Frankreichs Bischöfe schweigen zur Wahl von Marine Le Pen und ihrer rassistischen Partei

Vor der Wahl des Präsidenten am 24.4.2022

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 20.4.2022.

1.
Wenn Marine Le Pen zur Präsidentin Frankreichs gewählt wird am 24.4. 2022, und das ist nicht unwahrscheinlich laut neuesten Umfragen, dann ist davon natürlich nicht nur Frankreich betroffen. Sie wird mit ihrem rechtsradikalen Programm innenpolitisch gegen eine humane Ausländer- und Flüchtlingspolitik agieren, das Motto:“Préference Nationale“. Macron wird also ihr „Franzosen zuerst“ durchsetzen und dabei ignorieren, wie viele Millionen Franzosen mit „französischem Pass“ leben, jene also die Vorfahren haben aus „dem Ausland“ und viel für Frankreich getan haben, auch wenn sie in der Banlieue oft unter erbärmlichen Bedingungen leben müssen. Sie wird weiterhin „Islamismus“ und Islam verwechseln…
Die Situation ist auch außenpolitisch sehr bedrohlich, weil Madame Le Pen die EU spalten wird, weil sie dadurch Europa schwächen will im Sinne ihres Gönners Wladimir Putin.
2.
Den „religionsphilosophischen, und das heißt immer religions-kritischen und konfessions-kritischen Salon Berlin“ interessiert vor allem, wie sich die katholischen Bischöfe als die Führer dieser stets kleiner werdenden Herde der französischen Katholiken zur Wahl stellen. Siehe dazu schon am 10.4.: LINK

3.
Die Bischöfe wollen sich jetzt neutral, vielleicht etwas diplomatisch klug geben, man möchte sagen liberal oder auch verängstigt: Denn sie nennen keine explizite Wahlempfehlung für den Demokraten Macron und warnen nicht deutlich vor der rassistischen Partei Le Pens. In Zeiten der tiefen Krise der Demokratie wegen der bevorstehenden Wahl einer rechtsextremen Präsidentin wäre eine klare demokratische Positionierung der Bischöfe dringend geboten! Aber die Bischöfe sprechen kein klares Nein aus zur Wahl von Le Pen. Dabei haben schon im ersten Wahlgang 41% der Katholiken für die Kandidaten der rechten und rechtsextremen gewählt.
Die Bischöfe haben jetzt offenbar Angst, sich in diesem kleinbürgerlichen katholischen Le Pen Milieu unbeliebt zu machen. Der Politologe Pierre-Louis Choquet , Mitglied des „Kollektivs Anastasia“, fordert nun, förmlich in höchster Not, die Bischöfe auf, endlich um der Rettung der Demokratie willen entschieden zur Wahl von Macron aufzurufen und absolutes Nein gegen Le Pen auszusprechen.
Choquet erinnert daran, dass in den Jahren der Nazi-Besetzung, während des rechtsextremen und antisemitischen Pétain-Regimes, die meisten Bischöfe zu diesem Regime geschwiegen haben. Erst im Jahr 1997 haben dann die Bischöfe diese damalige Solidarität mit den Rechtsextremen bedauert, betont Choquet: „Wenn jetzt die Bischöfe sich auf eine unentschiedene Position bei der Präsidentenwahl versteifen, könnte das furchtbare, zerstörerische Konsequenzen fürs Gemeinwohl haben. Bischöfe, beweist euren Mut, und ruft offen dazu auf, Marine Le Pen zu verhindern“.
Einzig der Erzbischof von Strasbourg, Luc Ravel, hat sich offen für die Wahl Macron ausgesprochen! Allerdings nicht in seiner Funktion als Bischof, sondern nur als Bürger Ravel, als citoyen…
4.
Das tun die offenbar verängstigten und feigen Bischöfe aber nicht. Es kann sein, dass die bischöfliche Unentschiedenheit in die Katastrophe einer Präsidentin Marine Le Pen führt. Katholizismus und Rechtsextremismus (auch Faschismus) hat sich oft schon gut vertragen, man denke an die Nähe des Klerus zu Mussolini, Hitler, Franco, Trujillo, usw.
5.
Die „Protestantische Föderation Frankreichs“ ist da demokratischer und klüger: Sie erinnert eine Woche vor der Wahl daran, dass mit der Wahl von Le Pen viele soziale Aktivitäten auch der Protestanten kaum noch Chancen zum Überleben haben. Die demokratisch gewählten Sprecher der Protestanten sagen: Aber wir Bürger befinden uns keineswegs in einer Aussichtslosigkeit. Noch können wir Le Pen verhindern.
Und die Protestanten können stolz sein, dass schon im ersten Wahlgang 36 Prozent der Protestanten Macron gewählt haben, dass ihre Wahlbeteiligung extrem hoch war und bei 83% lag. Nur 17% der Protestanten haben im ersten Wahlgang für Le Pen gestimmt.
6.
Wenn Le Pen am 24.4. 2022 Staatspräsidentin Frankreichs werden sollte und die Katholiken durch ihr Wahlverhalten maßgeblich beteiligt sind, wird den Bischöfen nichts anderes einfallen als zu jammern. Sie werden alle Verantwortung von sich weisen und wie üblich einmal betonen: „Wir wollten doch als Bischöfe gegen die Homo-Ehe eintreten und gegen die Abtreibung und gegen die Euthanasie-Gesetze“….alles Themen, die von Rechtsradikalen unterstützt werden. Auch wenn Marine le Pen sich jetzt zu den Themen moderater gibt. Und die Bischöfe werden sich fragen lassen, ob diese ihre traditionellen Werte im Augenblick höchster Gefährdung der Demokratie so im absoluten Zentrum stehen dürfen. Siehe dazu die dringende Wahlempfehlung für Macron von einigen katholischen Intellektuellen: LINK.
7.
Macron ist in seiner Politik als Präsident das geringere Übel. Aber er ist ein Demokrat. Eine gerechte Sozialpolitik, eine Überwindung der Armut, eine starke Besteuerung des Vermögens der vielen Reichen und Millionäre usw. ist von ihm zwar nicht zu erwarten. Aber mit Macron kann wenigstens noch qualifiziert über eine gerechte Gesellschaft debattiert werden. Das ist schon viel, in Demokratien. Vielleicht wird er, wenn er denn siegt, auch die vielen tausend Wähler des linken Präsidentschaftskandidaten Mélenchon (er erhielt am 10.4. …. der Stimmen) etwas mehr respektieren und deren sozialpolitische Forderungen.
8.
Dass das französische Wahlsystem, wie es seit de Gaulle (im Jahr 1958 durch Volksabstimmung eingeführt) praktiziert wird, dringend umfassend reformiert werden müsste, ist ein anderes Thema. Seit Jahren wird diese französische „Wahlmonarchie“ von einigen Publizisten und Politologen kritisiert: Es ist wirklich ein Präsident, der wie ein Monarch (die Revolution von 1789 scheint vergessen!) eine sehr große Machtfülle auf sich vereint. „Ich kenne in Westeuropa kein Land, in dem der Staatschef (Präsident) so mächtig und das Parlament so ohnmächtig ist…Der Präsident kontrolliert die Legislative, die Exekutive und die Judikative. Gewaltenteilung zum Zwecke demokratischer Machtbegrenzung? Nicht in Frankreich!“, schreibt der der Frankreich-Kenner, Autor und Theaterregisseur Benjamin Korn in „Lette International“, Winter 2020, Seite 39f., unter dem Titel „Der Wahlmonarch“, sehr lesenswert!). Mélenchon („La France insoumise“) war der einzige Präsidentschaftskandidat 2022, der offen für das Ende dieser Wahlmonarchie, also der 5. Republik, eingetreten war. Das „Wahlkönigtum“ nennt Benjamin Korn eine „bizarre Erfindung de Gaulles“. Er hat „Monarchie und Republik zusammengeleimt“.
9.
Mit Benjamin Korn, Paris, kann man auch entdecken, warum in Frankreich seit Jahrzehnten schon eine starke rechtsextreme Bewegung, als philosophische Schule (Nouvelle Droite) und als Vielzahl von Parteien (darunter die immer mächtiger werdende Partei „Front National“ bzw. jetzt „Rassemblement National“ der Le Pen-Familie) bestimmend ist. In seinem sehr lesenswerten Beitrag in „Lette International“, Ausgabe Frühjahr 2012, Seite 29f. schreibt Benjamin Korn unter dem Titel „Das große Schweigen. Die Kunst des Wegsehens und die Geschichtslügen der Grande Nation“: „Charles de Gaulle hat den Franzosen ein für allemal das Wegsehen (also die Ignoranz ihrer eigenen Nazi-Verstrickung) eingebleut, als er in seiner berühmten Rede (25.8.1944) die Lüge auftischte, die Franzosen hätten den Krieg gewonnen, statt den Franzosen die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern: Dass sie den Krieg katastrophal verloren, sich mehrheitlich der Kollaboration mit den Nazis schuldig gemacht haben…Hätte Frankreich seiner Vergangenheit offen ins Auge geblickt, seine demütigende Niederlage eingestanden, die eigenen Kriegsverbrechen aufgearbeitet, seine Bewunderung für Marschall Pétain aufgegeben, seinen hausgemachten Antisemitismus analysiert, dann gäbe es nicht ein Wählerpotential von 20 bis 30 Prozent für den Front National, die Le Pen Partei“. Das schrieb, wie gesagt, Benjamin Korn im Jahr 2012!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Frankreichs Katholiken wählten am 10.4. 2022 rechtsextrem

Hinweise zum ersten Wahlgang.
Von Christian Modehn am 10.4. 2022, mit einer Ergänzung am 14.4.2022, siehe unten!

Eine Aktualisierung am 20.4.2022: LINK

1.
29 % der französischen Katholiken haben für Emmanuel Macron gestimmt, 27 % für Marine Le Pen (dagegen nur 23 % aller Wähler) und 10% der Katholiken für den sehr Rechtsradikalen Eric Zemmour (dagegen: nur 7% aller Wähler). Selbst die konservative Kandidatin Pécresse hat unter Katholiken noch 7 % der Stimmen erhalten, gegen 4,8 % im nationalen Durchschnitt. Also: Mehr als 41 % der Katholiken haben rechtsextrem bzw. sehr konservativ rechts gewählt.
2.
Interessanter noch ist das Wahlverhalten der so genannten praktizierenden Katholiken, also jener, die sonntags, einmal pro Monat, die Messe besuchen, wie man in Kirchenkreisen jetzt sagt.
Und das ist der Schock: Sogar 16 % der frommen, Messe besuchenden Katholiken haben den sehr Rechtsextremen Eric Zemmour gewählt, und das hat bestimmt nichts mit einer Sympathie für dessen jüdische Konfession zu tun, wie mir Leute in Paris berichten.
Der Religions-Soziologe Prof. Philippe Portier, Paris, betont angesichts dieses Wahlergebnisses: „ Es gibt bei den Katholiken Frankreichs jetzt eines sehr klare Entwicklung, nicht mehr zu zögern, um extrem rechts zu wählen. Früher bremste noch die Bindung an die offizielle soziale Kirchenlehre diese Wahlentscheidung. Diese Bremse der Kirchenlehre als Ablehnung des Rechtsradikalen gilt jetzt gar nicht mehr. Seit 2012 hat sich die Entscheidung für die Rechtsextremen verdreifacht“.
3.
Die extreme Rechte hat unter Katholiken also sehr viel Zustimmung gefunden, 41 % stehen rechts(extrem). Und das liegt an daran, dass es innerhalb des französischen Katholizismus seit Jahren eine breite rechte und rechtsextreme Mentalität gibt, die sich etwa zeigte bei den leidenschaftlichen Demonstrationen gegen die „Ehe für alle“, also auch für Homosexuelle. Diese von vielen Tausend Katholiken mit gestalteten und von einigen Bischöfen unterstützten Demonstrationen traten unter dem Motto auf „Manif pour tous“, Demo für alle. Aber gemeint war: Demo gegen die Ehe von Homosexuellen, gegen den Wandel der Gesetze bei dem Wandel der ethischen Vorstellungen … und der Emanzipation. Man muss daran erinnern, dass zur französischen Bischofskonferenz etliche sehr konservative, wenn nicht rechtsextreme Bischöfe gehören, wie etwa die Bischöfe von Toulon-Fréjus und Bayonne.
Tatsächlich befindet sich der französische Katholizismus seit Jahren in einem Niedergang, in einer tödlichen Krise, nicht nur, was die Anzahl der noch einsatzfähigen Priester (unter 75 Jahren!) in den Gemeinden angeht, den Rückgang in der Teilnahme an der Messe und die vielen jetzt dokumentierten und freigelegten pädo-sexuellen Verbrechen durch Priester.
4.
Interessant ist, dass angesichts dieser starken Rechtslastigkeit, dass 14 Prozent der Katholiken für den wichtigsten Kandidaten der Linken, Jean-Luc Mélenchon, gestimmt haben, 2 % für den Kommunisten Fabien Roussel und 2 % für die Sozialistin Anne Hidalgo, für den „Grünen“ Yannick Jabot stimmten 3 % der Katholiken. Betrachtet man die immer kleiner werdende Gruppe der praktizierenden Katholiken, dann haben insgesamt 24 % eher linke, sozialistische bzw. grüne Kandidaten gewählt.
5.
Wichtig ist, dass in dem von armen Leuten bewohnten Département Seine-Saint Denis z.B. der Linke Kandidat Mélenchon bis zu 6o Prozent der Stimmen erhielt. Das heißt: Die Menschen am Rande, die Armen und arm Gemachten, haben weder in Macron noch in Le Pen ein Vertrauen.
6.
Wenn Emmanuel Macron am 24. 4.2022 wieder zum Präsidenten gewählt werden sollte, dann auch von Bürgern, die ihn nur aus Abwehr gegen die Rechtsextreme Le Pen gewählt haben. Macron wird also keine breite Masse in der Bevölkerung hinter sich haben, also Leute, die seine neoliberale und durchaus auch nationale Politik explizit unterstützen. Macron ist ein Präsident der sozusagen nur das kleinere Übel ist. Das war für Präsident Hollande schon so, und es ist wahrscheinlich ein Grundübel des französischen Wahlsystems, dass Frankreich Präsidenten erlebt, die eigentlich nur von einer Minderheit explizit gewollt sind, zumal wenn man den Anteil der Nichtwähler mit berücksichtigt. Das macht viele Franzosen traurig/depressiv bekanntermaßen und ist auch die Ursache für die vielen Turbulenzen, die die Innenpolitik und Sozialpolitik dort erlebt.

Quelle: Tageszeitung „La Croix“ vom 11.4.2022. Die Statistiken beziehen sich auf eine Umfrage am Sonntag 19.4.2022 des Meinungsforschungsinstitutes IFOP.

Ergänzung am 14.4.2022:

Die oben genannte Umfrage zeigt auch: Der rechtsradikale Präsidentschaftskandidat Eric Zemmour erhielt 7 % der Stimmen der „nicht-praktizierenden“ Katholiken, 10 % von „gelegentlich praktizierenden“ Katholiken und tatsächlich 16 % der regelmässig an den Messen teilnehmenden Katholiken.
Darauf hat Yann Raison du Cleuziou, Politologieprofessor an der Universität von Bordeaux hingewiesen. LINK

Diesen Trend bewertet der Politologe: Immer mehr praktizierende Katholiken lehnen die Werte der säkularisierten Gesellschaft ab, die Kirche erlebt seiner Meinung nach eine désécularisation, eine Ent-Säkularisierung, als Rückzug aus der Moderne. Bei Zemmour und Le Pen fühlen sich diese Katholiken, national gesinnt und an alten Werten hängend, wohl, also gegen die Öffnung der Ehe für alle; gegen Neubestimmung der Euthanasie, gegen Schwangerschaftsabbruch sowieso usw..
Natürlich, es gibt noch praktizierende Katholiken, die für Macron oder Mélenchon gestimmt haben, aber diese Kreise sind erstaunlich schweigsam, so, als würden sie sich schämen, sich nicht dem neuen rechtsradikalen katholischen Trend der Ablehnung der Moderne und der säkularen Werte (repräsentiert in Le Pen und Zemmour) anzuschließen.
Yann Raison du Cleuziou weist darauf hin, dass vor der Wahl die Bischöfe offiziell Verständnis zeigten für „le vote blanc“, also für die Abgabe eines leeren Stimmzettels als Protest … und Ausdruck der Hilflosigkeit bzw. der zunehmenden Gettoisierung des Katholizismus. Vote Blanc heißt also: Authentisch Katholische Werte gibt es bei keinem Kandidaten mehr zu finden, in bischöflicher Sicht.
Der Politologe kommt zu der Erkenntnis, dass die Katholische Kirche in Frankreich insgesamt derart minoritär geworden ist, dass fast nur noch Gegner der modernen Gesellschaft sich in der Kirche als „Engagierte“ aufhalten. Darauf haben wir in verschiedenen Beiträgen in www.religionsphilosophischer-salon.de bereits seit Jahren hingewiesen.

Mit anderen Worten: Der französische Katholizismus wird langsam aber sicher zur kleinen Minorität, wertend gesagt: zur Sekte. Es ist absehbar, dass es in Frankreich insgesamt bald nur noch 2.000 Priester mehr gibt, die jünger als 65 Jahre sind. Und weil man am Klerus, am Zölibat etc. festhält, sieht es düster aus für die Kirche. Mit anderen Worten: Das Festhalten am Zölibat und der Klerusherrschaft fördert den Niedergang der Kirche und vielleicht auch das Verschwinden des christlichen Glaubens in Frankreich. “Wird die Kirche zum Grab Gottes“, fragte Nietzsche einst. Die Antwort mit Blick auf Frankreich (aber auch Holland, Irland usw.) heißt: Ja, Nietzsche hat wohl recht.

Die Bischofskonferenz selbst ist jetzt so ängstlich, dass sie nicht in der Lage ist, in ihrer Stellungnahme zur Wahl am 24.4. 2022 überhaupt die Namen der beiden Präsidentschaftskandidaten zu nennen, im Unterschied zu 2002 etwa sprechen die Bischöfe keine klare Warnung aus vor Le Pen. Man möchte meinen: Die Bischöfe halten beide Kandidaten für gleichermaßen ungeeignet – aus klerikaler Sicht. So bleiben die Bischöfe vor dem 2. Wahlgang 2022 bei der “großartigen” Empfehlung,  jeder Katholik möge doch selbst überlegen. Das ist ja grundsätzlich richtig, aber angesichts eines möglichen Sieges von Le Pen doch sehr verzagt und “diplomatisch”. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Katholischer Bischof als Putin-Freund.

Bischof Marc Aillet, Bayonne, Frankreich und seine katholischen Putin-Freunde

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 31.3.2022.

1.
Die katholische Tageszeitung „La Croix“ (Paris) berichtet am 31.3.2022 von den zahlreichen Putin-Freunden in Frankreich heute. Die Zeitung nennt an erster Stelle den katholischen Bischof von Bayonne, Marc Aillet. Er hatte am 21.3. 2022 im katholischen Radio-Sender „Présence“ mitgeteilt, dass er „keine autorisierte Wahrnehmung hat von diesem Krieg (Putins gegen die Ukraine)“, er lese zwar die Zeitungen. „Aber ich habe nicht genug Abstand, um zu verstehen, was da passiert“.
Nach einem Monat Krieg hat der 65 jährige Bischof also kein Urteil über den Krieg? Die katholische Tageszeitung nennt diese Auskunft des Bischofs auf ihre vornehm-kirchentreue Art „klug und vorsichtig“ (prudent). Sie wird dafür aber vom Bischof nicht belohn: Aillet weigert sich, Fragen der katholischen Tageszeitung zum Thema zu beantworten!

2.
Dabei weiß diese Zeitung genau, wie stark die Verbindungen des katholischen Bischofs von Bayonne mit Russland und Putin und der Orthodoxen Kirche sind. Und sie erinnert vor allem daran, dass dieser Bischof mit seinen Freunden aus dem katholisch-reaktionären Lager Frankreichs im April 2014 Moskau sozusagen aus eigener Initiative, ohne Auftrag der Bischofskonferenz, besucht hat. Denn, so sagte der Bischof, er suche mit seiner Gruppe „Unterstützung der christlichen Moral in Russland“. Und das sagte er, nach dem Putin kurz vorher die Krim okkupiert hatte…
Begleitet wurde der Bischof von bekannten „Pro-Life-Lebensschützern“, wie Caroline Roux und von Thierry de Villejégu, der Generaldirektor der Stiftung Jerome Lejeune. (Dieser war Genetik und Pro-Life-Anhänger, dicker Freund von Papst Johannes Paul II., bald soll Lejeune selig gesprochen werden!) und von Gregor Puppinck, der in Kontakt steht mit Philippe Ryabykh, dem Repräsentanten des Moskauer Patriarchats beim Europa-Rat! Auch das gibt es. Puppinck steht mit der konservativen Hochschule Stift Heiligenkreuz in Österreich in Verbindung.
Die Gruppe der französischen Katholiken mit Bischof Aillet wurde jedenfalls im April 2014 von hohen Vertretern des Moskauer Patriarchen empfangen, vor allem von dem für Internationales verantwortlichen Metropolit Hilarion, er ist enger Mitarbeiter des Patriarchen Kyrill (ehem. KGB Mitarbeiter) und eine Art Vertrauter von Papst Franziskus: „La Croix“ schreibt: „Metropolit Hilarion hat auf die gemeinsamen (!) Positionen des Moskauer Patriarchats und des Bischofs mit seinen Freunden hingewiesen, diese gemeinsamen Positionen beziehen sich auf die Familie und die Würde des menschlichen Lebens“. Auch eine Begegnung der Franzosen mit Erzpriester Dimitry Smirnov bleibt in Erinnerung, er war Präsident der Kommission für die Familie, die der Patriarch eingerichtet hat: Smirnov erlaubte es sich zu behaupten, dass die Frauen weniger intelligent sind als die Männer, als Beweis dafür nannte er die Tatsache, dass keine Frau Weltmeisterin im Schach-Spiel wurde…(Quelle:https://blogs.mediapart.fr/pierre-haffner/blog/020420/l-eveche-de-bayonne-roule-pour-moscou)
Zu den Begegnungen mit politischen Führern in Moskau sagte Bischof Aillet 2014: Putin bemühe sich, die traditionellen Werte der Heirat und der Familie zu stärken. Und weil Putin gerade kurz vorher die Krim okkupiert hatte, meinte der Bischof wiederum „klug“: „Es war für uns keine Frage, dass wir uns nun in die internationale Politik einschalten“.

3.
Bischof Aillet liebt es nicht, für Klarheit und Transparenz hinsichtlich der Finanzierung seiner Projekte und Reisen zu sorgen. Schon für seinen internationalen Kongress PRO Life 2012 war nur diffus von privaten Spenden die Rede. Der Journalist Jean-Sébastien Mora von „Enbata.Info“ betont: „Wie für die Partei Front National von Marien Le Pen ist auch die Transparenz der Finanzen von Bischof Aillet abwesend“, man denkt daran, dass auch Gelder aus Russland flossen? Die Studie von Jean-Sebastian Mora über Bischof Aillet verdient viel Beachtung. LINK: https://www.enbata.info/articles/mgr-marc-aillet-cheval-de-troie-de-lintegrisme/

4.
Dieser Moskau Besuch von Bischof Aillet und seiner Freunde aus der katholisch-reaktionären Ecke hatte 2014 kurz für Irritationen innerhalb der Bischofskonferenz gesorgt…Aber „dieser Fall“ wurde schnell vergessen, zu viele konservative und reaktionäre Bischöfe gibt es offenbar inzwischen in Frankreich, man denke nur an den Aillet-Freund Bischof Dominique Rey von Toulon, zu viele Skandale wegen sexuellen Missbrauchs durch Priester usw., so dass solch diese bischöfliche Exkursion nach Moskau vergessen wurde.
Nun aber meldet sich Aillet wieder zu Wort und verheimlicht nicht seine Sympathien für Putin und dessen christliches Reich. Denn dass Putin die christlichen Werte fördern will, daran gibt es für den Bischof kaum Zweifel. Er wird dabei unterstützt von Alain Escada, dem Präsidenten der katholisch-integristischen (=kletrikal-reaktionären) Gesellschaft CIVITAS. Escada erklärte: „Wir bedauern, dass Leute (jetzt im Krieg) sterben, aber mit seiner Anstrengungen einer Neuaufstellung der Familienpolitik und der Christianisierung verbleibt Russland auf einem interessanten Weg“. Der Historiker und Russland-Spezialist Professor Yves Hamant (Paris) urteilt über diese Äußerungen:“Heute sehen bestimmte Katholiken in Russland eine Zitadelle der Christenheit, und im weiteren Sinne: Die politische Rechte insgesamt betreffend, diese projiziert auf Russland eher kitschige Bilder und Werte, wie „das heilige Russland“, „die russische Seele“ und „den slawischen Geist“.

5.

Über Bischof Marc Aillet wurde in Frankreich vieles Kritische publiziert… Er ist Mitglied einer konservativen „neuen Gemeinschaft“, der Priester von heiligen Martin, seine extrem-autoritäre Amtsführung hat zu heftigsten öffentlichen Protesten vieler Priester seines Bistums geführt, die den Papst um Absetzung dieses Herrn baten… Aber nichts passierte bis jetzt, Aillet gilt als Schützling von Papst Benedikt XVI, so Christian Terras in „Trombinoscope des Eveques 2016, Edition Golias, S. 65.
Siehe auch zum Protest der Priester gegen ihre Bischof: https://www.la-croix.com/Religion/France/Fronde-dans-diocese-Bayonne-reponse-Mgr-Aillet-2016-12-12-1200809935

6.
Jetzt hat sich die katholische Kirche Frankreichs – kurz vor den Präsidentschaftswahlen im April 2022 – mit einem bischöflichen Putin-Versteher und seinen ebenso gesinnten reaktionären Freunde auseinanderzusetzen. Sehr viele wissen es inzwischen, nur die katholischen Bischöfe nicht: Die meisten der Pro-Life Aktivisten und Pro-Life Ideologen sind zuerst und vor allem politisch reaktionäre Leute, oft den rechtsextremen Parteien nahestehend.

Der Beitrag über die französischen Putin Freunde in “La Croix”: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon Berlin.

Neue Religionen und Kirchen werden gegründet.

Ein unbekanntes Phänomen im 19.Jahrhundert – noch aktuell?
Ein Hinweis von Christian Modehn am 22.2.2022.

1.
„Ich gründe meine Religion, meine Kirche“: Dies könnte als Motto für französische Intellektuelle im 19. Jahrhundert gelten.
Die Gründe dafür nennt der Mentalitäts – Historiker Georges Minois:
„Das 19.Jahrhundert ist reich an Beispielen von Menschen, die wegen der unnachgiebigen Haltung der (katholischen) Kirche und ihrer intellektuellen Unbeweglichkeit den (katholischen) Glauben verloren haben“, (Georges Minois, Geschichte des Atheismus, Weimar, 2000, S. 531).
Eine Erkenntnis, die der Historiker Michel Vovelle weiterführt: „Die Originalität Frankreichs in der Geschichte des westeuropäischen Christentums der Moderne ist: Es wurden weltliche Religionen entwickelt, die transzendente Wahrheiten ersetzten durch einen Kult des Vaterlandes oder der Werte Freiheit und Vernunft“ (in „Histoire de la France Religieuse”, Paris 1991, S. 510.)
Und der Kulturphilosoph Wolf Lepenies ergänzt, in seiner umfangreichen Studie über den Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804-1869):
“In der modernen Welt des 19. Jahrhunderts an der herkömmlichen Religion festzuhalten, war Byzantinismus – der Fortschritt verlangte auch nach der Ausbildung einer zeitangepassten Moral, die zugleich das überzeitliche Bedürfnis des Menschen, sich an Werten zu orientieren und von Vorbildern leiten zu lassen, befriedigte“ (S. 333 in: „Sainte-Beuve“, 2006).

2.
Diese Mentalität weckt förmlich die Bereitschaft, die persönlichen weltanschaulichen Überzeugungen in eigenen Kirchen und Religionsgemeinschaften zu gestalten. Als Kirchengründer oder als Religionsgründer gefahrlos aufzutreten, war erst durch die Revolution von 1789 möglich geworden, sie hatte die Religionsfreiheit als Menschenrecht anerkannt. Es waren oft Laien, also nicht immer Theologen oder Priester, die sich als Kirchengründer betätigten. Sie suchten dadurch für sich und ihre Freunde Auswege aus einem dogmatisch erstarrten Katholizismus: Gleichzeitig wollten sie eine Religion/Kirche gestalten, die die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung respektierte und in einem politisch pluralen Staat den notwendigen ideologischen Zusammenhalt stiftete.

3.
Diesem Impuls zu Neugründungen von Religionen steht um 1800 das Erstarken eines katholischen Volksglauben, zumal in ländlichen Regionen, gegenüber, den selbst manche Priester als Aberglauben deuteten… Aber weil die Kirchenbindung dieser Frommen wichtiger erschien, tolerierten und unterstützten die Kleriker diese Form des zum Teil magisch geprägten Volkskatholizismus. Es waren vor allem Frauen, die sich daran klammerten, wie etwa die exzessive Heiligenverehrung, der Marien-Kult, der aus der Mutter Jesu eine weibliche Gottheit und eine Miterlöserin machte, die Verehrung bestimmter Landpfarrer (wie den Pfarrer von Ars). (Siehe dazu. „Histoire de la France Religieuse“, III, 1991, S. 528.)

4.
Diese Bemühungen um Kirchengründungen sind im Rückblick nicht erfolgreich gewesen, was die Mitgliederzahlen und die Lebensdauer dieser Gemeinden betrifft. Aber in ihrer Vielfalt zeigen diese Gründungen doch, wie umfassend die Unzufriedenheit mit dem Katholizismus war. Der Katholizismus im 19. Jahrhundert war institutionell – unter dem Schutz des Stellvertreters Christi auf Erden – so mächtig, dass er weiterhin den Wissenschaften feindlich eingestellt bleiben konnte, dass er die Werte der Philosophie der Aufklärung, auch die Menschenrechte, als gottlos verurteilte … und dadurch die Einheit von katholischem Glauben und Anti-Moderne zementierte.

5.
Das Thema Kirchengründungen in Frankreich und in einem zweiten Kapitel auch in Deutschland ist sicherlich in einer breiten Öffentlichkeit nicht so vertraut und bekannt ist. Es hat aber durchaus aktuelle Bedeutung, angesichts der tief greifenden Krise der katholischen Kirche in Europa und Amerika am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts.Diese Krise ist begründet unter anderem auch in dem freigelegten sexuellen Missbrauchs durch tausende Priester über viele Jahrzehnte. Viele hunderttausend Katholiken distanzieren sich vom Katholizismus, „treten aus“, die meisten suchen nun individuell den eigenen spirituellen Weg, vielleicht aber auch im Zusammenhang neuer Gemeinschaften oder in progressiven protestantischen Kirchen.
Unabhängige Gemeindegründungen im Katholizismus gibt es im 20.Jahrhundert in den Niederlanden: Seit 1970 wurden neue ökumenische Gemeinden von Katholiken gegründet, oft Basisgemeinden genannt, die sich explizit aus dem System des Katholizismus (d.h. des Bistums) verabschiedeten und zum Teil bis heute bestehen: Wie die inzwischen weltweit bekannte „Ecclesia“, inszeniert vor allem von dem ehemaligen Jesuiten und bedeutenden Poeten Huub Oosterhuis (Liturgie im Kulturzentrum de rode hoed). Oder die „Dominicus-Gemeinde“, ebenfalls in Amsterdam. Die Dominicus-Gemeinde wurde ursprünglich (bis ca. 1970) von Dominikaner-Paters geleitet, dann haben Laien als Team die Leitung übernommen und schließlich hat die Gemeinde, nun ökumenisch, das schöne Kirchengebäude gekauft. Diese Gemeinden sind nicht mehr konfessionell, sondern ökumenisch, sie führen unterschiedliche Theologien zusammen. Auch die ökumenische Gemeinde „de Duif“ in Amsterdam muss in dem Zusammenhang erwähnt werden! Die website der Gemeinde de duif bietet auch etliche links zu ähnlichen Versuchen freier Gemeinden.
(Zu den Kirchengründungen in der frühen Kirchengeschichte siehe Fußnote 1, unten)

Das erste Kapitel: Gründungen von Kirchen/Religionsgemeinschaften im 19. Jahrhundert in Frankreich.

6.
Das Thema ist im katholisch geprägten Milieu ausschlaggebend.
Die protestantische Kirche in Frankreich (vorwiegend Calvinisten und einige Lutheraner) war damals zahlenmäßig zu klein, um Neugründungen oder Abspaltungen innerhalb der Konfession Raum zu geben. Die protestantischen Kirchen waren dank der Revolution von 1789 den grausamen Verfolgungen gerade erst entkommen und konnten frei sein. Es gab hingegen ab 1840 bis ca. 1880 bei etlichen, vorwiegend intellektuellen Katholiken eine Begeisterung für protestantische Ideen, die der Historiker Yves Hivert-Messeca als Philoprotestantismus bezeichnet: (siehe: https://yveshivertmesseca.wordpress.com/2014/05/24/du-philoprotestantisme-dans-la-france-des-annees-1840-1880/)
Hivert-Messeca erinnert dabei an eine wichtigen Vortrag von Sainte-Beuve am 19. Mai 1868 im Senat von Paris: Darin deutet er die religiöse Situation Frankreichs im Bild einer „neuen, großen Diözese“, die „Tausende von Gläubigen aller ideologischer Couleur umfasste …außerhalb des Katholizismus. Zu dieser „großen Diözese“ gehören etwa Katholiken, die sich dem Protestantismus nahe fühlen und z.B. nach der staatlichen Hochzeitszeremonie noch in einer protestantischen Kirche eine religiöse Feier wünschen. Diese Praxis wird vom Historiker als entschieden anti-katholische Haltung gedeutet. (Zu den Neugründungen in den USA und im Katholizismus des 20.Jahrhunderts siehe Fußnote 2)

7.
Seit der Französischen Revolution ist die Bereitschaft groß, neue Religionen für die Franzosen zu inszenieren. Der Gründung der Republik als Ergebnis einer Revolution, also eines tiefgreifenden Umsturzes des Ancien Regime, entsprach bei vielen Revolutionären die Überzeugung, nun auch die einzige Kirche aus dem Ancien Régime, eben die katholische, zu überwinden.
Während der Revolution wurde der „Kult der Göttin Vernunft“ zelebriert, etwa am 10.August 1793 mit der Statue der „Göttin Vernunft“ auf der Place de la Bastille, am 10. November 1793 dann die feierliche „Messe“ in der Kathedrale Notre Dame de Paris mit einer leibhaftigen Göttin der Vernunft.
Robespierre hingegen praktizierte seinen deistischen „Kult des höchsten Wesens“ seit dem 8. Juni 1794. Dieser Kult sollte Staatsreligion werden, um den Katholizismus, DIE Kirche des „Ancien Regime“, zu ersetzen. Nach der Hinrichtung Robespierres wurde auch der „Kult des höchsten Wesens“ beendet.
Nach 1795 versuchte die religiös -humanistische Gemeinschaft der „Theophilanthropen“ (bis 1803) einen rationalen deistischen Kult zu etablieren, der in zahlreichen katholischen Kirchengebäuden parallel zu den Messen gefeiert wurde. (LINK:

8.
Nach 1825 werden Texte veröffentlicht, die sich für ein neues Christentum stark machen. „Nouveau Christianisme“ heißt das schon vom Titel viel sagende Buch des Philosophen und Sozialwissenschaftlers Claude-Henri de Rouvroy de Saint-Simon (1760-1825), kurz vor seinem Tod 1825 publiziert. Im „neuen Christentum“ sollten nicht mehr die katholischen Dogmen gelten, der Glaube sollte auf die Wissenschaften und die Entwicklung der modernen Technik gegründet sein! Praktische „Hauptaufgabe“ dieses neuen Christentums war die Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen, Brüderlichkeit sollte die wichtigste Tugend werden, schließlich, so Saint-Simon, habe auch Jesus Christus das ewige Leben nur denen versprochen, die den Armen wirksam helfen. Eine Idee, die wohl typisch ist für einige der „Frühsozialisten“…Später haben sich Katholiken in ihren sozialpolitischen Erklärungen auch auf Saint Simon bezogen, sie kritisierten die begrenzte christliche Mildtätigkeit und forderten die umfassende Solidarität unter allen Menschen.

9.
Diese Ideen fanden eine weite Verbreitung. Vor allem der Philosoph und Soziologe Auguste Comte (1798 – 1857) ließ sich von ihnen inspirieren. Er war persönlicher Sekretär Saint -Simons von 1817-1824. Comte ging noch weiter als sein Lehrer, er wurde zum Gründer der Religion des Positivismus. Die Ablehnung der kirchlichen Dogmen ist für Comte nicht zufällig, sondern sie basiert auf dem Gang der Weltgeschichte, den er sich dachte: Von der Religion über die Philosophie als Metaphysik hin zur dritten Stufe, dem Positivismus, als der Form der objektiven Wissenschaften. Die kritischen Zeitgenossen sollen die wissenschaftlichen Erkenntnissen als Wahrheiten respektieren und die alten Dogmen beiseite tun. (Vgl. die Studie des Philosophen Bernard Jolibert: „Science et Religion chez Auguste Comte: https://inspe.univ-reunion.fr//fileadmin/Fichiers/ESPE/bibliotheque/expression/23/Comte.pdf).
Comte plädierte dafür, Religion vom Gottesbegriff und vom Glauben an Gott zu trennen. Er stiftete eine Religion, die sich von den überlieferten christlichen Dogmen absetzte, und sich „positivistisch“ nannte, im Sinne von den „Wissenschaften folgend und mit ihnen verbunden“.
Comte stammte aus einem frommen katholischen Elternhaus, hat sich aber schon bald zum Atheismus bekannt. Trotzdem sah er durchaus die bedeutende, die soziale Rolle der Religion für den Zusammenhalt der Gesellschaft. 1852 veröffentlichte er für seine Kirche einen „catechisme positiviste“, in dem auch die Gestaltungen seines Kultes, seiner Sakramente (!), die Rolle seiner Priester, usw. definiert wurden. Auf bestimmte Elemente der katholischen Kirche konnte Comte nicht verzichten.

10.
Comtes wissenschaftliche Religion ohne Gott sollte als „Religion der Menschheit“ angesichts der Krise des Katholizismus Hilfen bieten für ein besseres Miteinander in der pluralen Gesellschaft. Religion wurde also im Sinne von Comte funktional gebraucht fürs Wohlergehen einer friedlichen Gesellschaft. Der Kult fand zu Beginn durchaus Zustimmung, d.h. Mitglieder. Nach Comtes Tod 1857 wurden die Vorschläge seiner Religion aufgegriffen von Politikern, die sich für die Trennung von Kirchen und Staat einsetzen. Die Vormachtstellung der katholischen Kirche etwa unter Napoleon III. wurde kritisiert und z. T. überwunden, anstelle der Theologie wurde die Religionswissenschaft an staatlichen Universitäten gelehrt und gefördert. Schon 1880 wurde am „Collège de France“ ein Lehrstuhl für Religionsgeschichte eingerichtet, sicher auch Wirkungen der Publikationen von Auguste Comte und seines maßgeblichen Schülers Pierre Laffitte (1823-1903).
Übrigens: Der Schriftsteller Michel Houellebecq bezieht sich in seinen Romanen und Essays oft auf Ideen von Auguste Comte, darauf weist Jérome Grévy hin: In seinem Essay „La Religion positiviste“, in dem Sammelband „Misère de l Homme sans Dieu. Michel Houellebecq et la question de la foi“ (Paris 2022, S.23-44).
Comte, der Kirchengründer, verstand sich selbst als „Erzpriester“, seine Kirche
hatte eigene Kapellen für ihre Gottesdienste, sogar ein neuer Kalender wurde ausgearbeitet. In Paris, in der Rue Payenne, Nr. 5, steht noch ein „Tempel“ der Religion von Comte, die „Chapelle de l Humanité“. Das „Haus von Auguste Comte befindet sich in der Rue Monsieur le Prince, Nr. 10 in Paris.

11.
Diese Kirche besteht als religiöse Institution heute in Frankreich nicht mehr, in Brasilien ist hingegen Comtes Einfluß auch heute noch bedeutend, „Ordem e progresso“ steht auf denFlaggen Brasiliens als Wahlspruch, Worte, die bezogen sind auf das Motto von Comte: „Liebe als Prinzip, Ordnung als Basis, Fortschritt als Ziel“. Die Gründerväter Brasiliens waren mit der Philosophie Comtes eng verbunden. Die „positivistische Kirche“ dort wurde 1881 gegründet, sie hat noch heute Tempel in mehrere Städten Brasiliens. Die Ausstattung des Tempels in Rio de Janeiro erinnert an eine christlichen Kirche. (siehe:https://www.degruyter.com/document/doi/10.31819/9783964566690-012/pdf).
Inspirationen für seine neue Religion fand Comte auch bei der von ihm hoch geschätzten katholischen (!) Schriftstellerin Clotilde de Vaux (1815-1846), in dem neuen positivistisch – religiösen Kalender war der 6. April stets „Clotilde Tag“. So wurden Frauen insgesamt in dieser neuen Kirche hoch geschätzt.

12.
Einige Kirchengründungen wurden auch von katholischen Priestern inszeniert, die mit der offiziellen Lehre nicht mehr übereinstimmten. Vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts gaben viele ihr Priesteramt auf, sie hatten nur Mühe, außerhalb der Kirche für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Viele katholische Priester wurden protestantische Pfarrer, der Ex-Priester Bourrier gründete für diese Konvertiten sogar eine eigene Zeitschrift „Le Chrétien Francas“. (Siehe Jacqueline Lalouette, „La Republique anticléricale“ , Paris, 2002, S. 118)
Zu den Freidenkern wandte sich Abbé Jules Claraz oder die Priester Duhamel, Harren, Blains, Salle, Bertrand usw…( Siehe J. Lalouette, S. 95 f). Auch ehemalige katholische Nonnen wurden militante FreidenkerInnen (S. 118 f. Bei J. Lalouette).
Der Priester Ferdinand Francois Chatel (1795-1857) ist im Jahr 1831 der Gründer der Kirche „Eglise Catholique Francaise“, er nannte sich jetzt „Primas von Gallien“. Diese Kirche feiert die Messe in französischer Sprache, als Gottesdienstzentrum diente ein ehemaliges Ladenlokal in Montmartre. Chatel hob das Zölibats-Gesetz für Priester auf, es wurde die Kelchkommunion auch für Laien gepflegt usw., von Rom frustrierte Katholiken fanden in dieser Kirche Zuflucht. Es kam zu Konflikten mit der Regierung, die Kirche wurde verboten. Über Chatels Tod hinaus bestand seine Kirche nicht mehr. Aber sie ist ein Beispiel, wie schon Jahrzehnte vor der Gründung der „Alt-katholischen Kirche“ (1870) diese Reform – Theologie virulent war.
Chatel war mit Bernard-Raymond Fabre-Palaprat (ein Priester aus Cahors) verbunden, er hatte eine esoterische Kirche, die sich Johanniter-Kirche nannte. Er hat unter anderem eine gnostische Version des Johannes-Evangeliums verfasst.

Der Priester Victor Charbonnel (1860 – 1926) setzte sich schon vor der „Weltausstellung“ in Paris im Jahr 1900 dafür ein, dass dort ein „Interreligiöses Parlament der Religionen“ stattfinden sollte. Denn, so war er überzeugt, „entstammen alle Religionen dem gleichen Prinzip, und dieses erzeugt unter den Religionen mehr gemeinsame als entgegengesetzte Lehren“. Die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten seien nichts anderes als eine Art „Schnickschnack der Konfessionen“, sie seien nur „armselige Motive für Stolz und Rivalitäten“. Der Priester Charbonnel ahnte sehr genau, dass seine Vorschläge Widerstand finden im Katholizismus, zwei Jahre hielt er es noch aus, Priester in einem extrem konservativen theologischen Milieu zu bleiben, dann gab wer sein Priesteramt auf.

13.
Der Historiker Frank Paul Bowman, (1927-2006), einst Professor an der Pennsylvania University, hat in seinem Buch „Le Christ des barricades 1789-1848“, Paris 1987, ein ganzes Kapitel den „neuen Christentümern, den neuen Messiassen“, wie er sagt, gewidmet (S-231- 246). Bowmans Buch zeigt einen Trend auf: Die Kirchengründungen sind nicht nur ein Ausdruck für den Abschied vom offiziellen römischen Katholizismus, genauso wichtig ist: Im 19.Jahrhundert wird eine Fülle von Deutungen zur Gestalt Jesu Christi publiziert: „Die Theoretiker eines sozialistischen Jesus“, heißt bezeichnenderweise ein Kapitel in dem Buch von Bowman (S.167-230), Beziehungen zur lateinamerikanischen Befreiungstheologen des 20. Jahrhunderts müssten eigens dokumentiert werden.

14.
Auch Literaten bemühten sich um ihr persönliches, also gegenüber der Amtskirche „häretischen“ Christus-Bild, etliche dachten auch an die Gründung einer eigenen Kirche.
Hier soll nur George Sand genannt werden. „Manchmal plant sie eine mögliche Erneuerung des Katholizismus, aber dann, ist sie eher überzeugt, eine neue soziale Religion zu gründen, als Modell könnten die Kulte von 1789 dienen,“ schreibt Bowman (S. 265). „George Sand beschreibt eine Religion der brüderlichen Gleichheit und des gemeinsamen Besitzes…“ Sie ist bewegt von den Hussiten wie von Franz von Assisi, Joachim von Fiore und dem Philosophen Lamennais… Sie glaubt, der Mensch könne seinen Kontakt mit dem Göttlichen aufnehmen“, und zwar aufgrund seines Willensentschlusses. (S. 267).
Von Victor Hugo muss man in dem Zusammenhang sprechen, und dabei nicht so sehr an die Phase seiner Begeisterung für spiritistische Sitzungen erinnern. Sondern vielmehr zeigen, wie er außerhalb der Bindung an die katholische Kirche seinen eigenen Glauben an Gott und an die persönliche Auferstehung entwickelte. Politisch wurde die Freiheit und Gleichberechtigung in der Republik Hugos wichtigstes Programm. Das Volk, das sich nach gesetzlich garantierter Freiheit in der Republik sehnt, ist für Hugo „das heilige Volk“, schreibt Alain Decaux in seinem Aufsatz „Victor Hugo et Dieu“ (2002).
Im Klerikalismus sah Hugo den größten Feind, zumal für die Errichtung der staatlichen Schulen für alle. Hugo sagte 1850. „Ihr Kleriker seid die Parasiten der Kirche, ihr seid die Krankheit der Kirche, ihr seid Sektierer einer Religion, die ihr gar nicht versteht. Mischt nicht die Kirche in eure Affären, in eure Strategien, in eure Lehren und eure Ambitionen“. (Quelle: Ein Beitrag von „France Culture“ am 8.12.2020; https://www.franceculture.fr/emissions/ils-ont-pense-la-laicite/hugo-limprecateur)
Noch kurz vor seinem Tod bekannte er: „Je crois en Dieu“. … und er glaubte nicht an die katholische Kirche.

15.
Unter den Komponisten soll nur Eric Satie (1866-1925) erwähnt werden. Er komponierte eine „Messe der Armen“, die allerdings ein Fragment blieb. Und er gründete seine eigene Kirche, mit dem irritierenden Titel: „Eglise Metropolitaine d` Art de Jésus Conducteur“, „Metropolitane Kunst- Kirche von Jesus dem Führer“.
Satie gab sogar eine Art Gemeindeblatt heraus, als Kirchengründer verurteilte er auch bestimmte Sünder, und er genierte sich nicht, tatsächlich als das einzige Mitglied seiner Kirche aufzutreten, was wohl den Tatsachen entsprach. Eine gewisse individualistische Verschrobenheit ist dieser Kirchengründung gewiss nicht abzusprechen. Satie stand auch in Verbindung mit dem Schriftsteller und Esoteriker Josephin Péladan, der eine Symbiose suchte zwischen Rosenkreuzertum und katholischem Glauben.

Zweites Kapitel: Kurze Hinweise zu Deutschland

16.
Ein wichtiges Beispiel im 19. Jahrhundert für die Idee einer Gründung einer neuen Religion bietet Friedrich Hölderlins (1770 – 1843). Hölderlin ist tief verwurzelt im Christentum, aber er will es in seiner ursprünglichen Gestalt, gemäß den Zeugnissen des Neuen Testamentes. Die „orthodoxen“ Kirchen – Lehren und die Institutionen der Kirchen zu seiner Zeit waren Hölderlin ein Grauen, von dem er sich abwandte. Aber die Christus- Gestalt schenkte ihm eine innere prägende Erfahrung. Nur deswegen konnte er Christus in Verbindung setzen mit den Mythen und Göttergestalten Griechenlands. Christus wird, so der Philosoph Heinrich Rombach, „neben die anderen Götter der Menschheitsgeschichte gestellt. Es gibt dann eigentlich keine heidnischen Götter mehr, darum vor allem sprechen wir von Universaltheologie bei Hölderlin“ ( S. 66 in: „Der Friede allen Friedens. Hölderlins Universaltheologie“, Rombachs Aufsatz in dem Buch „Gott alles in allem. Religiöse Perspektiven künftigen Menschseins“, Herder Verlag, 1985).
Hölderlin plädiert für einen “Gestaltwandel” Gottes: Nur als konkreter Geist ist Gott lebendig! Und dem entspricht auch ein Gestaltwandel der Gemeinde, der Kirche: Gemeinde ist keine Massenveranstaltung, kein anonymes Beisammensein Fremder: Gemeinde ist für Hölderlin vor allem ein eher kleiner Freundeskreis, ein Kreis von Gleichberechtigten, ohne Hierarchie, ohne Vorschriften, ein Kreis, der gemeinsam mit Brot und Wein feiert und dabei ins wesentliche religiöse Gespräch kommt, das dann als Poesie, als Dichtung, Gestalt wird. Und diese Feier geschieht im Wissen der geistigen Anwesenheit des universalen Christus, der alle Schranken und Grenzen der Religionen überwindet und überwinden hilft: Dies ist die „Friedensfeier“. „Der Himmel wird (von Hölderlin) in ein irdisches Geschehen verlegt, nämlich in die Gemeinde“ (Rombach, S. 68). Diese feiert ihre Feste, in denen man, „die Götter nicht zählt“ (S. 51), also diese Götter auch gelten lässt als Ausdruck der Versöhnung und des Friedens. Das sind die Ideen Hölderlins, als Wirklichkeit kann er sie nicht erleben…

17.
Der Autor der Romantik, Friedrich Schlegel, schreibt Ende Dezember 1798: „Ich denke daran eine neue Religion zu stiften, dass dies durch ein Buch geschehen soll, darf um so weniger befremden, da die großen Autoren der Religion – Moses, Christus, Mohammed, Luther – stufenweise immer weniger Politiker und mehr Lehrer und Schriftsteller werden“, (Zitat bei Rüdiger Safrans, „Romantik“, München 2007, S. 136).
Allerdings zweifelt Friedrich Schlegel dann doch an seinem Mut und begibt sich als Konvertit 10 Jahre später in den sicher erscheinenden Hafen des Katholizismus. Er schreibt: „Die ästhetische Träumerei (von 1798), dieser unmännliche pantheistische Schwindel müssen aufhören, sie sind der großen Zeit unwürdig und nicht mehr angemessen“ (S. 137).

Auch an Novalis (also Friedrich von Hardenberg, 1772-1801) muss erinnert werden, er will eine neue, neu-geborene universale Christenheit hervorrufen. Dabei helfen ihm Erkenntnisse, die Privatoffenbarungen genannt werden können. Die historische Gestalt des üblichen Christentums wird verblassen und vergehen, das ist seine Überzeugung, ein neues Zeitalter einer universalen Religion werde beginnen. So Novalis in „Die Christenheit oder Europa“, 1799 verfasst, 1802 in Auszügen veröffentlicht.
Bei aller pauschalen Kritik von Novalis an der Aufklärung und hier Philosophie ist seine Idee einer künftigen Religion der Diskussion wert: Ich zitiere eine Würdigung dieser von Novalis neu erdachten Religion aus dem Novalis-Beitrag von wikipedia (gelesen am 2 1.2.2022): „Die neue, dauerhafte und von konfessionellen Schranken befreite Kirche, eine Verbindung von Christentum und Naturphilosophie, soll an die Stelle des Papsttums und des Protestantismus treten. Hiermit ist jedoch nicht so sehr ein institutionelles Gebilde gemeint, sondern eine Friedensgemeinschaft. Diese europäische Friedensgemeinschaft wäre der erste Schritt zu einer Weltgemeinschaft. Novalis fordert „echte Freiheit“, das heißt einen freieren und poetischeren Umgang mit den biblischen Schriften. Somit soll das Christentum ausgeweitet werden. Mit der Auflösung der Abgrenzung von den übrigen Religionen nähert sich das von Novalis erdachte neue Christentum immer weiter einer allgemeinen Weltreligion an. Diese visionäre Zukunftsreligion sollte im Alltag erfahrbar sein und soziale Gemeinschaft schaffen, aber dennoch nicht die Freiheit einschränken…In der neuen goldenen Zeit soll dagegen die Freiheit in der Religion vorherrschen. Das Ende dieser angestrebten Entwicklung ist jedoch noch nicht gekommen, aber der Sprecher in der Rede vertröstet den Hörer und betont, dass diese Zeit sicher kommen wird. Nur ein wenig Geduld ist notwendig“. Siehe Fußnote 3, unten.

18.
Auch an Richard Wagner muss bei unserem Thema erinnert werden. Er war überzeugt: Die religiöse und theologische Krise der Kirchen hat viele Menschen in eine Art Leere und Sinnlosigkeit geführt: Wagners Musik, seine Opern insbesondere, „sollten ein Gemeinschaftserlebnis, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermitteln, wie es sonst nur religiösen Veranstaltungen eigen war“, so Herfried Münkler in seiner Studie „Marx, Wagner, Nietzsche“, Berlin 2021, S. 213. Wagners Festspiele, so Münkler, sollten – wie die Kirchen und Religionen es versprachen – einen neuen Menschen schaffen. „Nicht von ungefähr sprach man von einer Bayreuther Theologie, die Sektencharakter hatte…Erst in den 1950er Jahren kam ein Prozess der Deskralisierung in Gang..“ (S. 214).

3. Kapitel: Jeder gründet seine eigene Religion?

19.
Die Überzeugung setzt sich durch: Religionen und Kirchen werden nicht mehr von göttlich berufenen Propheten, Aposteln oder Evangelisten oder gar von Gott selbst gegründet, wie die katholische Kirche von sich selbst überzeugt ist. Religionen und Kirchen können auch von Laien oder einfachen Priestern und Theologen, auch von Philosophen, Künstlern und Schriftstellern ins Leben gerufen werden. Sie sind als Institutionen zwar oft nur von kurzer Lebensdauer, weil die Gründer nicht den militanten missionarischen Elan und die finanziellen Mittel haben, wie etwa die Gründer neuer Religionsgemeinschaften in den USA. Und diese neuen Religionen konnten gegenüber den Jahrhunderte alten Institutionen (Papst im Vatikan, und Könige/Kaiser als protestantische Kirchenchefs) nicht konkurrieren.

20.
Jeder Mensch, der irgendwie seine persönliche Beziehung zu einer transzendenten Wirklichkeit oder einem „absolut geltenden Sinn“ auf seine Weise denkt und auf die eigene, persönliche Weise lebt, gründet oft unbewusst und wenig reflektiert, seine eigene ganz individuelle – persönliche Religion. Jeder Mensch wählt aus dem ihm zur Verfügung stehenden Angebot spiritueller Weisheit das ihm Passende. Wichtig ist, dass dann die subjektive, die eigene Religion das Gespräch mit anderen sucht, nicht nur um der Informationen willen, sondern auch um die eigene Position zu erweitern und zu korrigieren. Ob auf diese Weise noch einmal neue Gemeinschaften entstehen, ist offen, wahrscheinlicher ist, dass Christen, die etwa in Deutschland aus den Kirchen ausgetreten sind, in der individuellen Position der Vereinzelung verbleiben. Das kann man aus sozialen – kommunikativen Gründen wie aus theologischen und philosophischen Einsichten bedauern.

…………………….

Fußnote 1:
Abspaltungen von den offiziellen sich „orthodox“, rechtgläubig nennenden Kirchen gab es seit Etablierung der offiziellen (Staats-) Kirchen im 4. Jahrhundert und auch schon vorher. Aber diese Spaltungen waren meist nur Varianten, Zuspitzungen, der sich als rechtgläubig definierenden Kirche mit dem Papst als Oberhaupt. Diese „Varianten“ des Katholischen wurden dann Sekten genannt und als Häretiker entsprechend verfolgt und oft ausgelöscht, man denke nur Hus und die Hussiten oder den breiten Strom der Reformatoren seit dem 16. Jahrhundert.

Fußnote 2:
Bekanntlich gab es im 19. Jahrhundert in den USA viele Abspaltungen von den dort etabliert traditionellen protestantischen Kirchen. Einige religiöse, christlich inspirierte Gemeinschaften wurden gegründet, wie die Mormonen, die Zeugen Jehovas, die Christliche Wissenschafter usw. Diese Gemeinschaften gehen auf Erleuchtungen bzw. neue Erkenntnisse einzelner zurück. Sie sind, was die Anzahl der Mitglieder betrifft, durchaus erfolgreich.
Auch auch innerhalb der etablierten „mainstream“ Kirchen, wie den Anglikanern oder Reformierten, gab es und gibt es dann Abspaltungen. Dies ist ein durchaus typisches protestantisches Phänomen.
Wer sich von der katholischen Kirche löst und eine neue Gemeinschaft gründet, wie etwa Alterzbischof Marcel Lefèbvre, wird automatisch exkommuniziert, als er im Jahr 1988 eigenmächtig vier seiner Priester zu Bischöfen weihte, um das Überdauern seiner Gemeinschaft sozusagen kirchenrechtlich korrekt abzusichern. Darum sind Lefèbvres Bischöfe zwar unerlaubt (vom Papst), aber gültig (von einem gültig geweihten Erzbischof) geweiht…Das macht die Sache so kompliziert in diesem Römischen Rechts – Denken. Die Exkommunikation Lefèbvres und der vier von ihm geweihten Bischöfe wurde durch Papst Benedikt XVI. am 21.1.2009 aufgehoben! Übersehen wurde dabei, dass einer der vier Bischöfe sich kurz zuvor extrem antisemitisch öffentlich geäußert hatte.
Im 20.Jahrhundert wurden weltweit viele neue religiöse Gemeinschaften gegründet, manche beziehen sich auch auf das Christentum, aber auch auf andere spirituelle Quellen. Die religiösen Umbrüche in Afrika,. Lateinamerika oder Asien konnten hier nicht berücksichtigt werden.

………………………
Fußnote 3 zu Novalis: Aus einer Ausgabe von 1826:
„Die Chriſtenheit muß wieder lebendig und wirkſam wer¬
den, und ſich wieder ein ſichtbare Kirche ohne Ruͤckſicht auf
Landesgraͤnzen bilden, die alle nach dem Ueberirdiſchen durſtige
Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der
alten und neuen Welt wird.
Sie muß das alte Fuͤllhorn des Seegens wieder uͤber die
Voͤlker ausgießen. Aus dem heiligen Schooße eines ehrwuͤrdi¬
gen europaͤiſchen Conſiliums wird die Chriſtenheit aufſtehn,
und das Geſchaͤft der Religionserweckung, nach einem allum¬
faſſenden, goͤttlichem Plane betrieben werden. Keiner wird dann
mehr proteſtiren gegen chriſtlichen und weltlichen Zwang, denn
das Weſen der Kirche wird aͤchte Freiheit ſeyn, und alle noͤ¬
thigen Reformen werden unter der Leitung derſelben, als fried¬
liche und foͤrmliche Staatsprozeſſe betrieben werden“.  S. 208 in: Novalis Schriften Bd I, Berlin 1826. Hg. von Tieck und Schlegel, https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/novalis_christenheit_1826?p=30

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Houellebecqs Roman „Vernichten“: Von katholischem Erzbischof gelobt.

Pascal Wintzer (Poitiers) als Literaturkritiker
Ein Hinweis von Christian Modehn am 8.2.2022; siehe auch den ausführlicheren Hinweis LINK.

1.
Es geschieht nicht gerade häufig, dass ein katholischer Bischof sich über einen neu erschienenen Roman eines umstrittenen Autors ausdrücklich „freut“: Erzbischof Pascal Wintzer (Poitiers) hat am 3.2.2022 in der Tageszeitung „La Croix“ (Paris) wie auch auf der Website des Erzbistums Poitiers (LINK: https://www.poitiers.catholique.fr/michel-houellebecq-aneantir/ ) eine ausführliche Leseempfehlung publiziert: Sie gilt dem kurz zuvor erschienen Roman „Anéantir“ („Vernichten“) von Michel Houellebecq. Das Buch hat eine Startauflage von 300.000 Exemplaren in Frankreich. Das Interesse ist enorm! Und Bischof Wintzer hat schon recht, wenn er Houellebecq „einen der ersten französischen Autoren von heute“ nennt, es gibt längst eine breite Houellebecq-Forschung in Frankreich.

2.
Bischof Wintzer sagt ausdrücklich, dass „man“ auch in dem neuen Roman das wiederfindet, was „man“ (also auch Wintzer) an Houellebecq schätzt: Der Autor „stellt uns vor die großen Verstörungen („dysfonctionnements) der Gegenwart“: Etwa die schlimmen Verhältnissen in den Pflegeheimen für alte und behinderte Menschen. Aber er zeigt in dem Roman auch die Kraft der familiären Bindungen, betont der Bischof. „Wie üblich, ist dies ein Roman einer inkarnierten, fleischlichen Menschlichkeit. Die Körper haben in dem Roman ihren Platz, auch das Vergnügen, der Schmerz und das Leiden…Houellebecq plädiert für das, was einzig den Menschen ehrt, die Beziehung“. Soweit der Bischof, der sogar noch schreibt: „Es ist wahrscheinlich übertrieben, Houellebecq einen Propheten zu nennen, die Zeitung Charlie Hebdo qualifizierte Houellebecq als einen Magier“. Und dann auch dieses persönliche Bekenntnis: „Warum liebt man es, Michel Houellebecq zu lesen, oder auch seinen Auftritten im Fernsehen zu folgen? Weil er Vergnügen bereitet. Zuerst das Vergnügen der Lektüre – und das ist ja auch das, was einen Geschmack am Leben schenkt, aber auch das Vergnügen an seinem schlauen und spöttischen Blick auf die Gesellschaft und auf den Leser selbst. Der Roman Anéantir (Vernichten) erfüllt diese Erwartungen!“

3.
Und am Ende seines lobenden Beitrags zu Houellebecq neuem Roman muss der Erzbischof doch noch einmal seiner Freude Ausdruck geben, den dieser wichtige Autor schreibe doch auch vieles über Religion bzw. die katholische Kirche. Und der Erzbischof zitiert aus einem gerade erschienen Sammelband über den Glauben im Werk Houellebecq, darin definiert er sein Katholischsein: „Ich bin Katholik in dem Sinne, dass ich das Entsetzen über eine Welt ohne Gott ausdrücke … aber einzig in diesem Sinne bin ich katholisch.“

4.
Erstaunlich bleibt, dass ein Erzbischof eine gewisse Berufung als Literaturkritiker entdeckt. Und dann noch seine Begeisterung über einen ja auch politisch zweifelsfrei umstrittenen Autor ausdrückt. Und dabei sogar übersieht, dass Houellebecq in einem Interview mit „Le Monde“ seine geistige Nähe und Verbundenheit mit theologisch – traditionalistischen und politisch reaktionären Kreisen offen bekannte. Dass diese Zusammenhänge Pascal Wintzer übersah, finde ich erstaunlich. Und genauso, mit welcher Leichtigkeit er als Bischof einer nicht gerade erotisch/sexuell-freizügigen Kirche dann doch die „fleischliche Lust“ einiger der Roman-Protagonisten offenbar richtig findet. Dies ist immerhin eine erfreuliche Einschätzung eines katholischen Bischofs.

5.
Bischof Pascal Wintzer wurde am 18. Dez. 1959 geboren, seit Januar 2012 ist er Erzbischof von Poitiers.

6.
Der genante Sammelband mit Studien zu Houellebecq: Misère de l’homme sans Dieu. Michel Houellebecq et la question de la foi. Champs, Essais, Flammarion, 2022, das Zitat ist auf S. 366.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Der neue Roman von Houellebecq: „Vernichten“. Bekenntnisse eines Reaktionären.

Über den neuen Roman und die Religion Houellebecqs

Ein Hinweis von Christan Modehn.  Siehe auch: Ein katholischer Erzbischof lobt “Vernichten”: LINK

1.

Der neue Roman von Michel Houellebecq liegt jetzt auch auf Deutsch vor. „Vernichten“ ist der Titel. Was oder wer vernichtet wird, erscheint erst am Ende des umfangreichen Romans, der Titel lässt Schlimmstes erahnen. Der Titel “Vernichten” bedient sich eines Verbs, einer Tätigkeit, der Eindruck ist: Es handelt sich um ein Geschehen, eben Vernichten, das zwangsläufig geschieht, schicksalsmäßig. Ein Ausrufungszeichen als Befehl findet sich hinter “Vernichten” nicht. Ein Befehl würde noch Freiheit der Täter voraussetzen.

Dabei liest sich das neue Opus des „Stars“, manche sagen „Popstars“ der gegenwärtigen Literatur auch ausnahmsweise, möchte man sagen, manchmal wie eine Art Familiengeschichte mit Einsprengseln einer Art von „Liebesroman“ und kurzen Szenen einer Naturmystik und politischen Irritationen durch Terroranschläge… wobei das Elend der menschlichen Beziehungen selbstverständlich – wie üblich – weit ausgebreitet wird.

Es ist eine elende Welt vornehmlich der Reichen, die da vorgeführt wird, elend hinsichtlich der seelischen Verfassung, der Langeweile, des Scheiterns im Miteinanderleben in Beziehungen und Ehen. Dabei ist es keine Frage: Die sprachliche Gestalt, die „Komposition“ des Romans, der Mix aus Reportage und Elementen philosophischer Reflexion, diese Analysen des seelischen Zustandes einer gewissen Oberschicht können die LeserInnen an das umfangreiche Buch durchaus binden.

Der Roman enthält viele Fakten, das ist evident…Wenn Houellebecq etwa Kirchengebäude nennt, dann sind diese nicht fiktiv, sondern real; wenn er das Kapuzinerkloster der Traditionalisten in Morgon nennt (siehe die ausführlichen Hinweise in Fußnote 1, unten), dann gibt es dieses Kloster wirklich; wenn er von der katholisch-rechtsextremen Bewegung “Civitas” Bewegung spricht, dann gibt es diese wirklich. Er kennt diese Leute! Man denke bloß nicht, dieser Text, Roman genannt, sei im ganzen Fiktion. Dieser Roman hat auch den Charakter eines religionskritischen Sachbuches. “Die Ordnung der Welt ändet sich also gerade” (S. 225) könnte als Leitwort gelten.

2.

In Frankreich ist „Anéantir“ seit dem 7.1. 2022 in den Buchhandlungen, Startauflage 300.000. Auch Raubkopien hat es vorweg gegeben. Das Interesse an Houellebecqs Werk ist enorm, trotz oder auch wegen seiner oft ins politisch Rechte und Rechtextreme abdriftenden Statements. Es ist ja bekannt, dass sich Houellebecq etwa in seinen als Essays titulierten Schriften deutlich absetzt vom Geist der modernen Aufklärung, auch vom Protestantismus und der Renaissance, so etwa erneut in seinem vierten Essayband „Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen“(2020). „Die Linken“ sind die Feinde des Autors, das bekam einmal mehr deutlich zu spüren Daniel Lindenberg (Prof. für Politologie und Mitglied der Sozialistischen Partei P.S.), als er in seinem Buch „Le rappel à l ordre“ („Der Ruf zur Ordnung“) von 2002 Houellebecq ein diffuses reaktionäres Denken nachweisen konnte. In seiner Erwiderung anlässlich der Annahme des „Schirrmacher Preises“ 2016 fand Houellebecq äußerst scharfe und polemische Worte gegen Daniel Lindenberg. Houellebecq ist eben nicht nur Literat, schon gar nicht ein „klassischer Dichter“. Er hat sich einem gesellschaftlichen Projekt mit aller Kunst und Leidenschaft und Ironie verschrieben, und das Projekt heißt: Rückkehr zu den alten Werten, etwa der „intakten“ Familie, dem Respekt der religiösen (nicht nur der politischen!) Lehren des traditionellen Katholizismus. Das wird etwa deutlich in einem langen Interview, das Houellebecq dem Journalisten Geoffroy Lejeune von der extrem rechten Wochen-Zeitschrift „Valeurs Actuelles“ im Jahr 2019 gab. Darin sagte Houellebecq offenbar allen Ernstes: „Zu den Zeiten, als der Islam verborgen war, wo es einen Islam im Keller gab, da lief alles gut. Jetzt, machen die Muslime Probleme. Weil man ihnen sagt, sie könnten sichtbar sein. Um das zu regeln, wäre es besser, die katholische Religion würde stärker werden („reprenne le dessus“)“.

Der Schriftsteller Thomas Lang schreibt dazu: „Bemerkenswert scheint mir einerseits der grundlegende Konsens zwischen dem Journalisten und Houellebecq in der Sehnsucht nach einer unangreifbaren Institution, die im Besitz der Wahrheit ist und Trost spenden kann. Andererseits findet sich auch wieder die Konfrontationsstellung unterschiedlicher Richtungen. Rechts gegen links, christlich gegen muslimisch, das sind die besten Voraussetzungen für die Ausweitung einer Kampfzone“ (zit. in „Volltext“, Wien, Heft 4 (2020, S. 7). Die katholische Kirche braucht Houellebecq für seine politischen Ideen und Nostalgien als Stützen der Moral und des Staates. Das ist die alte, aber immer noch nicht vergessene  französische Konzeption der „Action Francaise“, die sich zu Beginn der Zwanzigsten Jahrhunderts als politische Ideologie katholischer Franzosen etablieren wollte, die keinen religiösen und biblisch geprägten Glauben hatten, wohl aber eine politische Liebe zur Institution Kirche als Hüterin der alten Ordnung. „Jesus Nein, hierarchische Kirche Ja“, war die Devise, die auch Houellebecq zentral findet, Jesus ist ihm viel zu links, viel zu revolutionär…(Siehe dazu: Yann du Cleuziou: Apologie du catholicisme dans les romans de Houellebecq, https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-02296265/document).

3.

Der maßgebliche Literaturkritiker von „Le Monde“, Jean Birnbaum, hat im Dezember 2021 mit Houellebecq einige Stunden in dessen Arbeits-„Studio“ in Paris sprechen dürfen. Auf drei Seiten berichtet er ausführlich von dem Besuch, der ganz dem  neuen Buch gilt (Le Monde, 7. Janvier 2022,  Seite 1-3 in der Abteilung „Le Monde des Livres“). Der Titel des Beitrags sagt schon Entscheidendes über den neuen Roman: „Houellebecq, die Versuchung des Guten“.  Dazu passend, auf Seite 1, ein Zitat des Schriftstellers: „Mit guten Gefühlen macht man gute Literatur“. Diese Aussage mag überraschen! Houellebecq sagt: „Es gibt (bei mir) kein Bedürfnis, das Böse zu feiern, um ein guter Schriftsteller zu sein. Und es gibt wenige Übeltäter in dem Roman „Anéantir“. Damit bin ich sehr zufrieden. Der größte Erfolg wird sein, wenn es überhaupt keine Übeltäter mehr gibt“.

Während des Gesprächs mit dem Redakteur von „Le Monde“  fällt Houellebecq plötzlich ein, so heißt es dann in der Zeitung:  „Das ist verrückt, seit vier Stunden diskutieren wir und man hat noch immer nicht von Zemmour (einem der rechtsradikalen Präsidentschaftskandidaten 2022) gesprochen“. Darauf der Redakteur: „Das ist stimmt. Man kann es immer noch tun“. Aber wollen Sie das wirklich?  „Non“ antwortet Houellebecq sehr knapp „a mi-voix“, heißt es, „halblaut“. Dem Journalisten fällt nichts anderes ein als das eine Wort zu sagen: „Bon“, also: “Na gut“. Keine Nachfrage also, eine verpasste Chance mehr Klarheit über die Beziehung Houellebecq – Zemmour zu erfahren.

4.

Jean Birnbaum erwähnt im Gespräch auch die ihn emotional berührenden Aussagen im Roman. Houellebecq antwortet darauf mit einem Hinweis zum eigenen Erleben beim Schreiben: „Jene Passagen im Roman, die Sie berührt haben, die habe ich nicht gedacht, die haben sich mir aufgedrängt. Wenn Sie das ernst nehmen, was ich schreibe, dann muss man eine irrationale Voraussetzung annehmen, nach der die Personen im Roman wie von selbst handeln… Oft glaubt der Autor, die Persönlichkeiten im Roman zu kontrollieren, aber die Persönlichkeiten drängen ihr Sein dem Autor auf“. Houellebecq erlebt sich offenbar wie einer Art „Diktat“ ausgesetzt. Aber: Wer „diktiert“ da eigentlich? In den biblischen Schriften, die ja auch manche für „inspiriert“, säkular gesagt von anderem „diktiert“ halten, war es Gott, der da die Feder führte…. In jedem Fall sieht sich Houellebecq offenbar wie ein Meister der Weisheit, der Gesehenes, Gehörtes, kundtut.

5.

Über seine spirituelle Suche hat Houellebecq oft gesprochen, auch über seine Versuche, sich in den katholischen Glauben zu vertiefen. Auch in dem Roman „Vernichten“ ist oft von der Bedeutung des katholischen Glaubens die Rede: Cécile, die Schwester des Protagonisten Paul Raison, ist eine tief-fromme praktizierende Katholikin, der es sogar gelingt, ihren eher skeptischen Bruder zur Weihnachtsmesse in die Dorfkirche im Beaujolais mitzunehmen. Die Reflexionen Pauls über die Bedeutung Gottes angesichts des menschlichen Leidens könnte man wohl auch als persönliche Fragen Houellebecqs denken (S. 261)..

Der Katholizismus ist jedenfalls immer ein Thema bei Houellebecq, auch wenn er in „Vernichten“ durch ausführliche Beschreibungen des Wicca-Kultes wohl andeutet: Es könnte auch eine andere, eine neue (alte) Religion in Europa wichtig werden. Bekannt ist zudem, dass er die Gastfreundschaft der Benediktinermönche von St. Martin de Ligugé (bei Poitiers) erlebt hat (im Gästezimmer 11). Die Mönche berichteten später, sehr aufmerksam die Romane Houellebecqs zu lesen.  Und die Zeitschrift „Le Point“ schrieb  am 21.4.2015, in ihrer Klosterbuchhandlung hätten die Mönche auch die (damalige) Neuerscheinung des Houellebecq Romans „Soumission“  („Unterwerfung“) zum Kauf angeboten.

Für den Redakteur von Le Monde berichtet Houellebecq: Zu Weihnachten (2021) hätten ihm, so wörtlich, “reaktionäre Katholiken”, „die Freunde geworden sind“, Grüße und Nachrichten geschickt. „Darin sagten sie, dass sie für mich gebetet hätten, das ist bewegend, finden Sie nicht auch? Es gibt Leute, die interessieren sich für meine Seele. Das deute ich als Zeichen von sehr starker Freundschaft. Sie hoffen, dass ich von der Gnade berührt werde“. Bemerkenswert ist, dass Houellebecq selbst offenbar ohne ironischen Unterton (ohne ein “so genannte”) von seinen “reaktionären katholischen Freunden” spricht. Diese Haltung dieser Katholiken findet er offenbar gut, in diesem Freundes-Milieu fühlt er sich wohl. Hat Houellebecq endlich seine katholische Ecke gefunden, wo er sich wohlfühlt?

Ob die reaktionären Katholiken, auch in moralischer Hinsicht nicht gerade liberal, mit Houellebecqs Satz (gesprochen vom Protagonisten Paul) einverstanden sind: “Dafür waren Nutten da, um einem wieder Leben einzuhauchen” (S. 307)? Wahrscheinlich sehen reaktionäre Katholiken auch über die Sex-Szenen im Roman “Vernichten” hinweg, wichtig ist ihnen die politische Haltung Houellebecqs, da ist er wohl einer der ihren…

Tatsache ist: Reaktionäre Kreise im französischen Katholizismus sehr viel zahlreicher und “bunter” und einflußreicher als etwa im deutschen Katholizismus.  Es sind in Frankreich nicht nur die zahlreichen traditionalistischen Pius-Brüder von Mgr. Lefèbvre und deren Gemeinden, es sind die Katholiken aus den Kreisen “Manif pour tous”, von der Zeitschrift Valeurs Actuelles, die Katholiken, die von “Bevölkerungsaustausch” wegen der Muslime in Frankreich schwadronieren usw., von “Civitas” war schon die Rede.

6.

Der Schriftsteller Thomas Lang hat in der Zeitschrift VOLLTEXT manche Aussagen Houellebecqs zur Politik treffend „schwammig“ (S. 6) genannt. Schwammig sind auch einige Ausführungen des Schriftstellers in dem genannten Gespräch mit Jean Birnbaum von Le Monde. Darin ist erstaunlich, wie milde Houellebecq die bekannten Nazi-Autoren der Okkupationszeit bewertet. Er sagt: „Man war im 20. Jahrhundert fasziniert von der Transgression, dem Bösen. Von daher auch das Wohlgefallen gegenüber Autoren wie Morand, Drieu, Chardonne. Und dann das Urteil Houellebecqs: „Autoren, die ich mittelmäßig finde“.

Morand und Drieu waren von ihrer formalen schriftstellerischen, sprachlichen Leistung her gesehen sicher viel mehr als mittelmäßig. Aber sie waren viel weniger als mittelmäßig, nämlich schändlich, in ihrer antisemitischen Nazi-Ideologie. Von der Nazi-Ideologie der Autoren spricht Houellebecq vornehmerweise nicht. Oder „Le Monde“ zitiert unvollständig.

7.

Was oder wer ist also „Vernichtet“, um den Titel des neuen Romans aufzugreifen? Das werden die LeserInnen entdecken. Aber betrachtet man die Grundüberzeugung und die herrschende „Stimmung“ von Houellebecq dann steht fest: Vernichtet ist die alte europäische Ordnungswelt. PolitikerInnen, die angeblich noch diese alte Werte bzw. Unwerte -Ordnung reanimieren wollen, werden von Houellebecq in „Vernichten“ freundschaftlich mit dem Vornamen angespochen, eben Marine Le Pen, im Jahr 2022 Chefin der rechtsextremen Partei „Rassemblement National“ (früher „Front National“). Sie heißt im Roman nur freundschaftlich „Marine“.

Wichtiger als Ergänzung zum Thema „Vernichten“ dürften die Ausführungen Houellebecqs sein anlässlich der Verleihung des „Oscar-Spengler Preises“ 2018, ein Preis, der auch stark von rechten CDU und auch AFD Politikern inszeniert und finanziert wird. Bei der Entgegennahme des Preises in Brüssel sagte Houellebecq: „Bezogen auf die Demographie und die Religion ist es evident, dass ich zu den exakt identischen Schlussfolgerungen wie Spengler komme: Der Westen befindet sich in einem Zustand sehr fortgeschrittenen Niedergangs.“ Das hat man schon oft gehört von Houellebecq…

8.

… Es ist das Jammern des Reaktionären heute…Ob es weiterhilft in der umfassenden Krise der Gesellschaften und Staaten ist sehr fraglich, meine Antwort heißt nein. Trotzdem werden wieder viele tausend Menschen auch den neuen, den etwas freundlicher gestimmten Houellebecq-Roman lesen. Weiterführende Impulse für eine humanere Welt (der Menschenrechte) werden sie von dem umfangreichen Buch nicht erhalten. Politische Prognosen eines „Weisen“ oder gar prophetische Perspektiven wird man auch diesem Houellebecq – Roman nicht entnehmen können. Da verbreitet ein “weltberühmter Autor” nur auf seine Art “Stimmung” für eine autoritäre Gesellschaft und einen entsprechenden Staat der “uralten Werte”. Und viele, werden dies, leider, glauben.

Fußnote 1:

Im November 2017 hatte Houellebecq ein Interview („Testament“ genannt), ursprünglich für den SPIEGEL gegeben, das dann von der reaktionären Wochenzeitung „Valeurs actuels“ übersetzt  wurde . LINK Houellebecq betont in dem Interview: „Die Integration der Muslime könnte nur funktionieren, wenn der Katholizismus (in Frankreich) wieder Staatsreligion (Religion d Etat) wird“.  Diese Forderung „Katholizismus als Staatsreligion“ wird von der rechtsextremen Partei „Civitas“ vertreten. Ein Kapuziner aus dem traditionalistischen Kloster in Morgon ist offizieller „Partei-Kaplan“ (aumonier genannt) von „Civitas“.   Von diesem Kloster ist in „Vernichten“ die Rede, Houellebecq kennt diese Leute offenbar. Es lohnt sich, zum Studium die website dieser Mönche anzusehen! LINK: Das Houellebecq-Zitat zur katholischen Staatsreligion ist auf Deutsch erreichbar (gelesen am 15.1.2022): LINK

Die reaktionären und traditionalistischen Katholiken von Civitas gehören auch zu den heftigen „Impfgegner“ in Frankreich, sie nennen die staatliche Impfkampagne „Plandémie satanique“. Diese Tatsachen werden ausführlich ausgebreitet in der religionswissenschaftlich-politologischen Studie „Le Nouveau Péril sectaire“, von Jean-Loup Adénor und Timothée de Rauglaudre, erschienen in den Editions Laffont, 2021, 21,50 EURO.

Michel Houellebecq, “Vernichten”. Roman.  2022, Dumont – BuchVerlag Köln. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek. 621 Seiten, 28 Euro. 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Flaubert, antiklerikal und religiös

Hinweise aus Anlass seines 200. Geburtstages

Von Christian Modehn am 5.12.2021

1. Gustave Flaubert (12.Dez.1821 – 8.Mai 1880) und sein großes Werk, einschließlich seiner umfangreichen Korrespondenz, werden umfassend studiert. Dabei ist die Frage: „Welche Bedeutung haben für Flaubert Spiritualität und christliche Religion?“ von zentraler Bedeutung. Aber dieses Thema wird meines Erachtens in Deutschland nicht so oft diskutiert. Man darf sich jedenfalls nicht mit dem populären Spruch begnügen: „Flaubert war antiklerikal“.Oder auch: “Sein Dienst an der Kunst ist letztlich nichts anderes als eine neue Religion“, so in: „Französische Literaturgeschichte“, Stuttgart 1991, S. 269). Es stimmt schon: Kunst, prinzipiell unvollendet und auch unvollendbar, entzieht sich – wie das Göttliche – dem abschließenden Definieren. Die Sehnsucht nach dem Unendlichen („aspiration“, sagt Flaubert) gilt es zu pflegen, auch dies betont Flaubert. „Selbst wenn die Religionen als Institutionen verschwinden, das religiöse Gefühl wird in anderen Formen überleben“, schreibt Gisèle Seginger in ihrem Aufsatz „Flaubert, de la religion à l art“, in „Revue d Histoire et de Philosophie religieuses“, 1998, S. 303). Es bleibt für Flaubert, so kühl und distanziert und ironisch seine Romane erscheinen, entscheidend: Es gibt ein menschliches Bedürfnis, sich einer religiösen Wirklichkeit anzuvertrauen. Damit ist nicht der dogmatisch eindeutige Gott der Kirchen gemeint. Religiöses Vertrauen kann sich vielfältig äußern, es wird sichtbar in der Bindung an heilige Orte, heilige Quellen, heilige Gestalten etc.

2. Es ist wohl typisch für Flaubert: Die Frage, ob Gott „existiert“, ob „ER“ „bewiesen“ werden kann, braucht dann gar nicht gestellt zu werden. Das religiöse Gefühl ist für Flaubert entscheidend, es hat in der menschlichen Natur seinen Grund. Flaubert verurteilt also nicht Religionen von vornherein. Auch wenn Flaubert als Leser der Religionskritiker Quinet, Michelet und Renan die überlieferten Dogmen und Symbole kritisiert: Das Bedürfnis des Menschen, etwas Unendliches zu spüren, wird von ihm dann doch respektiert. Dies könnte man eine Form des humanistischen Atheismus nennen; dieser Atheismus ist alles andere als banal oder materialistisch. Im Gegenteil: Er sieht im Menschen ein “unendliches Streben” anwesend  – als Streben nach einer (nicht göttlichen) Unendlichkeit.

Er kämpft aber leidenschaftlich gegen den so genannten „Neo-Katholizismus“, der sich in seiner Zeit beim erstarkenden französischen Katholizismus in neuen Formen des Kultes zeigte, etwa für das „Herz Jesu“ oder für Marien-Erscheinungen in La Salette: Flaubert kommentiert: „Dies erinnert mich an die Tages de Heidentums“…

3. Die Religion(en) im Frankreich des 19. Jahrhunderts.

Im 19. Jahrhundert äußern sich zwar einige Autoren, die explizit die Rückkehr zu einem etwas reformierten katholischen Glauben unterstützen. Wirksamer sind wohl Autoren, die das Religiöse neu denken wollen „außerhalb der etablierten Religionen“, wie Viktor Hugo sagt. Die Überzeugung setzt sich durch: Religiöse Gefühle, allen Menschen je unterschiedlich gemeinsam, zeigen sich auch in der Kunst, der Literatur, der Philosophie, in den Ekstasen des Eros…

4. Flaubert hat die Geschichte der Religionen gründlich studiert, das zeigt seine „Correspondance“, vor allem aber das Werk, an dem er eigentlich zeit seines Lebens arbeitete:  „Die Versuchung des heiligen Antonius“ (begonnen 1849, verändert publiziert 1874).

Flaubert schwankt in gewisser Weise zwischen einer gewissen Bejahung des Religiösen und dessen Abwehr und Ablehnung. Er verteidigt das Christentum sogar, wenn er sich z.B. entschieden gegen den Materialismus einiger „sozialistischer Denker“ wendet. Diese Sozialisten wollen nach seiner Meinung das religiöse Gefühl auslöschen, damit aber werde eine entscheidende Dimension des Menschen ignoriert, die religiöse. Flauberts Verachtung für “den Sozialismus” ist ein eigenes Thema, zudem er seine Sozialismus-Kritik mit seiner Zurückweisung der Gleichheit (égalité) verbindet. Dass es eine wesentliche Gleichheit, auch rechtliche Gleichheit, aller (!) Menschen philosophisch evident begründen lässt, weiß Flaubert offenbar nicht oder er lehnt dies wider besseren Wissens ab.

5. Für Flaubert ist entscheidend, dass der Künstler sich von allen dogmatisch-kirchlichen Glaubenshaltungen befreit! Er muss aber sensibel werden für die Erfahrung des Unendlichen  ohne einen „persönlichen Gott“. Dies hat für Flaubert persönliche Konsequenzen: Rückzug aus der Welt, Kontemplation der Natur und der Dinge der Welt; die Anerkennung der Realität, „die so ist, wie sie ist“. Soll man diese Haltung der “Anerkennung der Welt, so, wie sie ist”, eine verkappte Form von Positivismus nennen? Bekanntlich wehrt sich Flaubert gegen alles Bewerten, Moralisieren und Belehren durch den Schriftsteller! Aber ist diese Haltung nicht auch eine problematische Form des “Belehrens”, des “Besserwissens”?

6. Befremdlich wirken heute seine „Drei Geschichten“, aus der späten Schaffensphase, erschienen 1877. Eine Geschichte berichtet vom heiligen Julian, genannt St. Julian der Gastfreie“ in der Heiligenlegende. Ein ihm gewidmetes Glasfenster befindet sich in der Kathedrale von Rouen, der Heimat Flauberts. Julian, so erzählt Flaubert seine Heiligenlegende, tötet irrtümlich seine Eltern, aufgrund von Verwechslung.  Aber Julian entschließt sich, einen Aussätzigen in sein Haus aufzunehmen, mit dem er eine intensive, auch körperliche Nähe entwickelt. Dieser Arme, der Aussätzige, verwandelt sich dann im Miteinander zu Christus. Eine Art Erlösung geschieht: Die Verbundenheit mit Christus wird bei Flaubert deutlich als leibliche Nähe und körperliche Verbundenheit beschrieben: Manche Interpreten sehen in dem Miteinander von Julian und seinem „Gast“ sogar homosexuelle Anspielungen…

7. So komplex auch die Spiritualität Flauberts ist: Was ihn immer bestimmte, war die Verachtung der Dummheit, war der leidenschaftliche Kampf gegen Borniertheit und Engstirnigkeit. Sie zeigt sich vor allem in der „Provinz“, als „provinzielles Denken“, aber nicht nur dort. Diese Dummheit nahm er auch in den etablierten und herrschenden dogmatischen Religionen wahr. Gibt es eine Religion, eine Spiritualität, die nicht borniert, engstirnig und dumm ist? Das ist die Frage, die bleibt, über den großen Gedenktag am 12. Dezember…

8. Und darüber hinaus bleibt die Forderung Flauberts, des großartigen Meisters der Sprache, genau auf die Alltagssprache zu achten, die sich heute, etwa in den Nachrichten des Fernsehens, in ihrer Verfallsform ständig zeigt: Haben wir schon einmal gezählt, wie oft innerhalb weniger Stunden irgendein Politiker oder Wirtschaftsspezialist oder Kommentator die Worte „Maßnahme“, „durchführen“, „Betreuung“, „Wissen“ um…“ verwendet, grässliche Worte eines bürokratischen Denkens, das vorgibt „etwas zu tun“, de facto aber nur Ankündigungen behauptet! Diese und andere Wörter dürfen dem bekannten „Wörterbuch des Unmenschen“ zugeordnet werden. Der Niedergang der demokratischen Kultur in Deutschland (Rechtsextremismus, Neofaschismus offen und versteckt, immer aber unterschätzt, allgemein gefährlicher Egozentrismus in der Ablehnung der allgemeinen Impfpflicht) wird im Verfall der Sprache und des Sprechens sichtbar.

9. Wird die Sprache vom Schmutz der Phrasen, Floskeln und Gemeinplätze befreit, wird dann auch die Demokratie gerettet? Man sollte es probieren und auf die Wörter aus dem Wörterbuch des Unmenschen verzichten.

10. Um noch einmal zur Religion zurückzukehren: Wird die dogmatische Sprache von den uralten Formeln, befreit, die heute Leer-Formeln sind, könnte dann ein vernünftiger christlicher Glaube, ohne Klerikalismus und Kleriker-Herrschaft, noch eine Chance haben? Sicherlich! “Man“ kann das ja mal probieren und beginnen, die klerikale Kirchensprache zu entrümpeln. Um den umfangreichen mittelalterlichen theologischen Sprachschrott abzulagern, wird im Vatikan ein eigener großer Palast zur Verfügung gestellt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin