“Keine Kirche besitzt die ganze Wahrheit”
Von Jacques Gaillot, Paris und römisch – katholischer Bischof von Partenia, zum Ökumenischen Kirchentag in Berlin 2003
Übersetzt von Christian Modehn
Für aktuelle Informationen über Jacques Gaillot v0m 19.6. 2013 klicken Sie hier.
Angesichts der Diskussionen über ein gemeinsames Abendmahl von Katholiken und Protestanten können die Überlegungen von Bischof Jacques Gaillot aus dem Jahr 2003 immer noch von Interesse sein.
“Es ist für mich eine Freude, mit Protestanten und Katholiken vor Ort zusammenzuarbeiten. Ihr Hauptinteresse ist, die Gerechtigkeit zu fördern. Sie machen die Erfahrung, dass man das Evangelium nicht verkünden kann, ohne dabei leidenschaftlich für die Gerechtigkeit für alle einzutreten. Deswegen treffen sie sich auch bei internationalen Kongressen z.B. in Genua und Florenz, um die neoliberale Globalisierung anzuklagen; sie schicken Delegationen der Solidarität nach Palästina. Sie fordern, daß die Kirche ihren Beitrag leisten angesichts der enormen sozialen Ungerechtigkeit in der Welt. Kirchen, die Ungerechtigkeit nicht länger hinnehmen und Ungerechtigkeit anklagen und bekämpfen: Erst diese Kirchen werden für die Menschheit zu einem prophetischen Zeichen der Befreiung.
Christen aus der Ökumene mischen sich unter die vielen anderen Menschen, um gegen den Krieg im Irak zu protestieren. Sich allein schon für einen Krieg zu entscheiden, ist bereits eine Katastrophe. Diese Christen aus der Ökumene wissen, dass der Friede auch in ihre Hände gelegt ist. Sie wollen die Gewaltfreiheit fördern. Darum wünschen sie, dass auch die Kirchen selbst auf (psychische) Gewaltanwendung verzichten. Das ist eine schwere Entscheidung, aber sie entspricht so dem Evangelium. Liegt darin nicht auch die Bedingung für den Dialog? Der Dialog ist nur möglich zwischen Menschen, die keine Waffen haben. Wenn man zum anderen mit blossen Händen geht, verzichtet man auf jeden Wunsch, ihn für die eigene Position zu gewinnen.
Christen aus der Ökumene müssen sich um den Umwelt-Schutz kümmern und um die Zukunft des Planeten besorgt sein. Christen aus der Ökumene haben verstanden, dass der Mensch nicht mehr im Zentrum der Welt steht. Der Mensch ist ein “Erdenwesen”, ein Sohn und eine Tochter des Kosmos, ein Staubkorn der Sterne. Sollten die Kirchen nicht zeigen, dass es keine Trennung gibt zwischen der Schöpfung der Welt und der Schöpfung des Menschen? Sollten uns die Kirchen nicht zeigen: Die Versöhnung des Menschen mit sich selbst setzt die Versöhnung mit der Natur voraus!
Die Christen an der Basis, die ich immer wieder treffe, sind davon überzeugt: Keine Kirche besitzt die Wahrheit. Aber jede Kirche hat eine Art, sich der Wahrheit zu nähern. Entsteht nicht erst im Dialog, der natürlich die Öffnung für den anderen verlangt, die gemeinsame Wahrheit? Wenn man mit dem Dialog, sogar mit der Debatte, beginnt, muss man wissen: Man nimmt das Risiko auf sich, anders als vorher zu denken. Die Wahrheit bedeutet unterwegs sein, die Wahrheit kann man nicht wie in einem Laden verfügbar vorfinden.
Ich kenne Protestanten und Katholiken, die gemeinsam das Heilige Abendmahl feiern. Es kommt vor, dass ich auch an diesen Feiern teilnehme. Das gemeinsame Abendmahl ist für diese Christen der Ökumene – und natürlich auch für mich – ein starkes Erlebnis. Das Brot des Lebens erweist sich als Brot fürs Unterwegssein. Im gemeinsamen Unterwegssein gehen wir mit diesem Brot der Einheit und der ganzen Wahrheit entgegen”.
Übersetzung anläßlich des Ökumenischen Kirchentages in Berlin 2003