Wenn der Atheist den frommen Christen liebt:
Zu einer kleinen, aber großen Novelle von Honoré de Balzac
Von Christian Modehn
„La Messe de l athée“ („Die Messe des Atheisten“) ist eine der kürzesten Erzählungen von Honoré de Balzac. Aber der Text, leider eher selten noch beachtet, kann auch heute, 180 Jahre nach seiner Veröffentlichung (1836), viele übliche ideologisch-religiöse Grenzziehungen fragwürdig werden lassen. Es ist ein Text, der die LeserInnen berührt, bewegt… und verunsichert. Etwa hinsichtlich des wohl noch nicht ganz verschwundenen Vorurteils, dass Atheisten nicht in der Lage seien, religiöse Menschen, selbst solche, denen „man“ einen naiven (Köhler-)Glauben zugesteht, zu schätzen, zu achten, zu verehren, ja, auch dies: zu lieben. Natürlich ist ein literarischer Text als solcher ein Kunstwerk, das in sich selbst lebt. Aber Balzacs Romane und Erzählungen sind ja niemals „l art pour l art“, sind niemals schöngeistige Spielerei aus Freude am Nur-Ästhetischen. Von daher die Aktualität des Textes!
Ein Hinweis zum Inhalt: Doktor Desplein ist ein angesehener, berühmter Chirurg im Paris zu Beginn des 19. Jahrhunderts; er ist zudem bekannt für seine radikale atheistische Überzeugung. Eines Tages entdeckt sein junger Kollege, Horace Bianchon, dass Doktor Desplein die Kirche St. Sulpice (im 6. Pariser Arrondissement) morgens um 9, zur Zeit der Messe, von einem Seiteneingang aus betritt. Beobachtungen und Nachforschungen führen den neugierigen Bianchon, zur Gewissheit: Der berühmte atheistische Arzt nimmt regelmäßig, viermal im Jahr, an einer Messe teil; er kniet beim Beten, wie es sich gehört, er gibt Spenden in die Kollekte, er führt sich auf wie ein Frommer. Der Sakristan verrät dem jungen Arzt, dass der berühmte Desplein, „der unerschrockene Spötter“, schon seit 20 Jahren, immer im Rhythmus von drei Monaten, an der Messe teilnimmt. Von Bianchon angesprochen, erklärt der berühmte Atheist: Er selbst habe diese Messen als Totengedenken bestellt, also auch den Messe lesenden Priester bezahlt. Und das alles nur, um einen der wertvollsten Menschen zu ehren, die er je gekannt hab: Den frommen, ja naiv-frommen Wasserträger de Bourgeat. Er stammt vom Land, aus der Auvergne; die beiden haben sich in Paris kennen gelernt, als Desplein in höchster Not war: Als Student konnte er sich kaum noch ernähren, fürs Studium fehlte ihm das Geld. Da hat ihm der arme Fromme de Bourgeat geholfen, das Ersparte dem Studenten gegeben, in der Überzeugung, dass der junge Mann einmal ein berühmter Arzt werde. „Ohne ihn hätte mich das Elend getötet“, gesteht Desplein. Von seinem Gehalt kauft der Arzt dann später dem armen Wasserträger ein Pferd und eine Tonne fürs Wasser; bei schwerer Krankheit kann ihn der junge Arzt (de Desplein) noch retten, wenig später stirbt der Freund, der Wohltäter, der fromme Wasserträger. Um der verstorbenen guten Seele schnell den Zugang in den Himmel zu ermöglichen, bezahlt Desplein alle drei Monate die Toten-Gedenk-Messe. „Er war mein zweiter Vater“, berichtet Desplein dem jungen Arzt Bianchon, „de Bougeat starb in meinen Armen, er hat mir in einem Testament alles hinterlassen, was er besaß. Er liebte die Jungfrau Maria wie er wohl seine Frau geliebt hätte. Aber er fürchtete noch, nicht heilig genug gelebt zu haben. Nach seinem Tod merkte ich, dass er niemand hatte. Aber er hatte eine religiöse Überzeugung. Habe ich das Recht, darüber zu diskutieren?“ Aus tiefer Zuneigung und Dankbarkeit lässt der Atheist die Messe lesen. „Und ich sage in dem guten Glauben des Zweiflers: Mein Gott, wenn es eine Sphäre gibt, wo du nach dem Tod diejenigen bewahrst, die vollkommen gelebt haben, dann denke auch an den guten Bourgeat. Und wenn er noch leiden muss (gemeint ist wohl die Läuterungszeit im Jenseits, CM), dann übergib du mir dessen Leiden, damit er schnell eintreten kann in das, was man Paradies nennt“.
Die Geschichte von Balzac ist alles andere als eine kitschige Erbauungsstory für fromme Gemüter. Sie ist sachlich, kühl geschrieben. Sie kann als Plädoyer verstanden werden, dass sich Atheisten und fromme Christen so fern eigentlich nicht sind, wenn sie sich zuerst als Menschen und nicht zuerst als Mitglieder/Vertreter einer Religion oder Ideologie betrachten. Dann kann der extrem fromme Katholik einem jungen Atheisten helfen; und der Atheist kann an Gottesdiensten und Messfeiern teilnehmen, ja diese sogar bestellen und bezahlen, weil er, gemäß der Glaubenswelt seines Freundes, diesem noch post mortem Gutes tun will.
Diese Vorstellungen im engeren Sinne haben heute sicher keine große Relevanz mehr. Wichtig aber bleibt der Kern der Aussage von Balzac: Menschlichkeit ist wichtiger als Religiosität. Und aus der noch so schlichten Frömmigkeit kann viel Menschlichkeit erweckt werden. Und Atheisten haben keine Grund arrogant zu sein und sich als etwas Besseres zu fühlen.
Man übersetze diese Geschichte ins Heute: Ein katholischer Priester etwa finanziert einem atheistischen Studenten das Studium. Oder ein Atheist unterstützt das spirituelle Wohlergehen eines frommen Christen…Gibt es solche Beispiele, etwa in Deutschland?
„La Messe de l Athée“ ist kürzlich als kleiner separater Druck (zum Preis von 5,10 EURO) in den Editions Manucius, 40, Rue de Montmorency, 75003 Paris, erschienen (im Jahr 2013). Das Heft umfasst 75 Seiten, incl. einer Einleitung und eines Kommentars und Hinweise auf die wenigen Studien zum Text. Wir empfehlen diese preiswerte, gute Ausgabe auch für Schulen und Volkshochschule und kirchliche Akademien…
Wichtig dürfte besonders die Studie von John H. Mahazeri sein: „Un Atheismus particulier: Une lecture de La Messe de l Athée“. In: Essais sur la religiosité d Honoré de Balzac. New York 2008.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin