Der phantastische Jesus: Weihnachten in der Sicht apokrypher Autoren der Kirche.

Der phantastische Jesus: Weihnachtsgeschichten der frühen Kirche

Der Text einer Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn (RBB 2012)

In der frühen Kirche, bis ins 6. Jh., gab es eine leidenschaftliche und phantasievolle Begeisterung frommer Autoren, die Weihnachtsgeschichte weiter zu erzählen. Dazu einige durchaus unterhaltsame Hinweise.

 

  1. SPR.: Berichterstatter
  2. SPR.: Zitator und Übersetzer
  3. SPRECHERIN: Zitate

21 O TÖNE

5 Musikal. Zuspielungen

 

1.musikal. Zusp., (Schaffrath, Adagio) bleibt frei 0 08“ stehen, dann leise im Hintergrund.

 

  1. O TON, Plisch, 0 13“.

Die Evangelien im Neuen Testament schweigen über Jesu Kindheit komplett. Matthäus und Lukas berichten zwar über die Geburt. Lukas hat dann noch eine Geschichte vom 12 jährigen Jesus im Tempel. Und damit hat es sich aber auch schon. Da gibt es also eine große Lücke.

1.musikal. Zusp., 0 04“ wieder freistehend

 

  1. O TON, Schröter, 0 18“

Man kann sehen, dass sehr bald das Bedürfnis entsteht, genau über diese Phase des Lebens Jesu, seine Geburt und seine Kindheit, mehr zu wissen. Und bereits im 2. Jahrhundert setzt das ein, was wir heute so apokryphe Überlieferung nennen, dass das eben legendarisch ausgemalt wird

1.musikal. Zusp., 0 04“ wieder freistehend

 

  1. O TON, Kaiser, 0 15“

Als Kind ist er Gott, hat göttliche Kraft, Wunderkraft vor allem. Und ist aber zugleich eben dieses Kind, was damit noch nicht so ganz vernünftig umgehen kann, gerade, was eben diese Emotionalität angeht. Und dann werden Geschichten erzählt, die ganz typisch sind für Kinder.

 

  1. musikal. Zusp., leise im Hintergrund, bei „Eine Sendung von… „ausblenden, um dann in die 2. Musik schon einzublenden.

 

Titelsprecherin:

Der phantastische Jesus.Weihnachtsgeschichten der frühen Kirche

Eine Sendung von Christian Modehn

2. Musikal. Zuspielung, ca. 0 08“ freistehend, Gesang steht frei: „Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär“…freistehend, dann leise im Hintergrund.

 

  1. SPR.:

Unbekannte Erzählungen und wohltuende Geschichten, eben eine gute, neue Mär bringt der Engel den Menschen zum Weihnachtsfest. Martin Luther will mit seinem Lied andeuten: Die Evangelisten Lukas und Matthäus melden nicht objektive oder gar historisch überprüfbare Nachrichten. Darin sind sich heute inzwischen die allermeisten Bibelwissenschaftler einig, betont der Berliner Theologe Jens Schröter:

 

  1. O TON, 0 57“, Schröter

Zusammenfassend könnte man von diesen Geschichten, die wir im Neuen Testament haben, sagen, dass da gewisse Aspekte legendarischer Erzählungen aufgenommen werden und die zur Grundlage einer bestimmten Erzählung vom Leben Jesu gemacht werden. Das sind mit Sicherheit keine historischen Dokumente, also historisch kann man über die Geburt Jesu fast nichts wissen, also dass die Mutter Maria hieß und der Vater Josef, das ist historisch wahrscheinlich,

aber wo das passiert ist, das ist nicht sicher. Ansonsten: Über die näheren Umstände der Geburt und der Jugend Jesu kann man historisch praktisch nichts wissen.

 

  1. musikal. Zuspielung, Jordi Saval, bleibt ca. 0 09“ freistehen, dann leise runterlegen:

 

  1. SPR.:

Die frühe Christenheit wollte ihrer frommen Phantasie keine Grenzen setzen. Den Gläubigen erschienen die knappen Hinweise der Evangelisten Matthäus und Lukas zur Geburt Jesu viel zu dürftig, um nicht zu sagen: armselig: Wenn schon ein Gottessohn geboren wird, dann müssen alle Möglichkeiten von Poesie und Imagination zur Entfaltung kommen. Darum wurden schon im 2. Jahrhundert in allen Ländern und allen Sprachen der damaligen Welt Texte geschrieben, die dann apokryphe, geheime Evangelien genannt wurden. Sie schildern mit vielen Details auch die Geburt und Kindheit Jesu. Die theologisch gebildeten Bischöfe hielten nicht viel von diesen wundersamen Geschichten; aber sie konnten die Begeisterung des einfachen Volkes nicht bremsen: Endlich kam die Neugier auf ihre Kosten, und es war es ein Vergnügen, von Jesus und seiner Familie zu lesen. Ein Lieblingsautor war ein gewisser Jacobus aus Ägypten: Er berichtet, dass Unvorstellbares auf Erden geschieht und eine neue Zeit anbricht: Gott selbst wird auf Erden geboren! Jacobus lebte in Ägypten im 2. Jahrhundert, als er seine Erzählung schrieb. Sie wurde nach griechischem Vorbild das „Prot“ – Evangelium, also das „erste Evangelium“ nach Jacobus, genannt.

 

  1. Musikal. Zuspielung, noch mal 0 04“ freistehend.

 

  1. SPR.:

Maria, die schwangere Jungfrau und Josef, der besorgte Pflegevater, sind unterwegs nach Bethlehem zur Volkszählung. Schon vor den Toren der Stadt, berichtet Jacobus, setzen bei Maria die Wehen ein. Josef, der hoch betagte Zimmermann, ist völlig fassungslos; hilflos irrt er umher, findet aber durch Zufall eine Hebamme. Zusammen eilen sie zu Maria. Sie hat sich in eine bergende Höhle zurückgezogen. Im apokryphen Text „Protevangelium“ heißt es dann:

 

  1. SPR.:

Als Josef und die Hebamme zu Maria kamen, bedeckte eine dunkle Wolke die Höhle. Die Hebamme aber sprach: Erhoben ist meine Seele, heute, da meine Augen Wunderbares geschaut haben, heute, da für Israel das Heil geboren ist. Und in diesem Moment verzog sich die Wolke von der Höhle und es zeigte sich dort ein großes Licht, so dass es für die Augen nicht zu ertragen war. Kurz darauf verlor sich aber dieses Licht, und das Neugeborene war zu sehen. Es kam und nahm die Brust von seiner Mutter Maria.

 

1.SPR.:

Die Geburt eines Gottessohnes entzieht sich menschlichen Blicken. Undurchdringlich sind die geheimnisvollen dunklen Wolken, unter denen Gott sein Wunder wirkt: Eine Frau bringt ihr Kind zur Welt und bleibt dabei auch biologisch gesehen eine Jungfrau. Die Hebamme ist von dieser einmaligen Geburt Jesu Christi so erschüttert, dass sie wie in einer Ekstase spricht:

 

  1. SPR:

Wie groß ist der heutige Tag für mich, da ich dieses wunderbare Schauspiel gesehen habe. Eine Jungfrau hat geboren, obwohl das doch ihre Natur nicht zulässt.

  1. SPR.:

Eine zweite Hebamme, Salome mit Namen, tritt hinzu; sie hält das Ganze für frommen Wahn. Sie fühlt sich betrogen und belogen und fordert fest entschlossen:

 

  1. SPR.:

Wenn ich nicht meinen Finger hineinlege und ihre geschlechtliche Eigenart untersuche, werde ich nicht glauben, dass eine Jungfrau geboren hat.

 

1.SPR.:

Tatsächlich prüft Salome „die geschlechtliche Eigenart“, wie Jacobus so diskret schreibt: Aber ihre Zweifel werden schon bei der ersten Berührung bestraft: Ihre frevelhafte Hand fällt von ihr ab und wird wie von einem Feuer verzehrt… Für den frommen Autor Jacobus aber ist es selbstverständlich, dass Salome sogleich ihren Unglauben bereut … und – schon wieder ein Wunder – geheilt wird.

 

  1. musikal. Zusp., 0 06“ freistehen lassen.

 

  1. SPR::

Während in der Bibel lediglich von der göttlichen Zeugung Jesu in der Jungfrau Maria berichtet wird, gehen die Autoren der apokryphen Evangelien in ihrer frommen Phantasie viel weiter, betont die katholische Theologin Katharina Ceming:

 

  1. O TON, Ceming, 0 54“

Die Hebamme, die hier im Protevangelium des Jakobus auftaucht, hat letztendlich keine andere Funktion, als noch einmal zu bestätigen, dass die Geburt tatsächlich jungfräulich abgelaufen ist. Das ist ja etwas, was in der Antike ein sehr allgemein verbreiteter Gedanke war: Große Männer und bedeutende Menschen sind also in antiken Kulturen fast immer jungfräulich geboren worden, ob es die ägyptischen Pharaonen waren, von Alexander dem Große wird ähnliches berichtet, da hat man eben angeknüpft. Mitte des 2. Jahrhunderts sind von nicht christlicher Seite doch diverse Zweifel an der göttlichen Abstammung Jesu geäußert worden. Einer der klassischen Vorwürfe lautete immer wieder, dass Jesus das Kind eines römischen Soldaten sei, also ein illegitimes Kind, diesem Vorwurf musste man entgegen treten.

 

  1. SPR.:

Wenn Jesus Christus wie ein auf Erden wandelnder Gott verehrt wird, dann muss alles Menschliche fern bleiben, alles Sexuelle sowieso. Die offizielle kirchliche Lehre hat hingegen immer auch die Menschlichkeit Jesu betont und darum die Kompromissformel „Jesus ist Gott und Mensch zugleich“ gefunden. Aber das fromme christliche Volk schätzte diese Spitzfindigkeiten nicht sonderlich und hielt sich eher an die phantastischen apokryphen Geschichten:

 

  1. O TON, Schröter, 0 28“

Die haben sich in der Antike schon großer Beliebtheit erfreut, also gerade dieses so genannte Protevangelium des Jakobus ist in sehr viele Sprachen übersetzt worden, hat große Verbreitung gehabt.

 

  1. SPR.:

berichtet der Bibelwissenschaftler Jens Schröter. Und er weist auf das apokryphe Evangelium eines gewissen Matthäus aus dem Jahre 600 hin:

 

FORTSETZUNG 6. O TON:

Und dann gab es daneben immer noch so einzelne Episoden, wie zum Beispiel die Geschichte von der Flucht nach Ägypten, etwa, dass eine Palme sich neigt und dem Jesuskind und Maria seine Früchte gibt.

 

1.SPR.:

Zuvor hatte sich Maria, von dem langen Marsch durch die Wüste völlig erschöpft, bei Josef beklagt: Er solle doch endlich für Wasser sorgen! Aber der alte Mann weiß auch keinen Rat; er sieht nur die hohen, unbezwingbaren Palmen am Rande stehen. Was können die schon helfen? Aber der kleine göttliche Jesusknabe hat eine wunderbare Idee, erzählt der Autor Matthäus:

 

2.SPR.:

Da sagte das Jesuskind, das mit fröhlicher Miene auf dem Schoß seiner Mutter saß, zu der Palme: Neige dich, Baum, und erfreue meine Mutter mit deinen Früchten. Und sogleich neigte die Palme ihre Krone bis zu den Füßen Marias. Und man sammelte von ihr die Früchte, an denen sich alle gütlich taten…Dann sagte Jesus: Öffne unter deinen Wurzeln auch eine Wasserader, aus ihr sollen Wasser fließen, um unseren Durst zu stillen. Und sogleich begannen frische, ganz süße Wasserquellen zu sprudeln.

 

  1. SPR.:

Wer das göttliche Kind bewundert, möchte natürlich auch Genaueres von seiner Familie wissen. So lassen die Autoren der apokryphen Evangelien wiederum ihrer Phantasie alle Freiheit, wenn sie von ausführlich von Maria erzählen, wie etwa das „Protevangelium des Jacobus“, betont die Theologin Katharina Ceming:

 

  1. O TON, Ceming, 0 24“

Es ist die Geschichte von Maria! Und das hängt damit zusammen, dass in der frühchristlichen Tradition sehr bald die Frage nach der Gottesmutter aufgetaucht ist. Also wer war diese Frau, die Jesus geboren hat. Aus den Evangelien, die wir im Neuen Testament überliefert haben, ist uns relativ wenig bekannt von Maria. Das Bedürfnis der Gläubigen war aber, viel mehr über diese Frau zu erfahren.

 

  1. SPR.:

Und die Neugier wird umfassend befriedigt: Jacobus kann sogar die Namen von Marias Eltern nennen, als in gewisser Weise Oma und Opa von Jesus. So wird seine phantastische Geschichte noch glaubwürdiger:

 

  1. O TON, Ceming, 0 30“.

Anna und Joachim sind die Eltern Mariens. Das ist aus katholischer Sicht im volksreligiösen Bewusstsein bis heute immer noch sehr präsent. Wenn man natürlich die neutestamentlichen Schriften anguckt, stellt man fest: Über die Eltern von Maria steht da eigentlich gar nichts. Und ganz interessant ist, wenn man anschaut, wie Joachim und Anna hier gezeichnet werden, kann man sehr starke Parallelen zu anderen bedeutenden biblischen Paaren finden. (rausgehen)

 

  1. SPR.:

Anna, die Mutter Marias, alt und ergraut und zudem unfruchtbar, hat alle Hoffnungen auf ein eigenes Kind aufgegeben, so will es der fromme Autor Jacobus: Nur Gott selbst hat die Macht, in ihr ein Kind zu zeugen, und das geschieht tatsächlich:

 

  1. SPR.:

Und siehe, da trat ein Engel des Herrn zu Anna, er sprach: Anna, Anna, Gott der Herr hat deine Bitte um ein Kind erhört. Du wirst empfangen und gebären und deine Nachkommenschaft wird auf der ganzen Welt bekannt sein.

 

  1. SPR.:

So wird also auch Maria, die Mutter Jesu, bereits „unbefleckt empfangen“ und von einer Jungfrau geboren! Und das Kind entwickelt sich schnell zu einem ganz einmaligen Mädchen, schwärmt der Autor:

 

  1. SPR.:

Als Maria sechs Monate alt war, stellte es seine Mutter auf den Boden, um zu prüfen, ob es schon stehen könne. Und es machte sieben Schritte und kam bis zum Schoß seiner Mutter. Und seine Mutter hob es auf und sprach: So wahr Gott, der Herr, lebt: Du sollst nicht mehr auf diesem Boden laufen…Sie richtete ein Heiligtum in ihrem Schlafgemach ein und ließ nicht zu, dass Maria etwas Profanes und Unreines zu sich nähme.

 

  1. SPR.:

Im Alter von 2 Jahren wird Maria der Obhut der hohen Priester im Tempel übergeben: 10 Jahre später beschließen sie, ein reifer alter Mann sollte sich um sie kümmern, freilich ohne erotisch –sexuelle Neigungen, wie es ausdrücklich heißt. So rufen die Priester alle Witwer zusammen: Ein alter Herr wird durch ein wunderbares Zeichen Gottes auserwählt: Es ist Josef, aber der hat bereits aus Kinder aus erster Ehe. Erst nach langem Zureden der Priester lässt sich der alte Mann breitschlagen: Er nimmt das junge Mädchen Maria zu sich…Und Jesus wächst dann später in seiner Familie sozusagen im Kreis von Stiefgeschwistern auf…

 

  1. musikal. Zusp., ca. 0 07“ noch mal freistehend, dann ausblenden.

 

  1. SPR.:

Von den Eltern Josefs wissent die apokryphen Geschichten nichts zu berichten! Hingegen hat der fromme Autor Thomas, Verfasser des „Kindheitsevangeliums“, Näheres zum Beruf des Pflegevaters Jesu erfunden:

 

  1. O TON, Plisch 0 31“

Er ist nicht einfach nur Handwerker, Zimmermann, sondern der ist richtig Bau – Unternehmer, d.h. er ist eben auch lange unterwegs, seine verschiedenen Bauten zu betrachten.

 

  1. SPR.:

berichtet der Bibelwissenschaftler Uwe Karsten Plisch:

 

Fortsetzung 9. O TON

Das heißt: Das ist ganz klar die Absicht: Jesus kommt aus gutem Hause. Das ist nicht ein einfacher Handwerkersohn, sondern Papa ist eben richtig Bauunternehmer, wohlhabende Familie, ja also, das richtet sich schon gegen so ein christliches Armutsideal. Für die Akzeptanz in der heidnischen Umwelt: da ist so ein Erlöser aus gutem Hause sicherlich attraktiver als jemand aus der galiläischen Provinz.

 

  1. SPR.:

Aber Jesus, das Kind einer mittelständischen Unternehmerfamilie, ist alles andere als bürgerlich – brav, auch das weiß der Autor. Jesus hat einen dermaßen impulsiv – aufbrausenden Charakter, dass er sogar die gute Stimmung in der ganz Nazareth verdirbt.

 

  1. O TON, Kaiser, 0 51“.

Er läuft mit Josef durch den Ort Nazareth, und ein anderes Kind kommt vorbei gerannt und rempelt ihn an. Und Jesus wird wütend; das stört ihn, und er sagt zu dem anderen Kind: Du sollst deinen Weg nicht weitergehen. Und darauf hin fällt dieses Kind um und ist tot.

 

  1. SPR.:

berichtet die Theologin Ursula Ulrike Kaiser.

 

  1. O TON Fortsetzung.

Und da haben wir beides zusammen, wir haben diese Unausgeglichenheit vielleicht noch, die für das Kind typisch ist, denke ich; und das ganz Besondere an Jesus, dass das natürlich sofort passiert, was er sagt, weil er ja zugleich Gott ist. Und dann natürlich die Reaktionen der Leute, die entsetzt sind, die aber zugleich auch anfangen zu fragen: Was ist das eigentlich für ein Kind, was steckt da dahinter, wieso kann er das, wieso kann er das sagen und das passiert sofort? Und das zieht sich durch die Geschichten hindurch, dass das immer wieder betont wird: Da ist schon etwas sichtbar von diesem Späteren, Göttlichen, von dieser Wundermacht. Und es ist aber zugleich das Kind, das da agiert.

 

  1. SPR.:

Die Leser fanden enormen Spaß an diesem „Kindheitsevangeliums nach Thomas“: Endlich einmal zeigten sich religiöse Texte von einer unterhaltsamen Seite, und auch so manch ein Vater damals konnte sich trösten, dass schon der heilige Josef seine liebe Not mit der Kindeserziehung hatte, meint Ursula Ulrike Kaiser:

 

  1. O TON, 0 26“, Kaiser,

Josef ist der, der für die Erziehung zuständig ist. Und das ist er als Vater in dieser antiken Gesellschaft, und insofern spielt er natürlicherweise eine Rolle, weil die Erziehung des Jesuskindes eine Rolle spielt. Das heißt, immer, wenn was Schlimmes passiert in dieser Erzählung, gehen die Leute zu Josef und sagen: So geht’s nicht, du musst was tun. Josef, du kannst mit diesem Kind nicht bei uns wohnen, wenn du den nicht ordentlich erziehst. Die Mutter tritt nicht ganz so stark in Erscheinung in diesen negativen Geschichten.

 

  1. SPR.:

Aber das göttliche Kind ist für den Autor des Kindheitsevangeliums nicht nur ein Frechdachs, er hat auch seine lieben und netten Seiten:

 

12. O TON, Kaiser, 0 23“.

Ganz hübsch ist z. B., dass Jesus losgeht, um für Maria Wasser zu holen und dann mit einem Krug durch die Menge geht und der Krug zerbricht, weil das Gedränge zu groß ist. Und dann breitet er sein Gewand aus und holt dann mit diesem ausgebreiteten Gewand dann Wasser. Oder er hilft dem Josef in der Werkstatt, der ein Bett herstellen soll, und die beiden Balken – Bretter sind offensichtlich unterschiedlich lang und er weiß nicht, was er machen soll. Und dann kommt Jesus und zieht das genauso lang, dass es genauso lang wie das andere ist.

 

  1. SPR.:

Diese fromme Unterhaltung wurde genauso wichtig genommen wie die Evangelien des Matthäus oder Lukas. Und so musste die Kirchenleitungen anerkennen, dass allzu viel Phantasie und Erzählfreude dem dogmatisch – korrekten Glauben nicht gut tut. Deswegen haben sie die apokryphen Schriften nicht in den maßgeblichen und bindende Korpus des Neuen Testaments aufgenommen, betont Uwe Karsten Plisch:

 

  1. O TON, Plisch, 0 47“

Was man sicher sagen kann, ist, dass es nicht einfach mal eine zentralistische Entscheidung gegeben hat, die fest gelegt hat, so und so, das gehört dazu und das nicht, sondern es scheint sich über mehrere Jahrhunderte über lokale Konsense entwickelt zu haben. Und gerade bei dem Protoevangelium des Jakobus, einem Kindheitsevangelium, ist es so, dass es gerade in der Ostkirche sich sehr großen Beliebtheit erfreut hat, wurde auch im Gottesdienst gelesen, speziell bei Marienfesten. Und wird im Westen, im 12. Jahrhundert, aussortiert, also sehr spät, weil es mit bestimmten dogmatischen Entscheidungen dann zusammenstößt und nicht kompatibel ist. Kriterium der Beurteilung könnte sein könnte sein, inwieweit die theologische Reflexion im Vordergrund steht oder ob es die reine Neugier ist, die befriedigt werden will. Da wird es theologisch uninteressant und dient einfach nur zur Unterhaltung. Als solche kann man es auch behandeln, als frühchristliche Unterhaltungsliteratur.

 

  1. SPR.:

Das Interesse am dem wunderbaren, dem göttlichen, geheimnisvoll – mysteriösen Jesus ist bis heute lebendig. Leidenschaftlich wird auch in der weiten esoterischen Szene debattiert: War nun Jesus eigentlich auch verheiratet? Hatte der was „mit Frauen“? Darf ein Gottmensch erotische Lust empfinden? Gibt es darauf eine eindeutige Antwort?

 

  1. O TON, Plisch, 0 34“.

„Die ältesten christlichen Zeugnisse schweigen darüber, allerdings in beide Richtungen, also es gibt weder Aussagen, dass Jesus nicht verheiratet war noch gibt es Aussagen, dass er verheiratet war. Andererseits ist in der Zeit, in der Jesus lebt, der Normalfall, dass Rabbis verheiratet sind. Und, wo sie es nicht sind, geraten sie auch leicht unter Rechtfertigungsdruck.

Das Gebot Seid fruchtbar und mehret euch, ist das erste Gebot, was Gott überhaupt an die Menschheit erlässt und deswegen hat das einen ganz hohen Stellenwert im Judentum. Und wer dieses Gebot nicht erfüllt, macht sich unter Schriftkundigen verdächtig.

 

  1. SPR.:

Aber vielleicht haben die apokryphen Evangelisten – wieder einmal –ein besseres geheimes Wissen? Vor wenigen Monaten meinten einige Wissenschaftler eine Antwort zu haben: Ein winziges Papyrusstück wurde gefunden, in dem von einer Gattin Jesu die Rede ist. Zu den wenigen lesbaren Wörtern in diesem Fragment gehört ein Spruch Jesu:

 

  1. SPR.:

Meine Frau wird mir Jüngerin sein können.

 

  1. SPR.:

Für ein paar Stunden schien die althergebrachte Lehre vom zölibatär lebenden Jesus wie ausgelöscht zu sein: Aber ist der angeblich koptische Text aus dem 4. Jahrhundert tatsächlich ernst zu nehmen? Uwe Karsten Plisch hat das als Spezialist für uralte Papyrus – Texte das angeblich so umstürzlerische Fragment untersucht:

 

  1. O TON, Plisch, 0 34“

Nach der ersten Aufregung und nach der Präsentation des Textes ist doch relativ schnell klar geworden, dass es sich hier um eine moderne Fälschung handelt. Das kann man sowohl papyrologisch ganz gut nachweisen: Die Schrift ist keine Buchschrift des 4. Jahrhunderts! Es gibt eine obere Schnittkante, die zeigt, dass dieser Papyrus irgendwo abgeschnitten wurde, offenbar zu dem Zweck, ein unbeschriebenes Stück haben, das man beschreiben kann nachträglich. Die Rückseite ist nicht ? beschrieben, das ist für Buchtexte aus der Antike extrem ungewöhnlich. Alle Indizien machen es höchst unwahrscheinlich, dass das ganze ein wirklicher antiker Text ist

 

1.SPR.:

Das heißt ja nicht, dass irgendwann im ägyptischen Wüstensand oder in den staubigen Archiven europäischer Museen doch noch einmal echte Schriftstücke gefunden werden, die Näheres vom Liebesleben Jesu berichten. Die Apokryphen – Forschung ist keineswegs abgeschlossen. Ungeachtet immer neuer Funde: Auch heute ist die Lust ungebrochen, neue apokyrphe Evangeliengeschichten zu erfinden. Im kanadischen Montréal zum Beispiel befindet sich die riesige neoromanische Basilika, die dem heiligen Josef geweiht ist: In diesem „Oratoire Saint Joseph“ schreiben die Gläubigen ihre ganz persönliche Josefs – Geschichte, berichtet der katholische Theologe Daniel Picot, er nennt sich selbst „Josefologe“:

 

  1. O TON, Picot, 0 59“. (zusammenfassend übersetzt)
  2. SPR.:

Jetzt erleben wir seit einiger Zeit eine Entwicklung, dass man Josef als jungen Mann sieht, stark, voller Vitalität, verliebt in seine sehr schöne junge Frau, wie er liebevoll besorgt ist um sein Kind. Wir erleben heute eine ganz ungewöhnliche Aneignung dieser Josefs – Gestalt! Es sind normale Christen, die solche Texte schreiben über Josef als Vater. Es sind psychologische Texte, sehr emotional, voller Sensibilität, aber sehr realistisch. Josef gilt fast als ein Modell: Er ist ein Mann, der auch praktische Schwierigkeiten im Leben hatte. Darin ist er uns so ähnlich! Auch war er politisch bedroht, durch die Allmacht des Herrschers Herodes. Josef musste ums Überleben kämpfen, gerade so wird er zum Vorbild in diesen Zeiten ökonomischer Erschütterungen. Josef hat da viel Stärke und Mut gezeigt in diesen verwirrenden Situationen.

 

  1. musikal. Zusp., Lateinam. Musik, bleibt ca 0 08“ freistehen.

 

  1. SPR.:

Wer heute apokryphe Geschichten über die Heilige Familie erdichtet oder speziell zur Gestalt Jesu Christi Geheimnisvolles weiß, möchte die Ereignisse von damals in seine eigene Gegenwart holen. In Lateinamerika schätzen die Gläubigen den armen Jesus Christus über alles; er lebte für sie nicht nur in Nazareth, sondern er lebt heute, zum Beispiel in den Favelhas von Rio de Janeiro. Inmitten von Wellblechhütten und stinkenden Abwässern, geplagt von Terror und Gewalt, hat auch der brasilianische Priester Paulo Süß sein eigenes Bild vom jugendlichen Jesus entdeckt:

 

  1. O TON, Suess, 0 19“

Ich sag immer: Das war ein Handwerker. Das ist ja das Schöne, er war kein Maurer, er hat keine Mauern gemacht, er hat Türen gemacht, die aufgehen! Also: Jesus hat gelernt, Türen zu machen, Fenster zu machen, aufzumachen, und keine Mauern zu setzen. Und das als Gegenspiel zur institutionellen Kirche, die immer Mauern baut.

 

  1. Musikal. Zuspielung, Lateinamerika, noch mal 0 05“ freistehend:

 

  1. SPR.:

Christus wird in Lateinamerika geboren: Mit Inbrunst singen die Frommen in Peru dieses Lied: Überall in Südamerika nehmen sie sich auch die Christen aus „indianischen“ Völkern die Freiheit, Weihnachten auf ihre eigene Weise zu deuten. Gäste aus aller Welt sind willkommen, wenn zum Beispiel die Mayas in Mexiko ihr ureigenes Evangelium in Krippenspielen darstellen, berichtet Paulo Süß:

 

  1. O TON, Suess, 0 37“

Also was ganz Schönes muss ich noch erzählen von der Krippe da in Mexiko. Bei einem Indiostamm kommt es also vor: die Krippe wird da aufgebaut. Und dann wird ein Kind hineingelegt, und einmal legen sie einen Jungen hinein, und einmal ein Mädchen. Und dann kommen die Leute so, wie man halt in das Geburtshaus da ankommt und sagt: Ist es ein Junge, ist es ein Mädchen. Heute ist es ein Mädchen, und einmal ist es ein Junge, das ist interessant, dass sie also gar nicht auf das Geschlecht Jesu achten. Sondern dieser Gott, der geboren wird, muss also einfach einmal als Junge und einmal als Mädchen auf die Welt kommen.

 

  1. musikal. Zusp. möglicherweise noch mal 0 04“ frestehend.

 

1.SPR.:

Sind heutige Jesus – Romane in Europa auch moderne apokryphe Evangelien? Viele Theologen sind davon überzeugt. Manchmal sind sie auch selbst Schriftsteller und lassen in ihren Romanen ihrer gebildeten Phantasie freien Lauf, wenn sie uns den jugendlichen Jesus von Nazareth nahe bringen wollen. Der protestantische Theologe Klaas Huizing (sprich Häuzing) hat vor wenigen Wochen seinen Roman veröffentlicht mit dem Titel „Mein Süßkind“, gemeint ist der so viel geliebte, so „süße“ Jesus. Klaas Huizing erklärt den Leuten sogar mitten auf dem Weihnachtsmarkt seine persönliche Sicht von dem jugendlichen Jesus von Nazareth.

 

  1. O TON, Klaas Huizing, 0 24“.

Es ist ein spannendes Leben, aber es ist in der Unterströmung auch sehr humorvoll, das ist erst sehr spät entdeckt worden, dass die Bibel sehr viel humoreske Situationen bietet, obwohl es auch eine ernste Lebensgeschichte ist, es sollte immer auch humorvoll gebrochen sein. Deshalb ist es seriös, die Romanform zu wählen, damit die Leser wissen, es könnte so gewesen sein, könnte aber auch ganz anders gewesen sein.

 

  1. SPR.:

Apokryphe Schriften weiten das Denken, sie wecken die Lust am frommen Spektakel. Und, das ist wichtig, manchmal inspirieren diese Schriften sogar Bischöfe der katholischen wie der orthodoxen Kirche zur Vertiefung der rechten Glaubenslehre. Offizielle Konzilien haben zum Beispiel die apokryphe Lehre von der jungfräulichen Geburt Jesu zum allgemein gültigen Dogma erhoben. Genauso haben sie die jungfräuliche Geburt Mariens als zu glaubendes Dogma festgelegt. Auch Anna, Marias Mutter, fand als apokryphe Gestalt universale Verehrung, bis hin zu Wallfahrten, etwa in der Bretagne. Anna und ihr angeblicher Gatte Joachim werden bis heute als heilige Vorbilder verehrt, obwohl man eigentlich von ihnen nichts weiß. Und die Künstler haben sich stets apokrypher Motive bedient, etwas wenn sie die geheime Legende von der „Entschlafung Marias“ malten oder ihre leibliche Aufnahme in den Himmel priesen. Der Theologe Jens Schröter:

 

  1. O TON, Schröter,

Diese Schriften haben von früher Zeit an für die Volksüberlieferung und den Volksglauben, das meine ich gar nicht abwertend, sondern das hat für den christlichen Glauben immer eine große Rolle gespielt, dass man sich auch verankert so im religiösen Leben der Menschen. Und dafür haben diese Schriften von früher Zeit an eine große Rolle gespielt. Schnitt. Wieder rein: Und sind in die darstellende Kunst etwa vielfältig eingegangen. Und sie auch bis heute in Krippenspiele usw. eingegangen. Also die Geschichte von Ochs und Esel an der Krippe etwa, die findet sich auch nicht im Neuen Testament, es ist auch eine, die apokryph ist, wenn Sie so wollen.

 

1.SPR.:

Die apokryphen Schriften prägen das Bewusstsein vieler Christen bis heute geprägt. Aber bei aller Begeisterung fürs fromme Fabulieren gilt doch ein gewisser Vorbehalt: Denn diese Texte fördern die Vorstellung, Jesus sei eigentlich kein Mensch, sondern ein Gott. Das ist theologisch gesehen natürlich falsch. Insofern kann die Fülle apokrypher christlicher Texte für einen kritischen, einen modernen Glauben eher abträglich sein, weil das Vorurteil gestärkt wird: Gott erscheint auf Erden als Gott, als ein mysteriöses willkürlich handelndes Wunderwesen. Glauben wird so zum puren Wunderglauben.

Trotzdem: Theologen wollen auch einen bleibenden Wert dieser Literatur anerkennen: Sie befreit von der Vorstellung, das Christentum sei eine einförmige, fest strukturierte und völlig übersichtliche Organisation, in der alles uniform und kontrolliert „abläuft“. Die katholische Theologin Katharina Ceming:

 

  1. O TON, Ceming, 0 40“.

Ich finde die gesamte Apokryphen Forschung deswegen so spannend, weil die einfach auch ein völlig anderes Bild noch zeigt dieser christlichen Tradition, als die, die wir traditionell kennen. Diese ganzen Texte zeigen eigentlich, wie ungemein vielschichtig das Christentum in den ersten Jahrhunderten war, und dass es also auch zu einer bestimmten Zeit noch gar keine wirklich definitiven Regeln, Vorgaben gab, was denn die christliche Lehre an sich ist. Also ich glaube, wenn wir uns bewusst machen, wie vielfältig auch die christliche Tradition am Anfang auch war, dann wird es uns etwas leichter fallen, die Vielfalt des Christentums heute auch besser auszuhalten.

 

  1. musikal.Zusp. noch einmal einspielen…

 

 Literatur:

 Katharina Ceming und Jürgen Werlitz, Die verbotenen Evangelien. Apokryphe Schriften. Marix Verlag, Wiesbaden, 2010, 264 Seiten.

Uwe Karsten Plisch, Was nicht in der Bibel steht. Apokryphe Schriften des frühen Christentums. Verlag Deutsche Bibelgesellschaft, 176 Seiten, 2006.

