), diese „Association“, also dieses auf für französische Verhältnisse üblicherweise vereins-mäßig organisierten Präventionszentrum.

Heute haben die jungen Leute, die in den angeblich heiligen Krieg ziehen wollen, ein sehr unterschiedliches Profil, betont Dounia Bouzar. Sie stammen aus muslimischen, christlichen und atheistischen Familien, und „meme juifs“, also selbst aus jüdischen Familien, betont die Leiterin.

Die meisten sind zwischen 14 und 25 Jahre alt. „In diesem Alter haben junge Menschen das Gefühl, gesandt zu sein zur Rettung der Welt“.

Diejenigen, die diese jungen Leute anwerben, sind ganz ins französische Leben integriert. Sie gaukeln den jungen Leuten die wahren Werte der Brüderlichkeit und Solidarität vor.

Das Ziel der seelischen Bearbeitung durch die „Werber“ ist: Die jungen Leute sollen jegliche Vertrauen verlieren in die Welt, in der sie groß geworden sind. Das Motto heißt: „Alle sind hier verdorben, alle lügen. Nur eine Art blutiger Endkampf könne die reale Welt heute noch retten“.

Für diesen Kampf werden die jungen Leute vorbereitet: Sie müssen mit ihrer ganzen bisherigen „Welt“ brechen, mit ihren musikalischen Vorlieben etwa, vor allem aber mit der Familie. In dieser äußerst kritischen Situation hilft es nach Dounia Bouzar gar nichts, noch einen „verständnisvollen Imam“ zu bewegen, mit dem Jugendlichen zu sprechen, um den Jugendlichen von seinem Vorhaben abzubringen. Wichtiger ist die Mitarbeit der Familie, Dounia Bouzar nennt das – in Anlehnung an die Erinnerungs“arbeit“, wie sie Marcel Proust beschreibt, „la madelaine de Proust“. Bekanntlich war beim Erleben, Riechen, Genießen einer Madelaine die Erinnerung bei Proust wach geworden, wie denn die früheren, längst vergangenen Jahre waren. Diese Methode soll versuchen, den betroffenen Jugendlichen an die schönen Zeiten in der Familie und unter Freunden zu erinnern. Es sollen Gefühle geweckt, wie die gemeinsame Vergangenheit früher aussah, es waren doch angenehme gemeinsame Stunden. Erst dann kann ein tieferer religiöser Dialog beginnen.

Dounia Bouzar hat 2015 in dem Verlag “Editions de l Atelier“ (Paris) das Buch veröffentlicht: „Comment sortir de l emprise djihadiste ?“. 160 Seiten, 15 Euro.

Zu dem Beitrag in „le Monde des Religions“ siehe: http://www.cpdsi.fr/actu/dounia-bouzar-le-registre-de-la-raison-est-inefficace-pour-parler-a-un-jeune-embrigade-le-monde-des-religions-fr/

Spiritualität für Atheisten und alle anderen: Die Haikus. Der Philosoph Michel Onfray entdeckt die berühmten „Dreizeiler“ der Zen Tradition

Spiritualität für Atheisten und alle anderen: Die Haikus.

Der Philosoph Michel Onfray entdeckt die berühmten „Dreizeiler“ der Zen Tradition

Ein Hinweis von Christian Modehn

Michel Onfray (Caen, Frankreich) ist einer der besonders umstrittenen und streitbaren und polemischen Philosophen Frankreichs, Autor vieler, zum Teil sehr voluminöser „Geschichten der Philosophie“, zudem ein militanter Gegner des religiösen Glaubens im allgemeinen. Dass er in seiner radikalen Religionskritik oft sehr „daneben liegt“, haben inzwischen philosophische Studien gerade in Frankreich gezeigt. Das hindert Onfray freilich nicht, weiter zu polemisieren und zu pauschalen Urteilen zu kommen. Auch in Deutschland sind seine Bücher verbreitet.

