Philosophieren – ein Fest des Denkens?

Kann Philosophieren selbst eine FEIER werden?

Perspektiven für unser Gespräch am 19.12. 2009 über Philosophieren zwischen Alltag und Fest….

Eine merkwürdige Zumutung: Philosophisches Denken als Feier?

Aber was leistet Philosophieren:

Es räumt auf, indem es problematische Begriffe untersucht, Denkzwänge beseitigt, möglicherweise falsche Vorstellungen verwirft; neue Erkenntnisse tun sich auf. Vernunft ist ja in klassischer Tradition „Licht“.  Aufklärung heißt auf Französisch: Siècle des lumières…Zeitalter der Lichter.

Also:

Wenn Philosophie entrümpelt, schafft sie einen neuen freien und lichten Denkraum und damit einen neuen Lebensraum.

Bei etwas mehr Klarheit kann man sich doch freuen, kann man doch mit den neuen Erkenntnissen umgehen, spielen, sie probieren, ihre Wirkungen genießen. Vielleicht sind sie heilsam, vielleicht beflügeln sie den Geist und damit das Leben.

Dann wird Philosophieren zum „Denkfest“.

Dieses Fest wird immer zunächst in der Einsamkeit des einzelnen gefeiert. Und zwar möglichst oft. Denn das Entrümpeln hat nie ein Ende.

Aber der entrümpelte Denkraum wird immer wieder anderen gezeigt, d.h. er wird mit anderen besprochen. Dann entsteht ein Fest des gemeinsamen Denkens. Ein Symposion.

Und bei dem klassischen Symposion von Platon fehlten niemals Wein und Brot. Gibt es etwa ein „philosophisches Abendmahl“?  Darüber wäre auch im Rahmen einer Philosophie der Lebenskunst nach zu denken.

Mit Hegel Gott denken

Mit dem Philosophen  Hegel Gott denken  – Möglichkeiten und Grenzen

Ein Salonabend im Hause Hegel

Eine imaginäre Begegnung anläßlich eines klassischen Themas, das viele heute für überholt halten. Das aber doch seinen philosophischen Reiz nicht verloren hat…

Von Christian Modehn, vorgestellt für jene, die bisher dem Denken Hegels aus dem Weg gegangen sind…

Im Wein liegt Wahrheit, und mit der stößt man überall an.« Ein Bonmot, das sich in ganz Berlin herumgesprochen hat. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat es formuliert, und es wird ihm immer vorgehalten, wenn er, bei einigen Gläsern Wein, abends zum Salon einlädt. Treffpunkt ist seine Wohnung »Am Kupfergraben Nr. 4«, ganz in der Nähe der Prachtstraße »Unter den Linden« mit der Universität.

Die heutige Runde will darüber nachdenken, wie die Vernunft einen Beitrag leisten kann zur Versöhnung der zerstrittenen und zerrissenen Gesellschaft: Manche Leute halten sich streng an die dogmatische Wahrheit, andere lassen jedem seine Überzeugung, sind für die Toleranz. Etliche setzen nur auf Spiritualität, die anderen auf den Atheismus. Viele wollen Gott nur im Gefühlsrausch erleben, andere möchten einen klaren Kopf bewahren, wenn sie beten.

»Gibt es bei diesen zerstrittenen Positionen einen vernünftigen Ausweg, eine Versöhnung?« Mit diesen Worten begrüßt Hegel seine Gäste, zwei Theologen und drei Philosophen. Sie wissen längst, dass Hegel der Vernunft sehr viel zutraut: Nur sie darf Staat und Gesellschaft bestimmen, nur sie soll den Menschen leiten in seinen Entscheidungen. Und schließlich sollte die Vernunft auch die Religionen bestimmen. »Darum schlage ich für unsere heutige Sitzung in unserem Salon das Thema vor: Wie lässt sich Gott denken, ja mehr noch, lässt sich vielleicht die Existenz Gottes in der Philosophie beweisen?«

Mit dieser Frage haben die Gäste beinahe gerechnet, denn die Erkennbarkeit Gottes im Denken ist eines der Lieblingsthemen des Meisterdenkers Hegel. Um das Wohlwollen seiner Gäste zu gewinnen, erhebt Hegel das Glas und sagt: »Auf die Erkenntnis der Wahrheit.«

