Philosophieren heißt Selber-Denken. Eine Alternative zur “Universitäts-Philosophie”

Philosophieren als Selber-Denken – Eine Alternative zur Universitäts-Philosophie

Ein Hinweis von Christian Modehn

Im „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ versuchen wir seit seiner Gründung (2006) das Selber-Denken als Form des Philosophierens zu üben, zu besprechen, zu leben, in einer freundlichen Atmosphäre der Vielfalt. Für viele, selbst gebildete ZeitgenossInnen, hat „die“ Philosophie einen eher schlechten Ruf. Viele halten sie für genauso „unerreichbar“ wie die „höhere Mathematik“. Philosophie wird leider als doktrinäres und abstraktes Lehren an Universitäten erfahren („fast ausschließlich durch bezahlte Beamte und Angestellte betrieben“, so der Züricher Philosoph Michael Hampe selbstkritisch (1)). Dabei ist am Ursprung der Philosophie, denken wir nur an Sokrates, das eigene Reflektieren und Fragen absolut entscheidend, weil es den Geist belebt gegenüber aller Fixierung, etwa in Systemen und Doktrinen. Diese finden in schwer mitvollziehbaren philosophischen Büchern ihren Niederschlag. Abstrakte Philosophie ist nach wie vor unverzichtbar, sie gehört zur Kultur Europas, aber sie „entspringt“ förmlich dem eigenen Philosophieren, das jeder Mensch unthematisch immer schon lebt. Da ist die Quelle der Philosophie. Dies muss akademisches Philosophieren immer respektieren, denke ich. Denn jede Lebensentscheidung ist als Entscheidung immer Ausdruck reflektierter Freiheit, ist also Philosophieren. Die umfangreichen Bücher der Fachphilosophen sind meist nur für die Kollegen an den Universitäten bestimmt, nicht aber für Menschen, die lebendiges Fragen und Zweifeln als Orientierung in ihrem Dasein suchen. Ein Quantenphysiker kann ausschließlich für Quantenphysiker schreiben. Anders aber ein Philosoph, er sollte als Liebhaber der Weisheit (das bedeutet Philosophie) niemals verzichten, andere Menschen zur deutlicheren Liebe der Weisheit zu führen, aber eben liebend, also wohl auch behutsam nachvollziehbar. Auf der Rückseite des Umschlages des Buches von Hampe steht: “Man kann Philosophie nicht lernen wie Physik”. Philosophieren hat mit mir zu tun, es geht um mich, aber auch um mich als (allgemeinen) Menschen…

Um so erfreulicher sind die Ausführungen des Züricher Universitäts-Philosophen Michael Hampe. In seinem Buch „Die Lehren der Philosophie“ legt er ausführlich dar, dass es auch eine andere, eine nicht-doktrinäre Form der Philosophie gibt und geben muss. Schon in den einleitenden Kapiteln 1 und 2 wird das deutlich. Wir empfehlen dringend die Lektüre!

Hampe zeigt zwei Gestalten der Philosophie in Europa: Das doktrinäre, universitäre, sich in Lehrbüchern niederschlagende wissenschaftliche philosophische Forschen. Auf der anderen Seite das auch in Europa lebendige „post-doktrinäre“ Philosophieren. Darin treffen sich Kritiker der herrschenden Moral, der politischen Ideologien, des religiösen Aberglaubens usw., betont Hampe. Zu denken wäre an Sokrates, an die Aufklärungs-Philosophien in den Salons von Paris, an Montaigne, Lichtenberg, Nietzsche, Wittgenstein und andere. Damit ist ja nicht geleugnet, dass etwa ein sehr systematischer, schwieriger Universitätsphilosoph wie Kant nicht auch „populäre“, halbwegs allgemein zugängliche Texte des Philosophierens publiziert hätte, etwa in seinen Beiträgen für die damaligen Berliner Kulturzeitschriften.

Das entschiedene Plädoyer Hampes für die postdoktrinären, oder sagen wir, vielleicht treffender, für die „nicht mehr doktrinäre Philosophien“ sollte auf breiter Ebene diskutiert werden. Es weitet das philosophische Selbstverständnis, es macht Mut, das Philosophieren – auch im Alltag unter „Nicht-Fachphilosophen“ (gibt es die??) – zu üben. Das nichtdoktrinäre Philosophieren ist ja keineswegs ein Plädoyer für die Beliebigkeit, etwa für die logische Willkür usw. Nicht doktrinäres Philosophieren ist nur nicht am Systemaufbau interessiert, nicht an der kryptischen Sprache, sondern am Verstehen und dann an der selbstverständlichen Kritik des alltäglichen Lebens: „Die nichtdoktrinäre Philosophie versucht zu verhindern, dass Menschen durch religiösen, politischen, wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Dogmatismus unfrei werden“, so Michael Hampe, S. 49.

Hampe plädiert für das „Persönliche“ im philosophischen Denken, er fordert, dass die „die Philosophie auch in den akademischen Institutionen mit einem existentiellen Engagement zu betreiben ist“ (S.53). Und dieses Philosophieren muss selbstverständlich geübt werden, wie Hampe betont, (Seite 53 f.). Für dieses philosophierende „Üben“ als selbstkritisches Reflektieren, als Prüfung der Sprüche und angeblichen Weisheiten und Dogmen, die verbreitet werden, braucht man natürlich Räume, Orte. Und da ist Philosophie im öffentlichen Leben insgsamt absolut benachteiligt. Und niemand regt sich darüber auf! Es gibt Literaturhäuser, aber keine „Häuser der Philosophie“, in Paris gibt es ein entprechendes Haus in der Rue Descartes. Leider weist Hampe meines Wissens nicht auf die oft bescheidenden philosophischen Versuche der „Philosophischen Café“ oder der “Philosophischen Salons” hin: Dies sind ja solche bescheidenen, provisorischen Orte des Übens, wo Menschen sich auch selbst neu entdecken können und Fraglichkeit als Lebensform schätzen lernen. Ein philosophisches Leben führen, auch diese Maxime nennt Hampe (S. 64) hat viele Gestalten, sicher ist nur: Der Philosophierende wird starke Vorbehalte haben gegenüber vorgegebenen Lehren der Weisheit, der religiösen Institutionen. Nicht nur, weil er sich selbst und sein freies Leben darin NICHT wieder findet, sondern eher entmündigt fühlt.. Vor allem: Diese Lehren und Dogmen und Doktrinen werden eingesetzt von (demokratisch oft gar nicht legitimierten) Herrschern und Beherrschern. Darum kann es für Hampe auch niemals philosophische Gurus geben. Er weist auch „religiöse Lebenslehren“ (S. 65) aus diesem Grund, der Fremdbestimmung, zurück. Über dieses pauschale Urteil wäre aber zu diskutieren: Denn es könnte ja auch religiöse Lebenslehren geben, die aus dem selbstkritischen, reflektierten Lebenszusammenhang selbst entspringen, aus der Erfahrung des Absoluten “in” mir, so dass diese Religion nur das eigene Leben in seiner Tiefe aussagt und diese Aussage kritisch mit anderen (in einer religiösen Gemeinde) teilet, diese Menschen haben dann natürlich auch wieder ihre Erfarungen des Absoluten…Die neue liberale Theologie (als eine Theologie von unten, also vom Selbstbewusstsein her sich entwickelnd) würde diese nicht entfremdete Gestalt des Religiösen sein, in dem das im Menschen selbst entdeckte Göttliche zum Ausdruck kommen kann.

Michael Hampe bietet ein überaus inspirierendes Stück „Philosophie der Philosophie“. Und er macht damit deutlich, dass über Philosophie qualifiziert nur philosophisch gesprochen werden kann.

Copyright: Christian Modehn

(1) Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie, Suhrkamp 2014, Seite 55).

Ungläubiges Staunen? Eher ein irritiertes Fragen. Ein Abend im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin am 25.9.2015

Ungläubiges Staunen? Eher ein irritiertes Weiter-Fragen.

Ein Abend im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin am 25.9.2015

Hinweise von Christian Modehn. Ergänzt am 1. Oktober 2015: Zu der Beziehung Navid Kermanis zu Erzbischof Georg Gänswein, Rom, siehe weiter unten ausführlicher im Text. Nur so viel: Gänswein hat sich jetzt deutlich als Unterstützer des sehr konservativen, um nicht zu sagen fundamentalistischen römischen Kurienkardinals Robert Sarah (Autor:”Gott oder Nichts”) und erklärten Papst-Franziskus-Gegners geoutet. Kermani schreibt in seinem Buch “Ungläubiges Staunen” (S. 292), wie viele “Einsichten” und Hilfen er selbst Erzbischof Gänswein (einer seiner im Buch sonst namentlich nicht genannten Freunde) zu verdanken hat. Manche Kermani-LeserInnen fragen: Wie passt diese Gänswein-Connection zu einem doch sonst eher aufgeschlossenen Kermani? Wird Kermani dazu einmal Stellung nehmen?

