Eine Art zu denken: Philosophieren ist überall möglich und nötig
Ein Hinweis auf das Philosophie Magazin, Ausgabe Oktober/November 2016
Von Christian Modehn
Philosophie ist nichts für Eingeweihte und Spezialisten, Philosophie ist keineswegs immer schwierig. Man kann ins Philosophieren langsam hineinwachsen, möchte man sagen. Und dann? Ja, dann verändert sich der Blick auf einen Selbst und die Welt. Nicht alles wird einfacher, vieles wird deutlicher, und einiges zeigt seine Tiefe oder seinen hohlen Schein. Insofern ist Philosophieren auch immer auf das Leben bezogen. Die Hefte des „Philosophie Magazin“ bieten dazu immer wieder Inspirationen. Die neue Ausgabe, leider nur 100 Seiten stark, hat wieder neben kurzen Beiträgen (zum Terrrorismus, zu Pokémon GO, selbst zum Thema Zölibat !) grundlegende Artikel, etwa eine Diskussion zwischen Alain Badiou und Marcel Gauchet über die Bedeutung der Nationalstaaten in einem internationalen, kapitalistischen globalisierten System. Badiou, sehr links, und Gauchet, liberal, sind bisher eher einem französischen Publikum bekannt. Das Philosophie Magazin übernimmt etliche Beiträge von der entsprechenden französischen Ausgabe. Sie erscheint monatlich, man kann nur hoffen, dass die deutsche Ausgabe auch sehr bald diesem zeitlichen Rhythmus folgt. Badious Meinung ist weithin realistisch: „Es gibt in der Politik nur Geschäfte und Interessen. Und in der breiten öffentlichen Meinung herrscht ein feiger und ängstlicher Konsens, der auf die Bewahrung westlicher Privilegien abzielt. Daher stammt ein widerliches Flirten mit dem Kulturrassismus, dem Motiv der Überlegenheit des Westens und allgemeiner Furcht vor dem Fremden…“ (S. 31).
Der wichtigste Beitrag in dem Heft ist für mich das Interview, das der Chefredakteur Wolfram Eilenberger mit Dieter Thomä (Philosophie- Prof. in St. Gallen) führt. Thomä plädiert für die Störenfriede als den Menschen, die eine Demokratie erst lebendig machen. Er spricht von ihnen auch mit Blick auf die Philosophiegeschichte in seinem neuen Buch „Puer Robustus“ (Suhrkamp). Die These: Wir sollten uns befreien von dem Gedanken des „total Anderen“ bzw. auf der anderen politischen, hier der rechten, der „totalen Identität“. Wichtig sind die Störenfriede „dazwischen“, an den Rändern, Störenfriede sind „Schwellengestalten“. Sie zeigen, wo Neues aufbricht. Wenn sich Störenfriede allerdings fest einrichten, werden sie zu Ordnungsfanatikern. „Das zeichnet Populisten und Islamisten gemeinsam aus“. Schon wegen dieses Interviews mit Dieter Thomä lohnt sich der Kauf des Heftes! Wo sind diese zu Ordnungsfanatikern erstarrten Störenfriede in der Philosophie? Wo in der Religion? Wurde der Störenfried Martin Luther zu einem schon konfessionalistisch eingeschränkten Ordnungsfanatiker (in seinem Kampf gegen den Reformator Thomas Müntzer etwa)? Diese weiterführenden Fragen würde man gern weiter besprechen…
Dass Philosophieren überall und immer stattfinden kann, zeigt ein ganz anderer, schöner Beitrag von Svenja Flaßpöhler über ihre eigenen Erfahrungen im Schrebergarten zu Berlin. Neu ist für viele LeserInnen sicher auch die Information über die sehr abschreckende Pädagogik des Namensgebers dieser kleinen Gärtchen und Häuschen, eben des Herrn Moritz Schreber: Er war Arzt und Hauptvertreter der „schwarzen Pädagogik“, die, wie der Name andeutet, sich durch brutale Strenge gegenüber Kindern auszeichnete. Interessant, wie wir so oft mit eher üblich gewordenen Namen gedankenlos umgehen, etwa mit den „Schreber – Gärten“. Ob da wohl Umbenennungen bald anstehen? Wann endlich verzichten wir etwa auf Hindenburg-Alleen und Straßen, die etwa benannt sind nach heftigsten Militaristen? Welche Frömmigkeit soll, nebenbei gefragt, in einer Kirche entstehen, die Kaiser Wilhelm Gedächtnis- Kirche heißt? Welche spirituellen und friedlichen und sozialen Impulse gehen von diesem Kaiser im 21. Jahrhundert aus? Was soll diese Erinnerung an die Einheit von Thron und Altar noch heute? Wäre doch ein Thema im Reformationsgedenken 2017. Wird die Kirche aber nicht aufgreifen, Philosophen als freie Geister könnten es und sollten es!
Empfehlen möchte ich die Lektüre des Hauptartikels „Sind wir berechenbar?“, das heißt auch kontrollierbar, von aller Privatsphäre befreit, sozusagen als eine durchleuchtete Person der Werbung usw. preisgegeben. Und da ist besonders das Interview mit Ethan Zuckermam inspirierend. Der vielfach engagierte Aktivist und Mitarbeiter des Instituts of Technology in Massachusetts (MIT), sagt u.a. „Cookies sind ein Albtraum,!“….“Forscher am MIT haben festgestellt, dass wir über 80 Prozent unserer Lebenszeit berechenbar sind. Für den Markt ist das ein ziemlich hoher Wert“ (S. 47). Manchmal ist es nötig, etwa im Falle von Verbrechern, vorausschauend deren Leben zu prognostizieren. Auch dazu gibt es einen Beitrag: Sollen wir Angst haben vor dem Unberechenbaren fragen sich die Thea Dorn, Philosophin und Roman-Autorin und Vince Ebert Autor eines Buches über das Unberechenbare. Thea Dorn weist darauf hin, wie das absolut Unberechenbare, also das Göttliche oder Gott, in der Haltung Martin Luthers eine Rolle spielte. Damit öffnet sie die weiter zu führende Debatte über Martin Luther und die Philosophie: Vom philosophischen Denken hielt der Reformator gar nichts, er stürzte sich lieber ziemlich blind in den Glauben.
Leider zu kurz ausgefallen ist der Beitrag über Heideggers „Schwarze Hefte“ und die Frage: Was bleibt vom Ganzen des Heideggerschen Denkens angesichts seiner erst seit einigen Monaten bekannten nicht nur antisemitischen, sondern demokratiefeindlichen Bekenntnissen? Der schon erwähnte Philosoph Dieter Thomä warnt vor einer „pauschalen Heidegger Kritik“, also vor einer pauschalen Zurückweisung seines Denkens im ganzen. Bedenklich irritierend bleibt der Hinweis aus den Schwarzen Heften: Heidegger selbst ersehne den Moment, in dem „sich die Erde selbst in die Luft sprengt und das jetzige Menschentum verschwindet“ (S. 91). Damit wäre dann auch Heideggers Philosophie verschwunden. Diese apokalyptische Vision des so hoch gelobten Denkers der frühen Bundesrepublik, diesen Wahn der Vernichtung, sollte man ausführlicher besprechen. Diese Frage passt gut zu dem Beitrag über Walter Benjamin und die Geschichte. Öffnen sich „neue Fenster der politischen Hoffnung“, heißt die leitende Frage in dem Beitrag, verfasst u.a. von Wolfram Eilenberger.
Bei der Lektüre der Hefte schon über etliche Monate stellt sich mir immer wieder die Frage: Wann endlich wird es in Berlin ein „Haus der Philosophie“ geben, so wie es Zentren für Literatur gleich mehrfach hier schon gibt? Könnte sich das Philosophie Magazin nicht um die Gründung eines solchen (vielleicht am Anfang noch bescheidenen) Hauses/Zentrums kümmern, wo man viele wichtige philosophische Texte und vor allem Zeitschriften lesen kann, etwa auch die französische Ausgabe des Philosophie Magazins und alle die anderen englischen, amerikanischem, spanischen und holländischen usw. Philosophie-Magazine. Und natürlich auch die Fachzeitschriften? Und natürlich auch ein Café und eine Tee-Stube hätte zum Debattieren? Findet sich denn für ein solches Projekt, das selbstverständlich auch die interkulturelle Philosophie aus Afrika, Asien und Lateinamerika darstellt, keinen Sponsor, der der Philosophie dann wirklich alle Denkfreiheit lässt und nicht reinredet? Möchte man fast nicht glauben…Zumal im Leibniz Jahr 2017 will man sich vom Optimismus von Leibniz (oder Michel Serres) anstecken lassen und das schier Unmögliche doch für möglich halten: Eben ein philosophisches Haus für alle, die das Denken, das philosophische, lieben. Und das werden sicher immer mehr!
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