Interessant und sicher wichtig auch für die weitere Diskussion in Deutschland über Spiritualität ist, dass Michel Onfray seit einigen Monaten eine für uns bislang neue, unbekannte Dimension seines Denkens zeigt, eine weniger polemisch-polternde, sondern eben ruhige, sanfte, sensiblere Art: Onfray schreibt Poesie, vor allem Haikus. In diesen Dreizeilern aus alter Zen-Tradition wird die Frage nach Gott offen gehalten, ja, sie kommt gar nicht vor und kann auch im Raum der Zen-Tradition gar nicht vorkommen als solche. Onfray tritt entschieden für die Geltung der Haikus auch in der Jetzt-Zeit ein, wenn er selbst “seine Haikus” schreibt. Er verteidigt zudem das Projekt, dass eigentlich jeder und jede – mühsam und mit Geduld – Haikus schreiben kann. Für Onfray ist eine Voraussetzung dafür die Verbundenheit mit der Natur, die Nähe zu ihr, das Erleben der Natur. In der Stadt, so Onfray, könne er keine Haikus schreiben. Was jedoch problematisch ist, denn sehr viele an Haiku-Spiritualität Interessierte leben nun einmal in Städten. Wer Haikus nur in der Einsamkeit kleiner Dörfer schreiben kann, rückt sie in den Rahmen einer idealisierten ländlichen (alten) Welt.

Aber immerhin, der Vorschlag ist gemacht und verdient umfassende Diskussion: Können Haikus, die schon vielen vorliegenden Haikus der großen Meister aus Japan und Haikus eines Monsieur Onfray und vieler anderer Damen und Herren heute, können diese also eine Basis sein für ein spirituelles Gespräch zwischen Menschen aller Glaubens-Richtungen, also Atheisten, Skeptiker, Mystiker, christlicher Rationalisten usw. Wir im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon meinen ja, Haikus können eine gute spirituelle Basis sein. Wie auch andere Traditionen des Zen, etwa die Tee-Zeremonien, noch entdeckt werden sollten für eine außerreligiöse UND religiöse Spiritualität. Da gibt es noch viel zu tun für unseren privaten und völlig unabhängigen Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin und die viel besser finanziell etablierten Akademien usw. Die Suche nach gemeinsamen Traditionen für Atheisten und Glaubende/Religiöse ist doch nicht ergebnislos und uferlos, die gemeinsame Gesprächs-Basis könnte es bereits geben, wenn man nur diesen Vorschlägen ausgerechnet von Onfray folgen möchte: Schreiben wir Haikus….

Zu den französischen Publikationen Haikus und Poesie von Michel Onfray:

Un Requiem athée (Galilée, 2013). Avant le Silence/Haïkus d’une année (Galilée, 2014). Les Petits Serpents (Galilée, 2015). L’Éclipse de l’éclipse (Galilée, à paraître en 2016).#

Haikus hat die von Martin Heidegger inspirierte Philosophin Ute Guzzoni in ihrem großartigen Buch „NICHTS“ (Verlag Karl Alber) dargestellt und philosophisch interpretiert. Eine anregende und anstrengende Lektüre!

 

Protestantische Verteidiger der Toleranz und des Humanismus –Werden sie im Reformationsjubliäum 2017 vergessen?

Protestantische Verteidiger der Toleranz und des Humanismus –Werden sie im Reformationsjubliäum 2017 vergessen?      Hinweise zur frühen Geschichte der Remonstranten und zur Gegenwart einer nicht dogmatischen protestantischen Kirche.

Von Christian Modehn

Wenn Historiker und Theologen heute wie früher über „Toleranzdiskurse in der frühen Neuzeit“ (so ein neues Buch hg. von Friedrich Vollhardt, erschienen 2015) sprechen und über Duldung und besser noch Akzeptanz religiöser Pluralität, „dann ist es auffällig, dass Weiterlesen ⇘

Macht Arbeit Sinn? Zum neuen “Philosophie Magazin”

Macht Arbeit Sinn? Ein Themenschwerpunkt im „Philosophie Magazin“, Ausgabe Oktober 2015

Ein Hinweis von Christian Modehn

Das „Philosophie Magazin“ erscheint leider nur alle 2 Monate. Die Leidenschaft fürs Philosophieren muss wohl noch erheblich in Deutschland zunehmen, damit wir auch hier – wie in Frankreich – monatlich auch durch Zeitschriften ins Fragen, ins philosophische Fragen, kommen… Das wird wohl erst möglich werden, wenn der Philosophie Unterricht an den Schulen viel weitere Verbreitung und größeren Respekt findet. Und die „philosophischen Cafés“ mehr Verbreitung finden und mehr Ansehen genießen und etwa als eigenständige kulturelle Basisinitiative gefördert werden und öffentliches Interesse finden. Es gibt in Deutschland etliche Literaturhäuser, aber kein einziges „Haus der Philosophie“…

Immerhin: Jedes Heft des Philosophie Magazins bietet auf 100 Seiten eine vielfältige Fülle von Anregungen, ins eigene Denken zu gelangen. Und dies natürlich nicht als eher belangloses „Hobby“. Das eigene kritische und selbstkritische Nachdenken bietet Orientierung und die Fragen, die zu Antworten führen rufen wiederum weitere Fragen wach und so weiter.

Der thematische Schwerpunkt heißt diesmal „Macht meine Arbeit noch Sinn?“ Die Frage ist dringend, und darauf weist Wolfram Eilenberger, der Chefredakteur, einleitend hin: Im Anschluss an Einsichten Dostojewskis aus dem sibirischen Arbeitslager betont er, dass „das Bewusstsein dauerhafter Sinnlosigkeit“ auch und gerade in der eigenen Arbeit erlebt, nicht ertragen werden kann. Und er weist auf die Tätigkeit der heutigen Finanzmanager hin, die nichts tun als Geld hin und her zu schieben per Computer-Knopfdruck „ohne etwas zu produzieren oder irgendjemandem benennbar zu nutzen“. Und Wolfram Eilenberger deutet politische Implikationen an: „Vielmehr geht die Sage, hinter diesem Geld-Geschiebe versteckten sich in Wahrheit tausend kleine Verbrechen“. Diese Erkenntnis möchte der Leser gern vertiefen. Sie ist auch philosophisch, weil ethisch, und würde zur vollständigeren Antwort die Zusammenarbeit mit Politologen und Verbrechensforschern implizieren. Diese neuen Bündnisse von Philosophie mit anderen Wissenschaften wären nicht nur reizvoll, sie könnten die Philosophie aus der naturgemäß eher abstrakten Argumentation herausführen; Philosophie würde so wieder mehr „ihre Zeit in Gedanken fassen“ (Hegel), also durchaus mehr mit empirischem Material „arbeiten“.

Die weiteren Hinweise von Wolfram Eilenberger sind wichtig: Nach diesem eher sehr wenig Sinn stiftenden Job, etwa an der Börse, „reißen sich“ sehr viele Bewerber. Sie suchen persönlich mit Luxus-Gehältern überhäuft zu werden. Und das ist für sie wichtiger als eine sinnvolle Arbeit. Denn Geld ist der (neue/alte) Gott, dem man sogar die eigene Sinnerfahrung und das eigene sinnvolle Leben opfert. Dieser Gedanke wird leider in dem Beitrag nicht weiter ausgeführt. Er könnte in die Richtung weisen „Für Geld tue ich alles“..

Viele dringende Fragen wirft auch der Beitrag „Macht meine Arbeit auch Sinn?“ auf, verfasst von Nils Markwardt. Auch er betont: „Der Sinnlosigkeitsverdacht der Arbeit beschäftigt uns (heute) wie nie zuvor“. In der Dienstleistung- und Informationsbranche oder im EDV Bereich werden keine vorzeigbaren, greifbaren „Werke“ hergestellt, die – idealerweise – als das eigene Werk angeschaut, eine gewisse Zufriedenheit des Handwerkers bewirkten: „Mein Werk, geschaffen für die anderen“, ist ja das bekannte Motto von Philosophen zugunsten nicht-entfremdeter Arbeit.

Heute hingegen erleben wir die Arbeit als „Fluxus“, als fließend und ungreifbar. „Die Verflüssigung des Werkes macht die Suche nach einem buchstäblich fassbaren Sinn zusehends schwieriger“.

Ob die sinnlose Arbeit dadurch wieder an Sinn gewinnt, „weil es schwer fällt, an den Tod zu denken, wenn es Arbeit zu tun gibt“, wie Alain de Botton in dem Beitrag zitiert wird, ist philosophisch doch sehr zu bezweifeln. Vorausgesetzt, man hält die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod philosophisch für sinnvoll. Das tun ja viele nachdenkliche, nicht nur „fromme“ Leute.

Merkwürdig, zum Fragen aufregend bzw. anregend und inspirierend ist der Schlussteil des Beitrags von Nils Markwardt. Darin behauptet er, dass es doch sinnvoll sei, wenn sich in „Sachen Arbeit“ „die Frage nach dem Sinn gar nicht erst einstellt“ (S. 47). Wir sollen uns in Selbstvergessenheit in der Arbeit öffnen, ein „ozeanisches Gefühl“ würde sich dann einstellen und „ein zeitloser Funkenflug der Selbsterfülllung“ und ein „göttlicher Zustand“ . O Gott, möchte man rufen, sag diese Weisheit bitte einmal nicht nur den gestressten Frauen an der Aldi-Kasse, den afrikanischen Plantagenarbeitern in Spanien, vor allem den ausgebeuteten Landarbeitern in Brasilien (Tageslohn nach 12 Stunden Arbeit: 5 Euro) oder den ausgepowerten, miserabel bezahlten, gesundheitlich stark gefährdeten Fabrikarbeitern etwa in Bangladesh. Nur wenn philosophisches Denken sich der Not der Menschen öffnet, und die allermeisten leben und arbeiten im kapitalistischen Weltsystem höchst erbärmlich, kann es den Anspruch haben, Weisheit zu sein, also humane Orientierung zu bieten. „Der zeitlose Funkenflug der Selbsterfüllung“ und dann sogar „der göttliche Zustand, den jeder von uns bei prosaischer Tätigkeit finden kann“, diese eher poetisch-mystischen Worte sind – mit Verlaub – nichts als Opium, eingepackt in schöne Worte.

In dem Heft werden Menschen vorgestellt, die so privilegiert sind, dass sie sich aus einem langweiligen, nervtötenden und sinnlos erscheinenden Job befreien konnten und neue erfreuliche Arbeit für sich entdeckten. Eine Assistenzärztin in einem deutschen Universitätsklinikum findet bei den „Ärzten ohne Grenzen“ eine insgesamt sinnvollere, auch mehr auf Eigenverantwortung setzende Tätigkeit unter elenden Menschen des Süd-Sudans. Ein Lehrer findet seine sinnvolle Erfüllung als Koch usw. Etliche Beispiele gelungenen Berufswechsels „um des Lebenssinns willen“ werden vorgestellt. Der Leser fragen sich: Habe ich selbst noch die Chance, neu und anders zu arbeiten? Diese Frage kann er weiter reflektieren wenn er sich auf die spannenden kontroversen Vorschläge bedeutender Philosophen einlässt. Michel Eltchaninoff stellt unter anderen die Überzeugungen Hegels und Simmels gegenüber zu der Frage: Arbeiten wir, um Geld zu verdienen? Weitere Beiträge gelten der Auseinandersetzung

Arbeiten wir, ja oder Nein, um die Welt zu verändern?

Erfreulich ist es in unserer Sicht, dass sich das „Philosophie Magazin“ auch religionswissenschaftlichen Themen zuwendet, diesmal wird eine Reportage geboten „Wer ist der nächste Dalai Lama?“.

Ein ausführliches Interview mit Michel Houellebecq über dessen neuestes Buch „Unterwerfung“ wird der klassischen (uralten, gegründet 1829) französischen Kulturzeitschrift „Revue des deux Mondes“ vom Juli 2015 entnommen. Dabei erscheint, mit Verlaub gesagt, der weltberühmte pessimistisch-nihilistisch-verzweifelt- suchende Autor wie ein ewig Klagender und Jammerer. „Gott will mich nicht. Er hat mich zurückgewiesen“ ist seine Aussage, und sein Bekenntnis gipfelt „in der Angst, der puren Angst“, dass „wir“ (also das angeblich christliche Europa) von einer anderen Kultur (gemeint ist eindeutig „der“ Islam) beherrscht werden könnten (Seite 31 unten). Da stellt der Journalist anschließend schon gar keine Frage mehr, er hat seine eigene These: „Aber es gibt keine Lösung für diese Angst“. Houellebecqs geradezu nahe liegende Antwort auf diese These: „Nein, das ist pure Angst“.

Ich finde es hoch bedauerlich, dass dieses doch schon relativ alte Interviews (es wurde für die Pariser Zeitschrift Revue des deux mondes sicher schon im Mai, Juni 2015 geführt) einfach kommentarlos stehen bleibt. Soll der große Meister Michel H. auch uns Angst machen, oder? Dieses Interview aus alten Zeiten jetzt zu platzieren, ist ohnehin sehr schade, hat doch die Tageszeitung „Le Monde“ im August noch mehrere sehr differenzierte Beiträge zu Michel Houellebecqs Denken (und pessimistischen, angstvollen) Raunen publiziert. Erstaunlich ist dabei vor allem der Beitrag vom 22. August 2015, in dem die Autorin Ariane Chemin der Beziehung Houellebecqs zum Katholizismus detailliert nachgeht. Sie berichtet von seinem Besuch im Benediktinerkloster von Ligugé bei Poitiers im Dezember 2013. Im Roman „Unterwerfung“ wird auch darüber ausführlich – mit Änderung der Namen der Mönche dort – geschrieben. Mit 13 Jahren, so betont „Le Monde“, erhält Houellebecq zum ersten mal eine Bibel, später nimmt er an katholischen Gruppen „Groupe de parole chétien“ teil, geht auf Wallfahrt nach Chartres. In Paris geht er viele Jahre zur Messe, nimmt in einer Gemeinde im Montparnasse-Viertel an der Vorbereitung zur Taufe teil. In seinem Buch „Ennemies publics“ lobt Houellebecq in höchsten Tönen das Ritual der katholischen Messe… Interessant ist zudem, wenn „Le Monde“ berichtet, wie der eher konservative Bischof von Poitiers, Msgr. Wintzer, sich, so wörtlich, „als absoluter Houellebecq Fan“ outet, mit dem er per email korrespondiert, beide haben sich sogar schon getroffen. Ganz anderer Meinung ist Erzbischof Dagens im benachbarten Angouleme, er ist Mitglied des Academie Francaise und hält Houellebecq, so wörtlich, für einen Unglückspropheten, vor dem man warnen muss. Auch wenn Houellebecq meint „Gott will mich nicht“, so hat er doch gegenüber Bruder Joel von Ligugé bekannt, nicht mehr Atheist, sondern Agnostiker zu sein (Le Monde, 22. August, Seite 21). „Ich bin sicher, Michel H. ist en route, ist unterwegs“, hofft Frère Joel. „Das Kloster ist bereit, von neuem seine Arme zu öffnen für seinen berühmten Gast“, heißt es in “Le Monde”.

Nach diesem kurzen Exkurs wieder zurück zum Heft:

Mit besonderer Aufmerksamkeit sollte man den Beitrag des in Berlin lehrenden Philosophen Byung-chul Han lesen über „Das falsche Versprechen der Arbeit“ (S. 62 ff.), ein ungeheuer dicht geschriebenes Essay, ursprünglich ein Vortrag zur Ruhrtriennale am 15.8.2015. Eine zentrale These: “Die Welt ist heute ohne jedes Göttliche und Festliche. Sie ist ein einziges Warenhaus geworden…Ich bin mit der Warenwelt nicht einverstanden… Wir haben auch jede Fähigkeit zu Staunen verloren…“ Man fühlt sich in die Zivilisationskritik Martin Heideggers zurückversetzt. Immerhin hat Byung-Chul Han im Unterschied zu dem bloß klagenden Heidegger einen knappen Vorschlag, wie es besser werden könnte: „Wir sollten aus diesem Warenhaus endlich ausbrechen, wir sollten aus dem Warenhaus wieder ein Haus, ja ein Festhaus machen, in dem es wirklich zu leben lohnt“ (Seite 65). Aber: WIE wir denn nun Schritt für Schritt das Warenhaus persönlich und mit anderen in ein Festhaus verwandeln können, wird nicht angedeutet. In dieser Undeutlichkeit meldet sich offenbar Meister Heidegger zurück, der bei solchen Problemen nur eins wusste und ewig wiederholte und seine Getreuen allein ließ mit seinem Raunen: „Hören wir auf die Weisungen des Seins (Seyns), werden wir zu Hirten des Seins” etc.

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