Navid Kermani ist zweifelsfrei einer der sehr bedeutenden deutschen Intellektuellen: Reporter und Roman-Autor, als Orientalist hervorragender Wissenschaftler, zudem bester Kenner der deutschen Literatur, ein Muslim mit Vorliebe für die SUFI-Traditionen, leidenschaftlicher Kritiker der Verirrungen heutiger gewalttätiger Islam-Traditonen (die er z.T. faschistisch nennt), Vermittler einer Haltung, die man “kosmopolitisch” nennen könnte… und seit seinem neuesten Buch auch, wie er selbst sagt, „verliebt ins Christentum“. Kermani ist als Preisträger des „Friedenspreises des deutschen Buchhandels“ 2015 explizit ein „religiös gerade nicht unmusikalischer“ Mensch, sondern durchaus fromm und für eine lebendige spirituelle Beziehung mit Gott einladend, wenn nicht werbend: Dies im Unterschied zu dem Bekenntnis des Friedens-Preis Empfängers Jürgen Habermas (2001), der sich als religiös unmusikalisch outete.

Diese Liebe zum Christentum vor allem konservativ-katholischer Prägung (nicht ohne deutliche Kritik am Protestantismus) hat bei Kermani wohl zwei Gründe, die in seinem Buch “Ungläubiges Staunen” (C.H.Beck Verlag 2015) deutlich werden: Die Begegnung mit der (in katholischem Milieu entstandenen) Malerei des 16. Jahrhunderts vor allem in Rom, anläßlich seines Aufenthalts in der Villa Massimo gefördert. In den Kirchen Roms betrachtete Kermani vor allem den von der Orthodoxie zum „Ketzer“ titulierten Meister Caravaggio. Die Liebe zum Christentum hat zweitens  ihren Grund in der  persönlichen Freundschaft mit dem italienischen Jesuiten Pater Paolo dall Oglio. Er ist in seinem Wüsten-Kloster in Syrien so intensiv mit der dortigen, muslimischen Bevölkerung befreundet, dass er inzwischen von sich bekennt: Ich bin eigentlich ein muslimischer Katholik. Der Dienst am Frieden in Syrien ging für Pater dall Oglio so weit, dass er sich dem IS als Vermittler anbot; seit etlichen Monaten ist er spurlos verschwunden. Wir hoffen so sehr, dass er noch lebt!

Navid Kermnai schreibt: „Wenn ich etwas am Christentum bewundere oder an den Christen, deren Glaube mich mehr als nur überzeugt, nämlich bezwang, aller Einwände beraubte… dann ist es nicht etwa die geliebte Kunst. Es ist die spezifisch christliche Liebe… Die Liebe, die ich bei jenen wahrnehme, die ihr Leben Jesus verschrieben haben. Diese Liebe geht bei Mönchen und Nonnen über das Maß hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte: Ihre Liebe macht keinen Unterschied“.

Nebenbei: Die aus christlichem Glauben mögliche Liebe ist also für Kermani viel mehr, als was menschliche Menschen „auch ohne Gott“ leben können. Darin steckt eine gewisse Kritik an einer säkularen Ethik des Humanismus. Ob diese Kritik so dringend und vor allem stimmig ist, bleibt fraglich: Atheistische „Heilige“ hat man bisher sicher noch nicht gefunden, vielleicht gibt es sie aber. Man suche bitte im Umfeld der Menschenrechts-Arbeit. Für den Urvater der säkularen „Ethik aus Vernunft allein“, also für den immer aktuellen und in dem Fall wieder Recht habenden Immanuel Kant, war klar: Wer dem Kategorischen Imperativ folgt, wird letztlich auch in ein Denken des Erstaunlichen, des Transzendenten usw., wohl auch erlebnismäßig, geführt. Warum rechnen eigentlich religiöse Menschen nicht mit “Denk-Erlebnissen” durchaus auch erschütternder Art? Warum glauben Sie meist, Vernunft sei etwas “Kaltes” usw. Ist das alles noch eine (vielleicht sogar falsch verstandene) Wirkungsgeschichte noch von Adorno/Habermas? Also: Es gibt die Vermutung im Sinne Kants: Säkulare Ethik ist immer schon mehr als nur „säkular“. Aber das ist ein anderes Thema. Man sollte sich nur wehren, wenn im Sinne Kermanis religiöse Heilige, denn so bezeichnet Kermani den sehr verehrungswürdigen Pater dall Ogilo, profiliert werden gegen Menschen der säkularen Ethik und diese irgendwie kleiner gemacht werden. Religiöse Menschen haben es nicht nötig, sich auf Kosten anderer für etwas Besonderes zu halten!

Das Christentum, wenn es denn gelegentlich umfassend glaubwürdig und wahrhaftig gelebt wird, ist für Kermani die Religion der praktizierten, umfassenden Liebe. Davor hat Kermani höchsten Respekt. Aber er selbst denkt nicht daran, nun zum Christentum bzw. zum Katholizismus zu konvertieren. Kermani ist ohnehin ein Gegner der starren Identität: „Nur“ christlich oder „nur“ muslimisch oder „nur“ humanistisch ist ihm – wie vielen anderen, auch den Initiatoren des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons Berlin – immer schon viel zu eng, viel zu dogmatisch, viel zu langweilig, wenn man es einmal etwas salopp will.

Kermanis Buch „Ungläubiges Staunen“ beschreibt nicht das Staunen eines Ungläubigen! Sondern: Da staunt jemand über ihm eher zufällig entgegen tretende Gemälde vor allem in Rom, aber auch in Madrid, Köln und anderswo. Er staunt, hält inne, reibt sich die Augen, ist verwirrt, lässt sich viel Zeit beim betrachten. Und ist eben erstaunt, wie er, aus einer bildfeindlichen islamischen Tradition stammend, von katholisch geprägten Bilderwelten anschaulichster, gegenständlichster Art, bewegt und fast verführt wird. Wie Gott und seine Heiligen so drastisch leibhaftig dargestellt werden, sinnlich, greifbar, alltäglich. Daran haben sich christlich geprägte Menschen vielleicht längst gewöhnt bei der Bilderflut, die ihnen in Barock-Kirchen begegnen. Kermani lehrt auch diese Leute, darüber doch wieder zu staunen. Nämlich: Gott ist Mensch! Gott ist Fleisch. Das ist Kern der Lehre des Christentums. Zu Weihnachten wird dieser “Kern” des Christenlichen irgendwie noch gefeiert, wenn er nicht im Konsum-Rausch zerstört wird. Das ist wohl die Herausforderung allen Denkens, über die auch Hegel nicht nur ins Staunen kam: Gott ist Mensch. Und das heißt aber: In allen Menschen ist Gott anwesend.

Diese Anwesenheit des christlichen Gottes mitten im Alltag (etwa das Gemälde „Berufung des Heiligen Matthäus“, von Caravaggio aus dem Jahr 1600) erstaunt Kermani, weil das Heilige nicht in einer getrennten, transzendenten Sphäre sich abspielt, sondern sozusagen am Stammtisch, an dem Matthäus sitzt.

Kermani schreibt seine sehr persönlichen Bild-Deutungen ohne jeden sichtbaren Bezug zu Forschungen der Kunstgeschichte. Man könnte diese Art des Schreibens über Kunstwerke private Meditationen nennen. Die selbstverständlich jeder immer schon macht, wenn er eine Gemäldegalerie betritt. Nur: Sehr wenige haben den Mut bzw. die Begabung (und die Publikationschance !), ihre persönlichen Eindrücke auszuarbeiten.

Kermani will die LeserInnen einladen, sich mit seiner sehr persönlichen und deswegen immer auch eigenwilligen Bild-Interpretation auseinanderzusetzen. Die eine und einzige dogmatisch korrekte Bild-Interpretation gibt es ja ohnehin absolut nicht; wenn Künstler etwa ihre eigenen Werke, die immer „größer sind als sie selbst“, interpretieren: Dann ist diese Deutung für sie selbst alles andere als maßgeblich. Ein Kunstwerk wird in die Welt „gesetzt“ und gibt sich radikal frei für verschiedene Interpretationen im Laufe der Geschichte. Dadurch macht es sich auch verletzlich.

Wo da die Grenzen des Subjektiven sind, darüber wurde in unserem Salon gestritten. Gibt es nicht doch auch Bilddeutungen, die bei allem Respekt vor der Vielfalt, dann doch irgendwie „daneben liegen“, wenn nicht gar falsch sind? Wo wären diese etwas überzogen, allzu privaten Deutungen bei Kermani?

