Die Pariser Commune – vor 150 Jahren, lebendig, dann ermordet.

Zwei Beiträge von Christian Modehn über “Die Pariser Commune und die katholische Kirche”

1. Die Pariser Commune 1871 als Experiment der Republik unter reaktionären Bedingungen.
Dieser Beitrag erschien auch in einer – von der Redaktion veränderten Form – in der Zeitschrift PUBLIK – FORUM (12.3.2021).
Dieser Artikel von Christian Modehn hier ist besonders wichtig, weil er auch auf die Beziehungen der Communarden zur katholischen Kirche hinweist. Dieser Zusammenhang wurde bislang eher selten dokumentiert.

2. Ein anderer Beitrag bietet ergänzende Details, um zu weiteren Studien zu ermuntern. CM.

1.
Die Feindschaft der „zwei Frankreich“
Über die Pariser Commune

Von Christian Modehn
Die Pariser Commune konnte nur 72 Tage überleben, von Mitte März bis Ende Mai 1871: Die Communarden hatten eigenmächtig ein demokratisches und soziales Gemeinwesen aufgebaut. Es war ein Aufstand der Handwerker, Arbeiter und Intellektuellen, unerträglich für die reaktionären, monarchistischen Führer der jungen „Dritten Republik“. Ihre „heilige Ordnung“ wollen sie mit einem Bürgerkrieg retten, darin unterstützt vom katholischen Klerus und den „anständigen Bürgern“. Die Communarden waren zwar „linke“ Demokraten und antiklerikal, aber doch auch getaufte Katholiken. Sie wurden von ihren eigenen „Glaubensgenossen“ zu tausenden abgeschlachtet. Ein Trauma, das bis heute wirkt.
Paris – „die“ Metropole Europas voller Glanz und Gloria, der Stolz Kaiser Napoléons des Dritten. Er lässt Baron Haussmann riesige Boulevards mit „Sichtachsen“ errichten, sie sollen bei Aufständen dem Militär den schnellen Zugriff erlauben. Arme, Handwerker und Arbeite sind für das Regime eine Bedrohung.

Im Juli 1870 erklärt Napoleon III., im Wahn des Nationalismus befangen, Preußen den Krieg. Das Gemetzel endet für Frankreich schnell mit einer Niederlage, der Kaiser kapituliert. Die „Dritte Republik“ startet offiziell am 13.2.1871 mit der Wahl zur Nationalversammlung. Die Monarchisten und die Getreuen von Papst Pius IX. erreichen die absolute Mehrheit. Wenige Tage später wird der „Vorfrieden“ mit Bismarck unterzeichnet.
Die Bürger von Paris erleben, dass ihre Stadt immer noch von deutschen Truppen umzingelt ist. Das stärkt ihre Entschlossenheit, aus eigener Kraft eine selbstverwaltete republikanische Stadt aufzubauen. Ein unerträglicher Gedanke für Regierungschef Adolphe Thiers. Nach der Niederlage gegen Preußen will nun er endlich einen Sieg vorweisen, im Kampf gegen die eigenen Landsleute in Paris. Aber die verfügen über eine Nationalgarde mit 300.000 Mann, und sie besitzen noch die Waffen, bestimmt für den Krieg gegen die Deutschen.
Am 17. März 1871 wollen Regierungstruppen Paris entwaffnen. Aber die Soldaten verweigern den Befehl, auf die Bürger zu schießen. Empört über den Bürgerkrieg nehmen die Pariser zwei Generäle fest, sie werden erschossen. Nun kann die Regierung, das „Morden und Töten der Commune“ groß herauszustellen. Bis zum 21.Mai 1871 aber wird „von Seiten der Communarden kaum Blut vergossen“ (Johannes Willms).

Die Regierung mit ihren Truppen flieht am 18. März 1871 nach Versailles. Und sofort beginnen die Pariser Bürger mit dem Aufbau ihrer „direkten Demokratie“. In ihrer demokratisch gewählten Selbstverwaltung sind 92 Abgeordnete unterschiedlicher politischer Optionen vertreten, vor allem Sozialisten verschiedener Orientierung, auch liberale Bürgerliche sowie einige Anarchisten sind dabei. Sie alle wollen eine Republik, die den Namen verdient: Die Stadtverwaltung fördert die Gewerkschaften; das öffentliche, kostenfreie Schulwesen – auch für Mädchen – wird ausgebaut; Künstler schaffen ihre eigenen Vereine, sie unterstützen die Commune. Frauen haben das Recht, als politische Akteure selbständig zu handeln. Sie gehören zu den Mutigsten, wie die Lehrerin Louise Michel in ihren Erinnerungen betont.
Die Commune lebt von der Begeisterung der Bürger in den neu gegründeten Debattierclubs. Man trifft sich in mehr als 20 (von insgesamt 67) katholischen Kirchen: Dort wird eine „Umwidmung“ durchgesetzt: „Gotteshäuser sind auch Menschenhäuser“. Und dafür gibt es unterschiedliche Modelle: Manche dieser „Club-Kirchen“ sind wie üblich tagsüber für Gottesdienste geöffnet, am Abend treffen sich die „Clubs“. Dann wird der Altar beiseite geräumt und nach der Debatte mit Brot, Wein und Tabak mit Hunderten gefeiert. In anderen Kirchen wird der Klerus vertrieben, Messgewänder für ein frivoles Spektakel gebraucht. Der antiklerikale Geist ist seit der Französischen Revolution (1789) unter „einfachen Leuten“ noch immer bestimmend. Die Commune ist überzeugt: Der Katholizismus, „die Religion der allermeisten Franzosen“, darf nicht länger die staatlich privilegierte Konfession bleiben. Die Trennung von Kirche und Staat ist das erste Dekret der Commune: Der Klerus soll nicht länger vom Staat gut bezahlt werden. Und die Ordensleute dürfen nicht länger das Schulwesen bestimmen und den Lehrstoff nach kirchlicher Weisung gestalten. Trotzdem: In den meisten Kirchen geht das übliche Leben weiter.

Es gibt jedoch nur sehr wenige Priester, die auch nur die geringsten Sympathien für die Commune haben: Abbé Jean-Hippolythe Michon betont: „Die Arbeiter haben die Sehnsucht, dass die Leiden des Proletariates gelindert werden. Die Arbeiterklasse will endlich ihre Emanzipation, es geht um das schreckliche Problem des nicht gelösten Ausgleichs von Kapital und Arbeit“. Der Kirchenhistoriker Pierre Pierrard fasst zusammen: „Im Ganzen war die Kirche 1871 contra-revolutionär aus Überzeugung. Die Commune deutete sie als einen Aufstand, der von der Hölle und dem Teufel angestoßen wurde“. Zahllose Pamphlete und Artikel dokumentieren den abgründigen Hass des Klerus auf die Demokraten. Abbé Vidieu schreibt: „Die Leute der Commune sind undurchsichtige Schurken, ehrgeizige Proleten, sie beleidigen Gott, zerstören die Kirche“. Die Priester und ihre Bischöfe sind fixiert auf Weisungen Papst Pius IX.: Er hat 1864 in seiner Erklärung, dem „Syllabus“, Menschenrechte, Republik und Religionsfreiheit heftigst verurteilt. Weil er sich seit 1870 unfehlbar nennt, muss er wohl recht haben…

Am 21. Mai beginnt die katholische monarchistische Regierung, ihren finalen Rachefeldzug. Es ist die „Blutwoche“, ein unvorstellbares Inferno mitten im „christlichen“ Europa. Wahllos erschießen die Regierungstruppen Communarden auf offener Straße. Die völlig enthemmten Soldaten wurden gerade aus Kriegsgefangenen-Lagern Preußens entlassen: Bismarck hatte sie „freigegeben“, damit viele Sozialisten vernichtet werden. In Pariser Kasernen finden Massen-Hinrichtungen statt: „Bald floss von der Kaserne Lobau das Blut in zwei Bächen Richtung Seine, deren Wasser lange rot bliebt“, schreibt Louise Michel.

Und die Communarden? Sie kämpfen verzweifelt auf den Barrikaden. Und: Sie töten den Pariser Erzbischof Georges Darboy. Ihn hatten die Bürger festgenommen, als Geisel sollte er gegen einen ihrer gefangenen politischen Führer, Auguste Blanqui, ausgetauscht werden. Aber der Regierungschef lehnt ab: „Ein toter Erzbischof ist für uns propagandistisch wertvoller als ein lebender“. Erzbischof Darboy wird mit 6 anderen Klerikern erschossen.
Der verzweifelte Kampf der Commune auf den Barrikaden endet auf dem Friedhof Père Lachaise. Bis zum Juni geht diese „Orgie des Klassenhasses“ (Johannes Willms) weiter: Erst der Gestank der Leichenberge sorgt für ein Ende. Es wurden, so schätzen Historikern übereinstimmend, etwa 30.000 Communarden hingerichtet. Und die Communarden? Sie haben 1.300 Soldaten im Kampf erschossen.

Die katholische Kirche hat keinen Versuch gemacht, Frieden zu stiften. Anders die damals bedeutenden Freimaurer: In Paris unterstützen sie die Commune, während in Versailles Logenbrüder“ der Regierung nahestehen. Trotzdem suchen die Logenbrüder das Gespräch mit der Regierung und erreichten einen Waffenstillstand, um Menschen im Ort Neuilly zu evakuieren.
Die Kirche unterstützte auch nach der Auslöschung der Commune die antirepublikanischen und zunehmend auch antisemitischen Kräfte. Die reationäre Regierung setzte sich für den Bau der Basilika Sacré-Coeur auf dem Montmartre ein, als „Sühne für die Verbrechen der Commune“. Vom Massenmord an den Pariser Bürgern sprach niemand. Später wird sogar eine Kirche „Unsere liebe Frau der Geiseln“ gebaut.
In der marxistischen Geschichtsphilosophie wird die Commune als eine wichtige Etappe der „Revolution“ gewürdigt. Aber mit dem Bolschewismus hat sie nichts gemeinsam.
Die katholische Kirche hat die Commune nur als Unglück gedeutet. 1905 setzten die Republikaner die Trennung von Kirche und Staat durch. Die Kirche versucht zwar die Arbeiter zu gewinnen, richtet Vereine ein oder fördert das caritative Engagement der Laien, etwa in Suppenküchen. Die tiefe Kluft zu den Linken und Republikanern wird so nicht überwunden. Einige katholische Intellektuelle verteidigten die Republik, und sie wurden von 1930 -1970 öffentlich beachtet, aber sie haben kaum Nachfolger gefunden.
Erst nach 1945 begann die katholische Kirche, sich langsam mit der Republik zu versöhnen. Aber Demokratie, Aufklärung, Selbstbestimmung sind der Kirche immer noch suspekt. Heute nennen sich nur noch 35 % der Franzosen katholisch. Vor 75 Jahren z.B. waren es noch 90 Prozent.

Zum Thema “Pariser Commune und Katholische Kirche”: Pierre Pierrard, L église de France face aux crises révolutionnaires (1789 – 1871), Le Chalet, 1974. ders.,”l Eglise et la Révolution”, ed. Nouvelle Cité, 1988, dort die Seiten 213 – 246.

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin
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2.
Die Pariser Commune – damals und heute: Hinweise, um weiter zu studieren.Von Christian Modehn

1.
Die Pariser Commune ist kein „Ereignis unter vielen“. Sie ist ein Einschnitt in der politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Geschichte nicht nur Frankreichs. Dieser kurze Aufstand der Republikaner gegen die Herrschaft der Reaktionäre der 3. Republik wird nie vergessen werden: Denn es waren die Herrschenden, Bürger, die sich brav nannten und katholisch waren und die rebellischen, „linken“ republikanischen Mitbürgern in Paris abschlachteten. Dies ist ein Trauma, das bis heute Frankreich ideologisch – politisch spaltet.
Und die katholische Kirche? Sie stand auf Seiten der Schlächter. Die Katholiken fühlten sich ideologisch – theologisch unterstützt von Papst Pius IX., der ganz offiziell von seinem Thron herab Menschenrechte als Verirrung und Sünde titulierte. Und dieser Stellvertreter Jesu Christi wurde auch noch im Jahr 2000 (!) „selig gesprochen“. Eine Tat Papst Johannes Paul II.

2.Zur allgemeinen politischen Situation:
Es gab Versuche, auch in anderen Städten „Communen“ der Selbstverwaltung der Bürger aufzubauen. Etwa in Lyon, vom 22.3 bis 25. 3. 1871, danach auch in Marseille, Narbonne, Saint Etienne und Toulouse. Sogar in Limoges gab es den Versuch, eine Commune zu errichten.
In Paris war die Gründung einer Commune deswegen sehr wichtig, weil die Bürger endlich eine eigene, selbstgewählte Stadtverwaltung haben wollten. Diese wurde ihnen vom zentralistischen Regime verwehrt.

3. Zur politischen Situation nach der blutigen Zerschlagung der Pariser Commune:
Bis 1876 wurden noch Mitglieder der Pariser Commune von der 1871 von der mordenden Regierung verurteilt. Erst 1880 wurde eine Amnestie für die Verurteilten und Verbannten ausgesprochen. Auch die bekannte Aktivistin und Autorin Louise Michel kehrte aus der Verbannung zurück und wurde von Georges Benjamin Clemenceau (zur Zeit der Commune war er Bürgermeister des 18. Pariser Arrondissements) empfangen.
Bei den Wahlen 1876 erlangten dann die Republikaner die Mehrheit in der Assemblée Nationale. Danach gab es Entscheidungen zugunsten der Republik und entsprechend zu Ungunsten der katholischen Kirche.
1880 wurden die ersten Gedenkfeiern an die Pariser Commune gestaltet.
Und am 14. Juli 1880 wurde wieder der – unter der reaktionären Regierung verbotene – Nationalfeiertag gefeiert, in Erinnerung an den Beginn der Revolution 1789.
Mit der Niederschlagung der Commune wurden die Arbeiter in Paris – aufgrund der radikalen Umgestaltungen der Wohnverhältnisse durch Haussmann – in die Vororte von Paris vertrieben (Banlieue). (siehe: Johannes Willms, „Paris, Hauptstadt Europas“, München, 1988, S. 451). Diese Vertreibung der Arbeiter, der einfachen Leute, der „Ausländer“, aus Paris, hat wohl bisher wohl kein Ende gefunden, die Gentrifizierung ist total: Paris gehört den Reichen.

4. Die „Belle Epoque“: Oder wie die (reichen) Bürger die Commune vergessen:
Die Ausführungen von Johannes Willms sind sehr aufschlussreich: Nach der Zerschlagung der Pariser Commune ist Paris nach außen hin wieder die glanzvolle Metropole, die Welt der Café – Concerts und der Music-Halls; das Paris, in dem „nicht immer (!) schamlos gesungen, getanzt und geschauspielert wurde“ (S.452). Paris, als „das Paradies der Libertinage“ (ebd.). An das Gemetzel und die Ströme von Blut auf den Straßen im Mai 1871 dachten die oberen Schichten und die vielen neugierigen Touristen, vor allem aus England, nicht mehr. Drei Weltausstellungen fanden in der so genannten „Belle Epoque“ in Pais statt. Walter Benjamin sprach in dem Zusammenhang von den „Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware“ (Passagen-Werk). Maupassants Roman „Bel ami“ ist das erhellende literarische Zeugnis für dieses Paris. „Es wurde von einer geldgierigen und machthungrigen Gesellschaft beherrscht“ (Johannes Willms, S. 457). Wenige Jahre nach dem Versuch, eine demokratische Commune zu errichten, herrschte also in Paris „das trügerische Versprechen käuflicher Freiheit von den alltäglichen Zwängen der Moderne“ (S 457)

5. Zur Situation der Katholiken bzw. der katholischen Kirche vor der Commune:
Der Katholizismus war seit dem Konkordat von 1801 die anerkannte und „wichtigste Religion der Franzosen“, der tatsächlich weit mehr als 90 Prozent der Einwohner durch Taufe angehörten. Unter Napoléon III. gab es zwar Spannungen mit der französischen Kirche wegen dessen sehr unterschiedlichen Eintretens für den Kirchenstaat. Das berühmte Gesetz „Loi Falloux“ brachte 1850 der Kirche aber viel finanzielle Unterstützung für die katholischen Schulen. Insgesamt war der offizielle, sich nach außen so furchtbar gläubig zeigende Katholizismus unter Napoléon III. sehr bürgerlich, sehr monarchistisch und sehr antirepublikanisch. Die Kirche blühte auf, die Klöster füllten sich mit neuen Mitgliedern, die Marienverehrung war kaum zu bremsen, zumal Maria in Lourdes (im Jahr 1858) angeblich „höchstpersönlich“ dem Mädchen Bernadette Soubirous als Wunder erschienen war.
Auch schon in den Jahren vor der Pariser Commune gab es keinen Raum für ein freies theologisches Denken. Das wird am Schicksal etwa der Theologe Lamennais, Lacordaire oder des Schriftstellers Montalambert deutlich. Ihr Bemühen, Katholizismus und individuelle Freiheit, Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit endlichzu verbinden, wurde von Papst Pius IX. verboten. Katholizismus und geistige Tyrannei – dieser Gesamteindruck herrschte im Volk, auch in Paris vor, bei einem republikanischen Volk, das nicht länger an Wunder und päpstliche Unfehlbarkeit (1870) glauben wollte.

6. Der Gebrauch der Pariser Kirchengebäude während der Commune:
Es muss genau beachtet werden, in welcher Vielfalt die in sich politisch auch vielfältige Pariser Commune mit der Nutzung der Kirchengebäude umging. So hatte die Commune den Beschluss gefasst, die berühmte „Sühnekapelle zum ehrenden Gedenken an König Ludwig XVI. und Marie Antoinette“ (im 8. Arrondissement) abzureißen. Diese Kapelle sollte vor Gott Abbitte leisten für die Untaten des Volkes, also die Tötung des Königspaares während der Revolution. Aber die „Sühnekapelle“ rührten die Communarden nicht an. Nur ein Kirchengebäude wurde zerstört: Notre Dame de Bercy. Die Kirche St. Pierre de Montmarte wurde geschlossen und im großen Kirchenschiff wurde ein Schneiderwerkstatt eingerichtet, zur Produktion von Uniformen der Pariser Nationalgarde. Sehr beliebt war die Kirche St. Ambroise im 11. Arrondissement, dort gaben die Debattierclubs sogar eine eigene Zeitung heraus.
Diese Clubs in den Kirchengebäuden spielten für die Commune eine wichtige Rolle: Es ging um die „Befreiung des Wortes“ auch bei denen, die bisher ihre Meinung eher selten frei äußern konnten.

7. Die Entwicklung des katholischen Glaubens nach der Commune:
Der Glaube, nach außen hin jedenfalls, blühte auf. Die royalistischen und reaktionäre Politiker unternahmen als fromme Katholiken Wallfahrten nach Chartres. Die riesige Kirche Sacre Coeur de Montmartre wurde von höchster politischer Seite gefördert: Dort, wo die Rebellion der Pariser Commune begann, sollte eine monströs wirkende Kirche, hoch oben auf Paris herabblickend, Sühne leisten für die Verbrechen der Communarden. Diese Verbrechen waren zwar auch schlimm, aber als Widerstand gegen den Aggressor, zahlenmäßig betrachtet, her unbedeutend gegenüber den viel umfassenderen Verbrechen und Morden der katholischen Regierung.
Als die Republikaner die Mehrheit im Parlament hatten, wurde die Macht und der Einfluss der katholischen Kirche – wie zur berechtigen Strafe, möchte man sagen – immer mehr eingeschränkt, bis hin zum Gesetz zur Trennung von Kirchen und Staat im Jahr 1905. Dieses Gesetz der „laicité“ des Staates bestimmt bis heute die Debatten der Politik. Der Antisemitismus gehörte zu der Zeit förmlich zum Glaubensbekenntnis der Katholiken, in der schrecklichen Dreyfus – Affäre war die katholische Presse (aus dem Verlagshaus der französischen Augustiner „La Bonne Presse“, sic) führend in der unverschämten Polemik. Dann war in den zwanziger Jahren die ebenfalls antisemitische katholisch sich gebende „Action Francaise“ einflussreich; Marschall Pétain wurde als guter Katholik verehrt, später gründete dann Erzbischof Marcel Lefèbvre seine traditionalistische Priesterbruderschaft, tatsächlich eine eigene Kirche am Rande des römischen Katholizismus. Sie ist in Frankreich bis heute sehr bedeutend und hat Neugründungen, die so tun, als wären sie auf der Linie des Papstes, wie das „Institut du Bon Pasteur“, de facto aber sind diese Kreise (auch das Kloster le Barroux bei Avignon) so reaktionär wie schon seit 1920. Aber mit diesen reaktionären Kreisen wollte sich schon Papst Benedikt XVI. unbedingt versöhnen, d.h. diese Leute in der römischen Kirche integrieren, auch von Papst Franziskus werden ähnliche Ambitionen berichtet. Es geht dabei um eins: Die römische Kirche braucht die vielen jungen Priester, die tatsächlich in diesen eher fundamentalistischen Kreisen ihre „göttliche Berufung“ finden, wie man so sagt.

8. Über einen „linken Katholizismus“ in Frankreich
Eine „ferne“ Wirkung des Geistes der Pariser Commune ist bei den Arbeiterpriestern lebendig. Es gab bekanntlich ab ca. 1950 Arbeiterpriester in den Fabriken, die dann Mitglieder der Gewerkschaft CGT (und bewusst nicht der christlichen Gewerkschaft CFTC) wurden, diese CGT war kommunistisch orientiert. Sie wurde 1895 von Aktivisten gegründet, die dem Geist der Commune nahestanden, sie wurden „Liberatier“ genannt (vgl. den Aufsatz von Alain Dalotel, Die Pariser Commune 1891: https://transversal.at/transversal/0805/dalotel/de)

Nach einem anfänglichen Misstrauen der CGT gegenüber den Priestern in der Fabrik entwickelte sich bald ein Vertrauensverhältnis. „Die Arbeiterpriester mussten, um militante Gewerkschaftler zu sein, Partei ergreifen, sie mussten die übliche Neutralität des Priesteramtes verlassen, es bildete sich – etwa bei dem Arbeiterpriester Henri Barreau, eine vitale Synthese von christlichem Bewusstsein und Klassenkampf.“
( zit in: https://books.openedition.org/pur/18915?lang=de, ein Artikel von Nathalie Vier-Depaule).
Ein Arbeiterpriester wird in dem Aufsatz zitiert, er lässt förmlich den Geist der Commune noch einmal ahnen:“ Für uns Priester geht es nicht darum zu evangelisieren im Sinne des Indoktrinierens. Sondern es geht um die aktive Zusammenarbeit mit den Kollegen, die sich um die ihre Befreiung bemühen… Durch unsere Gegenwart in der Fabrik wie in der Gewerkschaft CGT heben wir eine schreckliche Last auf, die des Schweigens, des Unverständnisses und der Feindschaft der Kirche gegenüber den Taten der Arbeiter.“ 1954 hat dann Papst Pius XII. in seiner panischen Angst vor den Kommunisten das Experiment der Arbeiterpriester verboten. Das war eine Katastrophe für den Versuch, einen pluralen Katholizismus zu leben, der auch solidarisch verbunden mit den Arbeitern ist. Alle Versuche, „die“ Arbeiter wieder in eine Nähe zur Kirche zu bringen, sind seitdem gescheitert. Die Kirche ist die Kirche der biederen, wohlhabenden mindestens der „honnetes gens“ bis heute: Wer noch Priester wird, kommt in Frankreich aus diesen Kreisen (aus Versailles oder den wohlhabenden Arrondissements von Paris oder aus Neuilly etc) .

9.
Wirkungen der Pariser Commune in der Theologie des Katholizismus heute:
In der frühen Geschichte der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, also Mitte der neunzehnhundertsiebziger Jahre, wurde diskutiert: Mit welchen politischen Aktionen können sich die Menschen und die christlichen Gemeinden aus der Dependenz, also der Abhängigkeit vom Imperialismus und den USA, befreien. Die einen gaben die „klassische“ Antwort: Dies kann mit Hilfe der sozialistischen und kommunistischen Parteien geschehen. Andere bezogen sich auf die Selbstverwaltung und die Arbeiterräte, und sie sahen darin eine Inspiration in der Selbstverwaltung der Pariser Commune. Der Historiker Agustín d Acunto (Buenos Aires, Argentinien) berichtet im Jahr 2012 in der Zeitschrift „Virajes§ über die entsprechenden Forschungen von Miguel Mazzeo zum Thema: (http://vip.ucaldas.edu.co/virajes/downloads/Virajes14(2)_4.pdf)
Dies ist eine der wenigen Studien über eine Wirkungsgeschichte der Pariser Commune in katholischer Theologie und Praxis.
Das bedeutet: Die Pariser Commune hat wegen der maßlosen Hetze der katholischen Konservativen, der Anti-Republikaner, einen ganz üblen Ruf in der Kirche behalten. Manchmal mag der Geist der Commune noch aufgeflackert sein bei einzelnen Theologen, wie dem Dominikanerpater Jean Cardonnel und seinen Predigten bzw. Vorträgen im Pariser Mai 68.

10.
Die Protestanten und die Juden waren zur Zeit der Pariser Commune zahlenmäßig sehr unbedeutend. Und sie waren eher aufseiten der Republikaner, weil sie wussten: “Erst die Französische Revolution hat uns Protestanten und Juden in Frankreich die Möglichkeit geboten, frei unseren Glauben zu leben”. Sie waren also schon aufgrund früherer Verfolgung durch die Monarchie selbstverständlich republikanisch…

11.
Die französische Nationalversammlung hat am 29. November 2016 die Pariser Ciommunarden, die Opfer der staatlichen Repression, offiziell rehabilitiert. Die Initiative dafür ging von den regierenden Sozialisten aus mit der offenen Verurteilung durch die Parteien der Rechten. Der Präsident der Kommission für kulturelle Angelegenheiten, der sozialistische Abgeordnete Patrick Bloche (Paris), nannte diesen feierlichen Akt des Staates eine Pflicht der Geschichte und der Gerechtigkeit!

12.
Der „Verein der Freunde und Freundinnen der Pariser Commune“ (Adresse siehe unten) hat im Jahr 2020 dagegen protestiert, dass der berühmten Basilika „Sacre Coeur de Montmartre“ der Ehrentitel „historisches Monument“ verliehen wird. „Diese Kirche ist wie ein Symbol der damaligen sogenannten „moralischen Ordnung“ (der mordenden Regierung in Versailles) und diese Kirche ist auch ein Symbol par excellence für den Geist der „Anti-Commune“. Diese Auszeichnung ist nicht würdig für die heutige Republik und sie passt auch nicht zu einem jenem Teil der christlichen Welt, der sich heute in den Werten der Pariser Commune wiedererkennt“. (Bekanntlich war die Kirche Sacre Coeur de Montmartre als Sühnekirche für die Verbrechen der Communarden gedacht, von den Verbrechen der Regierung sprach niemand).

13.
Es wurde auch eine weitere Kirche in Paris zur Verehrung derer errichtet, die von den Communarden als Geiseln festgehalten, dann aber erschossen wurden, weil sich Staatschef Thiers weigerte, die Geiseln gegen einen der großen Inspiratoren der Commune, Louis – Auguste Blanqui, auszutauschen:
Über diese katholische Gemeinde „Notre Dame der Geiseln“ in Paris 20. LINK

14.
Es gibt in Paris einen sehr aktiven „Verein der Freunde der Pariser Commune“ mit vielen Informationen und Publikationen: LINK
15.
Zum weiteren Studium empfehle ich den Beitrag: “Aux origines de la commune”, 2018, von Marc Lagana, LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Sarkozy, Ex-Präsident und Ehrendomherr im Lateran, Freund Benedikt XVI., ist verurteilt.

“Das Wort verzichten gehört selten zu meinem Vokabularr”, so Nicolas Sarkozy in seinem Interview-Buch “La République, les religions, l espérance” Ed. du Cerf, Paris, 2004, S. 78)

Von Christian Modehn. Dieser Beitrag erschien Anfang 2008. Er wird nun, anläßlich der Gefängnisstrafe für den Ex – Präsidenten Nicolas Sarkozy, am 1.3.2021 ausgesprochen, noch einmal veröffentlicht. Und bezogen auf Sarkozys Wort: Er habe, so wörtlich, “eine geringe Bereitschaft zu verzichten”, also offenbar auch, was die Annahme von Millionen Euro Geschenken von al Gaddafi und anderen betrifft.
Dieses Zitat könnte das Motto Sarkozys sein. “Das Wort verzichten gehört selten zu meinem Vokabular”.
Das Zitat stammt aus dem oben genannten Buch, an dem u.a. der Dominikaner Pater PHilippe Verdin mitwirkte.Er ist ein alter Freund Sarkozys, der Dominikaner war also DER Stichwortgeber des Buches. Heute gehört Pater Verdin den sehr konservativen Kreisen im französischen Katholizismus an, kürzlich hat er ein Buch über Buch über Papst Pius V. verfasst, den Förderer der lateinischen Messe

Der Beitrag weist auf den merkwürdigen Umstand hin, dass ein französischer Staatspräsident (als Laie im katholischen Kirchenrecht) Ehrendomherr von St. Johannes im Lateran (Rom) werden kann…Die sozialistischen Staatspräsidenten (wie Mitterrand, Hollande) haben es abgelehnt, nun auch noch “Ehrendomherr” zu werden…

Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy gilt jetzt als der prominenteste Monsieur Bling-Bling, das passt zu seinem Lebensstil: Sein Gehalt hat er bereits saftig erhöht, offenbar, um den Einladungen auf die Privatyachten des Milliardärs Vincent Bollore folgen zu können. Nun darf sich der Präsident auch mit einem ernsthaften Ehrentitel schmücken: Er wurde in einem feierlichen Gottesdienst zum Ehrendomherrn der Lateranbasilika in Rom ernannt. Auf eine Messfeier aus diesem Anlass verzichtete der Papst diplomatischerweise, um den von Benedikt XVI. geschätzten katholischen Staatspräsidenten nicht in Verlegenheit zu bringen: Denn der hätte als zweifach geschiedener Gatte nicht zur Kommunion gehen dürfen, das wäre rein optisch für ihn blamabel gewesen.

Dass französische Staatschefs zu Ehrenprälaten der Lateranbasilika ernannt werden, ist eine alte Tradition, sie geht auf König Heinrich IV. zurück. Aber nicht diese historische Merkwürdigkeit, sondern der merkwürdige Vortrag Sarkozys in Rom erschüttert nicht nur die französische Öffentlichkeit. Denn Nicolas Sarkozy hat heftige Debatten über die Rolle der Religion provoziert. Als französischer Staatspräsident ist er eigentlich zur religiösen Neutralität verpflichtet. In Rom aber hat er seine privaten Glaubensüberzeugungen wie eine offizielle Staatsdoktrin verkündet: Frankreich habe vor allem »christliche Wurzeln«, schärfte er ein.

Tatsache aber ist, dass die Republik ein Ergebnis der – gar nicht frommen – Philosophie der Aufklärung ist. Im Kreise der versammelten Kurienkardinäle fühlte sich Monsieur Bling-Bling so wohl, dass er sich zu der Äußerung hinreißen ließ: »In der Wertevermittlung und im Erlernen des Unterschieds zwischen Gut und Böse kann der Lehrer (staatlicher Schulen) niemals den Pfarrer ersetzen. Denn dem Lehrer fehlt immer die Aufopferung des eigenen Lebens und das Charisma eines Engagements, das von der Hoffnung getragen ist«.

Aufopferung und Engagement haben nur Pfarrer, nicht die »weltlichen Lehrer«? Damit hat der Staatspräsident seinerseits eine Wertehierarchie geschaffen: Zuerst kommen die Glaubenden, dann die Nichtglaubenden. Es ist ja kein Geheimnis, dass die Lehrer an staatlichen Schulen eher zu den religionskritischen Kreisen gehören.

In weiten Kreisen der französischen Gesellschaft wurden Sarkozys Äußerungen wie eine Zerstörung der mühsam erkämpften Gleichheit aller weltanschaulichen Überzeugungen wahrgenommen. Es ist, als wollte Sarkozy die laicité, die typisch französische Trennung des Religiösen vom Politischen, verändern, sagte er doch in Rom: »Ein Mensch, der glaubt, ist auch ein Mensch, der hofft. Und ohne diese hoffenden Menschen kann die Republik nicht auskommen.« Sarkozys Berater und Redenschreiber Henri Guaino ließ ergänzend verlauten: »Wer kann leugnen, dass die Immanenz, also die bloße Weltlichkeit, die Mutter aller totalitären Systeme ist?«

Die Kardinäle und der Papst waren über solche Worte glücklich: Père Guy Gilbert, bekannter »Rockerpfarrer aus Paris«, gehörte zur Delegation Sarkozys in Rom. Er berichtete in seiner drastischen Art: »Ich saß neben den Kardinälen, als Sarkozy seine Glaubenswahrheiten verbreitete. Dabei erlebten die Kardinäle eine Art mystischen Orgasmus.«

In jedem Fall freut sich der Papst Benedikt XVI., einen Mitstreiter für ein christliches Europa gefunden zu haben: Die Gläubigen (und natürlich die sie führenden Hirten) werden politisch wieder »gebraucht«. Gerade in den sozialen Brennpunkten der Vorstädte von Paris, Lyon oder Marseille möchte der Präsident die Geistlichen und ihre Gemeinden als Ordnungsfaktoren etablieren, sozusagen als Hilfstruppen der Polizei. Auch den Imams möchte Sarkozy diese besänftigende Rolle zuweisen. Darum bemüht er sich um die Stärkung des Dachverbandes aller islamischen Gruppen.

Aus den Kreisen seiner Minister verlautet, dass das bestehende Recht zugunsten der Kirchen und Religionsgemeinschaften nachgebessert werden soll, kirchliche Radio- und Fernsehsender sollen zum Beispiel finanziell unterstützt werden. Aber ist der Preis nicht zu hoch? Bischof Claude Dagens von Angouleme meint: »Die Kirchen dürfen nicht als politische Hilfstruppen betrachtet und nur deswegen geschätzt werden, weil sie sozial nützlich sind und etwa die Lücken füllen, die der Staat hinterlassen hat.« Vor allem mit der Ausländerpolitik ihres Ehrenprälaten der Lateranbasilika sind die französischen Bischöfe ganz und gar nicht einverstanden. Ausländer ohne gültige Ausweispapiere werden wie in Gefängnissen gehalten, Familien zerrissen, Hoffnungen zerstört. Auch darum nehmen die »praktizierenden Katholiken« Abstand von ihrem Präsidenten: Nur noch 60 Prozent sind jetzt mit ihm zufrieden, vor einem Jahr waren es noch 83 Prozent! Und die säkularen Kreise sind empört: Sie wollen an der bisherigen Form der Trennung von Kirche und Staat unter allen Umständen festhalten.

copyright: christian modehn

Dieser Beitrag erschien in der Zeitschrift PUBLIK FORUM am 7.3. 2008.

Moderner Katholizismus wird verboten: Das progressive katholische Zentrum St. Merry in Paris muss schließen.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 28.2.2021.
Für alle, die Französisch lesen können, füge ich unten, am Ende meines Beitrags, einen Kommentar der Wochenzeitung Témoignage Chrétien, Paris, vom 4.3.2021 an.

Inzwischen (13.3.2021) hat die Gemeinde, die vom Erzbischof von Paris verboten wurde, eine eigene website gestaltet, sehr interessant…und schön gestaltet:
www.saintmerry-hors-les-murs.com

1.
Eigentlich ist es kein Ereignis von internationaler Bedeutung, wenn eine katholische Kirchengemeinde aufgibt und ihre Aktivitäten einstellt. Hier aber ist es ein Ereignis! Denn es geht nicht um irgendeine, sondern um eine weltweit bekannte, sagen wir „berühmte“ katholische Gemeinde in Paris: Sie hat den eher klassischen Namen „Pastorales Zentrum“. Und dieses hatte in der schönen, spätgotischen Kirche St. Merry (Organist war einst Camille Saint Saens) sein Zuhause. Die Kirche befindet sich in direkter Nachbarschaft zum Kultur-Zentrum Beaubourg/Pompidou. Was für eine Chance für einen offenen Dialog Kirche und Kultur…Darum ist der offizielle Titel auch „Centre Pastoral Halles-Beaubourg“.
2.
Und diese Gemeinde hätte gern weiter gelebt in aller bekannten Vitalität, aber sie wurde vom Pariser Erzbischof Michel Aupetit aufgelöst. Am 28.2. 2021 fand wie üblich um 11.15 Uhr der letzte Gottesdienst statt. Gegen die Entscheidungen von Herrschern, die sich Oberhirten kann „das Volk Gottes“ katholischer Art nichts machen.
3.
Ein ungewöhnlicher Vorgang, eine Gemeinde zu verbieten. Denn eigentlich sollten doch Bischöfe froh sein, wenn überhaupt noch Leben in katholischen Gemeinden ist. Und im „Pastoralen Zentrum St. Merry“ war Leben, viel Leben: Denn diese katholische Gemeinde hatte von Kardinal Marty einst, 1974, ganz offiziell das Privileg erhalten: Priester und Laien sind dort gemeinsam verantwortlich für alles, was in der Gemeinde geschieht. Laien, sonst immer nur als beratende Teilnehmer in kirchlichen Gremien vorhanden, konnten also hier mitentscheiden, über die Form der Gottesdienstgestaltungen, der sozialen und kulturellen Aktivitäten. Selbstverständlich waren auch Homosexuelle und Lesben als verantwortliche Mitarbeiter willkommen, was keineswegs üblich war in katholischen Gemeinden. Kunstausstellungen fanden in der Kirche St. Merry statt, Flüchtlinge fanden Unterkunft, Obdachlosen wurden Mahlzeiten angeboten, die „Restaurants du coeur“ wurden hier inszeniert; „Straßenzeitungen“ der Obdachlosen begründet, Konzerte (gratis!) am Samstagabend veranstaltet, an jedem Nachmittag wurde eine geräumige Seitenkapelle zu einer Art Café umgestaltet, offen für alle. Viele Christen aus der weiten Umgebung sahen St. Merry als ihre spirituelle Heimat an.
4.
Und das wird nun beendet.So will es der Erzbischof. Die französische Presse (Liberation, Le Monde, La Croix, Réforme, Témoignage Chrétien usw.) hat über dieses Durchgreifen berichtet. Aber die Gründe dafür werden nicht so recht klar und deutlich: Es soll in letzter Zeit viel Streit gegeben haben zwischen den Priestern, die vom Erzbischof für das „Pastorale Zentrum“ ernannt wurden. Einige engagierte Laien, so ist der Presse zu entnehmen, hätten sich manchmal sehr heftig den Weisungen und Vorschlägen der Priester widersetzt. Der Erzbischof begründet die Schließung dieses hoch ambitionierten katholischen Zentrums mit, so wörtlich, boshaftem Verhalten der Laien, mit deren „Mangel an Liebe“, sogar vom „Willen zur Zerstörung“ spricht er sowie, man ahnt es, „von einem gewissen „Sektarismus“. So nennt ein Bischof heute Laien, die ihre eigene theologische Meinung haben.
5.
Einige tausend Unterschriften wurden zur Fortführung dieses katholischen Gemeindezentrums gesammelt, auch die protestantische Wochenzeitung REFORME in Paris berichtete und zitierte Pastoren, die voller Lob über diese Gemeinde sprechen. Pastor James Woody etwa, der lange Zeit in der explizit liberal-protestantischen Gemeinde „L Oratoire du Louvre“ in der Nachbarschaft arbeitete, er scheibt: „St. Merry war eine Art Avantgarde, eine Art Laboratorium auch in dem weiten Feld der Kultur und der Ideen. Wir liberal-theologische Protestanten teilen mit St. Merry dieselbe Überzeugung, nämlich dass das Christentum wichtiger ist als die Kirchen und dass man als Christ den geistigen Horizont maximal öffnen muss“.
Diese Öffnung will der Erzbischof offenbar nicht. St. Merry hat sich stets als Experiment verstanden, so wollte es auch Kardinal Marty, der Gründer. Und von partnerschaftlicher Zusammenarbeit von Laien und Priestern spricht doch auch Papst Franziskus ständig. Darauf weisen die empörten Gemeindemitglieder hin. Sie sind päpstlich, aber nicht erzbischöflich. Und die aktiven Gemeindemitglieder geben zu, dass einige wenige Laien allzu selbstbewusst auf ihrer Wahrheit wohl pochten. Aber die übergroße Mehrheit der Laien wollte doch und will doch immer noch das Experiment, „ihre Gemeinde“, fortführen.
6.
Die katholische Kirche in Paris steht nun in der Öffentlichkeit wiedermal ziemlich blamiert da: Ein autoritärer Erzbischof – das passt auch und wieder mal in die allgemeine Vorstellung von Kirche, zumal in Frankreich, die nicht nur von ständigen sexuellen Missbrauchs -„Fällen“ durch Priester erschüttert wird, sondern auch von groben Missständen in den charismatischen Gruppen und neuen geistlichen Gemeinschaften. Noch schlechter kann der Ruf der katholischen Kirche Frankreichs eigentlich im Augenblick gar nicht werden.
7.
Aber die Intelligenten unter den Katholiken wissen genau: Wenn streng konservative Gruppen, wie die Pro Life Kreise oder die Gegner der so genannten „Homo-Ehe“ oder ie Charismatiker mit ihrem missionarischen Singsang oder die mit Rom sympathisierenden Traditionalisten um erzbischöfliche Unterstützung bitten: Dann erhalten diese, auch finanzstarken, Kreise jegliche offizielle bischöfliche Hilfe.
Aber solch ein letztlich doch nur als Ausnahme existierendes, insofern marginales modernes katholische Gemeindezentrum „Halles Beaubourg“ darf nicht weiter bestehen. Das empfinden die wenigen noch verbliebenen linken und progressiven Katholiken als Skandal und auch jene, die sich vom Katholizismus längst verabschiedet haben und vielleicht bei den liberal-theologischen Protestanten Inspirationen erhalten. Jedenfalls hat ein prominenter Jesuit in Paris, Pater Francois Euvé, in der Tageszeitung „La Croix“ angedeutet: dass doch an anderer Stelle „St. Merry“ weitergehen sollte. Ob dies in der Jesuitenkirche St. Ignace im 6. Arrondissement möglich sein könnte, sagt er allerdings nicht. Eine allgemeine Vertröstung also.

PS.1.:
Ich habe diese Ereignisse um St. Merry, Paris, für eine deutsche Öffentlichkeit dokumentiert, Ereignisse, die zum weiten Umfeld der Kritik der Religionen gehören, einem Hauptthema unserer website.
Hinzukommt: Ich habe kurz nach Gründung dieses modernen Gemeindezentrums schon am 8.8.1976 in der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“ (Herder Verlag) auf St. Merry aufmerksam gemacht und ich bin in dem Buch „Kirche in der Stadt“ (Kohlhammer Verlag 1981) in meinem Beitrag über Paris auf St. Merry noch einmal zu sprechen gekommen. Der Titel dieses Buchbeitrags war: „Freiräume für die Menschen“ (S. 42 – 57) Mein Aufsatz endet mit den Worten: “Kirche in der Metropole hat nur Zukunft, wenn sie in sich selbst Vielfalt nicht nur toleriert, sondern fördert“…
Das Buch „Kirche in der Stadt“ hatte ich mit dem evangelischen Theologen Michael Göpfert (München) herausgegeben. Es hat, zumal durch den Einsatz von Pfarrer Göpfert, dazu beigetragen: Das damals noch neue und eher ungewöhnliche Thema „Kirche und Stadt“ in den Mittelpunkt gewisser theologischer Debatten stellen zu können.

PS. 2.:
Mit dem Ende des progressiven Gemeindezentrums St. Merry in Paris beschleunigt sich auch das Ende des linken, des progressiven Katholizismus in Frankreich. Darüber haben die Soziologen Denis Pelletier und Jean-Louis Schlegel die großartige Studie veröffentlicht „Á la gauche du Christ. Les chrétiens de gauche en France de 1945 à nos jours“. (Zur Linken Christi… Die linken Christen in Frankreich…) Edition du Seuil Paris, 2012, 614 Seiten. Das Buch hat in Deutschland keinerlei Beachtung gefunden.
Genauso wenig Beachtung in Deutschland fand ein anderes wichtiges Buch in dem Zusammenhang: „Catholicisme, la fin d un monde. (Katholizismus, das Ende einer Welt), Paris 2003, von der berühmten Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger. 335 Seiten. Bayard-Editions.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die Wochenzeitschrift TEMOIGNAGE CHRETIEN schreibt am 4.3.2021:

Saint-Merry, c’est fini !

Von Christine Pedotti

La fermeture définitive du Centre pastoral Saint-Merry à Paris, confirmée par les autorités catholiques parisiennes, n’est une bonne nouvelle pour personne. C’est un terrible constat d’échec pour tous les catholiques. Au centre de l’expérience parisienne, il y avait un rêve de « cogestion » entre les prêtres et les baptisés laïcs, hommes et femmes. Et c’est là que s’exprime l’échec.
Le diocèse fait état de « méchants » qui auraient bloqué toute possibilité de dialogue et qui auraient chassé successivement les derniers curés envoyés par l’autorité. De fait, le curé a démissionné en cours d’année, tandis que son prédécesseur, Daniel Duigou, écrivain, prêtre, psychanalyste, qu’on peut difficilement soupçonner d’être un suppôt de la réaction, s’exprime sur son expérience en disant : « Je ne voulais plus être complice d’un lynchage permanent, une véritable maltraitance morale. » Et il ajoute : « Le même processus s’est reproduit avec mon successeur comme il s’était produit avec mon prédécesseur, qui est parti, selon moi, “en morceaux” ! »

Dysfonctionnement donc, indubitablement. Mais est-il le fait de « méchants » ou le fait d’une situation structurellement invivable, tant pour la communauté que pour la hiérarchie catholique ? J’écrivais ici que « le cléricalisme est la loi d’airain du catholicisme ». La « cogestion » prêtres/laïcs, même profondément souhaitée par les deux parties, est impossible dans la structure actuelle du catholicisme, qui concentre entre les mains du clergé toutes les responsabilités : celle d’enseigner, celle de sanctifier et celle de gouverner.

C’est pourquoi un lieu comme celui de Saint-Merry est confié « canoniquement » à un curé/prêtre et non à un laïc, alors que, pourtant, de ce côté, les compétences ne manquent pas. Des expériences comme celle qui s’achève ici dans la désolation sont de facto vouées à l’échec, et peu importe qui sont les « gentils » et qui les « méchants » si le catholicisme ne se réforme pas profondément, ne réforme pas sa structure hiérarchique… ne réforme pas le ministère ordonné. Qui sont les prêtres/les évêques ? Qui les choisit et les forme ? Quelle est leur mission ? Sont-ils des hommes, des femmes, à plein temps, pour toute la vie ?

La communion est brisée, dit le diocèse de Paris, qui ferme le ban. Mais que signifie une « communion » qui toujours donnerait l’autorité aux uns et demanderait l’obéissance aux autres, et jamais l’inverse ?
Lire l’édito sur notre site →

Die Republik wehrt sich gegen radikale Muslime und ihre Gemeinden: Präsident Macron will eine andere „Laicité“ in Frankreich.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 15.2.2021. Mit einem Hinweis (Nr.12), dass auch christliche Kirchen heute das demokratische Zusammenleben gefährden…

Am 16.2.2021 haben die Abgeordneten der Assemblée Nationale das “Projekt des Gesetzes gegen den Separatismus” mit einer Mehrheit angenommen: 347 Stimmen dafür; 151 Stimmen dagegen; 65 Enthaltungen. Am 30. 3. 2021 wird es nochmals dem Senat zur Überprüfung übergeben. (Quelle: Europe 1, am 16.2.2021)

1.
Die Ängste der Franzosen sind verständlich, die Ängste vor weiteren Terroranschlägen von Leuten, die sich muslimisch nennen. Der Wille der Franzosen ist verständlich, wenn sie unbedingt ihre republikanischen und demokratischen Werte verteidigen und schützen. Wer die Menschenrechte verteidigt, ist bekanntlich nicht in einem eurozentrischen Denken befangen. Er/sie verteidigt schlicht und einfach die Menschenrechte, die universal für alle Menschen gelten. Da spielt die europäische Herkunft für die universale Geltung überhaupt keine Rolle.
2.
Dies muss beachtet werden, wenn auch berechtigterweise sofort der Einwand kommt: Die französischen Politiker (wie eigentlich die meisten Politiker in den wenigen verbliebenen Demokratien der Welt) glänzen ja seit Jahrzehnten nicht gerade als praktische Verteidiger der Menschenrechte, man denke an die Außenpolitik (etwa: Umgang mit Afrika) oder an die Flüchtlingspolitik. Man denke auch an die vielfach sehr unwürdigen Lebensverhältnisse in den Banlieus, wo vorwiegend die Ausgegrenzten, die Armen leben, Franzosen, auch Franzosen mit arabischer oder „schwarz-afrikanischer“ Herkunft.Die meisten von ihnen sind Muslime.
3.
Und jetzt sind wir beim aktuellen Thema:
Am 16. Februar 2021 sollen – nach langen, leidenschaftlichen Debatten im Parlament – sehr umfangreiche neue Gesetze beschlossen werden. Und sie sollen ganz besonders den muslimischen Mitbürgern gelten, auch wenn sie alle Religionsgemeinschaften in ein neues Verhältnis zum Staat setzen können. Die Regierung sieht viele dieser muslimischen Mitbürger als “Islamisten” in einem verwerflichen Verhalten befangen, das nennt die Regierung „Separatismus“. Also den Willen und die soziale wie politische Praxis, jenseits der geltenden Gesetze der Republik eigene, separatistische Wege zu gehen, also etwa die Gebote des Korans im politischen Leben für entscheidender zu halten als die Gesetze der Republik.
Separatismus wird so zum Begriff für die „Abspaltung“ von Muslimes von den Prinzipien der Französischen Republik. Und dieser Separatismus soll ein Ende haben, durch eine umfassende Fülle neuer Gesetze.
4.
Das Projekt begann mit dem eher noch harmlosen Titel: „Die Prinzipien der Republik stärken“. Es ist eine Art Lieblingsidee von Präsident Macron, schon vorgestellt in Vorträgen vor einem Jahr (Februar 2020) in Mulhouse und Les Mureaux. Und schon angedeutet in Macrons Buch „Revolution“ von 2016, LINK
5.
Die neuen Gesetze zur Überwindung des islamischen Separatismus sind grundlegend: Nur einige Beispiele: Es geht um umfassende Kontrolle jeglicher Aktivitäten muslimischer Gemeinden; fremde Staaten dürfen nicht (mehr) Grundstücke kaufen oder die Finanzierung von Moscheen betreiben. Bei grobem Fehlverhalten gegen diese Gesetze der Republik sind auch Schließungen der Gemeinden vorgesehen; ebenso ist geplant, die Internetaktivitäten der Muslime und ihrer Gemeinden zu beobachten, privater Unterricht „zu Hause“ wird verbote; Sportvereine, etwa von muslimischen Gemeinden veranstaltet, sollen vom Staat beobachtet werden.
Aber es werden auch Details beschlossen: Untersagt wird die ärztliche Feststellung der Jungfräulichkeit von jungen Musliminnen… (Die Beschneidung von Knaben bei Muslimen und Juden, die viele kompetente Menschen für eine fundamentalistische Deutung religiöser Gebote halten und für eine Verletzung der Menschenrechte halten, wird nicht verboten!)
6.
Viel Zustimmung finden die Gesetze gegen den Separatismus unter den immer sehr leidenschaftlichen Verteidigern einer möglichst religionsfernen Republik. Dies sind etwa die Freimaurer in ihrer bedeutenden Loge „Grand Orient de France“. Auch Rabbiner finden die Gesetze angebracht, aus bekannten Gründen: Weil sich muslimisch nennender Terrorismus auch in Frankreich gegen Juden und jüdische Einrichtungen wendet.
7.
Die Verantwortlichen der Religionsgemeinschaften konnten sich im Senat (dem „Oberhaus“) zu dem Gesetzesvorhaben äußern: Eher zustimmend zeigte sich der Oberrabbiner Haim Korsia. Sehr kritisch hingegen der Präsident des „Dachverbandes der Muslime in Frankreich (CFCM)“, Mohammed Moussaoui: Er befürchtet, dass nun „der Islam insgesamt unter Verdacht gestellt“ wird. Dabei betonte er gleich am Anfang: „Der Kampf gegen den Extremismus, der sich islamistisch nennt, ist auch unser Kampf“. Aber er erinnerte daran, dass die wahren Separatisten in Kreisen der Rechtsextremen zu suchen seien. Der Präsident der „Fédération Protestante de France“ (FPF), Pastor Francois Clavairoly, betonte auch: „Der Text erzeugt a priori einen Verdacht auf das Religiöse, das als eine potentielle Bedrohung wahrgenommen wird. Das zeigt sich besonders darin, dass der Präfekt (einer Region) die Öffnung eines religiösen Gebäudes autorisieren muss und dass diese Zustimmung alle 5 Jahre erneuert werden muss. Dies sind Verfügungen, die eine Regression für die Republik bedeuten…“
Der Präsident der französischen Bischofskonferenz , Bischof Éric de Moulins-Beaufort, betonte, dass das Gesetz zur laicité, das 1905 als Gesetz der Freiheit gemeint war, sich nun in ein Gesetz der Kontrolle, der Polizei und der Repression entwickelt“.
8.
50 Artikel auf etwa 80 Seiten umfasst das Gesetz, das eine “Stärkung der Republik” vorsieht.
Diese umfassenden Verbote des Staates, vor allem auf Muslime bezogen, sind ein entscheidender neuer Ansatz im Umgang mit der Laicité, also der alten gesetzlichen Trennung von Kirchen und Staat aus dem Jahr 1905: Damals sollte den Kirchen ein freier Raum zur Entfaltung gerade ohne jegliche Unterstützung des Staates gewährt werden. Jetzt geht es darum, im Namen dieser Laicité die muslimischen Religion zu kontrollieren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts behaupteten noch radikale Republikaner: Katholiken hören mehr auf den Papst als auf die Gesetze der französischen Republik, was so falsch ja nicht war. Auch deswegen gab es die Trennung von Kirchen und Staat. Heute sollen Muslime von jeglicher (arabischer, türkischer, iranischer) „Fernsteuerung“ befreit werden, was dringend erforderlich ist, und sie sollen sich als französische Muslime ausschließlich den Gesetzen der Republik völlig anpassen. Und diese strengen „staatlichen Maßnahmen“ sollen dann den Frieden in Staat und Gesellschaft bringen: Ob das wohl gelingt, wenn die Betroffenen den Gesamteindruck habent, unter einem Generalverdacht zu stehen?
Ist denn nicht die Integration von Muslimen in die Republik auch und vor allem ein soziales, ein pädagogisches Projekt? Sollte nicht endlich die „égalité“ auch für die Armen, die Ausländer und Flüchtlinge (sehr oft Muslime) gelten? Von der „fraternité“ aller (!) Franzosen ganz zu schweigen. Aber nein, da versteift sich die Regierung auf neue Gesetze und entfacht eine ideologisch-religiöse Debatte, wo doch eine neue Sozial und Wohnungspolitik mindestens genauso dringend wäre.
9.
Interessant ist auch: Der französische Staat, der sich in seinen Gesetzen zur Laicité 1905 eigentlich verpflichtet hatte, also sich überhaupt nicht in die „inneren Angelegenheiten“ der Religionen einzumischen, mischt sich nun mit aller Bravour in das Leben der islamischen Gemeinden ein. Schon der staatlich forcierte Wille seit vielen Jahren, einen Dachverband aller muslimischen Gruppen zu schaffen, ließ ja auch die übliche Zurückhaltung der Regierung gegenüber Religionsgemeinschaften vermissen. Der Staat will mit einem muslimischen Dachverband eben die Muslime besser und leichter an den Verhandlungstisch bringen und … kontrollieren…
10.
Manche meinen zurecht, dass diese neuen Gesetze die rechtsextremen Wähler der Partei von Madame Le Pen beruhigen sollen, in der Hoffnung, dass die Rechtsextremen bei der nächsten Präsidentschaftswahl (2022) Macron wählen, weil er ja selbst eine nicht gerade muslimfreundliche Politik betreibt. Dass Macrons Gesetze für Madame Le Pen noch viel zu liberal sind, betont die Führerin der Rechtsextremen schon jetzt.
Die neuen Gesetze können also auch ein Stück Wahlkampf sein für Macrons Partei LREM (La République en Marche): Manche meinen: Mit ihm „marschiert“ die Republik in eine von neuen Gesetzen unterstützte Islamophobie. Ob dadurch der innere Friede und der Verzicht auf terroristische Gewalt gelingt, ist sehr die Frage.
11.
Eine Frage wird wieder in den öffentlichen Raum gestellt: Inwiefern sind im allgemeinen und tendenziell alle Religionen gefährlich für eine Gesellschaft und einen Staat, der die Menschenrechte an die oberste Stelle rückt. Die Abwehr der Menschenrechte ist als oberstes Gestaltungsprinzip auch in den inneren Strukturen im Katholizismus präsent: “Priesteramt ist nichts für Frauen”, “es darf keine „Homo-Ehe“ geben”…
12.
Auch christliche Kirchen, die sich mit ihren eigenen Moral-Gesetzen aufbauschen, können eine Gefahr sein für das humane Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft. Das lässt sich aktuell am eigensinnigen Verhalten vieler evangelikaler Gruppen in den Pandemie-Zeiten belegen: Diese frommen Leute meinten, auch in Frankreich, aufgrund ihres Glaubens gegen das Virus immun zu sein und sehr fröhlich in großen Gruppen Alleluja etc.in ihren Gottesdiensten singen zu dürfen. Und die sehr frommen Anhänger von Mister Trump, rechtsextreme Evangelikale, auch Katholiken, haben am 6.1. 2021 im Capitol von Washington bewiesen, zu welchen Untaten sie als fromme Gläubige tatsächlich bereit sind. Man denke auch daran, dass sich allen Ernstes viele us-amerikanische Bischöfe von Präsident Biden, dem praktizierenden Katholiken (!), distanzieren: Nur weil dieser die Abtreibung, gesetzlich geregelt, passend für eine pluralistische und nicht kirchen-hörige Demokratie findet. Diese evangelikalen und katholisch konservativen Kreise haben einen neuen Gott, er heißt “Pro life”. Diesem Gott wird alles geopfert, auch die Unterstützung für einen demokratischen Präsidenten…”Dies ist eine Schande für die us-amerikanische Bichofskonferenz”, sagen Beobachter.

Sind also auch christliche Konfessionen – bei allem Respekt für die Diakonie, die Caritas etc. – gefährlich für den demokratischen Staat und die demokratische, pluralistische Gesellschaft? Ja, durchaus, mit allen nötigen Nuancen. Darum sollten nachdenkliche Menschen, etwa Philosophen, dankbar sein, dass in Frankreich diese Debatten geführt werden.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Macron und die Muslime: Was er schon 2016 sagte und was heute (Februar 2021) gelten soll.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Am 16. Februar 2021 soll in der “Assemblée Nationale” in Paris ein neues Gesetz verabschiedet werden: Es soll den “Separatimus”, wie Staatspräsident Macron sagt, also den “Sonderweg” von Muslimen in Frankreichs Staat und Gesellschaft beenden. Vorausgesetzt wird von ihm – nach den schlimmen Erfahrungen islamistischen Terrors in Frankreich – die These: Der Islamismus ignoriert die für alle Bewohner Frankreichs geltenden republikanischen Gesetze einer “Republique Laique”. Manche Beobachter meinen, damit werde auch “der” Islam unter den Verdacht “antirepublikanischer” Gesinnung und Haltung gestellt.

Die jetzt von Macrons Regierungspartei (LREM) vorgeschlagenen Gesetze erinnern stark an Macrons Ausführungen schon im Jahr 2016 unter dem hübschen Titel “Revolution”. Es ist interessant, die Identitäten und Verschiedenheiten, damals und heute, in der Auffassung Macrons vom Islam und dem IS herauszustellen. Die Kontinuität der politischen Auffassung ist allerdings dominant!

Beachten auch meine Hinweise vom 8.5. 2017 über Macrons Religiosität, seine Spiritualität sowie seine Verbindungen mit der Philosophie, darin werden auch seine Einschätzungen zur “laicité” deutlich. LINK:

1.
Das erste weit verbreitete Buch von Emmanuel Macron hatte den typisch französischen Titel, möchte man meinen, nämlich “Revolution“. Es wurde veröffentlicht, als sich Macron im November 2016 als Präsidentschaftskandidat präsentierte. Der Untertitel dieses “Revolutions”-Buches war: “Reconcilier la France”: “Frankreich versöhnen”.
2.
Von den 16 Kapiteln ist im Augenblick besonders wichtig das Kapitel 16, wegen der aktuellen heftigen Debatten und der bevorstehenden parlamentarischen Abstimmungen zur Rolle des Islams in Frankreich. Das Kapitel trägt den eher unscheinbaren, keineswegs auf den Islam in Frankreich sofort verweisenden Titel „Vouloir la France“, „Frankreich wollen“, gemeint ist wohl „Frankreich bejahen“ (S. 167 – 1799, hier zitiert nach der Taschenbuch Ausgabe XO Editions, 2017, zum Preis von 5 Euro!).
Es lohnt sich, in aller Kürze einige zentrale Aussagen zu unterstreichen und zusammenzufassen, gerade im Blick auf die aktuellen Debatten im Februar 2021.
Gleich am Anfang betont Macron: „Ja, Frankreich ist ein Wille“ (167). Gemeint: Ein Wille, der den Menschen zur Zustimmung führen sollte.
Aber gleich danach spricht Macron von dem drohenden „Bürgerkrieg“ (168). Von jenen geführt, die „gegen die Gewissensfreiheit sind, gegen die gemeinsame Kultur und gegen eine fordernde und wohlwollende Nation“ sind (ebd.) Der Feind wird DAESH genannt, das ist die Abkürzung für den Islamischen Staat.
Dann spricht Macron ziemlich unvermittelt zum ersten Mal von der sozialen Spaltung (offenbar in den Banlieues sichtbar), die das Feuer legt, das auf Identitäten allen Wert legt. Macron spricht dann von Massenarbeitslosigkeit und wahrhaftigen Gettos „in unseren Städten“ (169). Gemeint sind, immer noch nicht explizit genannt, muslimische Bewohner bzw. muslimische Franzosen in den Banlieues.
Dann folgt wieder unvermittelt ein Absatz über die viel und ständig besprochene laicité, um die es ja jetzt extrem geht, Mitte Februar 2021. Da sagt Macron: „Die Laicité ist eine Freiheit, bevor sie ein Verbot –„interdit“ – ist“. Also, hier schon hoch interessant: Laicité ist eben auch ein Verbot! (S. 169). Und dann folgt: Es gibt eine Unnachgiebigkeit hinsichtlich des Respekts der Gesetze der Republik, und diese Unnachgiebigkeit ist absolut. (S. 170): „In Frankreich gibt es Dinge, die nicht verhandelbar sind“.
Dann folgt eine ziemliche Verfälschung der Geschichte Frankreichs, bezogen auf die Geschichte der Juden: „Wir haben es verstanden, anderen Religionen ihren Platz in der Republik zu geben. Das Judentum hat sich in Frankreich entwickelt im Respekt und der Liebe der Republik. Ein schönes Beispiel dafür, was unsere Geschichte und unsere politischen Entscheidungen zu tun wussten“ (S. 179). Was für eine gewagte These: Da wird die Judenverfolgung unter Pétain unterschlagen, der Faschismus, der damals herrschte, von der Dreyfuss Affäre der Republik ganz zu schweigen.
Und dann folgt wieder die unvermittelte Ermahnung: Bitte nicht in den Bürgerkrieg eintreten, in den uns IS treiben will. Aber: Es ist eben eine Kriegsdrohung. (Mit Kriegen haben bekanntlich immer schwache Regierungen argumentiert, die in einem blinden Nationalismus befangen waren, das am Rande).

3.
Auf Seite 171 kommt Macron endlich zur Sache und er nennt den Hauptfeind, „den radikalen Islam“ (S. 171). Und interessanterweise sagt er in dem Text von 2016: Es geht „nicht darum, neue Texte und neue Gesetze vorzuschlagen“, „wir haben diese“. (S. 171). Jetzt, Mitte Februar 2021, geschieht genau das Gegenteil.
Dann kommt Macron wieder auf die prekären, aber von ihm so nicht genannten Lebensverhältnisse, vor allem der muslimischen Bevölkerung zurück: “Wir müssen unsere Wohnviertel (sic, nos quartiers) neu gestalten und den Bewohnern Möglichkeiten der Moblität und der Würde zurückgeben“, (172) Also: Fehler wurden gemacht, die Elendsquartiere sollten würdiger gestaltet werden. Hier klingt an, dass das Problem Islam und Islamismus ein soziales Problem ist und nicht (nur) ein religiöses!
Und dann kommt der „Knaller“ für einen Politiker eines Staates, der allen Wert darauf legt, sich als Staat gerade nicht in die inneren Angelegenheiten der Religionen einzumischen. Macron hingegen sagt: „Wir müssen dem Islam helfen, seinen Platz in der Republik aufzubauen“. (173)
Es komme alles darauf an, dass der Islam dann „die Werte Frankreichs will“! Diese sind nicht verhandelbar, niemals“ (178) “Frankreich ist groß, wenn es seine Freiheiten denen bietet, die sich Frankreich anschließen wollen“. (178) Aber nur diesen Willigen.
Zuvor hatte Macron noch davon gesprochen, dass wahre Flüchtlinge einen Platz in Frankreich finden können. “Aber alle Personen, die nicht die Berufung (sic) haben (qui n ont pas la vocation..), in Frankreich zu bleiben, weil sie kein Recht auf Asyl haben, müssen wieder zur Grenze zurückgeführt werden“ (177).

4.
Dieses Kapitel über den Islam zeigt: Für Macron ist klar: Islam kann zum Islamismus werden, diesem Islamismus muss der Krieg erklärt werden. Aber über die vielen anderen Muslime spricht Macron nicht. Er erzeugt damit eher Angst vor „dem“ Islam. Wer als Muslim in Frankreich leben will, muss sich anpassen, da ist Macron knallhart. Und paternalistisch hilft der französische Staat, obwohl laique, dass die Muslime sich mit ihren verschiedenen Gruppen bitte schön zu einem einzigen Dachverband vereinigen, damit der Staat besser mit ihnen verhandeln kann und sie besser überschaut.
Insgesamt aber zeigt Macron hier ein Frankreich, das wie ein starres und fixes Werte-System erscheint; das sich nicht dialogbereit und lernbereit zeigt. Warum eigentlich können nicht kluge und liberale Muslime etwas Vernünftiges dem französischen Staat und seinen Bürgern sagen? Macron ist ein Euro-Zentriker, und obwohl nicht konfessioneller Christ, ein Anhänger eines christlichen Frankreich, bei allem Respekt vor den Franzosen, die nicht religiös sind.
Mit anderen Worten: Dieses Kapitel zeigt einen kriegerischen (wie oft ist von Krieg in dem Kapitel die Rede!) und einen ziemlich bornierten und eher traditionellen Geist.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Nur ein konfessionsloser Staat kann Religionsfreiheit garantieren: Erfahrungen in Frankreich.

Die Trennung von Kirchen und Staat: Vor 115 Jahren, am 9. Dezember 1905.
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Wer Frankreichs Kultur verstehen will, muss wissen, was „laicité“ bedeutet. Dieser Begriff ist zentral, er nennt das Selbstverständnisses der französischen Republik und wird wieder einmal, seit Oktober 2020, von staatlicher Seite und den katholischen Bischöfen diskutiert.
Das Wort laicité ist nur mit Mühe, nur mit Umschreibungen, ins Deutsche zu übersetzen. Deutsche, auch deutsche Journalisten und Wissenschaftler, machen es sich zu einfach und behaupten: Laicité sei nichts anderes als „Laizismus“. Dieser „Laizismus“ ist jedoch bekanntlich die kämpferische Haltung eines atheistisch eingestellten Staates gegenüber den Religionen und Kirchen. Diese Identifizierung von laicité und Laizismus ist im Blick auf Frankreich oberflächlich und falsch. Laicité bedeutet: Ein „a-religiöserStaat“, nicht ein anti-religiöser Staat.
Erst seit 1946 definiert sich Frankreich in seiner Konstitution als eine „République laique“, der Sache nach war die Französische Republik schon seit 1905 „laique“.
2.
Die Französische Republik ist bestimmten Werten, als leitenden Idealen – mindestens theoretisch -, verpflichtet: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Diese drei sind philosophisch gesehen geradezu evident für ein humanes Zusammenleben. Man könnte auch sagen, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit haben beinahe die Aura des Heiligen. Sie sind als ein öffentliches republikanisches Bekenntnis unübersehbar wahrzunehmen an allen Rathäusern, staatlichen Schulen, öffentlichen Bibliotheken und auch auf französischen 1 sowie 2 Euro Münzen.
Hinzukommt, und dies ist genauso wichtig, förmlich als Zusammenfassung dieser drei Maximen, der vierte republikanische Wert, die „laicité“.
Die heutige Verfassung sagt im Artikel 2: „Frankreich ist eine unteilbare,= laique=, eine demokratische und soziale Republik“ . „Die Laizität ist der Eckstein des republikanischen Paktes, sie beruht auf drei untrennbaren Werten: Der Freiheit des Gewissens, der rechtlichen Gleichheit aller geistigen und religiösen Optionen, der Neutralität der politischen Macht ihnen gegenüber“. So formuliert im Jahr 2003 eine hochrangige staatliche Kommission das Wesen der laicité, diese Kommission wurde geleitet von dem hoch geschätzten ehemaligen Minister Bernard Stasi.
Keine bestimmte Religion oder Kirche wird in der französischen Republik als Staatskirche anerkannt, keine bestimmte Religion wird bevorzugt. Der Gedanke ist ausgeschlossen, dass der Staat – wie in Deutschland – Kirchensteuern in Milliardenhöhe jährlich für die Kirchen und im Auftrag der Kirchen einziehen könnte. Die laicité will in dieser Neutralität primär für den gesellschaftlichen Frieden, die Toleranz, in Staat und Gesellschaft sorgen.
3.
Es wird in den kommenden Wochen, ab 2021, ein Gesetzesprojekt debattiert werden, das die laicité aktualisieren soll, „republikanische Grundprinzipien“ sind das Programm. Gedacht ist dabei an eine Art philosophisch – ethischer „Basis-Philosophie“ der Republik. Angestoßen zu diesem Projekt wurden Präsident Macron und seine Regierung durch die jüngsten mörderischen Attacken von Terroristen, die sich selbst mit dem islamischen Glauben in persönliche Verbindung brachten. Diese mörderischen Kreise oder einzelnen Personen werden allgemein „radikale Islamisten“ genannt. Wie stark bei denen der Islam oder der Ungeist des Terrors ausgeprägt ist, wird in dieser Pauschalisierung nicht unterschieden.
Keine Frage: Die Französische Republik und viele ihrer Bürger sehen sich (seit einigen Jahren) durch „islamistische“ Kreise bedroht. Eine Zeit der Pauschalurteile, der Feindbilder, hat wieder begonnen, und schnell ist man bei „DEM“ Islam als dem „Feind“ gelandet. Diese Haltung zeigen rechte und liberale Politiker aus wahltaktischen Gründen, um die rechtsextreme Partei von Marine Le Pen nicht noch stärker werden zu lassen. Bekanntlich war ihr Vater Jean – Marie Le Pen als Gründer und Chef des FN ganz offensichtlich Antisemit. Die Tochter gibt sich hingegen, taktisch raffiniert, eher philosemitisch, um dann um so heftiger ihre Anti-Islam-Politik zu beschwören, die aber letztlich als Anti-Ausländer und Anti-Flüchtlingspolitik gemeint ist. „Les Francais d abord“ also die (weißen) Franzosen zuerst ist das Motto….
Dieser vielfältige Hintergrund spielt nun für das Projekt der Macron – Regierung eine wichtige Rolle, eine Art „republikanischen Grundwertekatalog“ zu schaffen. Die Muslime sollen in dieser Sicht umfassend informiert und gedrängt werden, die Werte der Republik Frankreich in der Praxis anzunehmen und zu leben. Dazu gehört selbstverständlich auch, die umfassend geltende Meinungsfreiheit zu respektieren. Tatsächlich geht es darum, allen Bürgern klar zu machen: Auch wenn Karikaturen als Ausdruck von Meinungsfreiheit oder sogar als Kunst – in der Sicht einiger – Blasphemien darstellen, gibt es einen rechtlichen Rahmen, diese Blasphemie zu respektieren. Mindestens solange, als nicht einzelne, ganz bestimmte konkrete Gläubige, in ihrem Glauben beeinträchtigt werden. Interessanterweise hat sich die katholische Kirchenführung in Frankreich auch für eine Einschränkung der umfassenden Meinungsäußerung ausgesprochen, wenn sie denn als Blasphemie öffentlich wird. Katholiken haben sich dadurch mit den entschiedenen Gegnern umfassend freier Meinungsäußerung im islamischen bzw. vor allem islamistischen Bereich in gewisser Weise verbündet.
4.
Die Integration der muslimischen Bevölkerung in die Französische Republik ist natürlich viel mehr als ein philosophisches oder religionspolitisch – „bildungsmäßiges“ Projekt. Das ist eigentlich den meisten Sozialwissenschaftlern, Politologen und auch etlichen Politikern klar: Dass das „Republikanischwerden“ bzw. „Demokratischwerden“ der muslimisch geprägten Bevölkerung bzw. der muslimischen Franzosen nur gelingen kann, wenn die evidente soziale und kulturelle Ausgrenzung der meisten Muslime in Frankreich aufhört. Das betrifft etwa die sehr oft sehr prekären Wohnverhältnisse in der Banlieue, das betrifft die Degradierung „arabischstämmiger“ Mitbürger bei der Arbeitssuche, den bekannten Rassismus etlicher Polizeibeamter usw.
5.
Bei einem neuen Nachdenken über die Werte der Republik heute kann auch der historische Rückblick nicht fehlen: Wie standen die Religionen zur Republik? Darüber wurde im Jahr 1905 nach jahrzehntelangen Debatten entschieden, als das Gesetz zur Trennung von Kirchen und Staat verabschiedet wurde. Dabei ging es damals dem Staat fast ausschließlich darum, sein Verhältnis zur katholischen Kirche festzulegen. Die protestantischen Kirchen und die Juden waren als die einzigen anderen damals aktiven Religionsgemeinschaften in Frankreich kleine Minderheiten, und vor allem: Sie hatten im Unterschied zu den Katholiken traditionell ein positives Verhältnis zur Republik und deren Werten. Protestanten und Juden hatten unter dem sehr katholischen „ancien régime“ gelitten, die Republik bedeutete für sie eine Befreiung von Verfolgung und Degradierung. Für die Katholiken, ihre Bischöfe, Priester und Mönche war die Sache ganz anders: Sie gehörten zur privilegierten Staatskirche. Nur die Armen, in den Dörfern, litten unter der Gier der Mönche und Bischöfe. Die so genannte „Entchristlichung“ in vielen Regionen Zentral-Frankreichs, in Burgund, im Limousin etc. hat in kirchlichen Missständen ihre Ursachen…D.h. die Kirche selbst ist also mit – verantwortlich für die offenbar unumkehrbare „Entchristlichung“ weiter Regionen in Frankreich. Was immer „Entchristlichung“ in der Soziologensprache auch im einzelnen bedeuten mag…
1905, dem Jahr der Gesetzgebung zur Trennung von Kirchen und Staat, waren mehr als 90 % der Bevölkerung katholisch getauft, aber nicht alle waren „praktizierend“. Wer kirchlich gebunden war, klammerte sich, politisch, auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, an die Ideen der Monarchie. Schließlich hatten sie im „Zweiten Empire“ unter Louis Napoléon Bonaparte aufgrund vieler Privilegien eine kirchlich – klerikale Blütezeit erlebt, deutlichster Ausdruck dafür waren die vielen Neugründungen von Ordensgemeinschaften und Klöstern. Die meisten Katholiken waren um 1900 zudem mehrheitlich Antisemiten, wie die Ereignisse rund um die Dreyfus – Affäre beweisen. Die katholische Tageszeitung „La Croix“ (aus dem Verlagshaus mit dem hübschen Titel „La Bonne Presse“) war damals ein heftiges antisemitisches Hetzblatt. Das geben die Verleger, die französischen Augustiner, heute ganz offen zu. Denn die Katholiken identifizierten ja durchaus treffend Republik mit der Verteidigung der Menschenrechte. Und gerade diese galten den Katholiken als negativer, „abscheulicher“ Ausdruck des „Wahnsinns“ der Französischen Revolution.
In dieser antirepublikanischen Haltung wurden die Katholiken leidenschaftlich befeuert von den damaligen explizit und stolz sich reaktionär gebenden Päpsten, allen voran Gregor XVI. und Pius IX.
6.
Es ist also durchaus evident, wenn die Republikaner damals die katholische Kirche als Feind der Demokratie erkannten und diese feindliche Kraft politisch möglichst einschränken wollten. Der Katholizismus erschien den Republikanern schlicht und einfach als eine Bedrohung für das Zusammenleben und die Entwicklung fortschrittlicher Konzepte, etwa im Schulwesen, im Sinne einer Schulpflicht für alle…Heute tun manche katholischen Kommentatoren noch so, als seien die französischen Republikaner und nur sie allein, weil antiklerikal und angeblich auch atheistisch, diese üblen Bösewichte gewesen, nur sie wollten dem frommen Volk den Glauben nehmen.Die extremen Schattenseiten der Kirche werden dabei übersehen! Radikale Positionen unter den Republikanern hat es am Ende des 19.Jahrhunderts tatsächlich gegeben. Man denke an den angesehenen Wissenschaftler (Physiologen) und radikal antiklerikalen Politiker Paul Bert und an Emile Combes oder die damals breite Bewegung der „Freidenker“. Aber diese antikirchlichen Positionen haben sich sogar nach den Gesetzen von 1905 nicht durchgesetzt. Man denke nur an die Beiträge des Politikers Aristide Briand: Sein berühmter und gültiger Ausspruch ist: „Der Staat ist nicht antireligiös, er ist a-religiös“. Oder früher noch an den katholischen Philosophen und Sozialisten Jean Jaurès.
7.
Geblieben aber ist bis heute der immer wieder besprochene Eindruck, es gebe noch „zwei Frankreich“. Von einem „guerre des deux France“, einem „Krieg der zwei Frankreich“, spricht etwa der bekannte Forscher der laicité und bekennende Protestant Prof. Jean Baubérot. Es gibt also auch heute noch die republikanisch und entschieden demokratischen gesinnten Franzosen als die überwiegende Mehrheit. Und noch einige, z.T. finanziell starke Kreise, die antirepublikanisch und/oder monarchistisch gesinnt sind, zu denen u.a. auch die Anhänger des katholischen Traditionalismus zählen, der in frommer Treue zu dem erzreaktionären Erzbischof Marcel Lefèbvre immer noch eine starke Bedeutung hat.
Freilich gibt es auch „noch nicht ganz traditionalistische“, aber extrem konservative Kreise, die politisch gegen die Republik mobilisieren, etwa im Fall der „Ehe für alle“ Massen-Demonstrationen organisieren oder gegen die Gesetzgebung zugunsten des gesetzlich geregelten Schwangerschaftsabbruchs protestierten. In diesen Kreisen wurde auch eine „Christlich-demokratische Partei“ gegründet. Und etliche große Klöster, vor allem auch einige bekannte extrem konservative Bischöfe wie Dominique Rey von Fréjus-Toulon oder Marc Aillet von Bayonne, sind nicht gerade dafür bekannt, die französische Republik als eine „laique Republik“ zu unterstützen, um es milde zu sagen. Der französische Katholizismus hat sich immer einen stark konservativen, sehr päpstlichen „heißen“ Kern bewahrt, wenn er auch dialektisch auf der anderen Seite einige hoch interessante eher linke Projekte kannte, wie etwa die Arbeiterpriester oder „Basisgemeinden“, beide sind aber inzwischen fast untergegangen oder „untergegangen worden“ wegen autoritärer bischöflicher Zurückweisung. Dass der einzige wirklich theologisch progressive Bischof, Jacques Gaillot, 1994 abgesetzt wurde, kann hier nur erwähnt werden, an anderer Stelle habe ich über Bischof Jacques Gaillots Degradierung durch Papst Johannes Paul II. und die anderen Bischöfe berichtet.
Nebenbei: Im Pétain Regime unter der deutschen Besatzung siegte noch einmal das antidemokratische und katholisch-reaktionäre Frankreich.
8.
Das Gesetz der Trennung von Kirche und Staat aus dem Jahr 1905 ist also der Startpunkt einer Entwicklung der laicité, die sich dann im Laufe der Jahre immer weiter neu definierte und entwickelte. Und dies wird leider von den heutigen Kritikern der französischen laicité bewusst oder unbewusst übersehen: Im Laufe der Jahre hat die katholische Kirche viele gesetzliche Zusagen erkämpft und auch erhalten, durch die das kirchliche Leben in der Gesellschaft weiter ausgebaut werden konnte. Man könnte also sagen: Bisher hat die katholische Kirche Frankreichs seit 1905, zumal von den Päpsten dann unterstützt und vom Konkordat von 1921 abgesichert, rein rechtlich betrachtet eher eine positive Entwicklung genommen.
Voller Hochachtung sahen die national gesinnten Franzosen auf den Beitrag der Kleriker im Ersten Weltkrieg: Sehr viele Priester und Ordensleute kämpften an der Front (gegen die ebenfalls christlichen Deutschen). 4. 800 Kleriker (!) und 378 Nonnen haben „fürs Vaterland“ ihr Leben gelassen ( https://fr.geneawiki.com/index.php/Guerre_1914-1918_~_Le_Clerg%C3%A9_et_les_Congr%C3%A9gations_dans_la_Grande_Guerre#Statistiques). So viel nationaler Opfergeist gefiel dann selbst den eingefleischten Antiklerikalen…und führte zu einer gewissen Hochätzung der Kirche.
9.
Die Beispiele für die Entwickl ung der laicité sind sehr zahlreich, nur einige werden hier genannt: Katholische Privatschulen entwickelten sich seit 1960 rasant, auch dank der Zuschüsse vom Staat und der vor allem von wohlhabenden Familien unterstützten Schulen. Sie sehen auch heute in den katholischen Privat – Schulen mit SchplerInnen nur „aus gutem Hause“ eine Form der Behütung der Kinder vor den Problemen der Gesellschaft.
Heute besuchen etwa 2 Millionen Schülerinnen und Schüler katholische Privatschulen in Frankreich. Es gibt zudem 5 katholische (ziemlich teure) Privatuniversitäten. Ein gutes Beispiel für eine die Gleichberechtigung der Religionen fördernde laicité ist die Gestaltung religiöser Sendungen im staatlichen 2. Fernseh – Programm: Da beginnt das religiöse Programm an jedem Sonntag morgen um 8.45 mit einer Sendung der Buddhisten Frankreichs, danach folgen die orientalischen Christen, dann die Muslime, die Juden und die Protestanten sowie mit der längsten Sendezeit die Katholiken, die immer um 11 Uhr eine Messe life übertragen. Diese Programme werden in eigener Verantwortung der Religionsgemeinschaften realisiert. Darüber hinaus gibt es von Fall zu Fall auch objektive, aus journalistischer, unabhängiger Sicht realisierte Beiträge zum Zustand der Religionen. Auch das Kulturradio „France Culture“ hat sein eigenes religiöses Programm am Sonntagmorgen, sogar die Freidenker, die Freimaurer und die Gemeinschaft der Rationalisten haben da ihr Programm, das sie selbständig gestalten. Die Militärseelsorge müsste erwähnt werden mit 147 katholischen Geistlichen in einem eigenen Bistum, auch die anderen Religionen, auch die Muslime, habe ihre Militärseelsorger. Die heute recht lesenswerte und aufgeschlossene katholische Tageszeitung „La Croix“ (der Atheist Alfred Grosser war Jahre lang ein Kommentator dort) mit einer Auflage von ca. 100.000 Exemplaren erhält – wie andere Tageszeitungen auch – Unterstützung vom Staat, zur Zeit etwa 4, 4 Millionen Euro pro Jahr.
10.
Problematisch empfinden es viele, dass in den staatlichen Schulen kein Religionsunterricht erteilt wird. Der Staat versucht seit Jahren, überkonfessionelle Religionskunde anzubieten, über die „religiösen Tatsachen“, wie es heißt. Aber es fehlt noch an qualifizierten Lehrern. So erreicht dieses Angebot bisher nur eine Minderheit. Die katholische Kirche hat als eine Art ergänzenden Unterricht den konfessionellen Religionsunterricht am Nachmittag in den Gemeindehäusern eingerichtet, aber angesichts der zunehmenden Belastungen in den Schulen nehmen nur wenige Schüler dieses Angebot wahr.
11.
An üppige Gehälter, wie sie die Bischöfe in Deutschland erhalten, können französische Bischöfe freilich nicht denken: Bischöfe wie alle Priester erhalten – aufgrund von Spenden der Gläubigen – ein Gehalt, das dem offiziellen Mindestlohn entspricht, also etwa 1.500 Euro monatlich. Das ist auch das Gehalt des Pariser Erzbischofs. Zum Vergleich: Die Erzbischöfe von Köln oder München haben ein Gehalt von mehr als 10.000 Euro monatlich. Viele französische Priester sagen, dass sie mit dieser finanziellen Ausstattung zufrieden sind.
12.
Die katholische Kirche aber deutet die Republik manchmal doch noch als „übelwollend“ der Kirche gegenüber. So zeigt die Kirche oft noch ihr kämpferisches Gesicht.
Aktuell (im November 2020) gibt es wieder Konflikte zwischen der katholischen Kirche und dem Staat. Bei den aktuellen Auseinandersetzungen um die Einschränkungen wegen „Corona“ protestieren die Bischöfe gegen die Bestimmungen des Staates, in Zeiten des lock down nur 30 Teilnehmer an den Messen zuzulassen. Man braucht nicht viel Phantasie, dass sich auch in dieser Frage die Kirchenführung gegenüber dem Staat durchsetzt, zumal Papst Franziskus explizit auch die laicité kritisiert hat! Der Drang, die Gesellschaft und den Staat „moralisch“ zu beherrschen, ist in der Kirche immer noch lebendig.
Tatsächlich hat sich also der „conseil d Etat“, der Staatsrat, also eine Art oberstes Verwaltungsgericht, Ende November zugunsten der bischöflichen Forderungen ausgesprochen und die Regierung aufgefordert, viel mehr als nur 30 Personen in den Messen zuzulassen. Der Staatsrat hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese großzügige Haltung des Staates der Kirche gegenüber (und sicher dann im Gefolge auch allen anderen Religionen gegenüber) nicht verglichen werden kann mit Teilnahmebeschränkungen in Kinos, Theater usw. Ob dadurch die Beziehungen zwischen Kirche und Kultur zum Guten befördert werden, ist die Frage.
In Versailles jedenfalls, einem der Zentren des konservativen Katholizismus, fanden dann auch Ende November viele Messen statt mit mehr als hundert Teilnehmern, freilich, so wird betont, unter Beachtung der Hygiene – Regeln. Dass im Osten Frankreichs (Mulhouse) die ersten großen Corona-Ausbrüche nach Massen – Gottesdiensten evangelikaler Charismatiker stattfanden, scheint vergessen zu sein.
Alles Jammern katholischer Kreise, auch außerhalb Frankreichs, über die Schwäche der Kirche in der laicité in Frankreich ist in meiner Sicht also verlogen. Dass immer weniger Franzosen sich heute (etwa 50 Prozent, darunter die meisten ältere Leute) zum Katholizismus bekennen, hängt mit der dogmatischen Unbeweglichkeit der Kirchenführung zusammen. Eine Kirche, die nur zölibatäre Männer als Leiter von Eucharistiefeiern gelten lässt, gräbt sich förmlich ihr eigene Grab: Der Klerus in Frankreich ist im Greisenalter, und viele der wenigen Jüngeren Priester sind theologisch nicht gerade die muntersten. Es gibt Bistümer, wie Sens – Auxerre, wo nur noch 14 Priester laut offizieller Statistik, „jünger als 75 Jahre“ sind. Und diese „Jüngeren“ stammen meist aus Polen oder Afrika…
13.
Noch einmal: Die Sache war ab 1905 klar: Frankreich ist kein konfessionell geprägter Staat mehr. Keine Konfession ist Staatsreligion, wie einst im ancien régime. Die Republik ist religiös und weltanschaulich neutral, und gerade dadurch ermöglicht sie es, den verschiedenen Religionen in einem toleranten Miteinander in der Gesellschaft zu leben. Die französische Republik spricht von Gott, weil sie als Republik schlicht und einfach nichts von Gott wissen kann. Die Republik ist also wirklich gott-los, aber diese Haltung ermöglicht gerade den unterschiedlichen Religionen mit ihrem unterschiedlichem Gottes-Begriff ein Leben in Freiheit. Der gottlose Staat ist kein atheistischer Staat, wie es etwa die Sowjetunion unter Stalin war, die Französische Republik sieht in ihrer eigenen Gott-losigkeit gerade die Ermöglichung des pluralen religiösen Lebens. Wie ein Staat aussieht, der selbst einem konfessionell bestimmten Gott verpflichtet ist, sah man etwa in der verbrecherischen Diktatur des katholischen Staatschefs Franco oder des ultra – brutalen katholischen Diktators Trujillo in der Dominikanischen Republik oder in der Gegenwart etwa in Saudi-Arabien usw. Man möchte also mit vielen Theologen sagen: Gott sein Dank ist die Französische Republik gott – los, aber nicht atheistisch, um es noch mal zu sagen!
Und, nebenbei, wenn sich das Grundgesetz der Bunderepublik Deutschland in seiner Präambel auf „Gott“ bezieht, so ist damit bekanntlich nicht der trinitarische Gott der christlichen Dogmen und Kirchen gemeint. Sondern das Wort Gott wird hier als eine Art transzendentes Symbol verwendet, um den Menschen einzuschärfen: Es gibt eine Begrenztheit staatlicher und damit menschlicher Gewalt! Der Staat und seine Gesetze sind nichts Absolutes. Der Staat darf niemals sich selbst zu etwas Göttlichem erheben und erklären! (siehe dazu die wichtigen Ausführungen des Rechtsphilosophen Horst Dreier in seinem Buch „Staat ohne Gott“, München, 2018, S. 183 f.)
14.
Mit dem Islam tut sich der Staat seit Jahren schwer. Die Republik, der eigentlich nicht in die inneren Angelegenheiten irgendeiner Religionsgemeinschaft eingreifen darf, hat immerhin vor einigen Jahren schon selbst die Initiative ergriffen, die verschiedenen muslimischen Vereine unter einem gemeinsamen Dach zu vereinen. Diese Form staatlicher aktiver Religionspolitik diente dem Zweck, eine zentrale islamische Organisation als Ansprechpartner zu schaffen. Die verschiedenen Vereine der Muslime waren dazu nicht in der Lage. Genaue Zahlen über Muslime in Frankreich liegen nicht vor. Religionsstatistiken zu führen, verbietet das Gesetz der Trennung von Kirchen und Staat. Man schätzt, dass sich etwa 5 Millionen Menschen zum Islam bekennen. Sie werden von ca. 1.200 Imamen betreut, die meist aus arabischen Ländern stammen, ihnen stehen insgesamt 2.000 Gebetshäuser zur Verfügung, manchmal gibt es in größeren Städten ansehnliche repräsentative Moscheen, deren Bau seitens der übrigen Bevölkerung immer hoch umstritten war. Oder es sind meist nur schlichte Säle und einfache Räumlichkeiten. Die neuen Prinzipien der Republik, über die man im Februar 2021 diskutieren will, sollen dafür sorgen, dass Muslime besser gebildet werden, von Imamen, die alle in Frankreich ausgebildet werden, und in Moscheen predigen, die nicht von arabischen Regimen finanziert werden usw. Vor allem gilt es, den rechtlichen Status der islamischen Gemeinden zu verändern: Der Status soll, wie bei den Kirchen, als „association cultuelle“ nach den Gesetzen von 1905 gestaltet sein.
15.
Tatsache also ist, dass Staatspräsident Macron fest entschlossen ist, die muslimischen Vereine stärker zu kontrollieren, Aufrufe zu Hass und Terrror sollen schnell stärker bestraft werden… ein islamistischer Verein mit dem Titel „Barakacity“ wurde bereits aufgelöst.
Es darf aber bezweifelt werden, ob diese Maßnahmen der Politik allein hilfreich sind, „den Islam“ in die französische Republik stärker zu integrieren, um dann sozusagen einen französischen Islam zu schaffen, von dem durchaus auch einige liberale Imame in Frankreich sprechen…
Wenig hilfreich ist die unterschwellig auch in staatlichen Behörden spürbare Meinung: Der Islam und damit die Muslime seien im allgemeinen verdächtig, sie seien eher als andere polizeilich zu überprüfen, sie seien also a priori keine zuverlässigen Menschen. Solch eine Politik hinterlässt tiefe Verletzungen bei den Menschen. Die zerrissene Gesellschaft wird auf diese Weise nicht geheilt. Die Französische Republik hat große demokratische Ideale. Sie werden leider nicht für alle Bewohner und Mitbürger (denn sehr viele Muslime sind französische Staatsbürger!) angewendet. Die Krise westlicher Demokratien wird nur überwunden werden können, wenn die leitenden Prinzipien dieser Demokratien wirklich praktisch gelebt werden. Gerade im Blick auf die Schwachen, die Armgemachten, die Flüchtlinge, die Frauen usw. müssen Politiker darauf verzichten, bloß Sprüche zu machen oder an ihre nächste „Wiederwahl“ zu denken. Laicité ist eigentlich ein Bekenntnis. Und ein Bekenntnis hat nur Sinn, wenn es gelebt wird … auch von den Politikern und Bürokraten.

Copyright: Christian Modehn. www.religionsphilosophischer-salon.de

Mystik als Betrug? Die populäre katholische Seherin Marthe Robin (Frankreich) wird vom glorreichen Sockel gestürzt.

Über ein mittleres Erdbeben in der frommen katholischen Welt.
Ein Hinweis von Christian Modehn

Da lebte eine schwer kranke Frau ans Bett gefesselt. Geboren 1902, gestorben 1981, ernährte sie sich – angeblich – seit 1930 von nichts anderem als der täglichen Hostie; sie erhielt himmlische Visionen, sie soll die Wundmahle Christi an ihrem Körper gehabt haben; wurde deswegen zur Attraktion für Fromme aus aller Welt, die zu Tausenden zu ihr strömten in ihr Haus in Chateuneuf-de-Galaure im Département Drome. Es wurden in ihrem Geist „Heime der Liebe“ („Foyers de Charité“) errichtet. Sie sind weltweit zu finden, auch in Österreich, sowie in Gunzenbach bei Aschaffenburg, aber sehr viele in Frankreich (etwa in Ottrott, Alsace) und Afrika und Lateinamerika. Die neuen geistlichen Gemeinschaften, wie die Charismatiker (Gemeinschaft Emmanuel) oder die weltweit tätigen „Johannesbrüder“ verehren diese so genannte Mystikerin über alles…

Diese Seherin und Autorin viel gelesener mystischer Bücher heißt Marthe Robin. Ihre vielen VerehrerInnen setzten sich natürlich für die Seligsprechung ihrer Marthe ein, Papst Franziskus hatte ihr sogar schon einen „heroischen Tugendgrad“ bescheinigt. Nun sollte es bald so weit sein, dass sie vom Vatikan selig gesprochen werde, sozusagen als heiligmäßiges Vorbild auf die Höhe der Altäre gehoben, wie man so in katholischen Kreisen sagt.

Aber daraus wird nun nichts. Zumal auch die Priester, die so eng mit der Seherin verbunden waren, sexuellen Missbrauch praktiziert haben sollen: Der spirituelle „Vater“ der angeblichen Mysterikerin, Abbé Georges Finet, soll bei der Beichte die armen Sünder, vorwiegend Jugendliche, sexuell belästigt haben. Auch der Priester, der die Seligsprechung im Vatikan voranbringen sollte, Bernard Peyrous, musste erst mal zurückstecken, weil auch er angeklagt wird wegen der „gestes gravement désordonnés“, der schwer ungeordneten Verhaltensweisen also, im sexuellen Bereich, vermutlich.

Bislang war rund um Marthe Robin alles hübsch mit einem Heiligenschein umgeben. Nun kommt die große Ernüchterung: Und Beobachter sprechen von einem neuen, schweren Skandal, der in den kommenden Oktobertagen 2020 einmal mehr die katholische Kirche erschüttern wird: „Paris Match“ hat sich für den 8.Oktober schon mal exklusive Vorabdruck Rechte gesichert, berichtet die Pariser katholische Wochenzeitung „Témoignage Chrétien“,Paris, am 24.9.2020.
Am frühesten hat, ökumenisch sehr mutig, die bekannte protestantische Wochenzeitung „Réforme“ (Paris) am 20.9.2020 über die falsche Mystikerin berichtet. Und der Autor, Philippe Clanché, hat völlig recht, wenn er schreibt: „Die Mehrzahl der neuen spirituellen katholischen Bewegungen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden, sind heute beschmutzt (souillés) durch die Freilegung des Autoritarismus oder des abweichenden sexuellen Verhaltens (also des Missbrauchs) ihrer Gründer.“ Ich habe diese vielfältigen Verirrungen dieser von Papst Johannes Paul so hoch verehrten neuen geistlichen Gemeinschaften auf der website religionsphilosophischer-salon.de dokumentiert. Diese Kreise sollten die so genannte „neue Evangelisierung“ befördern, haben aber oft nur Probleme und Irritationen geschaffen.
Der Autor der Wochenzeitung „Réforme“ fährt fort: „Und wir erfahren heute, dass eine der am meisten populären Heldinnen des frommen Frankreich nun offenbar von ihrem Sockel gestürzt wird“: Marthe Robin, die Betrügerin, umgeben von einem Kreis von Betrügern, die die Seherin hoch puschten, zur Heldin machten …um davon zu profitieren.

Am 8. Oktober 2020 soll also in dem angesehenen Verlagshaus „Editions du Cerf“ in Paris, das von den Dominikanern geleitet wird, ein Enthüllungsbuch erscheinen, über das bisher sehr wenig enthüllt ist: Nur so viel: Die hoch verehrte Mystikerin Marthe Robin (1902 -1981) aus Frankreich war eine Betrügerin. Ihre bewunderten und so außergewöhnlichen Visionen, die sie niederschreiben ließ und die als Bücher erschienen, sind tatsächlich keine außergewöhnlichen himmlischen Einsichten, sondern ganz banal und etwas raffiniert: Eben Plagiate! Abschriften von spirituellen Texten aus dem 19. Jahrhundert. In mühevoller Jahrelanger Arbeit hat das Prof. Conrad de Meester aus Belgien herausgearbeitet, er ist im Dezember 2019 gestorben. Er war ein angesehener Fachmann für Fragen der Mystik und Mitglied in dem auf Mystik sozusagen spezialisierten Orden der Unbeschuhten Karmeliten. Das Manuskript dieses Buches fand man in seinem Kloster in Belgien post mortem in seinem Schreibtisch.
Prof. de Meester zeigt in seinem umfangreichen Buch, dass die angeblich seit Jugendzeit ans Bett gebundene, kranke Marthe Robin doch wohl nicht gelähmt war, wie ihre VerehrerInnen glauben: Der Professor hat z.B. die Hausschuhe von Marthe Robin untersucht, und da zeigten sich „usures inexplicables“, unerklärliche Gebrauchsspuren.
Sehr viel mehr hat „Réforme“ bisher mangels Kommunikation mit dem Verlag nicht publizieren können, lediglich vom Verlag du Cerf wurde für einige Tage eine Pressenotiz im Internet sehr bedeutungsvoll verbreitet: „Dies ist eines der Investigations/Forschungs- Büchern, deren Erkenntnisse ein davor und ein danach markieren. Denn dieses Buch enthüllt eine etablierte Lüge, indem es jedes geheim gehaltene Urteil („raison“) demontiert, auseinandernimmt und auch jedes versteckte Netzwerk freilegt, weil es dessen Autoren, Komplizen und den Opfern die Masken abreißt („démasquer“).
Bemerkenswert ist, dass diese Pressemeldung des Verlages du Cerf noch am 22.9. 2020 auf der Website des Verlages von mir gelesen wurde. Heute, am 24.9.um 15 Uhr, ist diese Pressemeldung von der Verlagswebsite verschwunden! Es kann schon sein, dass gegen dieses monumentale Buch (von ca. 400 Seiten) gerichtlich vorgegangen wird oder dass es in einem nicht-katholischen Verlag erscheinen muss, weil die Dominikaner mit der Angst zu tun bekamen.

Denn Marthe Robin zu entthronen, bedeutet: Mystik als Betrug: Das ist schon „ein Skandal“, den viele kritische Beobachter schon bei dem heiligen Scharlatan Pater Pio oder der Seherin Therese Neumann von Konnersreuth entdeckten. Aber die katholische Kirchenführung hält wider besseren theologischen Wissens an diesem Wunderglauben, diesen Stigmatisierungen und Visionen etc., fest. Die Kirche glaubt mit diesem „Zeug“ die Spiritualität, den Glauben, in der säkularen Welt retten zu können. Aber die Menschen wollen Argumente für Gott, nicht spinöse Wundermärchen und Lügen.
Klar ist schon jetzt: Ein ganzes Werk, diese „foyers de charité“, erscheint in anderem, finsteren Licht von Betrug und Machenschaften…
Und die Menschen nehmen hoffentlich Abstand von einem mysteriösen Glauben, der mysteriös aufgebauscht wurde.

Das Interesse an einer authentischen Mystik, die gibt es ja noch manchmal (!), dieses Interesse bleibt. Meister Eckart oder Theresa von Avila und Johannes vom Kreuz wird man wohl nicht des Betrugs überführen. Dafür sind ihre Texte echt.

Conrad de Meester, „La fraude mystique de Marthe Robin“. Editions du Cerf, Paris, soll, so Gott und der Vatikan wollen, am 8.10. 2020 erscheinen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.