Ursula Ulrike Kaiser,

Jesus als Kind. Neuere Forschungen zur Jesus Überlieferung in den apokryphen ‚Kindheitsevangelien‘. In J. FREY – J. SCHRÖTER (Hg.), Jesus in apokryphen Evangelienüberlieferungen, Tübingen, 2010, dort S. 253–269.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

Wir gehören “zu den besten Berliner Salons”

Darf man sich auch mal freuen? Das bekannte und bewährte Berliner Stadtmagazin Tip zählt in seinem Beitrag von Eva Apraku auch unseren Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon zu den “besten Berliner Salons”: Unsere  10 jährige Arbeit hat bisher noch kein philosophisches “Medium” gewürdigt, ein theologisches schon gar nicht, wegen unserer Religionskritik. Und dabei sind wir der Meinung: Lieber 10 philosophische Salons in der Stadt als überschaubare Treffunkte und DIALOG Räume intellektuellen Austauschs zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen …. in völliger Gleichberechtigung als… drei große kirchliche Akademien, diese machtvollen, offiziellen Institutionen… Zur Lektüre des ganzen Beitrags im TIP klicken Sie hier.

Vanitas, Eitelkeit, Nichtigkeit, Sterblichkeit, Tod.

Vanitas – Vorschläge für eine Orinetierung im Leben und Sterben.

Von Christian Modehn. Diese Thesen wurden im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin am 24.11.2017 diskutiert.

 

  1. Unter Vanitas verstehe ich: Leerer Schein und Bedeutungslosigkeit, Nichtigkeit, Vergeblichkeit des Lebens, auch Endlichkeit, dem Tod ausgesetzt sein.

 

  1. Der Vanitas Gedanke wurde machtvoll und präsent, als die Menschen erlebten, dass das geozentrische Weltbild zerbricht. Sie sind ausgesetzt in einem leeren unendlichen Raum. Der Mensch ist winzig.

 

  1. Die Totenköpfe sind eine Mahnung, an den Tod zu denken. Uns geht es philosophisch um dieses, auf die Existenz des Menschen bezogene Thema.

 

  1. Vanitas wird in der Literatur bedeutungsvoll Thema im alttestamentlichen Buch Kohelet („Der Prediger Salomos). Dies ist kein nihilistisches Buch.

 

  1. Vanitas hat nichts mit dem epikuräischen „Carpe Diem“ (Horaz) zu tun: „Genießen wir heute, denn morgen könnte alles vorbei sein“. Epikur selbst wehrte sich gegen maßloses Genießen!

 

  1. Vanitas zeigt: Wir leben heute in einer Zeit der totalen Banalisierung des Todes in der Öffentlichkeit, in den Medien, siehe das Unberührtsein angesichts des massenhaften Mordens weltweit.

 

  1. Vanitas sagt: Ich werde sterben. Es geht um meinen Tod. Siehe das Bild „Die Gatten Burgkmeier“…

 

  1. Vanitas hat es mit dem totalen Verfall der Leiblichkeit zu tun. Bleiben nur die Knochen? Was bleibt nach dem Tod, nach meinem Tod? Such der gepflegte Leib der Reichen vermodert.

 

  1. Vanitas ist eine Herausforderung: Wie gestalte ich mein Leben? Und will keine Verdrängung des Todes, meines Todes

 

  1. Wer Vanitas ernst nimmt: Der will –angesichts der Skelette und Totenschädel- nur noch den Frieden..

 

  1. Wer Vanitas ernst nimmt, will mit dem Verklammertsein an die vielen Dingen („Haben“ im Sinne von Erich Fromm) aufhören.

 

  1. Wer Vanitas ernst nimmt, stellt sich der schweren, niemals „wissenschaftlich“ zu „lösenden“ Frage: Was ist nach dem Tod, nach meinem Tod. Dies ist wahrscheinlich eine europäische Frage, Buddhisten fragen anders. Aber wir sind nun einmal in den europäischen Kulturen verwurzelt.

 

  1. Wer Vanitas ernst nimmt: Kann natürlich sagen und sich daran halten: „Ich komme als Mensch aus dem Nichts. Und ich gehe ins Nichts. Ich versinke und verschwinde“ Manche sagen: „Ende aus, basta“. Siehe etwa die seriöse vorgetragene Position von Norberto Bobbio, „Vom Alter“. Diese Position ist eine Haltung, die Respekt verdient und durchaus mit Argumenten auskommt, letztlich aber auf der zentralen These beruht: Es gibt keine Schöpfung. Alles ist Zufall…

 

  1. Wer Vanitas ernst nimmt, kann philosophisch auch erkennen: Ich bin als Mensch ein geschaffenes Wesen. Es gibt so etwas wie eine Schöpfung der Welt und damit der Menschen. Schöpfung ist ein Bild, kein umfassendes naturrechtliches Konzept wie in der Kathol. Kirche, sondern ein Bild, um das Gegebensein der Welt philosophisch zu verstehen. Eine Antwort auf:“Warum ist überhaupt etwas, und nicht viel mehr Nichts?“

 

  1. Wenn Schöpfung, dann gibt es also auch die Vorstellung von „Gott“. Wenn diese Welt von Gott gewollt ist, dann ist diese Welt eine ENDLICHE (und das heißt immer eine unvollkommene !) Welt. Dann hat aber jeder Mensch an der göttlichen Schöpfung Anteil. Diese Haltung kann egozentrisch missverstanden werden, ist sie aber nicht: Weil alle Detailbehauptungen über das „Wie“ eines postmortalen Lebens völlig offen bleiben. Philosophische Metaphysik ist in der Hinsicht bescheiden. Aber sie lehnt die Position des „Ende, Aus und basta“ mit Gründen ab.

 

  1. Ein Ausweg wäre die Bindung an die Natur und den Naturkreislauf: Wie die Blätter auf die Erde fallen, so werde auch ich einst fallen und auch zertreten werden und kehre in Erdreich zurück…

 

  1. Wer Vanitas ernst nimmt, kann natürlich alle denkbaren, auch spinösen Positionen vertreten. Philosophisch gesehen hat die Vanitas Debatte nur Sinn, wenn es im Leben selbst (!) Anhaltspunkte gibt für eine kritisch reflektierte Vanitas – Position. Also auch im Leben selbst Anhaltspunkte für ein Leben über den Tod hinaus. Alles andere wäre aufgesetzte Behauptung. Hier zeigt Philosophie ihre spekulative Stärke. Philosophie ist Geistphilosophie.

 

  1. Wer Vanitas ernst nimmt, könnte etwa mit dem Dichter Heinrich Böll sagen: „Ich als Mensch gehöre nicht ganz der Welt“, bin also woanderes „zu Hause“.

 

  1. Wer Vanitas ernst nimmt, sucht zur Frage: Ein „Leben“ nach dem Tode, eher die poetische Sprache für seine Argumente. Siehe Albert Camus.

 

  1. Siehe auch Ludwig Wittgenstein in seiner Erkenntnis, dass wir im Erleben der qualifizierten Gegenwart in die Ewigkeit eintreten. So ähnlich auch Meister Eckart.

 

  1. Wer Vanitas ernst nimmt als Philosoph, übernimmt die Haltung des Philosophen Hegel in der Hinsicht (!): Der Geist des Menschen hat sich „abzuarbeiten“ an der Endlichkeit, am „Nichts“, aber der Geist zeigt sich dabei als der stärkere gegenüber dem Negativen. Der menschliche Geist hat Anteil am unendlichen (göttlichen, absoluten) Geist (siehe Eckart usw.).

 

  1. Wer Vanitas ernst nimmt, weiß, dass der Tod, der Tod eines jeden, „prinzipiell“von Gott als dem Schöpfer dieser Welt, gewollt ist. Der Tod ist kein Übel, etwas zu Bekämpfendes, sondern ein Übergang.

 

  1. Wer diese Vanitas Vorstellung ernst nimmt, weiß: Die meisten Menschen haben keine Chancen auf einen selbst bestimmten Tod. Dies ist die Schuld anderer Menschen, der Strukturen, der Kriege, der Gesetze gegen das frei gewählte Sterben. Diese frustrierende Erfahrung kann nicht einem Gott angelastet werden. Sie ist Ausdruck des Egoismus der Menschen. Dass die Natur oft Unglück erzeugt (Erdbeben), ist Ausdruck dafür, dass auch die Natur zur endlichen und begrenztenWelt gehört. Wie der Mensch eben auch endlich ist.

 

  1. Vanitas ist eine Einübung in die reflektierte Annahme der Endlichkeit. Und die Aufforderung, das Sterben der Menschen menschlich und selbstbestimmt zu gestalten.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.

Salons, auch philosophische, in Berlin. Ein Beitrag des Stadtmagazins TIP

In der neuen Ausgabe des TIP vom 16.11.2017 hat die Redakteurin Eva Apraku einen interessanten Beitrag veröffentlicht über die Vielfalt kultureller Salons in Berlin heute. Man möchte nach der Lektüre meinen, wir gehen einer neuen Ära der Salons entgegen (und befürchten fast ein bisschen, dass nun fast alle Veranstaltungen, abgesehen von Opern-Aufführungen etc., sich allmählich Salon nennen…) Aber Salons als Veranstaltungen anspruchsvoller Gespräche in eher kleinem, oft privaten Kreis in angenehmer Atmosphäre (mit gelegentlichem gemeinsamen Essen) haben durchaus eine Chance und eine Zukunft. Sie können zu Orten werden, wo unterschiedliche Menschen unterschiedlicher Kulturen und Ideologien regelmäßig zusammenkommen. Und zwar außerhalb der so genannten Event-Kultur, die die TeilnehmerInnen fast immer zu passiv und stumm dasitzenden und zuhörenden Subjekten macht. Dies gilt auch sehr oft für die Veranstaltungen der Akademien, wo nach langen Vorträgen ein paar Minuten für Fragen aus dem Publikum erlaubt werden. Ich halte diese im übrigen hoch finanzierte (von Kirchen, Parteien etc.) Akademie Kultur für weithin überholt. Die kläglichen Ergebnisse trotz superteurer Werbung etc. sprechen für sich. Also, mein Vorschlag ist: Lieber 12 verschiedene Salons in den Galerien, Lofts, Restaurants etc. in verschiedenen Stadtvierteln als eine einzige klotzige und teure Akademie im Zentrum.

Salons sind jedenfalls eine Alternative. Der Beitrag im TIP erwähnt auch den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin, der seit 10 Jahren, fast immer einmal im Monat, philosophische Gespräche in kleinem Kreis (bis zu 20 TeilnehmerInnen) organisiert in Galerien, zur Zeit in der Galerie Fantom, Hektorstr. 9 in Wilmersdorf. Wer sich mit dem Beitrag im TIP vertraut machen will und danach das Heft selbst lesen  will:

www.facebook.com/tip.Berlin/photos/a.10150911000384648.451990.59810144647/10155816965834648/?type=3&theater

Christian Modehn

Auf der Suche nach dem verlorenen Gott: Religiöse Themen bei französischen Schriftstellern heute

In der Zeitschrift PUBLIK FORUM, Ausgabe vom 13. Oktober 2017, habe ich anläßlich des Ehrengastes der Buchmesse in Frankfurt auf einige Aspekte zu “Religiöse Themen bei französischen Schriftstellern heute” hingewiesen.  Den Beitrag können Sie hier lesen und dabei auch die Zeitschrift PUBLIK FORUM näher kennenlernen.

“Babylon Berlin”: Der Film, die „goldenen Zwanziger“ und die Theologie

Hinweise anlässlich der TV Serie von Tom Tykwer

Von Christian Modehn am 4.10.2017

„Verlockungen und Abgründe“: Das also hat Berlin zu bieten, nicht zuletzt in der Sicht der Künstler, Autoren, Filmemacher. Und dieses Berlin der „Zwanziger Jahre“ steht ab 13. Oktober 2017 wieder einmal ganz groß im Mittelpunkt begieriger Aufmerksamkeit: „Babylon Berlin“ heißt der fast schon erwartbare Titel der Fernsehserie unter der Regie von Tom Tykwer. Die schon jetzt hoch gelobte Serie wird zuerst auf SKY, leider erst ein Jahr später dann in der ARD gezeigt. Aber muss wirklich immer wieder „Babylon“ herhalten, um Haltlosigkeit und moralischen Verfall in Berlin zu signalisieren? Folgt man immer noch der seit Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ verbreiteten Vorstellung von Berlin als „Moloch“? Unter diesem Symbol fanden sich eher die Benachteiligten und Armgemachten wieder.

„Verlockungen und Abgründe“ gab es zweifellos in den explosiven Nachkriegsjahren, den „Zwanzigern“. Wer diese Jahre als „golden“ (vielleicht sogar als goldig) erlebte, befand sich auf der Seite der „wenigen Glücklichen“ und hatte damit die Macht der Definitionen. Und dies ist wohl heute genauso! Im Überangebot an Lust, Exzessen und Ausschweifungen ist Berlin wahrscheinlich unschlagbar. Dieses Überangebot an Zerstreuung, Unterhaltung und „Kulturindustrie“ (Adorno) zieht bekanntlich nicht nur Künstler, Lebenskünstler, Leute der Start-ups, Studenten hierher, sondern vor allem Touristen: Sie alle „lieben“ (so sagen sie es ständig) die ziemlich absolute individuelle Freiheit in dieser „bunten und schrillen Metropole“ (um noch einmal abgenutzte Klischees zu verwenden). Man lobt die vergleichsweise immer noch erschwinglichen Mieten und die eher geringen Kosten fürs alltägliche Leben. Die Armen in Berlin heute, immerhin ein Drittel der Bevölkerung, also etwa die Hartz IV Empfänger und die Obdachlosen, sehen allerdings NICHT so viel Erschwingliches in dieser Hauptstadt der Verlockungen. Sie leben eher am Rande der Abgründe. Bei dieser zunehmenden Spaltung von Reichen und Armen in ein und derselben Stadt sind wir schon wieder beim Thema „Babylon Berlin“. Da gibt es Straßen in Berlin, da wohnen die Reichen und die Bürgerlichen auf der einen Seite, und ein paar Schritte weiter die Ausgegrenzten: Man denke an „Kreuzkölln“ oder Schöneberg Nord…Verhältnisse, die einst Städteforscher für den Norden von Manhattan beschrieben und beklagten.

Für unseren Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon ist es eine Pflicht, angesichts dieses zweifelsfrei kulturellen TV Ereignisses auf das Berlin der Zwanziger Jahre zu schauen. Natürlich in der uns interessierenden Hinsicht und Rücksicht auf Religionen, Theologien und Philosophien. Auch in dieser Zuspitzung ist dies noch ein sehr weites Feld, das eigentlich nur ein Team von Religions-, Philosophie-, Kirchen- und Literaturhistorikern bearbeiten könnte. Spezielle ausführliche Studien zu diesem eng umgrenzten Thema „Religionen und Theologien im Berlin der Zwanziger Jahre“ sind mir leider bis jetzt nicht bekannt. Vielleicht ist die TV Serie ein Impuls, sich darum zu kümmern.

Ich möchte nur einige Linien und Perspektiven zeigen und vor allem auch einige Fragen stellen in der uns interessierenden Hinsicht .

Zuerst könnte man fragen: Was sagten und wie lebten Theologen, also vor allem Theologieprofessoren, im Berlin der Zwanziger Jahre? An der Universität Unter den Linden gab es ja eine Evangelisch – theologische Fakultät, einst lehrten hier berühmte Leute, wie Schleiermacher und dann Adolf von Harnack. Aber in den Zwanziger Jahren bis 1933 etwa? Wer kennt da als gebildeter Zeitgenosse einen Namen unter den etablierten protestantischen Theologieprofessoren in diesem Berlin von damals? Während die Schriftsteller und Dichter, die Künstler und Musiker in diesen Jahren Berlin zu einem Zentrum kreativer, neuer Kultur machten, lebten evangelische Theologen eher am Rande dieser Welt. Es waren vor allem Schriftsteller und Journalisten, die mit dem Judentum auf irgendeine Weise verbunden waren, die das Leben des Geistes in Berlin prägten, etwa schon in den großen Tageszeitungen damals. Sie waren es, die für die geistige Bewegtheit dieser Jahre sorgten: Dass die Nazis schlechthin „die“ Juden töten wollten, damit auch die jüdischen Intellektuellen, ist eines der größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts und der geistige Selbstmord der sich evangelisch, katholisch oder „deutsch-christlich“ nennenden Deutschen.

Unter den nach wie vor bemerkenswerten und aktuellen evangelischen Theologen ragt der junge Paul Tillich hervor. Von 1919 bis 1924 lehrte er als Privatdozent an der Theologischen Fakultät. Eigentlich eine kurze Zeit, aber in diesen Berliner Jahren publizierte Tillich seine bleibend belebenden, provozierenden Gedanken. Etwa zum Atheismus meinte er, seiner Deutung des Menschseins entsprechend: Selbst das Nein zu Gott kann den Menschen nicht von Gott trennen. Denn zurecht abgelehnt wird von Atheisten der Gott, der wie ein besonderes herausragendes Objekt unter anderen verstanden wird. Diesen „endlichen“ Gott (also Götzen) gilt es zu töten zugunsten eines „Gott über Gott“. „Wer Gott mit unbedingter Leidenschaft leugnet, bejaht (den göttlichen) Gott, weil er etwas Unbedingtes bekundet“ (zit. in Werner Schüssler und Erdmann Sturm in ihrer Studie „Paul Tillich“, Darmstadt 2007, S. 46).

Diese Einsichten diskutierte Tillich übrigens schon sehr früh in einem philosophischen Salon, den er damals sehr mutig in Berlin – Moabit, im Bereich der Erlöserkirche, gründete. Wo sind heute theologische Salons in Berlin Moabit, Wedding oder Kreuzberg, möchte man fragen… In der Erlöser Gemeinde war Tillich von 1911 bis 1913 als „Hilfsprediger“ tätig.

Bedeutend ist seine frühe theologische Leistung schon in Berlin, eine Kulturtheologie zu entwickeln: In den Erscheinungen der Kultur gilt es, „die konkreten religiösen Erlebnisse zur Darstellung zu bringen“ (S. 57). Dabei ist für Tillich leitend: „Religion ist die Substanz der Kultur, und Kultur ist die Form der Religion“ (S. 58). Dies sind unerhörte Perspektiven im Berlin der Zwanziger Jahre: Wie wurden diese Erkenntnisse der Kulturtheologie konkret aufgewiesen im Gespräch mit Literaten, Künstler, Malern, auch mit der Welt der „Lebenlust“? Denn an der Lust (an und in) der Stadt Berlin nahm Tillich leibhaftig teil: Er war kein distanzierter Beobachter im Berlin der zwanziger Jahre: Als junger Mann war er Mitglied der „Bohème“, wie Tillich selbst sagte. Er hatte eine „elementare Daseinsfreude und einen Hunger nach Vergnügungen“, so die Tillich Spezialisten Werner Schüssler und Erdmann Sturm in ihrer Studie „Paul Tillich“, Darmstadt 2007, Seite 10. „Er traf sich mit Freunden und Freundinnen in Cafés und Bars, besuchte Bälle und Kostümfeste und geriet in erotische Abenteuer. Er liebte das Unerreichbare und Unkonventionelle…“ (ebd.). Gerhard Wehr schreibt in seiner Tillich – Monographie (Rowohlt, 1979, S. 67): „Doch wenn es ans Tanzen ging, war Tillich in seinem Element. Er wirkte wie elektrisiert. Er tanzte aus Freude an der Bewegung…“.

Ein bewegter, leidenschaftlicher Theologe, der am Leben der Stadt teilnahm: Eine lebenspraktische Konstellation, um neue bewegte theologische Themen zu formulieren. Aber Tillich blieb wohl in dieser nicht verheimlichten, sondern zugegebenen Lebensfreude eine Ausnahmegestalt. Obendrein war er noch eng mit der sozialistischen (USPD) Partei verbunden, Christentum und Sozialismus zu versöhnen, war ein weiteres Thema Tillichs…

Über Dietrich Bonhoeffer in Berlin zu Beginn der Dreißiger Jahre als Assistent an der Theologischen Fakultät der Universität wäre zu sprechen. Man darf auch nicht vergessen: In den eher proletarischen Milieus spielte die explizit kämpferisch – atheistische Freidenker Bewegung eine große Rolle: Aber mit denen sprach kein Theologe! Die Jugendweihen erfreuten sich großer Beliebtheit; es gab Freireligiöse Gemeinden, es wurde die Feuerbestattung propagiert: Dagegen wandten sich alle Theologen und Bischöfe aufs heftigste. Um 1965 wurde dann auch für Katholiken die Feuerbestattung offiziell erlaubt. Leute, die als junge Katholiken gegen die Feuerbestattung kämpften, mussten sich plötzlich sehr umstellen, als diese vom Vatikan erlaubt wurde!

Katholische Theologen (Theologieprofessoren) gab es bekanntlich nicht in Berlin, einmal abgesehen von dem Priester Romano Guardini, der aber als einsamer „Religionsphilosoph“ an einer protestantisch beherrschten Universität (der heutigen Humboldt – Universität) tatsächlich viel – beachtete Vorlesungen hielt. Guardini lag zwar treu auf der Linie des römischen, vatikanischen Katholizismus, er versuchte aber, in seinen Vorlesungen auch mal neue Themen zu bearbeiten, wie etwa die Gestalt des Buddha.

1923 wurde er an den neu errichteten „Lehrstuhl für Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und katholische Weltanschauung an der preußisch-protestantischen Universität Berlin“ berufen. Rechtlich machte die Anwesenheit eines Katholiken Schwierigkeiten, so gehörte Guardini offiziell noch der katholisch – theologischen Fakultät der Universität Breslau an. Ökumene war damals auch bei protestantischen Theologen ein Fremdwort, nicht nur in Berlin.

Guardini blieb bis Mitte der vierziger Jahre in Berlin, erst im März 1939 wurde er „zwangsemeritiert“, vorher also war er für die Nazis offenbar nicht so gefährlich? Noch unter den Nazi-Herrschaft veröffentlichte er 1937 seine umfangreiche Meditation über Jesus Christus unter dem Titel „Der Herr“, vielleicht im Titel ein ganz kleiner, stiller Protest gegen „Den Führer“? Zuvor hatte er in Berlin noch ein Buch über Blaise Pascal veröffentlicht, jenen Mystiker (und Mathematiker), der am Ende seines Lebens leidenschaftlicher Anhänger einer der strengsten augustinischen Gnadenlehren, der Jansenisten, wurde: Was hatte Pascal im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre für eine Relevanz? Sind seine Vorlesungen noch zu greifen? Wie viele Agnostiker und Atheisten waren unter seinen Hörern, wie so oft in kirchlichen Kreisen heute behauptet wird? Auch seine umfangreichen Meditationen über Christus „Der Herr“ sind merkwürdig befremdlich, die historisch kritische Exegese, die damals bei protestantischen Theologen oft .selbstverständlich war, fehlt völlig. Theologie als Wissenschaft ist das Buch „Der Herr“ jedenfalls nicht. Es ist schon komisch, dass dieser einzige, aber doch eher konservative Theologe und Philosoph Romano Guardini heute im katholischen Berlin so viel Ansehen genießt: Wahrscheinlich liegt das daran: Das theologisch so arme katholische Berlin hat sonst keinen anderen berühmten Namen zu bieten. Man hat die geistige Öde des „katholischen Berlin“ immer mit der „Diaspora – Situation“ zu begründen versucht. Die Minderheit sollte nicht kritisch gebildet werden! Offenbar halten nur dumme Gläubige in der feindlichen Umwelt zu den Dogmen? Heute ist es der Personalmangel an Pfarrern, die ja eigentlich Theologen sein sollten, der die kleiner werden Gemeinden kaputt macht.

Eine ganz ungewöhnliche Rolle spielte in den zwanziger Jahren der katholische Priester Dr. Carl Sonnenschein: Er war aus Düsseldorf 1919 nach Berlin gekommen, um hier außerhalb jeder Gemeinde- Bindung seinen eigenen Stil von „Großstadt – Seelsorge“, wie er sagte, aufzubauen: Unmöglich in knapper Form sein vielschichtiges Werk zu würdigen: Sicher, er war ein Einzelgänger, manchmal autoritär, oft sehr konfessionalistisch am Wohlergehen der katholischen Kirche interessiert: Aber seine soziale Hilfe für die einzelnen, unabhängig von jeglicher Ideologie, ist unbestritten. Kurt Tucholsky lobte ihn! Sein Begräbnis 1929 war eines der größten in Berlin überhaupt mit mehr als 30.000 TeilnehmerInnen aller ideologischen Couleur.

Sonnenschein gründete angesichts der grausamen Wohnungsnot ein eigenes Wohnungsbauprogramm; er kümmerte sich um die kulturelle Förderung der intellektuell sehr vernachlässigten und unterforderten Berliner Katholiken; er schuf eine große Lesehalle an der Friedrichstraße, also eine große öffentliche Bibliothek mit dem Schwerpunkt Theologie und Religionen: Bis heute gibt es in Berlin keine große öffentliche und international gestaltete, selbstverständlich dann aber ökumenische theologische Bibliothek. Ich habe dies schon oft eine Schande genannt, angesichts der Unsummen, die den Kirchen heute auch in Berlin zur Verfügung stehen. Eine “multikultirelle Metropole Berlin” ohne eine “multireligiöse Spezialbibliothek” großzügigerweise und uneigennützig finanziert von den Kirchen? Das ist nur ein Traum hier in Berlin.

