Gegen die Macht der Gewohnheit – Widerstand fördert Lebensenergie

Innerhalb des praktischen Philosophierens sollte es immer auch um praktische Lebensfragen, vielleicht manchmal auch – griechischen Vorbildern folgend – um Anregungen für eine erneuerte Lebenspraxis gehen. Angesichts des Gefühls permanenter Überforderung und dauernder Frustration über die offenkundige Unmöglichkeit, in absehbarer Zeit widerwärtige Zustände von Ungerechtigkeit in Gesellschaft, Staat, Ökonomie usw. zu verändern, bleibt die Frage: Wo gibt es einen Ausweg aus der Verzweiflung.  Im folgenden ein Vorschlag, der im Januar 2010 in PUBLIK FORUM veröffentlicht wurde.

S E I   U N G E H O R S A M !

Veränderung geschieht nur durch Leid und Leidenschaft. Doch wer diese Gesellschaft verbessern will, braucht Vernunft – und spirituelle Kraft

Von Christian Modehn

Wir lebten im Zeichen der Doppelnull.« – Dieses wenig fröhliche Resümee steht am Beginn des neuen Jahres. Die Tatsache, dass zur Zählung der ersten zehn Jahre des neuen Jahrtausends zwei Nullen erforderlich waren, wird politisch gedeutet: Korruption, Gewalt, Katastrophen allerorten. Die Unvernunft regierte; weltweit erschallten Litaneien der Depression: Ökokrise, Terrorismus, Hungersterben, Arbeitslosigkeit, Klimakatastrophen und politische Apathie. Nicht zu vergessen die fundamentalistische Einbunkerung von Kirchen und Religionen. Die Klageweiber und Klagemänner warnen und mahnen also, beschwören und appellieren: »Die Verantwortlichen« sollten endlich alles besser machen. Dumm nur, dass diese »Verantwortlichen« auf derselben Ebene argumentieren: Die Bürger sollten nun endlich die Karre aus dem Dreck ziehen.

Aufbegehren! Wer einen Ausweg aus diesem Kreislauf sucht, muss die Vernunft aktivieren, ihr wieder etwas zutrauen. Denn wenn wir auf unser Bewusstsein achten, wird sichtbar: In unserem Jammern und Klagen kommen Kontrasterfahrungen ans Licht, Zeichen des Aufbegehrens: »So, wie die politische und ökonomische Gegenwart ist, sollte menschliches Miteinander doch eigentlich nicht sein.«

In unserem leidenschaftlichen Verlangen sind wir »trotz allem« über das allgemeine Elend schon ein Stück hinaus: Durch unsere Fantasie, Sehnsucht und Vernunft sind wir verbunden mit dem großen Menschheitstraum: »Eine andere Welt ist möglich.« Dies ist die lebensbejahende Erfahrung unseres Geistes. Wir müssen sie mit den Gefühlen verbinden: Dann wird »beherztes Denken« möglich.

Schon die ersten Philosophen wussten davon, welch besondere Wirkung Erkenntnisse haben können. Nämlich dann, wenn sie verinnerlicht, also in einem tiefen Sinne angenommen werden. Sie erzeugen dann echte Lust, führen zu einem geradezu erotischen Erlebnis. Möglicherweise sollten wir unsere vernünftige Lebensweisheit für uns selbst laut aussprechen – wie ein Gebet. Zum Beispiel: »Meiner Sehnsucht nach Gerechtigkeit will ich tatsächlich folgen.« Die philosophische Heilmethode der alten griechischen Denker bestand ja darin, lebensbejahende Wahrheiten immer wieder sprechend zu bedenken – und im Gespräch mit anderen zu vertiefen.

So könnte es gelingen, sich vom ideologischen Müll der letzten Jahre zu befreien. Der erste Befreiungsschlag ist die Frage: Mit welcher Charakterstruktur haben Politiker und Ökonomen diese offenbar heillose Situation erzeugt? Der Psychotherapeut und Sozialphilosoph Erich Fromm bietet eine überzeugende Analyse: Er spricht vom »Marketing-Charakter« einer Persönlichkeit, die sich unter anderem Makler, Manager, Beamte, Politiker zulegen müssen, um sich in ihrem Beruf durchzusetzen. »Um Erfolg zu haben, müssen diese Menschen imstande sein, in der Konkurrenz mit anderen die eigene Persönlichkeit vorteilhaft zu präsentieren. Diese Menschen müssen unter allen Umständen gut funktionieren.« Erich Fromm betont: »Diese Marketing- Charaktere kümmern sich dann nicht mehr um ihr eigenes Leben und ihr eigenes Glück, sondern nur noch um ihre Verkäuflichkeit. Sie werden selbst zu einer Ware.«

Die seelischen Konsequenzen sind offensichtlich: »Die Marketing-Charaktere haben ein sich ständig wandelndes Ich. Aber keiner von ihnen hat ein Selbst.« Die innere Leere muss notwendigerweise durch Gier nach »immer mehr« befriedigt werden. Und mit der Gier entsteht die Angst, der andere könnte das gierig Geraubte wieder wegnehmen. Aggressionen und Krieg haben hier ebenso eine Wurzel wie die Unfähigkeit, die Gefühle anderer wahrzunehmen. Erich Fromm sagt: »Das mag auch erklären, warum sich diese Marketing–Typen keine Sorgen über die Gefahren nuklearer und ökologischer Katastrophen machen, obwohl sie alle Fakten kennen, die eine solche Gefahr ankündigen.« Zu diesem verpanzerten Charakter passt eine fundamentalistische Ideologie, die besserwisserisch und aggressiv ist.

Das Phänomen Berlusconi. Jene Charaktere in »der ersten Reihe« aber werden letztlich von einer tief sitzenden Zustimmung breiter Kreise getragen. Eklatant ist das im heutigen Italien. Das Phänomen Berlusconi lässt sich nur so verstehen: Die Anhäufung von Vermögen, die Bestechlichkeit, die Willkür gegenüber den Gesetzen, die Verachtung »der anderen«, die pauschal nur »Linke oder Kommunisten« sein können, diese destruktive Charakterstruktur entspricht tatsächlich auch der tiefen Sehnsucht breiter Kreise: »Eigentlich möchten wir selber Berlusconi sein«, sagt Roberto Saviano, Autor des Buches »Gomorrha«. Er macht darauf aufmerksam, wie verdorben die Charakterstrukturen nicht nur der Herrschenden, sondern auch der Beherrschten sind. Berlusconi und Co. können sagen: »Meine Wähler wollen mich so.« Die sogenannte Elite in Politik und Ökonomie vertritt die Interessen »ihres Volkes«.

Wie aber funktioniert das? Die Massenmedien der Herrschenden haben »im Volk« genau das Bewusstsein geschaffen, das die eigene Karriere sichert. Das gilt nicht nur für das System Berlusconi, sondern – auf weniger fundamentalistische, aber dennoch auf wirksame Weise – für alle Formen gesellschaftlicher Besitzstandswahrung. Darum zum Beispiel konnte es beim Weltklimagipfel in Kopenhagen letztlich nur um egoistische Interessen gehen. Vor Tagungsbeginn wurde die Erfolglosigkeit dieses Treffens vorausgesagt – zu Recht.

Wie kann man sich da noch vor tiefer Verzweiflung bewahren? Patentrezepte gibt es nicht. Aber: Menschen resignieren nicht im Miteinander, in der Vitalität von Gruppen, die ihr Leiden an der Realität konstruktiv bearbeiten. Wer die Berichte von Greenpeace-Aktivisten liest – wie sie zum Beispiel innerhalb des 220 Meter hohen Schornsteins des englischen Kohlekraftwerkes Kingsnorth hochkletterten, um dann von der Spitze des Schornsteins aus die Regierung zur ökologischen Umkehr aufzufordern –, der weiß: Es ist die von Vernunft geleitete Leidenschaft, die diesen Menschen den Mut gibt, Angst zu überwinden.

Nicht jeder kann sich an Greenpeace-Aktionen beteiligen; doch viele wollen ihrem Gewissen folgen. Angesichts der globalen Probleme heute hat Gutes-Tun jedoch nur Sinn, wenn Verändern Verbessern bedeutet. Und das heißt: Wandel der politischen und ökonomischen Strukturen. Es muss sichtbar werden, dass auch die Ausgegrenzten und Ausgebeuteten eine Verbesserung leibhaftig erleben.

Wenn Immanuel Kant heute lebte, hätte der Philosoph einen neuen Kategorischen Imperativ formuliert: »Handle so, dass die Veränderungen, die du leistest, auch zu einer wirksamen Verbesserung der Lebensbedingungen derer führen, die bisher wie Untermenschen behandelt wurden.«

Die Besinnung auf die »große Sehnsucht«, die im Leiden an allem Negativen aufleuchtet, fordert eine neue Tugend: den Ungehorsam, der mehr ist als eigensinniges Nein-Sagen. Ungehorsam ist der aktive Verzicht darauf, gängige Verhaltensmuster weiterhin zu akzeptieren, in ihnen zu leben und zu handeln. Dieser Verzicht lebt aus der Leidenschaft, mit anderen zum Beispiel über neue Formen des Konsums zu beraten und sie dann auch zu probieren. Die Freude – etwa über den Erfolg eines Verbraucherstreiks – muss man in einem Fest auskosten. Oder: Welche Leidenschaft kann es sein, E-Mail-Petitionen zu inszenieren – etwa um die parlamentarische Diskussion der Steuer für Finanztransaktionen durchzusetzen? Und wie glücklich kann es machen, nicht einfach wegzuschauen, wenn Kollegen im Betrieb kaltgestellt werden – sondern den Mut aufzubringen, sich zu solidarisieren? Fromm schreibt: »Jeder Akt des Ungehorsams ist zugleich Gehorsam gegenüber einem wichtigeren Prinzip: Ich bin dem gesellschaftlich propagierten Idol gegenüber ungehorsam, weil ich Gott gehorche. Ich widersetze mich dem Kaiser.«

Wie auch immer Gott verstanden wird – entscheidend ist, sich an die Kraft der Vernunft und an seine eigenen spirituellen Reserven zu halten. Nur so können sich Kritik und Widerstand nachhaltig behaupten. Ob Kirchen und Religionen 2010 wohl für dieses Empowerment stehen werden?

“Homosexuelle kommen nicht in den Himmel” – Theologische Perspektiven von Kardinal Lozano Barragan

„Homosexuelle kommen nicht in den Himmel“:

Theologische Perspektiven von Kardinal J. Lozano Barragan, Rom

Die italienische Presseagentur ANSA meldet am 2. 12. 2009: Der Kurienkardinal in Rom,  Javier Lozano Barragán (ein Mexikaner, 76Jahre alt),  habe in einem Interview betont: “Homosexuelle und Transsexuelle kommen nicht in den Himmel“. Als Begründung nannte der Kardinal die „berühmte“ Stelle aus dem Römerbrief des Apostels Paulus (1, 23ff).  Wie alle Fundamentalisten versteht er diese Bibelstelle wortwörtlich, er macht sich nicht die geringste Mühe, dieses Statement aus dem Jahre 60(!) in einen historischen Kontext zu stellen.

Der mexikanische Kardinal war bis zu seiner Pensionierung kürzlich einer der engsten Mitarbeiter des Papstes. Er sollte sich als „Präfekt“ um die geistige und körperliche Gesundheit der Katholiken, wenn  nicht der Menschheit kümmern! Lozano Barragán fügte in dem genannten Interview hinzu: „Wenn Homosexuelle und Transsexuelle gegen die Würde des Leibes handeln, werden sie bestimmt nicht in das Himmelreich eingehen“. Was das im einzelnen bedeutet, ließ er offen. Indirekt will er wohl sagen: Sie kommen in die Hölle.

Der Kardinal hat offenbar eine direkte Verbindung zum lieben Gott, er glaubt zu wissen, wem die Himmelstür offen steht und wem nicht. Im Mittelalter hatten viele Theologen solches absonderliche Wissen und konnten entsprechend strafen und ausgrenzen. Mit dieser Aussage, eines Kardinals im 21. Jahrhundert,  werden Homosexuelle und Transsexuelle offiziell als „Verlorene“, als „Minderwertige“, der Hölle offenbar Anheimgegebene betrachtet. Der Kardinal reiht sich damit aktuell ein in die Hasstiraden von heutigen RAP – Sängern z. B. in Deutschland und Jamaika, vor allem in die Schlägertrupps,, die weltweit homosexuell lebende und liebende Menschen verfolgen und gewaltsam erniedrigen. Von  den Verfolgungen Homosexueller bis zum Jahr 1960 selbst in europäischen Staaten ganz zu schweigen.

Im „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon“ wird über das Thema auch deswegen diskutiert, weil die Ausführungen des Kardinals die Menschenwürde verletzen und indirekt zum Hass aufrufen.

Diese Aussagen sind skandalös, sie sind –nicht nur theologisch- Unsinn. Selbst der im ganzen homosexuellen feindliche Offizielle Katechismus der römischen Kirche ist da noch milder. Die Frage ist, ob irgendein Theologe oder Bischof diesem Kardinal widerspricht. Aber dazu fehlt es in der römischen Kirche vielleicht längst an Mut. Interessanterweise gehört Kardinal Lozano Barragán zu den Verteidigern der Versöhnung des Papstes mit den Pius Brüdern. Er entschuldigte den Holocaust Leugner, den Traditionalisten Bischof Williamson, mit den Worten: „Ist es eine Sünde, eine Dummheit zu sagen?“ (so die spanische Tageszeitung El Mundo am 8. Feb. 2009).  Und als er als Chef des Gesundheit – Ressorts des Papstes zur Aids Thematik angesprochen wurde, begründete er seine Ablehnung der Kondome mit den Worten: „Meine offizielle Meinung besteht darin, das getreu wiederzugeben, was der Papst sagt“, so am 6. Mai 2006, in „Cardinalrating“. Mit solchen Worten haben Funktionäre in Bürokratien aller Länder immer schon gesprochen. Bis jetzt hat sich der Papst nicht von den Worten seines Mitarbeiters distanziert. Ist das zu erwarten?

Heterosexuell geprägte Kultur ist nicht “normal”

Ein Beitrag aus PUBLIK FORUM vom 22.5. 2009

Was heißt schon »normal«?

Ein Blickwechsel erschließt eine neue Welt: Unsere heterosexuelle Kultur ist nicht einfach »richtig«. Aber was könnte bloß falsch daran sein? Ein Essay

Von Christian Modehn

In Berlin wurde vor einigen Wochen ein großes Hotel eröffnet, das sich offiziell »heterofriendly« nennt. Dort wollen sich Schwule und Lesben als die Mehrheit unter den Gästen besonders freundlich gegenüber der heterosexuellen Minderheit verhalten. Homosexuelle werden an vielen Orten, am Arbeitsplatz oder bei Vermietern, in Restaurants oder Hotels, nur selten »friendly« behandelt. So möchte das Berliner Hotel zeigen: Selbst eine weltweit immer noch verachtete und oft verfolgte Minderheit kann freundlich sein zur Mehrheit.

Als ich mir das Hotel kürzlich anschaute, erlebte ich, wie schwule Paare sich selbstverständlich an der Bar küssten. In dieser erfreulich freien Atmosphäre saßen irritiert zwei Heteropaare, so als würden sie sich fragen: Dürfen wir uns hier auch mal umarmen? Aber je länger sie sich am Abend in der Bar an die ausgelassene Stimmung gewöhnten, umso spürbarer fühlten sie sich in dieser Runde wohl. Eine Französin begann hier mit ihrem Mann ihre Deutschland-Reise zur Silberhochzeit: »In diesem Haus erlebe ich mich zum ersten Mal bewusst als ›Hetero‹ oder sagt man ›Hetera‹?« Sie lachte. »Wir als sexuelle Mehrheit nennen uns selbst sonst nie so! Nur die Minderheit wird von uns mit einem Titel ausgegrenzt, zu ›anderen‹ gemacht.«

Auch wenn die Heterosexuellen statistisch die absolute Mehrheit unter den Menschen darstellen: Sind sie deswegen »die Normalen«? Sind sie automatisch die »Natürlichen«, die bestimmen sollten, was gut und richtig ist? Schon die mittelalterlichen Logiker lehrten: Die Mehrheit hat nicht automatisch recht! Wahrheit ist keine Frage der Quantität. Damit ist aber auch nicht gesagt, dass die Minderheiten recht haben.

In den Debatten der letzten Jahre über die Geschlechterrollen kamen ausführlich feministische Forderungen zur Sprache, auch die Rolle der (Hetero-)Männer wurde Thema zahlreicher Studien. »Nur die soziale Bedeutung und historische Herkunft der Heterosexualität wurde bisher kaum untersucht«, berichtet Louis-Georges Tin. Der 35 Jahre alte Historiker, Literaturwissenschaftler und Publizist hat vor Kurzem in Paris das viel beachtete Buch »Die Erfindung der heterosexuellen Kultur« veröffentlicht. 2003 hatte er bereits ein umfangreiches wissenschaftliches Lexikon zum Thema »Homophobie« herausgegeben. Diese Bücher wurden mit viel Zustimmung aufgenommen, unter anderem von der renommierten Tageszeitung Le Monde.

Für Louis-Georges Tin ist die heute wie selbstverständlich erscheinende heterosexuell geprägte Kultur alles andere als eine naturwüchsige Gegebenheit. Sie ist wie jede Kultur von Menschen geschaffen. Aber sie hat sich als einzig legitimes und allseits propagiertes Verhalten durchgesetzt: im Recht, in der Kunst, der Literatur, der Religion.

Das Hauptargument dieses »Heterosexismus«, so Tin, sei die »universale Verwiesenheit« des Menschen auf »den anderen«. In dieser weltweit propagierten Ideologie könne sich der Mensch nur mit diesem sexuell anderen »entwickeln«. Und das heiße: Die biologische Unterschiedlichkeit von Männern und Frauen werde als notwendige Verwiesenheit aufeinander gedeutet und zur Norm erklärt. Wer sich anders verhalte, werde als »Anormaler«, »Kranker«, »Perverser« ausgegrenzt. So werde aus dem Biologismus ein universaler Wert.

»Aber erst seit dem 12. Jahrhundert ist dieser Heterosexismus in Westeuropa absolut bestimmend«, schreibt Tin. »Bis dahin hatte die von den Rittern geprägte homosexuell bestimmte Kultur ihr Lebensrecht. Ich denke auch an die Lieder, die männliche Freundschaften preisen, etwa im Rolandslied. Oder im Lied Claris und Lars.«

Diese homoerotisch dominierte Zeit der Ritter begann etwa im 8. Jahrhundert. Louis-Georges Tin empfiehlt sie keineswegs pauschal als Vorbild. Denn: Viel Gewalt bestimmte diese Zeit. Dem Pariser Autor liegt nur daran zu erinnern: Es gab einmal eine längere Epoche in Europa, die »anders« war. Das »christliche Abendland« sei nicht »immer« von der Ehe zwischen Mann und Frau bestimmt gewesen.

Tins Studien werden von angesehenen Mittelalter-Historikern unterstützt, etwa von Georges Duby. Er schrieb: »In der Ritterschaft ist die normale Liebe, die dazu drängt, sich selbst zu vergessen, sich zu überschreiten zu Ehren eines Freundes, tatsächlich homosexuell. Ich meine nicht, dass diese Liebe zwangsläufig immer zu einer körperlichen Vereinigung führte. Aber es ist ganz klar, dass die Gelehrten damals angesichts dieser Liebe zwischen Männern überhaupt erst das Wort Liebe erfanden.« Unterstützt werden diese Überlegungen auch von Studien des US-Amerikaners Jonathan Katz über »Die Erfindung der Heterosexualität« (New York 1995); auch sie sind in Deutschland fast unbekannt.
Seit dem 12. Jahrhundert setzt die Kirche die Verbindung von Mann und Frau als einzig mögliche Form sexueller Begegnung durch. In dieser Ehe wird sexuelle Praxis nur als Kinderzeugung respektiert; seit dieser Zeit ist sie auch eine gottgewollte Institution, ein Sakrament.
Dadurch sollte Ordnung und Übersichtlichkeit in Staat und Gesellschaft geschaffen werden, der Ehegatte wurde zum allmächtigen Vater der Familie. Sexuelle Lust als solche wurde verboten. Ledige Mütter, Unverheiratete, »Junggesellen«: Alle, die dieser patriarchalen Ehe nicht entsprachen, wurden diskriminiert, am meisten natürlich die »Perversen«. Es ist sehr bezeichnend, dass gleichzeitig im 12. Jahrhundert der Pflichtzölibat für Priester eingerichtet wurde: Unverheiratete Männer darf es nur noch als Priester geben. Aber in gewisser Weise hat dort eine gelegentliche schwule Vorliebe für die Travestie überlebt: Denn die Priester- und Bischofsgewänder erinnerten weiterhin an die Frauenmode der Antike. »Die langen Gewänder waren ursprünglich Frauen vorbehalten«, schreibt der Kulturwissenschaftler Thomas Hauschild: »Die Priester ließen es zu, dass ihre Kleidung immer weibischer wirken musste. Zur Messe präsentierten sie sich prächtig wie Paradiesvögel auf der Altarbühne …«

In dieser Epoche einer totalisierten Heterosexualität und einer nach außen hin asexuellen Zölibatswelt konnten nur sehr wenige Mutige offen vom Glück ihrer Männerfreundschaft sprechen. Einer von ihnen war der Philosoph Michel de Montaigne (1533-1592). Für ihn war die Verbindung mit seinem Freund Etienne de la Boétie überhaupt das Höchste und Reinste. Deren Freundschaft zeigte: Es gibt ein »Wachsen des Einzelnen durch die Liebe zum anderen Menschen des gleichen Geschlechts …«

In einigen wenigen demokratischen Ländern haben Schwule und Lesben in den letzten vierzig Jahren erfolgreich für die Anerkennung ihrer Gleichwertigkeit gekämpft. Dort wurde die »Homo-Ehe« eingeführt. In Schweden, aber auch in Holland, können homosexuelle Ehepaare sogar Kinder adoptieren. Den Gesetzgebern ist klar: Heterosexualität ist nicht automatisch eine Qualifizierung für die Kindererziehung. Die hohe Anzahl verwahrloster oder getöteter Kinder aus Hetero-Ehen ist dafür nur ein Beleg.

Mit der Einführung der Homo-Ehe beginnt eine neue, eine menschlichere Epoche, eine Zeit der Gleichberechtigung. Und dabei verändert sich auch die »Hetero-Ehe«: Vom klassischen »Herrn der Familie« ist in unseren Breiten nicht mehr oft die Rede. Und Hetero-Männer dürfen sich heute auch mal schwach fühlen, sich der Zärtlichkeit hingeben, ja auch »passiv«, »empfänglich« werden …

Aber gerade die gesetzlichen Verbesserungen im Leben schwuler und lesbischer Menschen haben auch die Homophobie – also die Angst vor der Homosexualität – erneut angefeuert. Evangelikale Kreise wollen Lesben und Schwule zur »einzig wahren Heterosexualität« bekehren. Kürzlich wurde bei einem Kongress in Marburg für solche »Gehirnwäschen« geworben.

Aber in der zivilisierten Welt setzt sich die Meinung durch: Heterosexualität ist nichts anderes als eine sehr häufig vorkommende Variante in der Vielfalt gleichberechtigten sexuellen Lebens. Wer das (noch) nicht sieht, könnte ja mal »heterofreundliche« Orte besuchen …
COPYRIGHT: Christian Modehn; Religionsphilosophischer Salon Berlin

Religionen gegen Homo-Ehe

Im Kampf gegen die „Homo-Ehe“ bildet sich eine immer breitere Koalition „religiöser Menschen”

So viel Übereinstimmung ist selten: Da unterschreiben ein Kardinal, ein Ober – Rabbiner, ein Imam sowie führende Geistliche der griechisch-orthodoxen, der anglikanischen, der lutherischen, der methodistischen und der armenisch-apostolischen Kirche ein gemeinsames Dokument. Es soll „die“ Ehe schützen. Das Motto: „Die Ehe ist nur als  Verbindung von einem Mann und einer Frau möglich“.  Veröffentlicht wurde der Text im Februar 2007 in Lyon, Frankreich. Darin wenden sich die monotheistischen Religionen gegen einen gemeinsamen Feind: Die „Homo Ehe“, Weiterlesen ⇘