Die Gäste wissen natürlich, dass Hegel, durchaus unbescheiden, dazu neigt, sein eigenes Denken als »die« Wahrheit zu bezeichnen. Und das empfinden viele als »anstößig«, weil er in höchster geistiger Anstrengung die Erkennbarkeit Gottes zur Grundlage seiner Philosophie macht. Wird sich auch in dieser Runde Gott im Denken beweisen lassen? Ein spannendes Thema, das vielleicht einen eher lockeren Einstieg verdient, meint der evangelische Theologe und Psychologe Günter Funke: »Gottesbeweise sind einfach wunderbare intellektuelle Spiele. Das hat mit der Freude am Denken zu tun. Und warum soll man sich nicht mal hinsetzen und sagen: Versuchen wir es mal.«

Hegel möchte diese etwas flapsige Äußerung schon fast »anstößig« finden und laut widersprechen, aber er besinnt sich und erklärt sanft: »Nach Möglichkeiten von Gottesbeweisen zu suchen ist alles andere als ein Spiel. Erst, wenn wir sicher Gott erkennen, finden wir Halt und Sinn. Die Erkenntnis Gottes ist im Denken des Menschen begründet. Denn mit unserer Vernunft überschreiten wir das Endliche und Begrenzte. Wir sind kraft unserer Vernunft über alle Einschränkungen der Welt hinaus auf den Unendlichen, auf Gott, bezogen.«

Die Gäste im Hause Hegel schauen sich an und denken: Da hat uns also Hegel gleich ins Zentrum seiner Philosophie geschleudert: Denn er begründet in allen Teilen seines weitreichenden Systems, warum der Mensch die geistige Kraft hat, die Grenzen des Weltlichen und Bedingten zu überschreiten. Der Mensch sei wesentlich Geist, das unterscheide ihn vom Tier. Und der Geist lehrt Leben, Lieben und Hoffen. Darum dürften die Naturwissenschaftler auch nicht das letzte Wort haben. Sie könnten gar nicht verstehen, was unsere menschliche Wirklichkeit ist, was Person und Ethik, soziales Leben und Politik, Kunst und Religion bedeuten. Überall da wirke der Geist, und der habe so viel Energie, die Welt auf Gott hin zu öffnen. »Und genau da sind wir wieder bei unserer Sache«, sagt der Philosoph Volker Gerhardt: »Ich glaube, dass wir heute das Thema des Göttlichen oder Gottes ganz selbstverständlich auf die Tagesordnung der Philosophie setzen.«

Hegel atmet auf: Seine Gäste wollen sich also nicht »aus Eitelkeit«, wie er gern sagt, am Weltlichen und Irdischen festklammern. In aller Deutlichkeit schärft er ein: »Wenn wir nach Gott im Denken fragen, dann ist das alles andere als eine plötzliche Erleuchtung, alles andere als ein persönliches Wunder. In der Arbeit der Vernunft gelangen wir zum Erleben des Schönen, Wahren, Guten, zu geistigen Wirklichkeiten.«

Voller Bedacht trinkt Hegel einen Schluck Riesling. Die Gäste beobachten, wie er sich den guten Tropfen auf der Zunge zergehen lässt. Als Schwabe ist er ein Weinkenner … dann fährt er fort:

»Den philosophischen Weg zu Gott nenne ich Gottesbeweis. Und der Beweis beginnt damit, dass wir feststellen: In unserer Vernunft überwinden wir alles Begrenzte, Endliche, Weltliche.«

Die Philosophen in der Runde können dem nur zustimmen. Ohne kritisches Denken gibt es nur diffuse Gefühle, Vorurteile, Illusionen. Die entscheidende Frage muss jetzt diskutiert werden: Warum ist alles Weltliche überhaupt da? Warum gibt es Werden und Vergehen? Darauf will der Philosoph Edmund Runggaldier, ein Jesuit, eingehen: »Der Ausgangspunkt ist zunächst einmal die Erfahrung, dass es Veränderung gibt, und die Überzeugung, dass es für jedes Phänomen eine Ursache braucht. Aus diesen Überzeugungen schließe ich auf etwas, das dahinter ist. Wie ist es zur Entstehung dieses Kosmos gekommen? Wenn es stimmt, dass etwas nötig ist, damit etwas entstehen kann, dann muss es doch etwas geben, das Grund dafür ist, dass der Kosmos tatsächlich zu existieren begonnen hat.«