Sonnenschein war unermüdlich tätig, auch kirchenkritische Worte waren seine Sache: Unvergessen sein immer wieder zitiertes und treffendes Urteil über den Berliner Katholizismus der Zwanziger Jahre „Der Katholizismus in Berlin ist verdammt kleinstädtisch“. Schade eigentlich, dass bis heute kein großer Regisseur über diesen ungewöhnlichen Dr. Sonnenschein einen Film gedreht hat…

Wo also waren die Christen und Theologen in den goldenen Zwanzigern in Berlin? Sie lebten – angeblich – behütet in ihrem eigenen Getto. Man denke daran, dass sich für überzeugte Katholiken – und das waren damals nicht wenige – in den zwanziger Jahren eigentlich der ganze Alltag und die ganze Freizeit in der Pfarrgemeinde abspielte! Dazu habe ich zahllose Zeugnisse aus der eigenen nahen Verwandtschaft gehört, etwa am Beispiel der Gemeinde St. Sebastian in Gesundbrunnen. Es waren kirchliche Parallelwelten zur großen Kulturen der zwanziger Jahre. Und wenn es dann dort in all den Clubs und Tanzlokalen usw. sehr freizügig zuging, dann waren klerikale Moral-Standpauken sofort zu vernehmen. Dass noch niemand eine Mentalitätsgeschichte der katholischen (und in geringerem Umfang wohl auch evangelischen) Gemeindegettos damals (und heute!) geschrieben hat, ist ein Mangel!

Paul Tillich bewegte sich in dieser großen und schillernden Welt der zwanziger Jahre. Kann man sich vorstellen, dass auch Romano Guardini im Berlin der Zwanziger Jahre manchmal tanzen ging? Dass er die Berliner Cafés der Literaten betrat?  Inkulturation (also lebendiger Austausch von Glaube und Kultur) ist ein Stichwort der heutigen Theologie, und es wird oft nur auf Afrika und Asien bezogen. Verwurzelung des religiösen, des christlichen Glaubens in der vielfältigen Kultur im Berlin der Zwanziger Jahre – hat es dies gegeben? Ich wage begründet zu sagen: Von Ausnahmen abgesehen, sicher nicht. Getto war der oberste (UN)wert damals…

Man darf gespannt sein, wie in der TV Serie „Babylon-Berlin“ Religionen und Kirchen „vorkommen“.

Wahrscheinlich wären Philosophen heute am ehesten in der Lage, etwa vom Standpunkt einer epikuräischen Philosophie aus, nach der permanenten Suche nach Luststeigerung im heutigen Berlin zu fragen. Und Soziologen werden feststellen, dass in Berlin mehr Menschen an Wochenenden sich in Clubs vielfältigster Orientierung aufhalten und in den Kinos und Theater- und Opernhäuser als in Kirchen zum Gottesdienst. Gilt also doch „Babylon (ist) Berlin“? Vielleicht nicht, wenn man sich den Perspektiven des jungen Theologen Paul Tillich anschließt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Pragmatisch leben oder mit dem Pragmatismus leben UND denken ?

Zum Oktober Heft (2017) des „Philosophie Magazin“

En Hinweis von Christian Modehn

Das neue Heft des „Philosophie Magazin“ möchte ich vor allem wegen der Beiträge zur Philosophie des Pragmatismus empfehlen. Diese lebendige aktuelle Philosophie (siehe Richard Rorty) ist in Deutschland noch zu wenig bekannt. Deswegen erspare ich mir weitere Hinweise auf selbstverständlich sonst noch lesenswerte Beiträge in dem Heft.

Der Titel dieser aus den USA stammenden Philosophie erinnert, oberflächlich betrachtet, an so genannte pragmatische Menschen und vor allem pragmatische PolitikerInnen, jenen Menschentypus also, der möglichst fern von jeder festen Weltanschauung lebt und handelt und „je nach dem“, also je nach Lage der Dinge, das vermeintlich Beste für sich oder die eigene Nation bzw. Partei „herausholen“ kann. Der Kenner pragmatischer Philosophie, Prof. Michael Hampe, Zürich, nennt etwa Kanzlerin Merkel in dem Zusammenhang: „Sie ist ideologiefrei, sie ist eine Problemlöserin, sie passt sich an die jeweilige Sachlage an…“ (S. 60).

Pragmatismus als Philosophie und vor allem auch als philosophische Haltung hat mit diesem schwankenden und beliebigen pragmatischen Denken nichts zu tun. Eben auch nichts mit Utilitarismus. “Auf Handlungskonsequenzen eines Begriffes zu achten, wie es die pragmatistischen Philosophen tun, ist nicht gleichzusetzen mit einer Ethik der Nutzenmaximierung“ (S. 63). Pragmatismus leidet in Deutschland immer noch an vielen Missverständnissen. Er ist kein banaler Utilitarismus.

Wer sich aber auf die Philosophie des Pragmatismus also einlässt, kann in seinem alltäglichen Leben viel mehr Klarheit (und damit Lebensorientierung) gewinnen jenseits von technokratischen Nützlichkeitserwägungen: Es geht um die Klarheit der jeweils im Leben verwendeten Begriffe im Blick auf ihre praktischen, lebensmäßigen  Bedeutungen.

Martin Duru erläutert in dem Heft die Geschichte des Pragmatismus. Der zündende Geistes-„Blitz“ kam Anfang der 1870er Jahre, als Charles Sanders Peirce und William James in Cambridge, Massachusetts, USA, erkannten: Bei Begriffen reicht nicht die spekulative Erhebung von Bedeutungen und Verflechtungen mit anderen Begriffen. Es kommt darauf an, die lebens-praktisch bedeutsamen Konsequenzen eines Begriffs zu erkennen. Um die Jahrhundertwende steht dann William James im Mittelpunkt dieser „philosophischen Schule“. Martin Ducu schreibt: „Es gilt für James zu prüfen, welches `Verhalten` eine Idee diktiert oder anregt“. Auch das religiöse Verhalten der Glaubenden wird bei James unter diesem Maßstab beurteilt: Wer begrifflich behauptet, an Gott zu glauben, ist erst glaubwürdig, wenn die Handlungen dieses Menschen seiner Glaubenstheorie entsprechen. Das Buch von James „Der Pragmatismus“ (1907) wird ein Bestseller. John Dewey führt nach dem Tod von James (1910) die Philosophie des Pragmatismus weiter. Dewey kümmert sich auch um pädagogische Konzepte: „Learning by doing“ ist eine seiner zentralen Forderungen. Er verlangt dringend die Belebung der demokratischen Lebensform, die inhaltlich viel mehr ist, als bloß an einer Wahl teilzunehmen. Demokratie als Leben fordert auf, immer weiter zu suchen und immer wieder zu neuen Lösungen zukommen….Philipp Felsch vertieft diese Gedanken: “Der Pragmatismus bevorzugt konkretes gegenüber abstraktem Wissen und betrachtet das Denken nicht als Selbstzweck, sondern als Instrument zur Verbesserung unserer irdischen Existenz, weshalb er metaphysischen Spekulationen skeptisch gegenübersteht – es sei denn, sie hätten praktische Konsequenzen für unser Leben.“ (S. 43). Michael Hampe, Professor für Philosophie in Zürich, ist einer der besten Kenner des Pragmatismus im deutschsprachigen Raum. Mit ihm bietet das „Philosophie Magazin“ ein sehr interessantes Interview. Er sieht die aktuellen politischen Dimensionen des Pragmatismus in der Abweisung der heute schon fast üblichen „Experto-Kratie“: Die höheren Klassen stützen sich auf Experten, um ihre Macht durchzusetzen. Die Bürger – für unwissend gehalten und unwissend gemacht – werden zu unmündigen Subjekten, im „Brexit“ wurde dies deutlich (S. 61).

Für religionsphilosophisch Interessierte ist nicht nur William James wichtig. Auf den entsprechenden Beitrag weist der Religionsphilosoph Thomas Rentsch hin, wenn er in seinem Buch „Gott“, erschienen im Walter de Gruyter Verlag (2005) auf Charles S. Peirce aufmerksam macht (s. 147 ff.): „Gott ist ein Wort der Alltagssprache. Gerade in seiner Vagheit erfüllt es den Zweck, eine unbedingte Hoffnungs- und Sinnperspektive für jedermann verständlich zu artikulieren“ (S. 148), so fasst Rentsch die Position von Peirce zusammen.

Man denke auch daran, dass der große, kürzlich verstorbene Karl- Otto Apel eine wichtige Studie zu Peirce (bei Suhrkamp) veröffentlicht hat. Schade eigentlich, dass das Heft „Philosophie Magazin“ zum Thema Pragmatismus nicht an Apel erinnert. Ein Apel-Sonderheft wäre sehr spannend! Weil er doch auch Habermas sehr viele Anregungen gegeben hat. Und dieses Thema bewegt nicht nur „innerphilosophische“ Kreise…

Man ist zudem gespannt, ob das „Philosophie Magazin“ einmal im Verbund mit dem gleichnamigen französischen „Vorbild“ das Thema „Populäre Philosophie“ aufgreift, das Thema wurde immerhin als ein (Rand)-Thema beim Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Philosophie“ im September 2017 in Berlin debattiert. Gehört das „Philosophie Magazin“ selbst zur Populärphilosophie? Dies wäre eine hübsche Frage auch an die LeserInnen…

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