Homoehe ist selbstverständlich: Positionen der Kirche der Remonstranten

„Homoehe“ ist für Remonstranten selbstverständlich
Ein Hinweis zur aktuellen Diskussion, oder: Von der “Gnade der theologischen Neuinterpretation”
Von Christian Modehn

Eine aktuelle Meldung zuerst: Innerhalb der vielfältigen “Gay Pride 2013” Veranstaltungen in Amsterdam findet am Freitag, den 2. August 2013, um 19 Uhr auf dem Rembrandtsplein ein Konzert statt, “Strijders vorr liefde” ist der Titel. Bei diesem “event” stehen zwei Menschen im Mittelpunkt, die es gewagt haben, sich offen zu ihrer Homosexualität zu bekennen: Sam Opia, auch Leticia genannt, ist eine der ersten Personen im afrikanischen Uganda, die sich als “transgender Frau” bekennt, in dem christlich geprägten Uganda bedeutet diese “Untat”: lebenlänglich ins Gefängnis! Auch Robbie Rogers wird in Amsterdam dabei sein, der erfolgreiche Fußballer hat sich in einem noch immer homophoben Milieu (auch der Fans!) geoutet. Bei der Amsterdamer Gaypride 2013 wird an die Verletzung von Menschenrechten nachdrücklich erinnert; die Remonstranten – Kirche unterstützt dieses Projekt auch finanziell. (verfasst am 18.7.2013).

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Welche Position hat die protestantische Kirche der Remonstranten zur sogen. „Homoehe“ ? Diese Frage wurde uns in den vergangenen Tagen häufig gestellt; offenbar hat die neueste „Orientierungshilfe“ des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland“ (EKD) breite Irritationen verursacht: Der Rat der EKD hat im Juni 2013 unter dem Titel “Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ Vorschläge unterbreitet, die Ehe neu zu verstehen, ohne dabei die umfassende und gerechte Gleichberechtigung homosexueller Menschen zu vernachlässigen. Diese Schrift hat nicht nur unter konservativen Kreisen innerhalb der EKD Widerspruch gefunden, vor allem in der römisch katholischen Kirche wird aufs heftigste gegen diese Orientierungshilfe polemisiert; es wird von bischöflicher Seite aus mit dem Abbruch der angeblich guten ökumenischen Beziehungen zwischen Protestanten und Katholiken gedroht. Auf diese Weise will man die freie theologische Debatte offenbar machtvoll unterbinden und den römischen Kurs für alle christlichen Kirchen durchsetzen. Interessante Perspektiven jedenfalls zum bevorstehenden Luther – Jubiläum… Selbst die sonst eher noch vernünftig erscheinende Wochenzeitschrift „Christ in der Gegenwart“ aus dem katholischen Herder Verlag redet jetzt, in der Ausgabe vom 7. Juli 2013, in wilder und unvernünftiger Wut, möchte man sagen. Das Blatt unterstellt der EKD, blind „Zeittrends“ hinterherzulaufen. Ein paar Zeilen vor dieser Anklage wurde den um volle Gleichberechtigung der Homosexuellen bemühten Organisationen gar „subtile, kollektive Gehirnwäsche“ unterstellt. Uns scheint, wieder einmal in religionskritischem Zusammenhang unseres Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons: Diejenigen, die sich auf „das“ biblische Eheverständnis berufen, haben kein Verständnis für eine kritische –historische Lektüre der Bibel; sie klammern sich an die wenigen biblischen Verse in AT und NT, die sich mit der Verbindung von Mann und Frau befassen. Aus dem -sehr offen formulierenden – biblischen Spruch “Gott schuf die Menschen als Mann und Frau” leiten sie gar die Ausschließlichkeit der heterosexuellen Ehe ab. Diese Texte sind bekanntlich nicht nur vor mindestens 2000 Jahren geschrieben, in einer Welt, die noch keine Sexualwissenschaft und Psychologie usw. kannte. Darüber sind in diesen Erzählungen frommer Menschen vor 2000 Jahren und früher vor allem jedoch mit götttlicher Vollmacht ausgestattete Plädoyers enthalten, die Liebe als das Höchste hochzuschätzen…Die Bibel ist also kein Ehekompendium für heterosexuelle Eheleute, sondern eine Aufforderung zu Liebe und Gerechtigkeit. Das vergessen alle, die heute die Hetero Ehe für das höchste Gut halten.
Wir wollen uns auf diese Polemik konservativer und ach so biblischer Kreise nicht weiter einlassen, diese Polemik wirkt sehr parteiisch, wird wohl auch mit parteipolitischen Optionen etwa für die CDU (Wahl im September 2013!) gefüttert.
Die protestantische und freisinnige Kirche der Remonstranten hat im Jahr 1986 ihre Kirchenordnung nach einer etwa zehnjährigen Diskussion verändert, um dem gewandelten Verständnis von Homosexualität endlich auch theologisch – kirchlich Rechnung zutragen und um Gerechtigkeit für Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung zu realisieren: Seit 1986 also ist es für die Remonstranten selbstverständlich, dass homosexuelle Paare den kirchlichen Segen in den Remonstranten Kirchen erhalten können, auch in einem Sonntagsgottesdienst, ganz offiziell als normale Feier.Homopaare können also ihre „Ehe“ kirchlich feiern. Noch einmal: Diese kirchliche Feier ist selbstverständlich und wird als solche nicht in Frage gestellt. Die Homosexualität ist für Remonstranten normal, wie es auch Sexualwissenschaftler und Psychologen betonen, Homosexualität ist nur eine seltener vorkommende Form von Sexualität.
Die Remonstranten waren 1986 also die erste Kirche weltweit, die sich für diese offizielle Segnung entschieden hatte, sie bietet diese kirchliche Feier auch homosexuellen Paaren an, die nicht der Remonstranten Kirche angehören.
Entscheidend ist, dass die neue Kirchenordnung der Remonstranten jetzt alle Beziehungen zwischen Menschen, ob nun hetero – oder homosexuell, einfach nur „Levensverbintenis“ nennt, also, wörtlich übersetzt:„Lebenskontrakt“ bzw. „Lebensvertrag“ nennt. Auf den Begriff „Ehe“ wird verzichtet, weil er zu exklusiv noch an die Verbindung zwischen Heterosexuellen erinnert. „Der Grundgedanke dabei war, dass alle Theologie eben auch von der Gnade der Neuinterpretation (etwa der Bibel) lebt“, so in dem empfehlenswerten Buch „Coming Out Churches“, Meinema Verlag, 2011, Seite 68). “Gnade der Neuinterpretation” dieses Wort mögen sich etwa die Gegner der EKD Studie einmal “auf dem Mund zergehen lassen”.
Dieser Schritt der Remonstranten, homosexuelle Menschen als absolut gleichwertig in jeder Hinsicht zu sehen, wurde damals – wie nicht anders zu erwarten bei Christen, die Bibelsprüche immer dann wörtlich nehmen, wenn es ihnen ideologisch passt – heftig kritisiert. Aber es gab auch vereinzelte katholische Stimmen, die der Veränderung der Kirchenordnung der Remonstranten zustimmten, wie etwa vonseiten des damaligen Studentenpfarrers in Amsterdam, des Jesuiten Pater Jan van Kilsdonk. Er bezeichnete die Homosexualität ausdrücklich als „eine Erfindung des Schöpfers“,
Der niederländische Gesetzgeber hat dann im Jahr 2001 als erstes Land der Welt überhaupt die bürgerliche Ehe auch für homosexuelle Menschen geöffnet, das war 15 Jahre nach dem Beschluss der Remonstranten. Nebenbei: Die Remonstranten gehören selbstverständlich zum “Ökumenischen Rat der Kirchen in Holland”, sie sind Mitglied im “Weltrat der Kirchen in Genf”…
Inzwischen hat der Allgemeine Sekretär der Remonstranten, der Theologe Tom Mikkers, zusammen mit dem Reformierten Pastor Wiellie Elhorst, ein Buch publiziert, das einen landesweiten Überblick bietet zur Möglichkeit der Segnung von Lesben und Schwulen: „Coming out churches“ ist der Titel, (siehe oben). Denn inzwischen sind neben den Remonstranten auch etliche Gemeinden der offiziellen Protestantischen Kirche der Niederlande (PKN) „zum Segen bereit“, sowie grundsätzlich die Kirche der Mennoniten (Doopgezinde in NL), die „Apostolisch Genootschap“ und die „Vrijzinnige Geloofsgemeenscap NPB“. Hinzukommen auch die „Basisgemeiden“ wie „Dominikus“ , „de Duif“ oder die „Studentenecclesia“ (gegründet von Huub Oosterhuis) in Amsterdam.
Die Remonstranten haben sich jedenfalls gefreut, als sie im Jahr 2010 von dem landesweit hochgeschätzten (und gar nicht immer kirchlch gesinnten) Verein zur homosexuellen Emanzipation (COC) einen Preis der Anerkennung erhielten. Aber die Remonstranten wissen auch, dass sich die Verfolgung und Unterdrückung von Homosexuellen, etwa in christlich geprägten Staaten Afrikas, wie Uganda, Nigeria oder Simbabwe, auf offizielle Texte der Kirchen in Europa berufen kann. Denn in diesen Texten wird noch immer – direkt oder indirekt – ein minderer Status, eine größere Wertlosigkeit, homosexuellen Lebens hoch tönend fortgeschrieben. Diese verheerende, weil oft genug – indirekt -tödliche Wirkung angeblich so frommer und bibeltreuer Texte aus europäischen Kirchen, vor allem aus Rom, sollte man nicht vergessen.
In Holland waren es die Eltern homosexueller Kinder, die endlich kirchlichen Respekt für ihre Töchter und Söhne forderten. Bei den Remonstranten haben sie offene Ohren gefunden, eine Kirche, die zu tiefgreifenden Reformen in der Lage ist. Schließlich geht es ausschließlich darum, die Liebe zwischen zwei Menschen allseitig zu fördern und zu unterstützen.

Die Hetero (Ehe) Paare verlieren gar nichts, schon gar nicht werden sie diskriminiert oder gar verfolgt und ins Elend getrieben, wenn es auch Homo (Ehe) Paare gleichberechtigt gibt und diese heiraten und Kinder adoptieren und erziehen.

Copyright: Christian Modehn, religionsphilosophischer salon berlin.

Selbstbestimmt leben – auch in meiner Religion

Beim nächsten Salon am 13.1. 2013 wollen wir das schon diskutierte Thema Selbstbestimmung von einer spezielleren Seite beleuchten:

“Selbstbestimmt leben – auch in meiner Religion”. Über das Recht und die Pflicht, sich seinen persönlichen Glauben, auch seinen persönlichen Unglauben, also seine eigene Spiritualität, selbst (mit anderen) zu gestalten. Also ein Salonabend auch über den Abschied von alten Göttern und überlieferten Traditionen und Konfessionen … sowie und von dem (unbewußten?) Gebundensein an “kulturelle Götter” (etwa des Kapitalismus, Konsumismus usw.) …Ein spannender Salon Abend, herzliche Einladung… mit der Bitte um Anmeldung per email: christian.modehn@berlin.de

ORT: Wieder in der Galerie Fantom in der Hektorstr. 9 in Berlin – Wilmersdorf, nahe Kurfürsten Damm um 19 Uhr!

Zum Thema des Januar Salons:  Im November und Dezember 2012  sprachen wir über Möglichkeiten und Formen der Selbstbestimmung, anläßlich des Buches von Peter Bieri. Im JANUAR Salon am Freitag, 11. Januar 2013 um 19 Uhr in der Galerie Fantom (Hektorstr. 9 in Wilmersdorf) wollen wir das Thema fortsetzen: Es wurde ja deutlich, dass wir bei der Selbstbestimmung immer schon von einem Bestimmtsein und Verfügtsein ausgehen (müssen). Das gilt auch für die religiösen, philosophischen und weltanschaulichen Tradtitionen, in die wir hinein gestellt wurden. Welche Bedeutung hat dann religiöse, philosophische und weltanschauliche Selbstbestimmung, also die Wahl, meines je eigenen “Glaubens”. Heute suchen sich immer mehr Menschen ihre je eigene Spiritalität: Das ist soziologisch erwiesen. Die Rede ist von multireligiösen Bindungen. Ist das wirklich so neu? Und welches sind die Kriterien der Wahl, welches Glück suchen wir dabei? Genauso wichtig: Wie stark sind die unbewusst bestimmenden “Dogmen” der Gesellschaft, die meist den Werten der herrschenden kapitalistischen Gesellschaft entsprechen? Sind wir uns bewußt, dass wir z.B. an die Allmacht des Geldes “glauben”, an die bestehenden Strukturen der Wirtschaft, der Politik? Können wir auch inmitten dieser zugewiesenen Glaubensformen zur Selbstbestimmung finden? Das spannende Fragen, über die eine Debatte lohnt zugunsten größerer Klarheit.

 

Beten und bitten: Poesie im Angesicht des Unendlichen. Im Kulturradio des RBB

“Gott und die Welt” im RBB Kulturradio am Sonntag, 23.09.2012

Worte in Gottes Ohr

Über das Bittgebet

Von Christian Modehn

Das Thema “Beten und besonders Bittgebete sprechen” berührt auch philosophische Fragen, etwa nach der Verbundenheit mi Gott und der Beziehung des Menschen zum Göttlichen, der Transzendenz. Deswegen könnte diese Ra­dio­sen­dung auch für philosophisch Interessierte inspirierend sein.

„Bittet, so wird euch gegeben“, forderte Jesus seine Jünger auf. Darauf vertrauen auch gläubige Menschen, wenn sie sich mit ihren Sorgen an Gott wenden. Doch welchen Sinn hat es, um göttlichen Rat und Beistand zu bitten? „Wer betet, Gottes Reich des Friedens möge kommen, weckt in sich die Sehnsucht nach Frieden“, schreibt der Kirchenvater Augustinus. Heutige Theologen sind überzeugt: Im Beten und Bitten erkennt der Mensch, wer er ist und welche Ziele ihm wichtig sind. Bittgebete können zur spirituellen Poesie werden. Sie wecken  die Achtsamkeit. „Das Gebet ändert nicht Gott, aber es verändert den Betenden“,  sagt der protestantische Philosoph Sören Kierkegaard. Bittende und Betende hoffen, trotz aller Tiefen von einem göttlichen Grund getragen zu sein.

 

“Gut leben” Ein philos. Salon

“Gut leben”: Eine Weisung, ein Ideal, eine Utopie, die mit der Philosophie als  praktischer und kritischer Lebensorientierung eng verbunden ist. In diesem Salonabend ist unser besonderer Gast Thomas Fatheuer, der viele Jahre für die Heinrich Böll Stiftung in Rio de Janeiro arbeitete und gut die lateinamerikanisch – “indigene” “buen vivir” Konzeption kennt, vor allem in Ecuador und Bolivien. Was ist gut leben dort,was ist gut leben hier? Ein spannender Disput, diesmal in der Galerie FANTOM in der Hektor str. 9 in Wilmersdorf. Bushaltestelle Joachim Friedirch Str. oder U Bahnhof Adenauer Pl.

Wir freuen uns, eine neue “Bleibe” für unseren Salon zu haben. Am Freitag, 24. 8. 2012; Beginn um 19 Uhr, Getränke können in der Galerie erworben werden. Für die Raummiete: 5 Euro Eintritt. Wer diesen Eintritt nicht zahlen kann, ist auch willkommen.  Anmeldung bitte an christian.modehn@berlin.de   Wer sich anmeldet, erhält Infos vorweg.

Für eine neue “Männlichkeit” in Lateinamerika

Für eine neue Männlichkeit
Respekt für homosexuelle Männer. Erfahrungen im zentralamerikanischen El Salvador

Der religionsphilosophische Salon ist den bleibenden Werten der philosophischen Aufklärung verpflichtet. Dazu gehört immer das Eintreten für die Rechte von Minderheiten. Insofern ist der religionsphilosophische Salon immer politisch im Sinne der Befreiung.
Anlässlich des Welttages zugunsten des „COMING OUT“ am 11. Oktober (dieser Coming Out Welttag wurde von dem us – amerikanischen Psychologen Robert Eichberg 1988 ins Leben gerufen) freuen wir uns, einen Bericht zu veröffentlichen über den mühevollen Kampf, in einer von Macho Mentalitäten geprägten lateinamerikanischen Gesellschaft für die Gleichberechtigung von Homosexuellen einzutreten.
Den Beitrag verdanken wir der Christlichen Initaitive Romero in Münster (weitere Informationen siehe unten).

Trotz angeblich wachsender medialer und politischer Akzeptanz von Homosexuellen ist und bleibt Homophobie (Feindseligkeit oder Hass gegenüber Schwulen und Lesben) in El Salvador und ganz Mittelamerika ein alltägliches Problem und nimmt in gezielten Ermordungen Homosexueller oder Transvestiten auch immer wieder bestialische Züge an. Eine Ursachenforschung und Zustandsbeschreibung

In den meisten Ländern der westlichen Welt erinnert man mit dem Christopher Street Day an die öffentliche Revolte einer Gruppe Homosexueller und einiger Lesben am 27. Juni 1969, die sich im New Yorker Viertel Greenwich Village Gewalt und Razzien der Polizei widersetzten. Dieses Ereignis wird als Grundstein der Homosexuellen Bewegung im Westen angesehen. Als Teilnehmer diverser Märsche in Chile, Argentinien, Brasilien und El Salvador, als Fernsehzuschauer und Internetnutzer habe ich den Eindruck, dass die Forderungen der lateinamerikanischen Homosexuellen Bewegung seit ihren Anfängen immer mehr an Kraft verlieren. Mittlerweile gleichen ihre Forderungen oft denen der Feministinnen und der indigenen Minderheiten, den Forderungen nach mehr Gerechtigkeit in den kapitalistischen Wirtschaftsmodellen und ihrer neoliberalen Ausrichtung und den Forderungen der gesamten LGBTI*-Bewegung. Sie schlagen sich in oberflächlichen Sprüchen wie „Eine andere Welt ist möglich“ und „Wir wollen Gleichheit“ nieder.

El Salvador: Ziel für die Einen, Fluchtgrund für Andere
Meine Gespräche mit Schwulen, lesbischen Freundinnen und Transfrauen in El Salvador und Region haben mir geholfen, zu erkennen, dass die Homophobie untereinander einen starken Einfluss auf die gesamte mittelamerikanische LGBTI-Bewegung hat. Die Abgrenzung von Schwulen gegenüber Lesben und Transpersonen** wurde durch die Dominanz der Schwulen und durch die Frauenfeindlichkeit innerhalb der schwulen Gemeinschaften verursacht. Dies betrachte ich als sehr problematischen Aspekt.
Zudem fällt auf, dass es in den meisten größeren Städten der westlichen Welt so genannte Schwulenviertel gibt, geographisch und wirtschaftlich abgegrenzte Bereiche für Nicht-Heterosexuelle. Diese Viertel finden sich eins-zu-eins in den Ländern Mittelamerikas wieder. Marktwirtschaftliche Strategie ist es, wesentlich mehr Vergnügungsorte, wie Bars, Diskotheken, Saunas, Bekleidungsgeschäfte, Parfümerien und Themen-Cafés, für den schwulen Mann als für die lesbische Frau oder für Transpersonen anzubieten. Dies entspricht der typisch patriarchalischen Sichtweise, die den Mann mehr dem öffentlichen und die Frau mehr dem privaten Bereich zuordnet.

Der Handel mit den Identitäten

In El Salvador besteht zunehmend die Möglichkeit, seine schwule Identität über Angebote des Marktes sichtbar zu machen, sich eine bestimmte Ästhetik und eine entpolitisierte Ethik anzueignen. Diese Entwicklung macht es den Politikern und den Medien leichter, Toleranz gegenüber Homosexuellen zu propagieren. In den sexuellen Identitäten eine Geschäftschance zu sehen, hat zweifellos zu einem Handel mit den Identitäten und deren Strukturierung geführt, basierend auf den finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen – ganz nach dem Motto „Wenn Du schwul sein willst, brauchst Du Geld, um so zu sein und so zu erscheinen“. Nur mit dem nötigen Kleingeld kann man die Orte aufsuchen, wo man Erfahrungen in Bezug auf Zusammenleben, Liebe und Paarbeziehungen mit Gleichgesinnten austauschen kann. Dieser Handel mit sexuellen Identitäten stellt für mich eine weitere problematische Entwicklung dar.

Die Logik des weltweiten Kapitalismus hat dazu gedient, die politischen Forderungen der Homosexuellen abzuschwächen und einen gewissen schwulen Lebensstil, ein politisches und marktwirtschaftliches Funktionieren der schwulen Identität zu fördern. Sie hat dazu geführt, dass die Kritik der Homosexuellen an der vorherrschenden Heteronormativität (gesellschaftliches System, in dem die Sexualität zwischen Mann und Frau als soziale Norm gilt) immer leiser wird. Zudem hat sie eine Randgruppe aus Personen geschaffen, die aus ethisch-politischen oder finanziellen Gründen von dieser exklusiven Szene ausgeschlossen sind. Die Ausgeschlossenen erfahren die stärkste Benachteiligung und sind Opfer der sichtbarsten Diskriminierung, der gewaltsamsten Homophobie und der brutalsten Ermordungen. Besonders Transvestiten haben immer wieder unter der geballten Raserei der salvadorianischen machistisch-motivierten Gewalt zu leiden.

Homophobie (inkl. Lesbophobie und Transphobie) in El Salvador richtet sich nicht gegen schwule Weiße oder schwule Mestizen aus der Mittel- oder Oberschicht, die studiert haben und die vor allem die von der Gesellschaft als männlich klassifizierten äußeren Merkmale zeigen, sondern immer gegen Minderheiten wie weibische Homosexuelle aus der Unterschicht ohne Zugang zu Bildung, Kultur und sozialer Mobilität. Je größer die Verletzbarkeit der Diskriminierten, desto stärker der Grad der Homophobie. Die Frauenfeindlichkeit und der Hass auf etwas Weibliches im männlichen Körper sind der Grund für die schrecklichen Misshandlungen, die viele Transpersonen und Homosexuelle in El Salvadors Städten das Leben gekostet haben.

Es ist von größter Notwendigkeit, die aktuelle salvadorianische „Politik der (angeblichen) Toleranz“ und die von ihr festgelegte Ordnung und Rolleneinteilung der Geschlechter kritisch zu hinterfragen und zu durchbrechen. Die Politik, die mittlerweile eine bestimmte homosexuelle Identität in separaten Schwulenvierteln toleriert, ändert nichts an der mangelhaften Sexualkunde an Schulen und Universitäten, am Fehlen eines Antidiskriminierungsgesetzes oder an der Praxis, Leute zu entlassen, deren Aussehen nicht den Heteronormen entspricht. Sowohl das vorherrschende patriarchalische Gesellschaftsbild als auch die politisch-strategische Struktur El Salvadors, welche sexuelle Unterschiede immer noch bewusst als exotische Ausnahme einordnet und somit wahre Toleranz verhindert, muss verändert werden.■

* LGBTI ist eine englische Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Trans und Intersex (dt. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transpersonen und Intersexuelle).
** Der Ausdruck Transpersonen fasst im Text unterschiedliche Geschlechteridentitäten zusammen, so Transsexuelle, Transgender und Transvestiten.

Dieser Artikel erschien unter dem Titel „Die Abscheu vor dem Weiblichen im Mann“ in dem empfehlenswerten Heft 3 / 2011 „presente“ der „Christlichen Initiative Romero“ in Münster.

Zum Autor:
Héctor Guillermo Núñez, geboren in Chile, ist homosexuell, lebt seit 2008 in El Salvador und arbeitet bei der CIR-Partnerorganisation Centro Bartolomé de las Casas (CBC) im Bereich der Männerarbeit zur Vorbeugung geschlechtsspezifischer Gewalt.

Übersetzung: Joana Eink (CIR)

Wer das Projekt für eine neue Männlichkeit des “Centro Bartolomé de las Casas” (=CBC) unterstützen will: Spenden sind willkommen und werden über die “Christliche Initiative Romero (CIR)” in Münster nach El Salvador weiter geleitet unter dem Stichwort „CBC“

Spendenkonto:
Konto 3 11 22 00
DKM Darlehnskasse Münster
BLZ 400 602 65
IBAN DE67 4006 0265 0003 1122 00

Der Religionsphilosophische Salon Berlin dankt herzlich der Christlichen Initiative Oscar Romero in Münster für die Möglichkeit der “Weitergabe” des Beitrags auf dieser website.

Die Christliche Initiative Romero hat diese empfehlenswerte website:
http://www.ci-romero.de

Stille in der Stadt – Ein Interview mit Ursula Richard

Stille in der Stadt – Interview mit Ursula Richard
Ursula Richard ist Autorin und Mitbegründerin der “Edition Steinrich” in Berlin. Im August erscheint von ihr ein wichtiges Buch im Kösel Verlag über “Stille in der Stadt”, ein Thema, das viele religionsphilosophisch Interessierte sicher bewegt. Ursula Richard hat dem religionsphilosophischen Salon schon vorweg ein Interview gegeben.

Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel „Stille in der Stadt“.
Warnen Sie also indirekt vor der Stadtflucht, die so viele erfasst, die gern meditieren und zur Ruhe kommen.

Ich warne vor falschen Sichtweisen und Trennungen, (die ich natürlich selbst gut kenne) – hier die Stadt als energie- und kräftezehrender Vampir, da das Land, das Natur, Zur-Ruhe- oder Zu-Sich-Kommen verspricht. Dieser Sicht zufolge muss ich so oft wie möglich der Stadt entfliehen, um in ländlichem Umfeld die Energie aufzutanken, die ich dann in der Stadt wieder so schnell verbrauche. Mein Vorschlag: Diese Sichtweisen und Trennungen einmal fallenlassen und schauen, wie viele Möglichkeiten doch in der Stadt selbst gegeben sind, Ruhe, Stille und vielleicht noch viel mehr zu finden.

Aber mussten Sie sich in der Stadt die Stille erst einmal „erobern“?

Ich musste nur die Fluchtbewegung aufgeben und dann sehen: die Stille ist auch in der Stadt zu finden, ja letztlich ist sie immer und überall da. Sie ist auch in den Geräuschen zu finden. Stille ist nicht zu erobern, sondern zu entdecken als eine Qualität, die alles durchdringt. Aber natürlich sind solche Entdeckungen an Hauptverkehrsstraßen zur Rushhour schwieriger als auf dem eigenen Balkon zu machen. Christian Herwartz, der in Berlin Straßenexerzitien leitet, erzählte von einer Frau, die die Erfahrung tiefer Stille am Kottbusser Tor machte, einem sehr lauten, belebten Ort in Berlin, vor dem sie sich zudem fürchtete, da er von vielen Drogenabhängigen und alkoholkranken Menschen bevölkert wird.
Ich finde es aber auch faszinierend, dass man die Stille auf dem Land meist als so wohltuend wahrnimmt, aber wenn man genau hinhorcht, ist es ja gar nicht still; es zirpt und schilpt, Vögel zwitschern, Frösche quaken, Kühe muhen, Trecker fahren, aber man empfindet das nicht als Lärm. Der Geräuschpegel kann im Städtischen mancherorts viel niedriger sein, aber da ist man viel schneller dabei, sich gestört zu fühlen. Und so kann man erkennen, wie viel unseres Erlebens vor allem von unseren Wertungen abhängt.

Wo haben Sie denn in Berlin, mitten in der Stadt, Ruhe und Stille gefunden?

Ruhe und Stille in einem eher vordergründigen Sinne habe ich in Berlin an vielen Orten gefunden: auf dem eigenen Balkon, auf Friedhöfen, in Parks, in Kirchen, in Meditationszentren, mit einem Boot auf dem Wannsee, früh morgens auf den Straßen … Aber ich habe auch schon Ruhe und Stille gefunden, als ich z. B. offenen Sinnes den Kudamm entlang gegangen bin, auch Ruhe und Stille in den vielfältigen Blickkontakten oder Begegnungen, die an solchen belebten Orten so einfach möglich sind.

Sie sprechen auch von urbaner Spiritualität. In den Bergen und den Wüsten bin ich allein. Ist urbane Spiritualität eine „Frömmigkeit“, die den anderen, die andere, wahr – nimmt? Eine Spiritualität des Antlitzes?

Ja, für eine urbane Spiritualität ist m. E. die Dimension der Verbundenheit sehr wichtig und damit ist sie sicherlich eine Spiritualität des Antlitzes. Ursula Baatz spricht davon, das Antlitz des Anderen wahrzunehmen und zu ehren; bei den Straßenexerzitien von Christian Herwartz kann ein Leitimpuls sein, im Anderen Gott zu finden. Ich nehme den anderen Menschen nicht mehr als jemanden wahr, der potenziell meine Ruhe und meine Kreise stört, mir fremd und suspekt ist, sondern schaue und handle aus einer Haltung der Verbundenheit heraus und das ermöglicht ganz neue faszinierende Begegnungen, in der U- oder S-Bahn, auf der Straße usw.

Es gibt „stille Abteile“ bei der Bahn. Wünschen Sie sich ähnliches, etwa „stille Cafés“ z.B. in denen von 4 bis 8 Ruhe herrscht?

Ich denke, dass Großstädte vielfältige „Räume der Stille“ brauchen. Das können „stille Cafés“ sein oder in Restaurants ein Raum, in dem in Stille gegessen werden kann. Oder geöffnete Kirchen; denn Kirchen erscheinen mir immer noch mit die machtvollsten Kraftorte der Stille zu sein. Und es gibt noch so viele Kirchen bei uns, doch sie sind viel zu selten geöffnet. Aber für mich sind auch „Räume der Stille“ am Potsdamer Platz z. B. denkbar in Räumlichkeiten, die von Hotels oder Daimler Benz oder der Deutschen Bahn zur Verfügung gestellt werden, oder leer stehende Läden in Neukölln oder im Wedding, Räume, in denen man allein oder mit anderen für eine Weile in Stille sein kann. Da ließe sich vieles vorstellen. Ich würde gerne mit anderen an Konzepten und der Realisierung von Räumen der Stille arbeiten.

Wie geht es weiter mit dem Buch: Wünschen Sie sich, dass LeserInnen ihre Ruhe Momente in der Stadt mit Ihnen austauschen?

Ja, im letzten Teil meines Buches entwerfe ich eine Art Utopie, wie ich mir eine Stadt in einigen Aspekten wünsche (und da spielen die Räume der Stille eine große Rolle), und ich lade die LeserInnen ein, auch ihre Phantasie spielen zu lassen, um ihre Stadt oder ihr näheres städtisches Umfeld zu entwerfen. Und dann für sich zu schauen, was kann ich oder will ich persönlich tun, um diese Stadt Wirklichkeit werden zu lassen. Und über solche Ideen, Phantasien würde ich mich gerne austauschen, aber auch über die Qualität von Begegnungen aus einer Haltung der Verbundenheit heraus und natürlich auch über Ruhe-Momente in der Stadt, gern an ausgefallenen Orten. Im Moment bin ich noch dabei, einen blog zum Thema einzurichten als einer Möglichkeit des Austauschs. Das Thema einer urbanen Spiritualität hat mich wirklich gepackt. Im Prozess des Schreibens habe ich so viele neue interessante Erfahrungen machen können mit der Stadt, mit mir, mit meinen Mitmenschen, einfach dadurch, dass ich mir meiner gewohnten Sichtweisen, Trennungen und Wertungen über sie bewusster geworden bin und diese immer wieder auch habe loslassen können, und einfach neu geschaut und ganz viel spannendes entdeckt habe.
religionsphilosophischer-salon.de, publiziert am 12. 6. 2011
Ursula Richard und die Edition Steinrich: Arndtstr. 34, 10965 Berlin.
Das Buch “Stille in der Stadt” hat den Untertitel: Ein City – Guide für kurze Auszeiten und überraschende Begegnungen, ca. 160 Seiten, Kösel verlag, August 2011.

Gegen die Macht der Gewohnheit – Widerstand fördert Lebensenergie

Innerhalb des praktischen Philosophierens sollte es immer auch um praktische Lebensfragen, vielleicht manchmal auch – griechischen Vorbildern folgend – um Anregungen für eine erneuerte Lebenspraxis gehen. Angesichts des Gefühls permanenter Überforderung und dauernder Frustration über die offenkundige Unmöglichkeit, in absehbarer Zeit widerwärtige Zustände von Ungerechtigkeit in Gesellschaft, Staat, Ökonomie usw. zu verändern, bleibt die Frage: Wo gibt es einen Ausweg aus der Verzweiflung.  Im folgenden ein Vorschlag, der im Januar 2010 in PUBLIK FORUM veröffentlicht wurde.

S E I   U N G E H O R S A M !

Veränderung geschieht nur durch Leid und Leidenschaft. Doch wer diese Gesellschaft verbessern will, braucht Vernunft – und spirituelle Kraft

Von Christian Modehn

Wir lebten im Zeichen der Doppelnull.« – Dieses wenig fröhliche Resümee steht am Beginn des neuen Jahres. Die Tatsache, dass zur Zählung der ersten zehn Jahre des neuen Jahrtausends zwei Nullen erforderlich waren, wird politisch gedeutet: Korruption, Gewalt, Katastrophen allerorten. Die Unvernunft regierte; weltweit erschallten Litaneien der Depression: Ökokrise, Terrorismus, Hungersterben, Arbeitslosigkeit, Klimakatastrophen und politische Apathie. Nicht zu vergessen die fundamentalistische Einbunkerung von Kirchen und Religionen. Die Klageweiber und Klagemänner warnen und mahnen also, beschwören und appellieren: »Die Verantwortlichen« sollten endlich alles besser machen. Dumm nur, dass diese »Verantwortlichen« auf derselben Ebene argumentieren: Die Bürger sollten nun endlich die Karre aus dem Dreck ziehen.

Aufbegehren! Wer einen Ausweg aus diesem Kreislauf sucht, muss die Vernunft aktivieren, ihr wieder etwas zutrauen. Denn wenn wir auf unser Bewusstsein achten, wird sichtbar: In unserem Jammern und Klagen kommen Kontrasterfahrungen ans Licht, Zeichen des Aufbegehrens: »So, wie die politische und ökonomische Gegenwart ist, sollte menschliches Miteinander doch eigentlich nicht sein.«

In unserem leidenschaftlichen Verlangen sind wir »trotz allem« über das allgemeine Elend schon ein Stück hinaus: Durch unsere Fantasie, Sehnsucht und Vernunft sind wir verbunden mit dem großen Menschheitstraum: »Eine andere Welt ist möglich.« Dies ist die lebensbejahende Erfahrung unseres Geistes. Wir müssen sie mit den Gefühlen verbinden: Dann wird »beherztes Denken« möglich.

Schon die ersten Philosophen wussten davon, welch besondere Wirkung Erkenntnisse haben können. Nämlich dann, wenn sie verinnerlicht, also in einem tiefen Sinne angenommen werden. Sie erzeugen dann echte Lust, führen zu einem geradezu erotischen Erlebnis. Möglicherweise sollten wir unsere vernünftige Lebensweisheit für uns selbst laut aussprechen – wie ein Gebet. Zum Beispiel: »Meiner Sehnsucht nach Gerechtigkeit will ich tatsächlich folgen.« Die philosophische Heilmethode der alten griechischen Denker bestand ja darin, lebensbejahende Wahrheiten immer wieder sprechend zu bedenken – und im Gespräch mit anderen zu vertiefen.

So könnte es gelingen, sich vom ideologischen Müll der letzten Jahre zu befreien. Der erste Befreiungsschlag ist die Frage: Mit welcher Charakterstruktur haben Politiker und Ökonomen diese offenbar heillose Situation erzeugt? Der Psychotherapeut und Sozialphilosoph Erich Fromm bietet eine überzeugende Analyse: Er spricht vom »Marketing-Charakter« einer Persönlichkeit, die sich unter anderem Makler, Manager, Beamte, Politiker zulegen müssen, um sich in ihrem Beruf durchzusetzen. »Um Erfolg zu haben, müssen diese Menschen imstande sein, in der Konkurrenz mit anderen die eigene Persönlichkeit vorteilhaft zu präsentieren. Diese Menschen müssen unter allen Umständen gut funktionieren.« Erich Fromm betont: »Diese Marketing- Charaktere kümmern sich dann nicht mehr um ihr eigenes Leben und ihr eigenes Glück, sondern nur noch um ihre Verkäuflichkeit. Sie werden selbst zu einer Ware.«

Die seelischen Konsequenzen sind offensichtlich: »Die Marketing-Charaktere haben ein sich ständig wandelndes Ich. Aber keiner von ihnen hat ein Selbst.« Die innere Leere muss notwendigerweise durch Gier nach »immer mehr« befriedigt werden. Und mit der Gier entsteht die Angst, der andere könnte das gierig Geraubte wieder wegnehmen. Aggressionen und Krieg haben hier ebenso eine Wurzel wie die Unfähigkeit, die Gefühle anderer wahrzunehmen. Erich Fromm sagt: »Das mag auch erklären, warum sich diese Marketing–Typen keine Sorgen über die Gefahren nuklearer und ökologischer Katastrophen machen, obwohl sie alle Fakten kennen, die eine solche Gefahr ankündigen.« Zu diesem verpanzerten Charakter passt eine fundamentalistische Ideologie, die besserwisserisch und aggressiv ist.

Das Phänomen Berlusconi. Jene Charaktere in »der ersten Reihe« aber werden letztlich von einer tief sitzenden Zustimmung breiter Kreise getragen. Eklatant ist das im heutigen Italien. Das Phänomen Berlusconi lässt sich nur so verstehen: Die Anhäufung von Vermögen, die Bestechlichkeit, die Willkür gegenüber den Gesetzen, die Verachtung »der anderen«, die pauschal nur »Linke oder Kommunisten« sein können, diese destruktive Charakterstruktur entspricht tatsächlich auch der tiefen Sehnsucht breiter Kreise: »Eigentlich möchten wir selber Berlusconi sein«, sagt Roberto Saviano, Autor des Buches »Gomorrha«. Er macht darauf aufmerksam, wie verdorben die Charakterstrukturen nicht nur der Herrschenden, sondern auch der Beherrschten sind. Berlusconi und Co. können sagen: »Meine Wähler wollen mich so.« Die sogenannte Elite in Politik und Ökonomie vertritt die Interessen »ihres Volkes«.

Wie aber funktioniert das? Die Massenmedien der Herrschenden haben »im Volk« genau das Bewusstsein geschaffen, das die eigene Karriere sichert. Das gilt nicht nur für das System Berlusconi, sondern – auf weniger fundamentalistische, aber dennoch auf wirksame Weise – für alle Formen gesellschaftlicher Besitzstandswahrung. Darum zum Beispiel konnte es beim Weltklimagipfel in Kopenhagen letztlich nur um egoistische Interessen gehen. Vor Tagungsbeginn wurde die Erfolglosigkeit dieses Treffens vorausgesagt – zu Recht.

Wie kann man sich da noch vor tiefer Verzweiflung bewahren? Patentrezepte gibt es nicht. Aber: Menschen resignieren nicht im Miteinander, in der Vitalität von Gruppen, die ihr Leiden an der Realität konstruktiv bearbeiten. Wer die Berichte von Greenpeace-Aktivisten liest – wie sie zum Beispiel innerhalb des 220 Meter hohen Schornsteins des englischen Kohlekraftwerkes Kingsnorth hochkletterten, um dann von der Spitze des Schornsteins aus die Regierung zur ökologischen Umkehr aufzufordern –, der weiß: Es ist die von Vernunft geleitete Leidenschaft, die diesen Menschen den Mut gibt, Angst zu überwinden.

Nicht jeder kann sich an Greenpeace-Aktionen beteiligen; doch viele wollen ihrem Gewissen folgen. Angesichts der globalen Probleme heute hat Gutes-Tun jedoch nur Sinn, wenn Verändern Verbessern bedeutet. Und das heißt: Wandel der politischen und ökonomischen Strukturen. Es muss sichtbar werden, dass auch die Ausgegrenzten und Ausgebeuteten eine Verbesserung leibhaftig erleben.

Wenn Immanuel Kant heute lebte, hätte der Philosoph einen neuen Kategorischen Imperativ formuliert: »Handle so, dass die Veränderungen, die du leistest, auch zu einer wirksamen Verbesserung der Lebensbedingungen derer führen, die bisher wie Untermenschen behandelt wurden.«

Die Besinnung auf die »große Sehnsucht«, die im Leiden an allem Negativen aufleuchtet, fordert eine neue Tugend: den Ungehorsam, der mehr ist als eigensinniges Nein-Sagen. Ungehorsam ist der aktive Verzicht darauf, gängige Verhaltensmuster weiterhin zu akzeptieren, in ihnen zu leben und zu handeln. Dieser Verzicht lebt aus der Leidenschaft, mit anderen zum Beispiel über neue Formen des Konsums zu beraten und sie dann auch zu probieren. Die Freude – etwa über den Erfolg eines Verbraucherstreiks – muss man in einem Fest auskosten. Oder: Welche Leidenschaft kann es sein, E-Mail-Petitionen zu inszenieren – etwa um die parlamentarische Diskussion der Steuer für Finanztransaktionen durchzusetzen? Und wie glücklich kann es machen, nicht einfach wegzuschauen, wenn Kollegen im Betrieb kaltgestellt werden – sondern den Mut aufzubringen, sich zu solidarisieren? Fromm schreibt: »Jeder Akt des Ungehorsams ist zugleich Gehorsam gegenüber einem wichtigeren Prinzip: Ich bin dem gesellschaftlich propagierten Idol gegenüber ungehorsam, weil ich Gott gehorche. Ich widersetze mich dem Kaiser.«

Wie auch immer Gott verstanden wird – entscheidend ist, sich an die Kraft der Vernunft und an seine eigenen spirituellen Reserven zu halten. Nur so können sich Kritik und Widerstand nachhaltig behaupten. Ob Kirchen und Religionen 2010 wohl für dieses Empowerment stehen werden?