Die »Gottesbeweise« wollen zeigen, dass dieser »Urgrund« ganz anders ist als der Ursprung einer Sache, er ist kein raum-zeitlich bestimmbarer Gegenstand. Auf das Stichwort »Urgrund« hat ein anderer Philosoph in Hegels Salon nur gewartet: Der Philosoph Michael Theunissen erinnert daran, dass der »Urgrund«, das Göttliche, nicht als eine jenseitige und himmlische, ferne und fremde Wirklichkeit gedacht werden sollte. »Eine von Hegels wichtigsten Einsichten ist: Das Endliche, Weltliche, kann nicht in sich selbst stehen, es verweist auf ein absolutes Sein, das es trägt. Das Endliche ist nicht aus eigener Kraft lebendig, es trägt sich nicht selbst. Wir müssen das Absolute annehmen als den Grund unserer selbst, so dass das Absolute die Substanz unserer eigenen Wirklichkeit ist.«

Hegel lächelt zufrieden. Besser hätte er es auch nicht sagen können. Alle geistige Energie im Menschen stammt vom Schöpfer des ganzen Universums. Dass der biblische Schöpfungsbericht nicht wörtlich zu nehmen ist, versteht sich in diesem Kreis von selbst! Trotzdem hält man fest: Mensch und Gott sind aufs Innigste verbunden. Wir leben aus der geistigen Kraft, die uns geschaffen hat. Von dieser Einsicht ist Günter Funke ganz begeistert: »Dieses Leben, das uns im Leben hält, haben wir uns selber nicht gegeben, nicht gemacht. Wir können nicht einmal Leben im Reagenzglas machen, weil das Leben immer schon da ist. Das heißt: Wir können im Reagenzglas dem Leben eine Chance geben, auch dort noch zu erscheinen. Aber der Mensch kann kein Leben schaffen, weil er in allem Lebenschaffen immer schon auf dieses Leben zurückgreifen muss, um etwas zu schaffen.«

Ein Gast saß bisher schweigsam und in sich gekehrt in der Runde. Jetzt will er unbedingt das Wort ergreifen. Eine leichte Empörung kann er nicht verbergen. Pater Klaus Schlapp ist Zisterziensermönch in der alt-katholischen Kirche: »Ich glaube nicht, dass man die Gottesfrage gedanklich klären kann. Wie kann man die Gefühle einer Mutter zu ihrem Kind philosophisch erklären? Wie kann man die Liebe Gottes zu den Menschen philosophisch erklären? Und die Objektivität des Glaubens, die steht in Ihnen, in Ihren Herzen. Das ist nicht etwas, was ich wissenschaftlich weitergeben kann. Oder auch philosophisch klären kann. Wie kann man Gott mit Logik erfassen? Ich denke, da werden wir immer wieder scheitern. Ich kann Gott immer dann erfassen, wenn ich selbst aufhöre, irgendetwas zu wollen.«

Für die Philosophen in Hegels Salon ist dieses Bekenntnis eine Provokation. Aber das Misstrauen der Frommen gegenüber der Philosophie könne doch überwunden werden, meint Edmund Runggaldier: »Sollte meine Vernunft ständig gegen diesen Glauben an Gott sprechen, so wäre ich innerlich zerrissen. Und das wäre ungesund und äußerst unangenehm. Ein vernünftiger Glaube hilft, eine einheitliche, konsistente Auffassung der Wirklichkeit zu haben. Und diese einheitliche Auffassung hilft mir auch, den Alltag leichter zu bewältigen, ohne dass ich schizophren sein müsste: hier Rationalität der Wissenschaft, dort Irrationalität des Glaubens. Diese Spaltung wäre äußerst ungesund.«

Die Gotteserkenntnis führt also zu einer Stimmigkeit in meinem Leben, sie fördert das seelische Wohlbefinden und die Ausgeglichenheit des Geistes.

Selbst bei einem guten Tropfen kann Pater Schlapp seinen Unmut nicht überwinden: Muss man denn gleich von einem »Gottes-Beweis« sprechen, fragt er ein wenig mürrisch. Hegel möchte am liebsten zornig werden:

»Wie oft habe ich schon gesagt, dass Philosophie nicht Mathematik ist und dass deswegen ein philosophischer Beweis nicht die Qualität eines mathematischen Beweises hat. Wir Philosophen haben nichts mit Geometrie zu tun!«

Hegels Argument wird von dem Philosophen Günter Figal unterstützt: »Beweis ist vielleicht das falsche Wort in dem Zusammenhang. Beweisen kann man nicht, was letztlich nur durch eine intensive Erfahrung zugänglich ist. Man kann es erläutern und ausdeuten und kann zeigen, dass das, was da erläutert wird, eine Sache ist, die nicht etwa durch die Erläuterung von uns erfunden worden ist. Wenn man das einen Beweis nennt, wäre ich einverstanden.«

Hegel ist froh darüber, dass einer seiner Gäste auch neue Argumente für Gott vorstellen will; er setzt beim Suchen und Sehnen nach einem sinnvollen Leben an. Der Philosoph Volker Gerhardt betont: »Meines Erachtens ist das Wesentliche in dieser Demonstration der Unverzichtbarkeit Gottes dadurch gegeben, dass wir nicht ohne Sinn handeln können. Wir sind auf etwas bezogen, was uns etwas bedeutet. Und das geht über unsere jeweilige Handlungsperspektive hinaus, und es geht auch über unser individuelles Dasein hinaus. Wie wollen wir Kinder erziehen und ihnen den Ernst des Daseins beibringen, wenn wir zugleich immer sagen: Ja, aber es ist alles ohne Bedeutung, denn letztlich hat ja alles keinen Sinn. Ich glaube, das kann jeder einsehen, dass wir den Sinn brauchen. Und wenn wir uns dann fragen, was einen solchen Sinn garantieren kann, dann sind wir bei dem, entschuldigen Sie die Formulierung, was man die Funktion Gottes nennen kann, da ist er unverzichtbar.«

Die Gäste Hegels kommen darin überein: Im Denken lässt sich Gott als ein tragender Lebenssinn, als absolutes Geheimnis »berühren«. Das ist doch viel! Bevor es zur weiteren Debatte kommt, bittet Karl Friedrich Rumohr, ein Freund Hegels, in die Küche: Rumohr hat eines der ersten großen Kochbücher verfasst. Jetzt serviert er einen deftigen Gemüse-Fleisch-Salat. Und während die Gäste speisen, gibt er, selbstverständlich mit Zustimmung des Gastgebers, einen kleinen Witz preis: »Ein Sohn fragt seinen Vater: Hat Gott die Welt wirklich erschaffen und fertiggestellt? – Ja, mein Sohn, das hat er. – Aber Vater: Was macht Gott denn jetzt ständig im Himmel nach der Fertigstellung der Schöpfung? – Mein Sohn, höre! Gott sitzt Modell für das Absolute im Denken Hegels.«

Hegel schmunzelt, und mit einer gewissen Betroffenheit schauen die Gäste in die Runde: Weiß Hegel nicht vielleicht doch zu viel von Gott? Kann er zu Recht sagen, Gott im Denken als den Dreifaltigen zu erkennen? Ist der Unendliche nicht vor allem Geheimnis? Reicht es nicht zu wissen, dass Gott da ist? Wird der bewiesene Gott nicht zu einem Gegenstand, den man handhaben kann? Der evangelische Theologe Günter Funke meldet sich energisch zu Wort: »Der Mensch möchte verfügen. Und er fügt dann Gott ein in seine Konstrukte. Viele Menschen haben sehr viel Lebendigkeit ihren Vorstellungen geopfert. Und natürlich, wenn ich irgendwo mal beginne, Lebendigstes für Vorstellungen zu opfern, dann werden die Vorstellungen überhöht, sie bekommen einen Stellenwert, den die biblische Tradition Götzen nennt.« Philosophie, so lässt sich Hegel belehren, sollte vor allem interessiert sein, vor übereilten Festlegungen zu bewahren, den Raum des göttlichen Geheimnisses zu öffnen. Der Gastgeber erinnert an die Überzeugungen seiner Jugend: »Schon als junger Philosoph in Tübingen habe ich gelehrt: Die Lebendigkeit, das Leben selbst, ist die innere Quelle, Gott zu erfahren. Ich lasse mich deswegen auch heute gern von der Musik von Johann Sebastian Bach ansprechen, weil sie so deutlich den Übergang des Menschen zu Gott und die Hinwendung Gottes zum Menschen ausdrückt.«

Die Runde in Hegels Salon ist von der Begeisterung fürs Denken erfasst, aber sie möchte jeglichen blinden Eifer vermeiden. Darum muss der praktische Stellenwert der Gottesbeweise noch erklärt werden. Denn so könnte sich niemand mehr der Beziehung zu Gott entziehen. Dann »müssten« sich alle Menschen notwendigerweise an Gott halten, wenn sie nicht als Dummköpfe gelten wollen. Und die Philosophen könnten sich als »Gottesbeweiser« in den Dienst der Kirchen stellen. Sie wären dann philosophische Missionare.

Aber alle Tatsachen sprechen dagegen. Es gibt Atheisten genauso wie fromme Leute, die ohne jeglichen Gottesbeweis offenbar glücklich leben. Die »Gottesbeweise« bieten also persönliche Gewissheit, aber keine mathematisch zwingende Erkenntnis. Sie sind vor allem für jene Menschen von Nutzen, die schon einen gewissen Sinn für eine göttliche Wirklichkeit haben. Auf diese entscheidende Nuance weist Edmund Runggaldier hin: »Zunächst geht es darum zu klären, wie wir Theisten die Wirklichkeit deuten, damit unser Glaube konsistent sei. Denn wenn er widersprüchlich ist, dann kann er nicht stimmen. Erst in einem weiteren Schritt kann ich mich dann bemühen, einem Nichtgläubigen zu erklären, was die Gründe sind, die mich dazu bewegen, trotz der Religionskritik zu meinem Glauben zu stehen.«

Philosophische Argumente zur Gottesfrage behalten aber doch ihre aktuelle Gültigkeit, ruft Hegel in die Runde: »Im Erkennen Gottes beziehen wir uns auf eine göttliche Welt, in der alle Menschen sozusagen Kinder Gottes sind. Das heißt: Alle Menschen sind in gleicher Weise wertvoll und bedeutend. Und das gilt absolut, ist unumstößliche Wahrheit. Philosophische Gotteserkenntnis ist durchaus politisch zu verstehen im Sinne einer gerechten, brüderlichen Gesellschaft.«

Bevor die Runde ein letztes Gläschen trinkt, will Volker Gerhardt noch auf die spirituelle Bedeutung philosophischer Gotteserkenntnis hinweisen: »Ich denke, dass man heute vom Individuum her auf den Glauben zugeht. Deswegen braucht man die Kirche nicht notwendigerweise als einzelner Mensch. Man braucht keine Dogmen, sondern man kann aus der persönlichen Erfahrung heraus im Denken seine Beziehung zu Gott finden.«

Hegel hebt das Glas und sagt zum Schluss: »Trotzdem brauchen wir eine Gemeinschaft, eine Gemeinde der kritisch Denkenden, eine philosophische Gemeinschaft im Salon oder im philosophischen Café. Diese neue Gemeinde der Philosophen bestärkt uns auf dem Weg der Vernunft.«

Pierre Hadot: Philosophische Lebenskunst, philosophische Lebensgemeinschaften

Der Philosoph als Exerzitienmeister
Pierre Hadot – Porträt eines ungewöhnlichen Denkers
Von Christian Modehn (2009)

Wenn er sich auf schwierige Herz – Operationen vorbereiten musste, fand er Trost in der Philosophie. „Die innere Ausgeglichenheit haben mir die Philosophen der Stoa gegeben“, berichtet Pierre Hadot, „meine individuelle Situation konnte ich relativieren, wenn ich mir vorstellte, wie ich, gleichsam fliegend, von hoch oben, auf die Welt schaue. Diese Übung gegen alles egozentrische Denken zeigt: Wie unbedeutend alles ist“.
Pierre Hadot hat erlebt und erfahren, dass philosophisches Nachdenken wie eine Therapie heilsam ist: „Lebe jeden Tag so, als wäre er ein erster Lebenstag. Und lebe ihn so, als wäre er der letzte. Dann freust du dich entweder über das Aufgehen einer Welt in dir und um dich herum. Oder du siehst im Blick auf das Ende die Ganzheit des Lebens. Nur in dieser meditativen Haltung, ein Vorschlag antiker Philosophen, entdeckt man die Tiefe des Lebens, die Freude, jetzt diese Gegenwart zu erfahren“.
Philosophie ist für Pierre Hadot mehr als abstraktes Debattieren, mehr als systematisches Reflektieren in den Universitäten: Sie ist eine Lebenshaltung. Nebenbei gesagt, hat sie Pierre Hadot ein langes Leben geschenkt: 1922 in Paris geboren, hat er sich schon als Jugendlicher für die Philosophie leidenschaftlich interessiert. Er erinnert gern an ein Erlebnis ungewöhnlicher Art, das er als „ozeanisches Gefühl“ beschreibt: Er erlebte die Wellen in einem unendlich erscheinenden Ozean, und plötzlich fühlte er sich einbezogen in eine geheimnisvolle Welt. Diese Unendlichkeit hat er nicht mit Gott in Verbindung gebracht. „Es war sozusagen ein religionsfreie philosophische Erfahrung der Unendlichkeit“.
Pierre Hadot lehrte als Professor für Philosophie am berühmten „Collège de France“ in Paris. Sein Fachgebiet: Die antike Philosophie, aber auch das Denken von Montaigne und Kant, Goethe und Wittgenstein.
Seine zahlreichen Bücher  haben vielen Menschen vor allem die antike Philosophie nahe gebracht: Die Schulen der Stoiker und Epikuräer, der Platoniker und Skeptiker. Befreit man deren Lehren von zeitgebundenen Vorstellungen und Einflüssen, wie bestimmten Ideen vom Kosmos oder den Atomen, dann zeigen diese so alten Denker ihre aktuelle Bedeutung für die Lebensgestaltung heute. „Pierre Hadot hat grundlegend unsere Vorstellung von Philosophie verändert“,  schreibt der auf Philosophie spezialisierte Publizist Roger – Pol Droit aus Paris. „Philosophen wie Seneca, Marc Aurel oder Epiktet haben nicht systematische Lehrbücher hinterlassen“, betont Hadot, „sondern Reflexionen, die ihnen selbst wie auch ihren Schülern Lebenshilfe sein sollten.
Dabei hatte zu Beginn seiner Studien alles darauf hingedeutet, dass er eine Karriere innerhalb der katholischen Kirche macht: Von den „Christlichen Schulbrüdern“ ausgebildet, „hatte ich  einen naiven Kinderglauben ohne Enthusiasmus“. Er studierte Theologie, 1944 wurde er zum Priester geweiht, weil das Seminar in Reims dringend einen Geistlichen als Philosophie Dozenten brauchte. Die gegen alles Moderne  gewandte Enzyklika „Humani Generis“ von Papst Pius XII. war für ihn ein Schock; die stereotypen Wiederholungen der liturgischen Sprache empfand er als Ärgernis, den immer wieder propagierten Glauben an übernatürliche Wunder konnte er nur ablehnen. „1953 habe ich die Kirche verlassen“, er gab sein Priesteramt auf. 1964 heiratete er in Berlin die Philosophin Ilsetraut Marten, mit ihr hat er das  gleiche Thema bearbeitet: Die Philosophie als Exerzitium, als geistige Übung.
Die antiken Philosophen wollte den Geist ihrer Zuhörer anregen, „bearbeiten“, sie wollten nicht nur den Geist  informieren, sondern – durchaus mit einem missionarischen Anspruch- die Seele formen. In den zahlreichen und in allen Städten weit verbreiteten philosophischen Schulen wurde mit dem „Meister“ über diese Exerzitien diskutiert. Aber wirklich praktizieren muss die Übungen der einzelne Mensch. Er muss es lernen, philosophische Lebenshilfe in jeder Lebenssituation zur Verfügung zu haben. Darum muss er zentrale Einsichten auswendig lernen und wie in einem inneren Dialog seinen Geist formen: „Bald wirst du alles vergessen haben, und bald werden dich alle Menschen vergessen haben“. Ein Lehrspruch von Marc Aurel, er verhindert blinden Übermut oder gar den Wahn, ewig jung bleiben zu können. Philosophische Übungen als verinnerlichtes Bedenken der Weisheit fördert die geistige Präsenz. Die Versuchung, wie im Dämmerzustand durch das eigene Leben zu tapern, wird zurückgewiesen. Was brauche ich wirklich zum Leben? Epikur lehrte zum Beispiel: „Das Elend der Menschen besteht darin, dass sie Dinge fürchten, die gar nicht gefürchtet werden dürfen, zum Beispiel den Tod oder die Götter: Von unserem Tod können wir nichts wissen. Und von den Göttern wissen wir auch fast nichts, weil sie im fernen Himmel sind“. Innere Ruhe tritt ein, wenn wir uns sagen: „Wir dürfen nicht wollen, dass das, was sowieso eintritt, doch besser nicht eintritt. Sondern wir müssen wollen, das anzunehmen, was nun einmal unabänderlich kommt“.
Zu den Exerzitien der antiken Philosophen gehört für Pierre Hadot entscheidend die Achtsamkeit auf meine Gegenwart: Darum empfiehlt er, wie die Meister der Antike, die reflektierende Meditation am Morgen: Nach welchen Grundsätzen will ich heute handeln, aus egoistischem Antrieb oder gemäß einer vernünftigen Ethik. Und am Abend findet die Gewissenserforschung statt, nicht etwa, weil ein Gott das verlangt, sondern weil es vernünftig und deswegen heilsam ist. Habe ich heute mit Wohlwollen die Menschen behandelt, lebe ich für die anderen, ist mir die Freundschaft das höchste Gut? Habe ich mich der Resignation hingegeben? Marc Aurel hat gelehrt: „Erwarte nicht die ideale Republik, sei zufrieden wenn eine kleine Sache vorankommt. Und bedenke, was dann daraus wird, das ist dann oft gar keine kleine Sache mehr“.
Die Exerzitien der antiken Philosophen haben später die Exerzitien der Kirche geprägt, Pierre Hadot hat das nachgewiesen. Die Christen haben sogar diese freien philosophischen Übungen vereinnahmt, als sie die Philosophie seit dem Mittelalter zur „Dienerin der Theologie“ erklärten  und das Dogma über das kritische Fragen stellten. Philosophie soll noch heute in der Ausbildung der Priester zur Annahme der Kirchenlehre bewegen.
Pierre Hadot lässt keinen Zweifel daran, dass auch heute die philosophischen Exerzitien eine spirituelle Hilfe sind. Der einzelen muss sie leisten, wie in einer Form von „Selbsterziehung“, und diese einzelnen können sich zu philosophischen Gesprächskreisen zusammenschließen. Der zeitliche Abstand zu den Texten antiker Philosophen ist ja nicht größer als zu den Texten der Bibel. In beiden Fällen muss historisch – kritisch gelesen werden. Die Philosophien bleiben zumindest genauso relevant wie das „Buch der Weisheit“ . Denn im Unterschied zu kirchlichen Exerzitien wollen die philosophischen Exerzitien einzig den freien, selbständigen Menschen fördern, er muss sich keiner kirchlich vorgegebenen Moral anpassen. Vielmehr zählt einzig die Achtsamkeit auf die Stimme der Vernunft. Sie führt zum inneren Frieden. „Ein Geschenk, das gerade in Zeiten globaler Krisen lebensrettend sein kann“.

Copyright: Christian Modehn

Das wichtige Buch von Pierre Hadot auf Deutsch “Philosophie als Lebensform” (Fischer Verlag) ist leider immer noch vergriffen. Auf Französisch ist wichtig als Einführung das Interview mit Hadot “La Philosophie comme manière de vivre” (Livre de Poche) aus dem Verlag Albin Michel, Paris. 2001, 6 Euro!

Laien leiten katholische Gemeinden in POITIERS, Frankreich.

Gegen den Trend

Im französischen Bistum Poitiers leiten Laien die Gemeinden. Hier ist der Weg von unten die Antwort auf die Kirchenkrise

Von Christian Modehn.

Dieser Beitrag wurde im Jahr 2009 publiziert. Inzwischen gab es einen Wechsel in der Leitung des Erzbistums Poitiers, nach der altersbedingten Pensionierung des sehr verdienten und mutigen Erzbischofs Albert Rouet. Er hat das Programm “Laien leiten Gemeinden” und “Laien leiten Sonntagsgottesdienste mit Kommunionempfang (!)”  entworfen und immer unterstützt. Manche sahen in dem (unten beschriebenen Projekt) eine Chance, auch kleine Gemeinden, auf dem Land zumal, lebendig zu erhalten und mit dem üblichen (und bei dem zunehmenden Mangel an Priestern für die Gemeinden zerstörerischen) dominanten Klerus-Modell endlich Schluss zu machen. Der neue Erzbischof ist seit 2012 Pascal Wintzer. Er baut dieses stark auf die verantwortliche Mitwirkung der Laien setzende Modell langsam ab und kehrt zur römisch willkommenen Klerus-Vorherrschaft in den Gemeinden wieder zurück. In der vorzüglichen Studie “Trombinoscope des Eveques 2016-2017 (Edition Golias, Villeurbanne, Nov. 2016) wird jeder (!) französische Bischof, wie es sich journalistisch gehört, krititisch, also nicht kirchenabhängig, gewürdigt. Auf den Seiten 316 bis 320 wird über Erzbischof Pascal Wintzer, Poitiers, berichtet; der Beitrag über ihn hat den bezeichnenden Titel “Fossoyeur”, also Totengräber … für diese neuen Gemeindeformen. In diesen Tagen tritt eine Synode in Poitiers zusammen, dort treffen sich die Katholiken, die dem Erzbischof treu ergeben sind (“identitaires”, wie die “Trombinoscope” S. 320 berichtet. Sie sollen die Laien ablösen, die noch für das Laien-Gemeinde-Modell eintreten, schreiben die Autoren der “Trombinoscope” (= “Jahrbuch”)…Wir empfehlen allen Interessierten dieses in unserer Sicht einmalige Buch über den realen Zustand der französischen Hierarchie. Und bitten alle, die enthusiastisch einst die unten notierten Zeilen gelesen haben, und das sind auch in Deutschland viele, mit ihrer (üblichen) Frustration fertig zu werden. Im Reformationsgedenken 2017 gilt das Motto: Der Klerus beherrscht die römische Kirche … nach wie vor. Insofern bleibt Luther aktuell…

Ergänzung im November 2016: Die Gemeinden in Frankreich sterben aus, weil der Klerus ausstirbt. So einfach ist das. Und so schlimm, wenn man an den Tod der Kommunikation dadurch in den Dörfern und den möglichen Verlust an Spiritualität denkt. Über jüngste (2016) Entwicklungen, zum Thema, im Bistum Tulle (Corrèze) klicken Sie hier.

Der publizierte Text von 2009:

Die Vergangenheit wirkt so beruhigend, weil sie tot ist.« Albert Rouet, Erzbischof von Poitiers im Westen Frankreichs, liebt klare Worte, wenn er von der »Pfarrgemeinde« als Organisationsform kirchlichen Lebens spricht: Sie ist für ihn überholt. »Bei der Pfarrei ging es seit Jahrhunderten um Macht: Die Priester bestimmten alles. Jetzt sind sie noch mehr überlastet. Ständig müssen sie Messen feiern. Eine grundlegende Erneuerung ist so nicht möglich.« Weiterlesen ⇘

Denken macht glücklich

Ein Besuch bei Michel de Montaigne
Eine Ra­dio­sen­dung (RBB) von Christian Modehn

1.musikal. Zusp.: Rondo, bleibt  0 05“ freistehen. Dann etwas reinblenden: Weiterlesen ⇘

Der philosophische Glaube bei Karl Jaspers

Glaubenssachen
Der philosophische Glaube
Ein Vorschlag von Karl Jaspers
Von Christian Modehn

Sprecher
Zitator
4 O Töne, zus. 4 30“

Sprecher:
Wer den Philosophen Karl Jaspers in seiner Wohnung in Basel besuchte, traf einen heiteren, jedoch Weiterlesen ⇘