Diese Frage lässt sich nur im sehr ausführlichen Lesen der Kermani-Texte beantworten.

Einen sehr treffenden Hinweis bietet der protestantische Theologe und Philosoph Johann Hinrich Claussen in der SZ vom 25.8.2015, Seite 12, wo er das Buch Kermanis in die Kategorie der “Erbauungsliteratur” einfügen möchte. Sie soll – früher weit verbreitet – “das Gemüt erheben, fromme Gedanken wecken und zum Guten aufmuntern“. Solche Ziele verfolgt durchaus das Buch Kermanis. Er weist etwa in der Pietà-Interpretation treffend darauf hin, dass von dieser Skulptur auch atheistische Mütter, den unschuldig abgeschlachteten, sterbenden Sohn auf dem Schoß, bewegt werden können bzw. sollten.

Manche TeilnehmerInnen in unserem Salon am 25.9.2015 empfanden das freie Interpretieren Kermanis ohne Rücksicht auf die detaillierte (Kunst-) Geschichte hoch problematisch, wenn nicht gefährlich und falsch. Andere fühlten sich bei dieser subjektiven Deutung sehr wohl, möchten es förmlich selbst nachvollziehen.

Dass Kermanis Buch über das Christentum so viel z.T. enthusiastische Aufmerksamkeit findet, ist sicher der Einsicht geschuldet: „Da spricht –endlich einmal – ein Muslim auf diese Weise”. Man sagt sich vielleicht: Also, toll, dass von der muslimischen Seite einmal so viel Wohlwollendes über einen Ausschnitt der christlichen Kultur, der Bilder zumal, gesagt wird.

Eine Frage, die auch eine empirische Untersuchung verdiente: Wie reagieren muslimische Kreise, etwa in den Moscheen, auf dieses Buch? Wird darüber gepredigt? Gibt es Stellungnahmen? Wird das Buch als Inspiration und Hilfe im muslimischen Religionsunterricht eingesetzt? Gibt es Übersetzungen ins Arabische, ins Persische? Im Libanon könnten sie eventuell publiziert werden? Kermanis eigene Website meldet sehr zahlreiche Auftritte, Lesungen, Diskussione im ganzen deutschen Sprachraum: Für September 2015 werden 15 Veranstaltungen mit Kermani zum neuen Buch gemeldet, für Oktober sind es 9 Veranstatungen, für November 12, für Dezember 10 Veranstaltungen, falls wir uns nicht ganz verzählt haben.

Das heißt: “Alle Welt” reißt sich offenbar förmlich um Kermanis neues Buch. Viele sehnen sich förmlich nach seiner Liebe zum barocken Christentum, sie dürsten danach, möchte man sagen, verlangen nach Kermanis sehr subjektiven, persönlichen Kunstdeutungen, wollen endlich eine sinnliche, möglichst vernunft-befreite (katholische) Christlichkeit erleben: “Bitte bloß nicht ein zu weltliches Christentum”! Bitte nichts Protestantisches!! Sein Buch ist ein sperriger Beitrag zum Reformationsjubiläum 2017? Wird er Ehrengast in Wittenberg sein?

Wahrscheinlich erhält Kermani im nächsten Jahr einen internationalen katholischen Buchpreis, vielleicht auch zwei Buchpreise. Eine Audienz beim Papst steht sicher bevor, selbstverständlich von Mosebach-Gänswein eingefädelt. Katholische Verlage in Frankreich,  Italien, Spanien, den USA bereiten Übersetzungen vor? Man könnte träumen: Die Katholiken haben fast einen neuen “Kirchenvater”. Kermani, immer noch Muslim, stört zwar ein bißchen mit seiner Ablehnung der Trinität, der Inkarnation Gottes “nur”  in Jesus usw… Aber immerhin: Der barocke Katholizismus könnte eine gewisse bescheidene Wiedergeburt erleben. Ob die Pius-Brüder sich freuen?

Eigentlich wäre es ja theologisch gesehen wunderbar, wenn ein Muslim Kirchenvater werden könnte! Aber muss man dazu, um dies zu werden, ein Loblied singen auf barocke Kunstwerke?

Das Buch als Erbauungsbuch findet viele Leser, gerade ist die 2. Auflage erschienen. Die begeisterten Stimmen sind in der Mehrheit. Noch einmal: Es ist eben die spontane Freude leitend, dass es solch einen Text eines muslimischen Intellektuellen überhaupt gibt. Vielleicht tröstet das viele LeserInnen angesichts des Grauens, das im Namen dieser Religion begangen wird. Aber über die Grenzen des Buches sollte man auch offen reden, durchaus auch über die sprachliche Gestalt, die so unsäglich viele ultralange, kaum überschaubare Satzperioden enthält, offenbar bestimmt für lautes Vorlesen mit dem „musikalischen Effekt“ wie bei einer – schönen – Koran-Lesung/einem Gesang.

Dringend geboten wäre jetzt im Anschluss an das Buch: Die Diskussion über das Aufbrechen der eigenen, der engen Identitäten, der Nationen, der Konfessionen, der Religionen, aller Ideologien, die Mauern um sich errichten. Natürlich soll jeder seine ihm eigene einmalige Identität haben, aber dies ist immer eine offene, eine lernbereite Identität.

Dann sollte wahrgenommen werden: Mit dem Werk Kermanis, nicht nur mit dem „Ungläubiges Staunen“, kommt die Religions-Debatte nicht als politische Debatte, sondern als philosophische, theologische Debatte wieder ganz neu nach vorn in Deutschland. Ob dabei die Abwehr Kermanis für eine rational geprägte Frömmigkeit hilfreich sein kann oder sein Pädoyer für den „göttlichen Schauer“, um es so zu formulieren, ist sehr die Frage. Emotional geprägte Religiosität, blind geworden für Zeichen der Vernunft, ist gefährlich. Darum wäre Kermanis Abwehr eines modernen, liberalen christlichen bzw. protestantischen Glaubens ein eigenes Thema. Kermani kann nicht sehen, wie gerade eine moderne, „liberale“ Religion orientierend sein kann. Immerhin gültig ist, wenn Kermani schreibt: „Es gibt etwas, das über uns steht, das wichtiger ist als wir“. Und: „Der Mensch soll sich nicht so ernst nehmen“.

Kermani spricht in dem Buch seltsam geheimnistuerisch, was zu seinem offenen Denken nicht recht so passt, von „dem oder den Katholischen Freund(en)“. Die Namen nennt er nicht, wenn es sie denn gibt und diese Freunde nicht nur eine literarische Erfindung, ein Trick, sind. Wer diese Freunde sein könnten: Siehe weiter unten….

Es ist ein unbescheidener Ausdruck besserer theologischer Kenntnis, wenn man Kermani dringend wünschen möchte: Suchen Sie sich auch andere kompetente christliche theologische Freunde. Es gibt auch sehr gebildete Kunst Experten unter den protestantischen Theologen, und es gibt moderne katholische Theologen, die das Interesse wecken können für religiöse Motive in der modernen Kunst. Wenn man sich denn auf den kleinen Sektor der Kunst fixieren wollte.

Aber vielleicht hat Herr Martin Mosebach seinen Freund Kermani vor modernen Theologen gewarnt? In einem langen Interview mit Mosebach und Kermani, publiziert in SZ Magazin Heft 35/2015, sagt Martin Mosebach die für ihn zweifelsfrei typischen Sätze zu seinem sich explizit als Freund bekennenden Navid Kermani: „In der westlichen Welt haben die Menschen (gemeint sind Katholiken CM) das Knien verlernt. Stattdessen wird auf lächerliche Art und Weise das Bild des mündigen Christen propagiert. Wenn es Gott gibt, ist es das einzig Vernünftige, sich vor ihm niederzuwerfen. Und der Anblick von Muslimen, die vor Gott auf die Knie gehen, ist mir da ein unendlicher Trost“.
Eine gewisse Beachtung kann ein Hinweis im Nachwort zu „Ungläubiges Staunen“ verdienen, das Kermani mit „Nourouz 1394“ (bitte im Lexikon recherchieren, was das in anderen Kalendern bedeutet, CM) datiert. In diesem Nachwort, tituliert mit “Dank”,  also dankt Kermani für „unvergessliche Einsichten“ zweier  Angehöriger der Curie, also des päpstlichen Hofes im Vatikan. Kermani nennt die beiden in einer erstaunlichen und für einige Leser sicher höchst ungewöhnlichen Ehr-Erbietung: „Seine Exzellenz Herrn Erzbischof Dr. Georg Gänswein und Prälat Dr. Eugen Kleindienst“.

Zu diesen Herrschaften, die „unvergessliche Einsichten“ bescherten: Nur diese wenigen Hinweise für LeserInnen, die mit dem päpstlichen Hof heute nicht so vertraut sind: „Exzellenz“ Gänswein war und ist Privatsekretär Benedikt XVI., mit er durchaus befreundet sein soll. Zuvor war Gänswein etliche Jahre Dozent an der Opus-Dei-Universität in Rom. An Opus Dei Universitäten können nur Sympathisanten, wenn nicht Freunde und Mitglieder des Opus Dei arbeiten. Aktuell ist Georg Gänswein enger Vertrauter und Verteidiger des ehemaligen Limburger Verschwender-Bischofs Franz-Peter Tebartz-van Elst. Gänswein soll dafür gesorgt haben, so die Presseberichte, die kein Dementi fanden, dass der Bischof, nun mit einem Posten in Rom für die “Neuevangelisierung Europas” ausgestattet, nicht persönlich für den Millionenschaden eintreten muss, den seine Leidenschaft am wunderschönen Bauen seines Luxusresidenz in Limburg verursacht hat.

Wer Zeit, Lust und Geld für eine Rom/Vatikan-Reise hat: Am Donnerstag, 5. November, findet in Rom, in der Residenz der deutschen Botschaft im Vatikan (!) eine Veranstaltung Kermani-Gänswein statt, das meldet Navid Kermanis Website..: “Ungläubiges Staunen. Über das Christentum’ – Lesung und Gespräch mit Erzbischof Georg Gänswein, so der offizielle Hinweis.

Und zu Monsigore Eugen Kleindienst, nur so viel: Er war früher Generalvikar im Bistum Augsburg. Damals (1995, so der Spiegel am 13.3.1995) habe er in einem Gerichtsverfahren behauptet, als Generalvikar (also für Personalfragen zuständig) nichts von dem sexuellen Missbrauch eines seiner Priester gewusst zuhaben…Heute ist Kleindienst nicht nur Navid Kermani behilflich, sondern auch enger Mitarbeiter der Deutschen Botschaft im Vatikanstaat. Die Botschafterin ist die CDU Frau und Exministerin Annette Schavan.

Es darf nicht verschwiegen werden: Natürlich kann jeder mit jedem befreundet sein. Dennoch mutet die öffentlich besprochene und explizite Freundschaft des sonst so kritischen Intellektuellen Kermanis mit Martin Mosebach wirklich etwas befremdlich an, mit Mosebach, dem Romanautor und katholischen Liebhaber der alten lateinischen Messe sowie heftig konservativ theologiesierenden Laien. Die Vermutung ist: Mosebach hat wohl Kermani geholfen, über die Beziehungen zu den „Exzellenzen“ Gänswein und Kleindienst „unvergessliche Einsichten zu gewinnen“( S. 292 im Buch).

Denn Martin Mosebach hat offensichtlich allerbeste Verbindungen zum konservativen “Flügel” im Vatikan. Zum Beispiel: Die Presseinformation des Hauses Axel Springer schreibt zur Herausgabe ihres neuen Kunstmagazins „Blau“ am 29.4.2015: „So wandelt der Leser mit dem Schriftsteller Martin Mosebach auf Raffaels Spuren. Dem Büchner-Preisträger Mosebach gelang das fast Unmögliche: Er überzeugte Monsignore Georg Gänswein – die rechte Hand des Papstes –, dem BLAU-Fotografen François Halard exklusiven Zutritt zur ansonsten strikt für die Öffentlichkeit gesperrten Seconda Loggia im Apostolischen Palast zu gewähren“. Prälat Georg Gänswein – „die rechte Hand von Papst Franziskus“ – eine hübsche, zitierfähige Formulierung aus dem Hause Springer

Der begründete Eindruck besteht, dass Kermani das Christentum bzw. den von ihm so hoch gelobten Katholizismus auch ein bißchen durch die „Brille“ sehr konservativer „Exzellenzen“ und Schriftsteller kennen gelernt hat. Vielleicht sind Gänswein und Kleindienst die im Buch Kermanis namentlich mysteriös nicht genannten „Freunde“? Aber das sind Fragen, die zweifellos nie eine Antwort erhalten werden…

Es wäre jedenfalls fatal, wenn die vielen, ja so enthusiastischen LeserInnen des Kermani Buches den Eindruck hätten: Das Christentum ist eigentlich mit dieser barocken Bilderwelt des 16. Jahrhunderts, die Kermani so schätzt, weithin identisch. Diese Zeiten Caravaggios und der anderen ist die Epoche der Gegenreformation, des Hasses auf den anderen, der sich dann im Dreizigjährigen Krieg entladen hat. Ein Krieg, der heute in seiner Brutalität an die Verbrechen von IS Mördern, erinnert.

Wir empfehlen dringend die Lektüre anderer Bücher Navid Kermanis, vor allem “Wer ist wir?”, das jetzt auch im C.H.Beck Verlag als Paperback erschienen ist.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Trotz allem: Der Glaube an eine bessere Zukunft – Perspektiven des Überlebens in Haiti … und der Dominikanischen Republik

Trotz allem: Der Glaube an eine bessere Zukunft – Perspektiven des Überlebens in Haiti … und der Dominikanischen Republik

Interview mit Frederic Maeder, Zürich, Autor und Haiti-Spezialist

Die Fragen stellte Christian Modehn

Sie haben einige Jahre in Haiti gelebt und Sie besuchen das Land bis jetzt regelmäßig. Die Lebensqualität (Bildung, Ernährung, Wohnung, Gesundheit usw.) der meisten Menschen in Haiti ist, so wird übereinstimmend berichtet, katastrophal. Was gibt Ihrer Meinung den Menschen dort die Kraft, überhaupt noch einen Lebenswillen zu bewahren?

Mir kommt dazu spontan das kreolische Sprichwort pito nou lèd, nou la in den Sinn. Dieses besagt, dass das Leben zwar hart ist, aber dass man immerhin überhaupt noch lebt. Mit anderen Worten: Solange man am Leben ist, hat man die Möglichkeit, sein Leben zu verbessern. Der Glaube an eine bessere Zukunft ist sehr stark, und man ist überzeugt, dass einem die eigenen Kinder ein besseres Leben werden garantieren können, wenn diese erst einmal erwachsen sind. Der Glaube an Gott ist äußerst ausgeprägt, und man ist der Auffassung, dass der Mangel an Lebensqualität eine Prüfung darstellt, vor welche der Herr einem stellt, und dass man diese meistern wird, wenn man stark genug an ihn glaubt.

Bemerkenswert ist, wie stark offenbar immer noch die kreative Energie bei Künstlern und Schriftstellern in Haiti ist. Wen erreichen die Künstler in Haiti? Hat Kunst dort eine „soziale Bedeutung“?

Erstaunlicherweise stößt die haitianische Kunst vor allem außerhalb Haitis auf großes Interesse. Zum Beispiel bei ausländischen Entwicklungshelfern, Mitarbeitern von internationalen Organisationen im Allgemeinen oder auch bei Vertretern der haitianischen Diaspora. Bei der Literatur gilt es zu beachten, dass diejenigen Haitianer, die des Lesens mächtig sind, überaus fleißige Leser und dementsprechend stolz auf ihre eigenen Schriftsteller sind. Die alljährlich stattfindende Buchmesse «Livres en folie» etwa erfreut sich außerordentlicher Beliebtheit in Haiti wie auch in der Diaspora. Zeitgenössische Autoren, wie Lyonel Trouillot, Yannick Lahens oder Kettly Mars, aber beispielsweise auch Jacques Roumain, der Urheber des Werkes »Herr über den Tau«, des wohl bedeutendsten haitianischen Klassikers überhaupt, wurden alle ins Deutsche übersetzt. Die bildende Kunst auf Haiti dient vielen als eine Art Therapie oder Ventil, um der eigenen Existenz Ausdruck zu verleihen und den oft schwierigen Alltag erträglicher zu machen. Quasi: Aus Schmerz und auch aus langer Weile geht gute Kunst hervor.

Welche Rolle spielt der viel besprochene Voodoo-Kult mit dem Ziel, eine humanere Gesellschaft aufzubauen?

Hier gälte es wohl zunächst zu unterscheiden zwischen den Leuten, die den Voodoo offen praktizieren (hauptsächlich die Landbevölkerung), denjenigen, die den Voodoo leugnen, ihn aber neben dem Katholizismus oder Protestantismus insgeheim trotzdem praktizieren (der Grossteil der urbanen Bevölkerung), sowie jenen, die den Voodoo überhaupt nicht praktizieren. Die letzten beiden Gruppen schämen sich in der Regel für den Voodoo, setzen ihn gleich mit einem Mangel an Bildung und Zivilisiertsein, woraus häufig Konflikte mit der ersten Gruppe resultieren. Diese wird dementsprechend als böse und rückständig stigmatisiert. Unter solchen Voraussetzungen ist es natürlich schwierig, eine humanere Gesellschaft aufzubauen.

Im Jahr 1950 gab es 3 Millionen Einwohner in Haiti, 2004 waren es 9 Millionen, jetzt sind es 10, 6 Millionen, auf einer Fläche von 27.000 Quadratkilometern, das ist etwas mehr als das Bundesland Hessen. Welche Bedeutung hat die Geburtenkontrolle, damit wenigstens die jetzt lebende Bevölkerung vor dem Hungertod bewahrt werden kann?

Die Grundhaltung vieler Haitianer ohne Bildung steht in krassem Gegensatz zu einer im westlichen Sinne erfolgreichen Geburtenkontrolle. Sie denken, je mehr Kinder man hat, desto sicherer ist die eigene Zukunft. Eine Einstellung, die auf Grund einer hohen Kindersterblichkeit sowie wegen des Fehlens einer staatlichen Altersvorsorge sogar zu verstehen ist. Pitit se richès malere, Kinder sind der Reichtum der Armen, wäre das passende kreolische Sprichwort dazu. Natürlich wäre eine funktionierende Geburtenkontrolle der Linderung des Hungers im Land förderlich. Persönlich hielte ich es indes für effizienter, vermehrt in die Bildung der breiten Bevölkerung zu investieren, um die zahlreichen Probleme des Landes zu lösen.

Wer die Möglichkeit hat, als gebildeter Haitianer das Land zu verlassen, tut das auch, siehe die großen Communities in Kanada, den USA, Frankreich, der Dominikanischen Republik usw. Ist diese Flucht ins Ausland nicht auch fürs Land eine Katastrophe, weil die so genannte Elite keine Hoffnung mehr hat, Haiti aus dem multiplen Elend herauszuführen?

Hier sollte man vielleicht zuerst differenzieren, von welcher Elite die Rede ist. Das Interesse der finanziellen Elite ist es, das Volk arm und ungebildet zu halten, um es besser auszubeuten und kontrollieren zu können. Die intellektuelle Elite dagegen wäre um authentische Verbesserungen im Land bemüht. Ihr fehlt es jedoch an finanziellen Mitteln, um ihre Ideen zu verwirklichen, und die finanzielle Elite ist ihrerseits bestrebt, unter allen Umständen zu verhindern, dass die intellektuelle Elite zu Geld kommt, um deren Visionen umzusetzen. Gelingt dies einem ihrer Vertreter trotzdem, so läuft er oftmals Gefahr, umgebracht zu werden. Vielfach entscheiden sich Angehörige der intellektuellen Elite daher, schweren Herzens das Land zu verlassen, um im Ausland zu Wohlstand zu kommen, den sie dann nach Jahren in der Diaspora in der Heimat zu investieren hoffen. Das Ganze als Katastrophe fürs Land zu bezeichnen, ist letztlich durchaus legitim.

Die Bürger der benachbarten Dominikanischen Republik haben gleich nach dem schrecklichen Erdbeben Haiti großzügig geholfen. Jetzt gibt es wieder neue Auseinandersetzungen zwischen beiden Staaten. Die Dominikanische Republik will die starke Präsenz der Haitianer im eigenen Land jetzt einschränken, auch durch rabiate Ausweisungen. Gibt es Spuren der Hoffnung, dass die beiden Nationen doch noch zu einem menschlichen Miteinander aufraffen?

Eine sehr schwierige Frage, wenn man bedenkt, dass die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in der Angelegenheit schon vermittelnd helfen muss. Ich hoffe nicht, dass es einer weiteren großen Naturkatastrophe bedarf, so dass die Differenzen, welche die beiden Länder mit wechselnder Intensität schon seit Anbeginn miteinander austragen, wieder ein wenig in den Hintergrund gedrängt werden. Der so genannten »bi-nationalen, gemischten Kommission«, welche theoretisch schon seit den neunziger Jahren existiert und die für die Pflege der bilateralen Beziehungen ins Leben gerufen worden war, die indes viel zu selten tagt, neues Leben einzuhauchen, könnte ein Ansatz sein. Auch dass der alle zwei Wochen stattfindende bi-nationale Markt der haitianisch-dominikanischen Schwesterstädte Ouanaminthe und Dajabón trotz migrationspolitischer Differenzen weiterhin stattfindet, könnte man als Versinnbildlichung der gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit sowie als positives Zeichen deuten. Schließlich jedoch glaube ich, dass die Differenzen der beiden Länder, die sich die Insel Hispaniola teilen, hüben wie drüben vor allem ein Problem der ungebildeten Massen ist, die von den eigenen finanziellen Eliten instrumentalisiert werden, indem sie ihnen ein Feindbild im Anderen suggerieren, derweil die oberen paar Hundert auf beiden Seiten der Insel eigentlich stets von der haitianischen Migration profitiert haben.

Frederic Maeder, Zürich, hat das Buch “Hochzeit haitianisch – Goudougoudou ex-ante!” publiziert, er erzählt von einer Reise in erdbebenzerstörte Port-au-Prince. BoD ISBN 978-3-7357-0485-6, 16,90 Euro. Das Buch ist überall im Online-Handel erhältlich.

Copyright: Frederic Maeder, Zürich.

Einladung zum Denken: Ein Buch von Vittorio Hösle

Einladung zum Denken

Das Buch von Vittorio Hösle „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“

Eine Empfehlung von Christian Modehn

Ein Buch für freie Stunden und Tage, zum Beispiel im Urlaub, und nicht nur für philosophisch schon stark vor gebildete LeserInnen geeignet: Vittorio Hösle, weltweit geschätzter Philosoph, hat ein wichtiges Buch veröffentlicht: Er ist in Italien geboren, deswegen „Deutsch als Fremdsprache zuerst erlebt“ (S. 19), aber über den lutherischen Religionsunterricht mit Deutsch vertraut gemacht, lebt seit mehr als 10 Jahren in den USA. Er ist jetzt Professor an der University of Notre Dame. Nun präsentiert er die, neben der griechischen wichtige Tradition der Philosophie, eben die deutsche bzw. Deutsch sprechende Philosophie. Ein vielleicht gewagtes Unternehmen und ein gewagter Titel, beides wird aber von Hösle ausführlich und treffend erläutert.

Wer sich für zentrale Einsichten der Großen unter den deutschen Philosophen von Meister Eckart, 14. Jh. bis Hans Jonas 20. Jh. interessiert, wird hier nicht etwa schulbuchmäßig informiert und mit befremdlichen Fakten konfrontiert, sondern selbst zum Mitdenken eingeladen. Und das eigene Nachdenken wird inspiriert durch die Interpretationen und Kritiken, die Hösle jeweils vorschlägt. Er verschweigt nicht, dass er die Höhepunkte deutscher Philosophie bei Kant, Fichte, Schelling und Hegel findet, auch heute noch. Hösle bedauert, dass das Bemühen um eine aktuelle Weiterführung des Denkens dieser „Klassiker“ heute eher ausbleibt. Immer wieder wird der Leser mit der sehr berechtigten zentralen Einsicht des Autors konfrontiert, dass alles darauf ankommt, die apriorische GELTUNG eines Arguments zu erweisen. Auf diese Weise will er das Denken auf sicheren, unumstößlichen Boden stellen. Philosophie hat für ihn mit einigen Wahrheiten zu tun, bei aller Vielfalt der Perspektiven. Philosophie vermittelt also auch klare und umstößliche Erkenntnis, Kant ist dabei immer wieder Vorbild, siehe die Formen des Kategorischen Imperativs. Deutlich ist auch, dass Hösle starkes Interesse hat an einer vernünftig argumentierenden Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie. „Aber die philosophische Form von Religiosität, die Deutschland so stark etwa von den USA unterschied, ist verflogen…“(S. 311). Stimmt das so ohne weiteres ? Vielleicht ist eine neue liberale Theologie, die dicht an eine rationale Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie anschießt, ein möglicher Neubeginn, aber davon spricht Hösle leider nicht. Ansätze für eine zeitgemäße, aber doch der Tradition verbundene Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie bietet Hösle in unterschiedlichen Kapiteln, wenn er immer wieder daran erinnert, dass der „Gott in uns“ von Meister Eckart über Nicolaus von Cues bis hin zu Fichte und Hegel und Schelling, ja in anderer Weise auch bei Feuerbach, eine „andere“, nicht autoritäre und insofern auch nicht institutionell-kirchlich vermittelte Gotteserfahrung des einzelnen/des Individuums darstellt. Diese Linie des „Gott in uns“ in der Philosophie (und nicht etwa nur in der Mystik) ist ein zentrales Thema – auch für die Zukunft- des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons in Berlin. Hösle ist nicht nur der Philosoph, der Positionen anderer Denker kurz skizzieren kann und damit Interesse weckt, diese Autoren selbst zu lesen. Er hält mit seiner eigenen Meinung nicht zurück, etwa in einem durchaus polemisch zugespitzten Kapitel über bzw. gegen Nietzsche. Gerade in dem Beitrag wünscht sich der Leser Quellenangaben und Hinweise auf andere Nietzsche Interpretationen, Eugen Fink oder Günter Figal wären nur zwei Beispiele anderer Interpretationen. Auch Heidegger wird von Hösle kritisiert, weil die Ethik z. B. bei ihm völlig ausfällt, auch die Unklarheit der Sprache wird zurückgewiesen. ( 263). „Vermutlich hat es kaum einen bedeutenden Geist gegeben, der so wenig zur Selbstkritik fähig war wie Heidegger – er produzierte Bedeutendes und Wirres nebeneinander und war selbst nicht in der Lage, zwischen beidem zu unterscheiden“ (S. 269). Zur Bindung Heideggers an die NSDAP und die Naziideologie bemerkt Hösle: “Moralische Feigheit, ja Niedertracht und selbst partielle intellektuelle Verblendung sind mit großen Leistungen kompatibel“ (S. 260), dies schreibt Hösle vor der Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte“ Heideggers.

Im ganzen ist Vittorio Hösle nicht sehr optimistisch zum Fortbestehen der Philosophie in Deutschland bzw. expliziter der deutschen Philosophie, er spricht gar von einem „Niedergang der deutsche Philosophie“ (S. 309). Er hält die Bedeutung von Habermas eher für sehr begrenzt, Peter Solterdijk erwähnt er mit keinem Wort, Gadamer schätzt er auch mit Vorbehalten, dessen Ablehnung transzendentaler Geltungsreflexionen kritisiert er (S. 285). Das heute neu auflebende „populäre“ Interesse an Philosophie (etwa auch bei philosophisch “Suchenden”, Fragenden, „Laien“ meinetwegen), findet bei Hösle keine wirkliche Beachtung. Seine Einschätzung wirkt sehr apodiktisch und wird auch nicht begründet, wenn er die Hoffnung der Aufklärung für überholt findet, „die Philosophen würden Licht und Einigkeit dort bringen, wo die Religionen Finsternis und Zwist hinterlassen hatten“ (S. 308). Welchen Ausweg aus dem Niedergang der Religionen (Gewalt, Dogmatismus, Fundamentalismus usw.) haben denn die Menschen, wenn nicht in kritischen philosophischen Überlegungen. Da hätte eine Erinnerung an die Griechen,Platon, die Stoa usw. gut getan, die ja Philosophieren als Lebensform betrachteten, siehe etwa die großartigen Bücher von Pierre Hadot. Philosophie ist doch niemals nur Wissenschaft, niemals nur Universitätssache von gut bezahlten Beamten. Philosophie ist nie Spielerei, nie akademischer Schlagabtausch usw. Philosophie ist immer, wie der Name sagt, eine Liebe zur (Lebens) Weisheit, also eine kritische Hilfe, die Welt, die Menschen (und darin mitgemeint auch Gott) zu verstehen, um als Mensch leben zu können! Diese Leidenschaft für eine „praktische“ (Lebens)-Philosophie vermisse ich in dem kompakten Werk Hösles. Das Buch aber ist, davon abgesehen, durchaus wichtig, inspirierend, neue Fragen weckend, es verdient die Mühe der Lektüre, um dann selbst wieder weiter zu forschen, zu denken. Etwas Besseres kann man von einem philosophischen Buch kaum sagen.

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. C.H. Beck Verlag, München 2013, 320 Seiten.

Weiterdenken mit dem “Philosophie Magazin”.

Weiterdenken mit dem PHILOSOPHIE MAGAZIN

Ein Hinweis von Christian Modehn

Seit vier Jahren arbeiten auch JournalistInnen daran, Philosophie aus den kleinen Zirkeln der Universitäten zu befreien. Einige haben in Berlin, unterstützt von französischen philosophischen Journalisten, vor 4 Jahren das „PHILOSOPHIE Magazin“ gegründet. Es begleitet, inspiriert und provoziert eine bisher noch gar nicht umfassend wahrgenommene kulturelle Bewegung: Sie würde es verdienen, dass Kulturpolitiker sich auch mal darum kümmern. Zur förderungswürdigen Kultur gehören Menschen, die nichts anderes wollen, als sich in ruhigen Räumen mit guten Bibliotheken bei Tee oder Wein zu treffen – zum Nachdenken eben, zum Philosophieren, warum nicht auch mit einer guten philosophischen Zeitschrift. Nebenbei: Dass es  – wenigstens in Berlin – nicht ein “Haus der Philosophie” gibt _ angesichts so vieler anderer Kultur-Literatur-Kunsthäuser, finde ich skandalös.

Das alle zwei Monate erscheinende „PHILOSOPHIE Magazin“ ist eine Denkhilfe für einzelne, vielleicht auch eine Orientierungshilfe (wir wollen uns ja hoffentlich denkend im Leben orientieren) sowie auch eine Inspiration für die lebendigen philosophischen Gesprächskreise. Philosophie lebt vom Philosophieren in der Gruppe.

Das neue Heft (August/September 2015) ist in Buchhandlungen, aber auch in größeren Zeitungsläden, etwa in Hauptbahnhöfen, erhältlich zum Preis von 6,90 EURO bei einem Umfang von 100 Seiten wahrlich sehr erschwinglich. Zumal, wenn man bedenkt, dass in dem Heft jede Seite lesenswert ist … und man am besten die Hefte sammelt, um später noch einmal nachzulesen…zum Weiterdenken.

Es ist keine Frage: Philosophieren wird auch im “Philosophie Magazin” nicht immer als leichte Kost präsentiert. Vielleicht ist es auch Ausdruck einer allgemeinen philosophischen Entwöhnung –Philosophie ist ja leider kein relevantes Unterrichtsfach in den Schulen in Deutschland- dass wir etwa Technik und hoch komplizierte Gebrauchsanweisungen offenbar zugänglicher finden als grundsätzliche Reflexionen über Grundfragen des Daseins. Etwa die Frage: Was ist eigentlich ANERKENNUNG? Ein Thema, das viele Philosophen bewegt, nicht weil sie es zuerst für ein philosophisches Problem halten, sondern weil Anerkennung ein Thema mitten im Leben ist. Wenigstens vom Namen her bekannt ist die Anerkennungsproblematik, wie sie Hegel unter dem Stichwort „Herr und Knecht“ in seiner „Phänomenologie des Geistes“ entwickelt. Das neue Heft „Philosophie Magazin“ bietet in einer Beilage nicht nur den Text Hegels in der (sprachlich etwas antiquierten, aber sicher authentischen Fassung der Meiner Ausgabe von 2015), dazu auch ein einführendes Vorwort des Philosophen Martin Gessmann: „Womöglich hat das wahre Herr-und-Knecht-Kapitel in der Geschichte erst begonnen“, schreibt er mit Blick wohl nicht nur auf die ökonomische Ungleichheit/Ungerechigkeit innerhalb der Weltbevölkerung heute, sondern auch, wie denn die anderen bislang eher ignorierten Knechte, also die Automaten, Maschinen und Roboter als unsere „Assistenzsysteme“ eines Tages vielleicht die Rolle des bestimmenden „Herren“ übernehmen und möglicherweise die Menschen zu Knechten machen.

Der bekannte Frankfurter Philosoph Axel Honneth (er gilt als einer der brillanten Vertreter der „Frankfurter Schule“) bietet einen längeren Essay über „Hegel und die Anerkennung“, der Beitrag ist dem Thema gemäß höchst anspruchsvoll. Es ist wohl diese Melange aus sehr anspruchsvollen fachphilosophischen Beiträgen (wie diesem) und eher allgemein zugänglichen Texten und Interviews, die das Heft auszeichnet. Ob man die Herren Fachphilosophen bitten dürfte, immer die Nachvollziehbarkeit der “Bildungsbürger” im Blick zu haben, wäre eine interessante journalistische Frage.

Weil Philosophieren eben vorwiegend auch Dialog ist oder sein sollte, sind die Interviews, die manchmal auch Dialoge sind, im Heft besonders interessant. Francois Jullien, Experte in Paris für (alte) chinesisches Denken in Beziehung zum europäischen Denken/zur Philosophie,  zeigt im Interview, wie westliche Menschen von ihrer (begrenzenden) Fixierung auf Ziele befreit werden könnten – wenn sie denn wie die (alten) Chinesen „nicht nach dem Glück streben, sondern nach dem Im-Fluss-Sein“. „Das Wesentliche ist die Bewegung“… Auch der von vielen geschätzte Bestsellerautor und Lebenskunst-Philosoph Wilhelm Schmid (Berlin) kommt ausführlich zu Wort, auch mit Antworten zu seinem eigenen biographisch-philosophischen Weg. Wilhelm Schmid ist ein Mittler und Vermittler philosophischer Traditionen, ein Übersetzer, der durchaus den Mut hat, Philosophieren als kritische Form der Lebensbegleitung und Lebenshilfe darzustellen. Der Erfolg seiner Bücher, vor allem zur Gelassenheit, zeigen, dass Philosophen sich ins Gespräch der Öffentlichkeit nachvollziehbar für die meisten einschalten können bei der Diskussion zentraler Lebensfragen. Wahrscheinlich hat in dem Falle die Philosophie sogar die “Seelsorge” übernommen und tritt ein in die guten Traditionen, wie sie Pierre Hadot herausgearbeitet hat. Wilhelm Schmid ist ein freier Philosoph und Schriftsteller, er hat andere Verbindungen zur Alltagswelt als ein Professor für Philosophie an der Universität. Insofern erinnert er uns an den freien französischen Philosophen und Schriftsteller André Comte-Sponville. In Frankreich gibt es ohnehin die Tradition der „Populär-Philosophen“, man muss nicht gleich an Alain denken, aber selbst Albert Camus lebte und dachte bekanntlich außerhalb der Universitäten, und Emil Cioran arbeitete auch nicht an einer Universität usw.

In Deutschland werden wir es uns meines Erachtens abgewöhnen müssen, den Begriff und die Personen der Populärphilosophen gering zu schätzen. Waren die Stoiker und Epikuräer nicht etwa auch Populärphilosophen? Wahrscheinlich haben ja die Universitätsphilosophen ohnehin erst dann eine gewisse, über die engen Zirkel hinausgehende Wirkung, wenn sie selbst die Dimension des Populären pflegen und vor allem bitte endlich auch sprachlich darauf achten, auch schön zu schreiben, also lesbar für den gebildeten Bürger, ohne die fachspezifische Esoterik und Hermetik. Ich empfehle in dem Zusammenhang immer sehr gern die vorbildlichen Arbeiten von Prof. Martin Seel, Frankfurt am Main. Ein Beispiel: Sein Buch „111 Tugenden-111 Laster“ (Fischer Verlag)  sollte endlich als Taschenbuch zu einem erschwinglichen Preis erscheinen, damit es in Schulen, Volkshochschulen, Gesprächskreisen verbreitet und diskutiert wird.

Der Leser des neuesten Heftes des Philosophie Magazin wird sich besonders freuen, in einem Interview der Philosophin Chantal Mouffe zu begegnen, die als Denkerin des Politischen für eine neue Gestalt radikaler Politik eintritt. Der philosophische Einfluß etwa auf “Podemos” in Spanien wird unterstrichen.

Insgesamt möchten wir die Reihe “Philosophie Magazin” dringend empfehlen, vor allem., weil dieses Blatt das Potential hat, noch besser zu werden, noch deutlicher zu zeigen, wie Philosophieren immer und ständig stattfindet, auch in der Musik, der Literatur, dee Poesie, den Künsten, dem Alltag, den Religionen usw. usw. Und selbstredend eben in den immer neu zu entdeckenden Texten von PhilosophInnen.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Wenn der Atheist den Christen liebt. Zu einer aktuellen Novelle von Honoré de Balzac

Wenn der Atheist den frommen Christen liebt:

Zu einer kleinen, aber großen Novelle von Honoré de Balzac

Von Christian Modehn

„La Messe de l athée“ („Die Messe des Atheisten“) ist eine der kürzesten Erzählungen von Honoré de Balzac. Aber der Text, leider eher selten noch beachtet, kann auch heute, 180 Jahre nach seiner Veröffentlichung (1836), viele übliche ideologisch-religiöse Grenzziehungen fragwürdig werden lassen. Es ist ein Text, der die LeserInnen berührt, bewegt… und verunsichert. Etwa hinsichtlich des wohl noch nicht ganz verschwundenen Vorurteils, dass Atheisten nicht in der Lage seien, religiöse Menschen, selbst solche, denen „man“ einen naiven (Köhler-)Glauben zugesteht, zu schätzen, zu achten, zu verehren, ja, auch dies: zu lieben. Natürlich ist ein literarischer Text als solcher ein Kunstwerk, das in sich selbst lebt. Aber Balzacs Romane und Erzählungen sind ja niemals „l art pour l art“, sind niemals schöngeistige Spielerei aus Freude am Nur-Ästhetischen. Von daher die Aktualität des Textes!

Ein Hinweis zum Inhalt: Doktor Desplein ist ein angesehener, berühmter Chirurg im Paris zu Beginn des 19. Jahrhunderts; er ist zudem bekannt für seine radikale atheistische Überzeugung. Eines Tages entdeckt sein junger Kollege, Horace Bianchon, dass Doktor Desplein die Kirche St. Sulpice (im 6. Pariser Arrondissement) morgens um 9, zur Zeit der Messe, von einem Seiteneingang aus betritt. Beobachtungen und Nachforschungen führen den neugierigen Bianchon, zur Gewissheit: Der berühmte atheistische Arzt nimmt regelmäßig, viermal im Jahr, an einer Messe teil; er kniet beim Beten, wie es sich gehört, er gibt Spenden in die Kollekte, er führt sich auf wie ein Frommer. Der Sakristan verrät dem jungen Arzt, dass der berühmte Desplein, „der unerschrockene Spötter“, schon seit 20 Jahren, immer im Rhythmus von drei Monaten, an der Messe teilnimmt. Von Bianchon angesprochen, erklärt der berühmte Atheist: Er selbst habe diese Messen als Totengedenken bestellt, also auch den Messe lesenden Priester bezahlt. Und das alles nur, um einen der wertvollsten Menschen zu ehren, die er je gekannt hab: Den frommen, ja naiv-frommen Wasserträger de Bourgeat. Er stammt vom Land, aus der Auvergne; die beiden haben sich in Paris kennen gelernt, als Desplein in höchster Not war: Als Student konnte er sich kaum noch ernähren, fürs Studium fehlte ihm das Geld. Da hat ihm der arme Fromme de Bourgeat geholfen, das Ersparte dem Studenten gegeben, in der Überzeugung, dass der junge Mann einmal ein berühmter Arzt werde. „Ohne ihn hätte mich das Elend getötet“, gesteht Desplein. Von seinem Gehalt kauft der Arzt dann später dem armen Wasserträger ein Pferd und eine Tonne fürs Wasser; bei schwerer Krankheit kann ihn der junge Arzt (de Desplein) noch retten, wenig später stirbt der Freund, der Wohltäter, der fromme Wasserträger. Um der verstorbenen guten Seele schnell den Zugang in den Himmel zu ermöglichen, bezahlt Desplein alle drei Monate die Toten-Gedenk-Messe. „Er war mein zweiter Vater“, berichtet Desplein dem jungen Arzt Bianchon, „de Bougeat starb in meinen Armen, er hat mir in einem Testament alles hinterlassen, was er besaß. Er liebte die Jungfrau Maria wie er wohl seine Frau geliebt hätte. Aber er fürchtete noch, nicht heilig genug gelebt zu haben. Nach seinem Tod merkte ich, dass er niemand hatte. Aber er hatte eine religiöse Überzeugung. Habe ich das Recht, darüber zu diskutieren?“ Aus tiefer Zuneigung und Dankbarkeit lässt der Atheist die Messe lesen. „Und ich sage in dem guten Glauben des Zweiflers: Mein Gott, wenn es eine Sphäre gibt, wo du nach dem Tod diejenigen bewahrst, die vollkommen gelebt haben, dann denke auch an den guten Bourgeat. Und wenn er noch leiden muss (gemeint ist wohl die Läuterungszeit im Jenseits, CM), dann übergib du mir dessen Leiden, damit er schnell eintreten kann in das, was man Paradies nennt“.

Die Geschichte von Balzac ist alles andere als eine kitschige Erbauungsstory für fromme Gemüter. Sie ist sachlich, kühl geschrieben. Sie kann als Plädoyer verstanden werden, dass sich Atheisten und fromme Christen so fern eigentlich nicht sind, wenn sie sich zuerst als Menschen und nicht zuerst als Mitglieder/Vertreter einer Religion oder Ideologie betrachten. Dann kann der extrem fromme Katholik einem jungen Atheisten helfen; und der Atheist kann an Gottesdiensten und Messfeiern teilnehmen, ja diese sogar bestellen und bezahlen, weil er, gemäß der Glaubenswelt seines Freundes, diesem noch post mortem Gutes tun will.

Diese Vorstellungen im engeren Sinne haben heute sicher keine große Relevanz mehr. Wichtig aber bleibt der Kern der Aussage von Balzac: Menschlichkeit ist wichtiger als Religiosität. Und aus der noch so schlichten Frömmigkeit kann viel Menschlichkeit erweckt werden. Und Atheisten haben keine Grund arrogant zu sein und sich als etwas Besseres zu fühlen.

Man übersetze diese Geschichte ins Heute: Ein katholischer Priester etwa finanziert einem atheistischen Studenten das Studium. Oder ein Atheist unterstützt das spirituelle Wohlergehen eines frommen Christen…Gibt es solche Beispiele, etwa in Deutschland?

„La Messe de l Athée“ ist kürzlich als kleiner separater Druck (zum Preis von 5,10 EURO) in den Editions Manucius, 40, Rue de Montmorency, 75003 Paris, erschienen (im Jahr 2013). Das Heft umfasst 75 Seiten, incl. einer Einleitung und eines Kommentars und Hinweise auf die wenigen Studien zum Text. Wir empfehlen diese preiswerte, gute Ausgabe auch für Schulen und Volkshochschule und kirchliche Akademien…

Wichtig dürfte besonders die Studie von John H. Mahazeri sein: „Un Atheismus particulier: Une lecture de La Messe de l Athée“. In: Essais sur la religiosité d Honoré de Balzac. New York 2008.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Probleme mit der Vernunft: Ein Sonderheft über den Koran des Philosophie-Magazin

Probleme mit der Vernunft:

Das Sonderheft „Der Koran“ des „Philosophie Magazin“.

Von Christian Modehn

Der Koran und die Philosophen/die Philosophien: Anders gesagt: Der Koran und die Bedeutung des kritischen, systematischen Denkens und des menschlichen Verstehens: Ein Thema, das immer schon Bedeutung hatte, umstritten war und jetzt neu entdeckt wird, etwa auch in Veranstaltungen des „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ kürzlich. Das „Philosophie Magazin“ (Berlin/Paris) hat nun ein stattliches, 100 Seiten umfassendes Sonderheft zum Koran publiziert mit ca. 40 verschiedenen Beiträgen. Auf diese „bunte Mischung“ können wir nur partiell, aber wohl Wesentliches treffend, hier eingehen. Catherine Newmark ist die verantwortliche Redakteurin dieser Sonderausgabe. Sie bietet zahlreiche Informationen zum Thema, darunter auch Zitate aus Interpretationen des Korans von prominenten deutschen Philosophen, wie Herder, Lessing, Hegel, Nietzsche… Unter den zahlreichen Interviews ist interessant der Beitrag von Angelika Neuwirth, Professorin für Arabistik an der FU Berlin. Sie deutet das heute weit verbreitete Lektüreverhalten gegenüber dem Koran als „Nachschlagewerk für (aktuelle) Probleme“ als „Missbrauch“. Angelika Neuwirth folgend ist der Koran vielmehr in erster Linie „ein Inventar von Texten, die man im Gottesdienst braucht“ (S. 15.) Die Professorin für Arabistik erinnert auch daran, dass für die Muslime „Gott der alleinige Autor (des Koran) ist“. Kurz darauf schreibt Angelika Neuwirth: “Obwohl man die transzendente Herkunft (des Korans) nicht wissenschaftlich beweisen kann, hat man (!, CM) den muslimischen Geltungsanspruch, den der Koran ja auch selbst transportiert, zu respektieren“. Warum „man“, also auch Literaturwissenschaftler oder Philosophen, diesen von den Vertretern der Religion erhobenen „transzendenten Geltungsanspruch“ respektieren müssen, wird hier leider nur behauptet, aber nicht begründet. Kann „man“ unter Zustimmung zu dieser religiösen Weisung überhaupt Wissenschaft betreiben? ..Deutlich in dieser Sache wird der emeritierte Islamwissenschaftler Stefan Wild (Bonn). Er antwortet auf die Frage nach einer historisch-kritischen Lektüre des Korans, so, wie sich auch seit ca. 150 Jahren die historisch-kritische Bibelforschung durchgesetzt hat: „Generell kann man sagen, dass eine solche Lektüre im traditionellen Islam sehr wenig ausgeprägt ist“ (S. 45). Das wissen wir allmählich. Irritierend ist hingegen die weitere Einschätzung Von Herrn Wild: „Die meisten heutigen islamischen Theologen sehen, was in Mitteleuropa mit den offiziellen Religionen des Katholizismus und Protestantismus passiert ist. Sie sehen, oder glauben zu sehen, dass bestimmte Tendenzen der Exegese – etwa die Entmythologisierung – im Grund den Status dieser Religionen unterminieren. Und sie sagen: Das wollen wir nicht“.

Ich finde es als bedauerlich, nein: mangelhaft, dass solche Aussagen eines Professors ohne Widerspruch stehen bleiben und so den Eindruck erwecken, diese Aussagen seien richtig. Entmythologisierung der Bibel hat tatsächlich wie eine Befreiung gewirkt, hat Raum geschaffen für ein Verstehen der Bibel, bei dem der Leser nicht mehr auf seinen Verstand verzichten muss. Hat man denn noch nie gehört, dass Entmythologisierung im Sinne Rudolf Bultmanns nicht Vernichtung des Mythos, sondern dessen VERSTEHEN bedeutet! Vernunft hat im Christentum den Glauben gereinigt von Wahnvorstellungen usw. Vernunft im Christentum ist ein Gewinn! Wann wird man sagen können: Die menschliche Vernunft hat den Islam gereinigt?

Auch mit dem Kölner Islamwissenschaftler Stefan Weidner wird ein Interview geboten. Er erinnert – wie der Literaturwissenschaftler Nivid Kermani „Gott ist schön“, München 1999 – an die Schönheit, Heiligkeit und Unveränderlichkeit des Wortlautes des arabisch geschriebenen Koran. Die Schönheit, so wird immer wieder behauptet, erschließe sich eben nur in der arabischen Sprache….Diese Glaubensüberzeugung führt aber zu Problemen der Koran Übersetzungen in andere Sprachen. Stefan Weidner plädiert für Übersetzungen, weil er den Koran als Buch der allgemeinen Dichtung und Poesie versteht, weil er also den Koran ins „Menschliche“ hineinzieht und gern diesen poetischen Text (aus dem 7./ 8. Jahrhundert) den LeserInnen auch in europäischen Sprachen etwa zugänglich machen will. Stefan Weidner arbeitet selbst an einer „ersten poetischen Übersetzung des Korans seit Friedirch Rückert“, schreibt die Zeitschrift Philosophie Magazin, S. 25).

Der Kauf des Heftes lohnt sich auch wegen des leider knappen Interviews mit Souleymane Bachir Diagne, Professor an der Columbia University of New York (S. 61 f.) Zum Vers der Sure 2: 256 „Kein Zwang ist in der Religion“, sagt er: „Erst wenn (im Islam, CM) alle Zwänge, von den offensichtlichen (körperlichen, gesetzlichen, staatlichen) bis hin zu den hinterlistigsten, dem Konformismus geschuldeten Zwänge aufgehoben sind, wird die Wahl des Gottes (also mein Glaube, CM) ein authentisches Einwilligen in Gott sein“ (S. 62). Souleymane Bachir Diagne (er wurde in Senegal geboren) folgt den Sufis, für die es keine einzelne, absolut wahre Religion gibt: „In der Dichtung der Sufis besagen zahlreiche Verse, dass es zwischen Tempel, Synagoge, Moschee, Kirche und selbst den Götzenbildern letzten Endes keinen Unterschied gibt….“

Sehr lesenswert ist auch das Interview mit dem Journalisten und Islamwissenschaftler Thorsten Schneiders, er äußert sich zum Islamismus, der für ihn „ein politisches, kein religiöses Phänomen“ ist (S. 88 ff).

Ein weiterer Hinweis: In unserer philosophischen Sicht ist es außerordentlich betrüblich, wenn ein islamkritischer muslimischer Denker unter Pseudonym (Ibn Warraq) schreibt: „Das liberale (kritische) arabische Denken ist fragmentiert ..und es werden dessen Argumente nur von einem Bruchteil der arabischen Bevölkerung vernommen“ (S. 93).

Er soll das Schlusswort haben: “Ich glaube wirklich, dass in der islamischen Welt eine Aufklärung (etwa Trennung von Religion und Staat) nur mit einer kritischen Prüfung des Korans zustande kommen kann…“ Ob sich daran auch die muslimischen Islamwissenschaftler an deutschen Universitäten, auf ihren neu eingerichteten wissenschaftlichen Lehrstühlen, halten, wäre eine eigene Überprüfung wert.

Copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin.