Taizé – ein katholischer Ort? Anmerkungen zum Begriff der Ökumene à la Taize

Aufgrund zahlreicher Anfragen nach meinem Artikel in PUBLIK – FORUM (1/2012) verdeutlichen wir noch einmal, was Ökumene in Taizé, dem berühmten Wallfahrtsort von Jugendlichen aus aller Welt, aus unserer Sicht, gut dokumentiert, bedeutet. Das ist zwar kein Schwerpunkt unseres religionsphilosophischen Salons ….  aber manchmal müssen wir aktuelle theologische Fragen aufgreifen:

Welche Kircheneinheit hat Taizé vor Augen?

Von Christian Modehn, im Februar 2012.

Ich beobachte als Journalist Religionen und Kirchen. Mich interessiert – in Form einer Prüfung von außen – die Frage: Welche Einheit der Kirchen, also welche konkrete und fest beschreibbare Vorstellung von Ökumene hat die Mönchs – Gemeinschaft von Taizé?  Mit dieser theologisch relevanten Frage wird die Tatsache nicht berührt, dass die Mönchsgemeinschaft von Taizé für viele (jugendliche) Menschen weltweit ein inspirierender Ort geworden ist. Sicher bin ich nicht der erste, dem die Formulierungen zur Ökumene von Frère Roger Schutz oder von Bruder Alois etwas „fließend“, um nicht zu sagen: unpräzise, erscheinen. Darf man sagen: Sie wirken eher poetisch und ins Mystische gehend? Es ist auch diese fromme Glaubenssprache der Insider, die in dem Beitrag von Bruder Alois, dem gegenwärtigen Prior (vom Gründer Roger Schutz vor vielen Jahren dazu bestimmt und ernannt !) in dem Beitrag für die Internationale Theologische Zeitschrift Concilium (2011) immer wieder durchbricht. Der Titel seines theologischen Aufsatzes: „Habe die Leidenschaft für die Einheit des Leibes Christi“. Dabei ist nicht nur der Appell im Titel bemerkenswert, interessant ist die Verwendung des Bildes „Leib Christi“ für die Kirche. Es wird also nicht der (alternative) Begriff „Volk Gottes“ gebraucht, der im 2. Vatikanischen Konzil durchaus als Konkurrenzbegriff galt, sondern der eher hierarchische Vorstellungen weckende „Leib Christ“ Begriff: Da gibt es ein herrschendes Haupt und gehorsame Glieder…

Frère Roger, der Gründer von Taizé, war überzeugt, die Kirche sei „in ihrer Tiefe“ ungeteilt. (S. 130 in Concilium). „An uns ist es daher, Orte zu schaffen, an denen diese Einheit hervortreten und greifbar werden kann“, schreibt Bruder Alois, diesen Gedanken weiter entwickelnd. Dabei erinnert er an den orthodoxen französischen Theologen Olivier Clément, der – seinerseits ziemlich kryptisch  – schreibt: „Es gibt nur eine einzige Kirche, verborgener Unterbau aller Kirchen…“ Also eine untergründige Einheit gibt es, und Taizé wäre dieser Ort, wo diese untergründige Einheit nach vorne tritt und offenbar wird. Aber was ist damit konkret gemeint? Handelt es sich um eine wirklich neue und bislang unbekannte Kirche, also eine aus verschiedenen Traditionen gespeiste bzw. zusammengefügte Kirche? Taizé schließt aber aus, dass diese – aus der Tiefe sozusagen hervorgeholte Einheit – tatsächlich eine grundlegende neue, eine bislang völlig unbekannte ökumenische Kirche sein sollte. Das wäre in römischer Sicht –und darauf nimmt Taizé alle Rücksicht  – ein Schisma, und das darf nicht sein.

Anders hingegen und nur nebenbei erwähnt als Alternative: Der niederländische Theologe und Poet Huub Oosterhuis fördert z. B. seit 1970 in Amsterdam eine neue selbständige ökumenische Gemeinde, die Studenten – Ecclesia, die über alle bestehenden Konfessionen hinausgewachsen ist. Sie präsentiert eine neue Ökumene, natürlich, auch eine neue Kirche. So etwas kommt für Taizé nicht in Frage.

Den Mönchen von Taizé geht es um die Überwindung aller Konfessions – Spaltungen, die nur in einer und in einer einzigen Kirche Gestalt finden kann. Welche konkrete Kirche dabei für die Mönche von Taizé entscheidend geworden ist, wird weiter unten gezeigt. Diese eine und einzige Kirche – im Sinne Taizés: Sie widerspricht der  ökumenischen theologischen Vorstellung von einer bleibenden und wichtigen und schönen Vielfalt der Kirchen, die sich aber untereinander respektieren und als unterschiedliche Kirchen anerkennen. Man spricht deswegen vom ökumenischen Zielbegriff der „versöhnten Verschiedenheit“. Von dieser Vorstellung einer Ökumene in bleibender Vielfalt ist in Taizé keine Rede. Es geht dort um die eine und einzige Kirche, in die sich alle anderen hinein begeben sollen.

Es gibt in Taizé einen zweites theologisches Problem: Die de facto Mitgliedschaft Frère Rogers in der katholischen Kirche seit 1972. Dabei wollte Roger Schutz, so immer wieder betont,  ausdrücklich seiner protestantischen Herkunft treu blieben. Etwas poetisch formulierte er seine Doppelmitgliedschaft: Er wolle den „Glauben meiner Ursprünge mit dem Geheimnis des katholischen Glaubens versöhnen“, so in dem Buch „Eine Ahnung von Glück“, S. 82. Der Theologie Professor Peter Zimmerling  (Leipzig) nennt diese Haltung treffend „eine Art Schwebezustand“ (in der Zeitschrift „Una Sancta“, 2007). Und Prof. Zimmerling meint, Roger Schutz wollte „beiden Kirchen gleichzeitig angehören“.

Aber hätten sich katholische Bischöfe im Ernst eine bi – konfessionelle Identität akzeptiert? Werden nicht sogar dem bloßen Anschein nach „bi – konfessionelle“ Christen von Rom her bestraft? Wie bewerten also katholische Bischöfe das Ereignis  in der Kapelle des Bischofshauses von Autun  (zu diesem Bistum „gehört“ Taizé)  im Jahr 1972? Bischof Le Bourgeois hatte dort das Glaubensbekenntnis Roger Schutz entgegen genommen und ihm anschließend die (katholische) Kommunion gereicht. Auch wenn danach kein Dokument einer Konversion zum Katholizismus unterschrieben wurde, wie immer wieder betont wird, nach den Regeln katholischer Theologie ist damit Roger Schutz de facto katholisch geworden. Bischof Séguy, der Nachfolger  von Bischof Le Bourgeois, der 1972 die Konversion entgegen nahm, schreibt: „Frère Roger hat dem Protestantismus nicht abgeschworen, aber er hat ausgedrückt, dass er vollständig („pleinement“) dem katholischen Glauben anhängt“. Ein außergewöhnliches Ereignis, weil Rom ja sonst immer das Entweder – Oder, die klare Entscheidung, durchsetzt. Diese Doppelmitgliedschaft Roger Schutz,` seine Bi – Konfessionalität, wurde von Rom nur akzeptiert, weil er als exklusive Ausnahme von den Päpsten seit Johannes XXIII. hoch geschätzt wurde. Darf man vermuten, weil Rom damals schon spürte, dass Frère Roger „eigentlich“ katholisch ist? Denn schon 1969 hat der „Bruderrat von Taizé“ seine Loyalität dem Papst gegenüber zum Ausdruck gebracht; schon damals bekannten die ganz überwiegend protestantischen Mönche, sie würden sich „in Gemeinschaft mit jenem Mann wissen, der das Dienstamt des Dieners der Diener Gottes (sic!) übertragen bekommen hat“ (in: Aufbruch zur Quelle, S 99). Diese Umschreibung des Titels des Papstes folgt bereits römischen Sprachregelungen. Seit 1971 gab es einen Vertreter des Priors von Taizé beim „Heiligen Stuhl“, also dem Papst, auch darauf weist Professor Peter Zimmerling hin. Papst Benedikt XVI. hat in einer Ansprache in Castel Gandolfo am 17.8. 2005 die Worte Frére Rogers übernommen und in seinem Sinne betont, dass die Mönchsgemeinschaft „ihren Weg in Gemeinschaft mit dem Heiligen Vater gehen möchte“.  Wer geht in Gemeinschaft mit dem Heiligen Vater? Doch wohl nur jener, der selber katholisch ist. Würde ein liberaler reformierter Christ oder ein progressiver Anglikaner oder ein frommer griechisch orthodoxer Pope von sich sagen, er möchte in „Gemeinschaft mit dem heiligen Vater seinen Weg gehen“?

Nur weil de facto die Mönchsgemeinschaft katholisch geworden ist, wird erklärbar, warum Roger Schutz betont hat, dass die Mönchsgemeinschaft ein der katholischen und orthodoxen Kirche vergleichbares Eucharistieverständnis hat (Aufbruch zur Quelle, 87). Darüber hinaus gibt Roger Schutz offen zu, dass er das katholische Sakrament der Buße hoch schätzt, auch die Marien – Verehrung sei für ihn selbstverständlich, manche Marien Erscheinungen (Lourdes ?) hielt er sogar für „echt“; auch empfahl er das Gebet zu Maria. Prof. Zimmeeling spricht in dem Zusammenhang von „starker Annäherung an die katholische Theologie und Spiritualität“. Auf dieser Linie ist es verständlich, dass Roger Schutz ganz normal die katholische Kommunion aus der Hand Kardinal Ratzingers anlässlich der Totenmesse für Papst Johannes Paul II. empfangen konnte und durfte. Nur so wird verständlich, warum die Trauerfeier für Roger Schutz in Taizé von Kardinal Walter Kasper geleitet wurde, während die anderen ökumenischen Gäste eher am Rande blieben. Nur so wird verständlich, warum an jedem Sonntag der Hauptgottesdienst in Taizé als katholische Messe gefeiert wird. „Am Sonntagmorgen findet im Hauptgottesdienst eine katholische Eucharistiefeier statt, wobei in der Mitte der Versöhnungskirche vor dem Altar beide Elemente an alle (!), die wollen, ausgeteilt werden. Während in den Seitenbauten der Kirche die Eucharistie in einerlei gestalt (also nur die Hostie, CM) empfangen werden kann“, so Peter Zimmerling. Und er fährt fort: „Allerdings dominiert eindeutig die katholische Eucharistiefeier das gottesdienstliche Geschehen, wobei auffällt, dass der Empfang der beiden eucharistischen Gaben auch für Nichtkatholiken offen ist“. Nebenbei: Der katholische Priester Professor Gotthold Hasenhüttl wurde als Priester suspendiert,  weil er bei einer Messe während des Ökumenischen (!) Kirchentages in Berlin im Jahr 2003 auch Protestanten die Katholische Kommunion reichte!  Die in Taizé gewährte ökumenische Gastfreundschaft darf offenbar nirgendwo anders gelten. Warum wohl? Drückt Rom alle dogmatischen Augen zu? Ist Taizé ein geheimer Liebling des Vatikans, ein geduldetes Experimentierfeld, um als Kirche viele Jugendliche „zu erreichen“?

In den jüngsten Äußerungen betont Bruder Alois – etwa in der Theologischen Zeitschrift Concilium – Taizé habe das Dienstamt des Papstes anerkannt. Mit dieser Anerkennung des Dienstamtes“  handle es sich NICHT, so wird betont,  um eine „Rückkehr Ökumene“, also um die Vorstellung, die nichtkatholischen Christen sollten zur römisch katholischen Kirche „zurückkehren“. Denn, so Bruder Alois, seit Johannes XXIII. und dem Zweiten Vatikanischen Konzil habe die katholische Kirche „ den wesentlichen Forderungen der Reformation nachgegeben“. (S. 131). Da wird also behauptet, die römisch – katholische Kirche heute erfülle die Forderungen der Reformation. Darauf hat Prof.. Zimmerling mehrfach hingewiesen: In der Sicht von Taizé sind die protestantischen Kirchen nur „Provisorien“. „Sie besitzen ihre Existenzberechtigung darin, Korrektiv, gelegentlich auch Ergänzung des Katholizismus, nicht jedoch eigenständige Kirche auf unbegrenzte Zeit zu sein“. Prof. Zimmerling weist darauf hin, dass diese merkwürdige Vorstellung von dem provisorischen Charakter der protestantischen Kirche schon 1965 von Roger Schutz formuliert wurde, und zwar in dem Buch „Die Dynamik des Vorläufigen“.

Die Protestanischen Kirchen als vorläufige, eines Tages verschwindende Kirchen: Korrespondiert diese Vorstellung  mit der Idee, verbreitet im päpstlichen Schreiben „Dominus Jesus“, dass die protestantischen Kirchen keine Kirchen im “eigentlichen Sinne”  sind, eine Behauptung, die Benedikt XVI. immer wiederholt.

Jedenfalls ist es verwunderlich zu lesen, dass Bruder Alois, der Prior von Taizé, ein katholischer Laien – Theologe,  im Ernst meint,  dieser Katholizismus , wie er sich heute zeigt, sei bereits ein reformierter Katholizismus, also ein solcher, der den Forderungen der Reformatoren bereits entspricht. Wie ist dann die über geordnete Stellung der Amtspriester gegenüber den Laien im heutigen Katholizismus zu beurteilen, wie der zögerliche Umgang mit dem allgemeinen Priestertum ALLER Gläubigen, wie die immer noch vorhandene Praxis des Ablasses, wie die Unterdrückung echter theologischer Pluralität, wie der Ausschluss von Frauen vom Priesteramt usw.??

Diese Einschätzung Bruder Alois`, der heutige Katholizismus sei bereits „reformiert“,  ist ein theologischer Irrtum. Natürlich gibt es Unterschiede in den Reden der Päpste des 16. und des 20. Jahrhunderts. Am Primat des Papstes hat sich aber nichts geändert, übrigens auch nicht in der klerikalen Mode der Päpste und Prälaten. Das barocke Denken dominiert. Das ist nur eine Tatsachenbeschreibung.

Aber dieses Argument („Die katholische Kirche ist bereits reformiert“) braucht Bruder Alois, um die innere Verbindung mit Rom zu verklären: Schließlich will Taizé, so wörtlich (S. 131), der Kirche von Rom von innen her (!) helfen, sich weiter zu entwickeln“. Aber wer kann von innen her helfen? Jemand der innen ist, also Teil der römisch –katholischen Kirche geworden ist. Typisch für die extrem positive Einschätzung der Verhältnisse in der römischen Kirche: „Das 20. Jahrhundert hat gezeigt, wie sehr das petrinische Dienstamt in der Lage ist, sich zu verändern. (PS: Hans Küng ist mit seinem Versuch in Rom gescheitert, die Unfehlbarkeit neu zu interpretieren CM)   Johannes Paul II. hat selbst die Nichtkatholiken dazu aufgerufen, bei ihm bei dieser Fortentwicklung zu helfen“.

Von Lernprozessen in Rom, angestoßen durch protestantische oder orthodoxe Theologen, war bis jetzt nichts zu hören. Im Gegenteil: Das harte Durchgreifen der Hierarchie gegenüber kritischen Theologen ist allseits seit Jahrzehnten bekannt. Die Bischofs – Synoden in Rom sind eben ausschließlich Bischofssynoden, ohne volle Partizipation des Volkes Gottes, d-h. auch der Laien usw.

Ist Taizé also de facto und entgegen vieler Behauptungen doch ein Teil der katholischen Kirche? Diese Frage wird jeder unde jede nach der Lektüre dieses Beitrags selbst beantworten. Unser Meinung nach kann bewiesen werden, dass Taizé eine katholische Gemeinschaft ist, allerdings mit Mitgliedern, die noch formell anderen Kirchen angehören; mit protestantischen oder orthodoxen Gottesdiensten am Rande. Das ist in meiner journalistischen und philosophischen Dicht überhaupt nicht schlimm. „Jeder nach seiner Fasson“. Und an der inspirierenden Begleitung suchender und fragender  Jugendlicher wird nicht gezweifelt, sie können dort spirituell intensive Tage erleben. Aber sie erfahren dort selten, wohin die ökumenische Reise im Sinne Taizés hingeht. Sie führt nach Rom. Auch das muss selbstverständlich respektiert werden. Aber manch einer wäre froh, mehr Klarheit über den immer schwebenden und bloß poetischen Begriff der Ökumene von Taizé selbst zu erfahren.

Copyright: christian modehn, berlin.

 

Ein “mystischer Agnostiker” – Erinnerung an Lucien Jerphagnon

„Ich bin ein mystischer Agnostiker“
Ein Hinweis auf den Philosophen und Historiker Lucien Jerphagnon
Von Christian Modehn

Ein merkwürdiges Phänomen: Der Austausch der Kulturen ist selbst bei den Nachbarn Deutschland – Frankreich sehr begrenzt. Bis jetzt gibt es z.B. noch immer keine Übersetzung eines Buches aus dem umfangreichen Werk des Philosophen und Histoikers Lucien Jerphagnon (1921 – 2011). Er ist ein Spezialist vor allem der antiken wie auch der mittelalterlichen Philosophie. Seine Bücher sind, wenn man so sagen kann, leicht zugänglich, er liebte das Gespräch, darum sind einige Bücher als – typisch französisch – Gespräche publiziert worden. Lucien Jerphagnon hat sich stets als Philosoph UND Historiker verstanden: „Das Ideal für einen Historiker der Philosophie ist es, zu versuchen den Geist der Zeit des bestimmten Philosophen zu erkunden. Man muss nicht nur wissen, was er dachte, sondern auch, was man tat und sagte, was man damals aß und trank, was man von der Liebe dachte und vom Haß, sowie von der Religion, der Politik, vom Glück“, so in einem Interview mit der Zeitschrift „LE Magazine Littéraire“, Dezember 2011, Seiten 92 – 96. .
Seine Aufgabe als Philosoph sah er darin, zum Staunen, zum Verwundern anzuregen, die Fraglichkeit als Dimension des Lebens zu begreifen. Lucien Jerphagnon nannte sich selbst einen mystischen Agnostiker, der vor allem durch die Werke Plotins zu einer philosophisch – spirituellen Haltung fand. „Plotin hat mich gehindert, in einigen Augenblicken meines Lebens als Atheist zu enden. Ich war immer ein Mann des Glaubens, denn bei Plotin habe ich das Prinzip einer Welt entdeckt, die mich immer in Erstaunen versetzte“.
Als mystischer Agnostiker setzte er sich von den bekennenden Atheisten ab. „Der Atheist glaubt, dass Gott nicht existiert. Aber wir haben keinen Beweis für die Nicht – Existenz Gottes. Der Agnostiker hingegen transzendiert jedes mögliche Wissen von Gott, Plotin sagte: „Gott ist jenseits von allem“.
„Aber wann bin ich „mystisch“, fragte sich Lucien Jerphagnon? „Mystisch bin ich in dem Augenblick, wenn ich bete oder wenn ich gern die Gewissheit hätte, dass dieses Gebet auch sein Ziel erreicht“. Und Glück bedeutet, im Augenblick zu leben. Carpe Diem, ist der ausdrückliche Aufruf des Philosophen. „Aber dieser Augenblick ist unsterblich. Was auch immer mit uns passiert: Es gibt eine Dimension in uns, die niemals ausgelöscht werden kann“.
Prof. Jerphagnon hat u.a. an den Universitäten von Besancon und Caen gearbeitet, er hat sich stets als Schüler des großen Vladmir Jankélevitch bezeichnet. Zu den Schülern Jerphagnons gehört etwa der heute sehr populäre wie auch wegen radikaler Zuspitzungen umstrittene Philosoph Michel Onfray (Caen). Jerphagnon hat sich gefreut, dass Onfray sein eigenes Thema gefunden hat, auch wenn er „zu einer anderen Seite gehört“. „Aber ich bin damit zufrieden, denn ich wollte ja keinen Clon als meinen Schüler, sondern selbständige Denker“, so Jerphagnon in „Le Magazine Littéraire“.
Allseits wird der Philosoph und Historiker wegen seiner leichten, zum Teil witzigen Schreibweise gelobt. Für ihn war Philosophie (noch) Liebe zur (Lebens) Weisheit: „Befasse dich nicht zu sehr mit dem Äußeren. Bewahre dich ein bisschen für dich selbst und die jenigen, die du liebst. Das Ideal des Glück ist l amour partagée, also die geteilte, die nicht egoistische Liebe“.

Wir nennen nur die letzten Bücher Lucien Jerphagnons, wobei wir darauf hinweisen, dass er selbst seine Studie über den vom Christentum zum Heidentum konvertierten römischen Kaiser Julian Apostata besonders schätzte. „Julien, dit l’Apostat“, 1986, Éd. du Seuil

2006, Augustin et la sagesse, Desclée de Brouwer
2007, Au bonheur des sages, Hachette Littératures
2007, La Louve et l’Agneau, Desclée de Brouwer
2008, Entrevoir et Vouloir : Vladimir Jankélévitch, La Transparence
2009, La tentation du christianisme avec Luc Ferry, Grasset
2010, La… sottise ? (Vingt-huit siècles qu’on en parle), Albin Michel
2011, De l’amour, de la mort, de Dieu et autres bagatelles, entretiens avec Christiane Rancé, Albin Michel
2012, Connais-toi toi-même…Et fais ce que tu veux, Albin Michel

copyright: christian modehn, berlin.

Friedrich d.Gr. und Hegels Philosophie

Friedrich II. wird Aufklärer und als Protestant gewürdigt…
Das doppelte Bild Hegels von Friedrich d. Gr.
Von Christian Modehn

In seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“, die Hegel in Berlin sechsmal hielt (von 1819 bis 1829), verteidigt er ausdrücklich Friedrich II., er nennt ihn wörtlich „eine große Erscheinung“ (298): „Es ist albern, wenn die Frömmelei und die falsche Deutschheit jetzt über ihn herfallen und diese große Erscheinung, die so unendlich gewirkt hat, kleinmachen oder gar zu Eitelkeit oder Verruchtheit herabsetzen wollen“. Und dann folgt der wichtige Satz: „Was Deutschheit sein soll, muss eine Vernünftigkeit sein“.

Friedrichs II. Verbundenheit mit der französischen Aufklärung wird von Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ herausgearbeitet. Voltaire wird dabei nur einmal dem Namen nach genannt (294). In einer Gesamtschau würdigt Hegel die Leistungen der französischen Aufklärung, etwa die „verhölzerte Religion“ (295) anzugreifen, sowie „den religiösen Zustand mit seiner Macht und Herrlichkeit, Verdorbenheit der Sitten, Habsucht, Ehrgeiz, Schwelgerei“ (ebd.). Dabei sieht er genau, wie die französische Aufklärungsphilosophie auch die damalige „verdorbene bürgerliche Gesellschaft“ kritisiert hat, „man erblickt bei diesen Philosophen Empörung“ über diese Zustände in Frankreich. (296). Denn „die Schamlosigkeit, Unrechtlichkeit ging (in der französischen Monarchie) ins Unglaubliche“ (ebd.) Diese Philosophen, so betont Hegel nachdrücklich, schätzten die Menschen nicht als “Laien“ (297) ein, also nicht als inkompetente Menschen gegenüber der Religion und dem Staat. Er lobt „das Genie, die Wärme, das Feuer, den Geist und den Mut“ der französischen Aufklärer, für das „Menschenrecht der subjektiven Erkenntnis“ eingetreten zu sein, also für die Forderung, dass sie als Menschen die Institutionen auf ihre Vernunft hin eigenständig überprüfen können und entsprechend gestalten.
In diesem Insistieren auf die kritische Macht des aufgeklärten Subjekts sieht Hegel eine Verbindung zu Friedrich II.. Damals war französische Aufklärungsphilosophie in Deutschland nicht wirklich verbreitet, meint Hegel, obwohl doch „viel Schlechtes und Barbarisches – durch sie in Deutschland – verscheucht wurde“ (298). Dabei stellt Hegel durchaus positiv wertend heraus, dass dieser Friedrich II. nicht explizit religiös erzogen wurde und auch nicht so lebte, monotone Psalmen hat er nicht auswendig gelernt, darauf weist Hegel hin…. Friedrichs innenpolitisches Reformwerk war „Bedürfnis“, wie Hegel sagte, also es war innerstes Anliegen Friedrichs selbst wie es auch als objektive Bedürfnis sozusagen in der Luft lag. Und Hegel nennt die Reformen Friedrichs II: Toleranz, Gesetzgebung, Verbesserung der Gerechtigkeitspflege, Sparsamkeit mit der Staatskasse, von dem elenden deutschen Recht ist nicht einmal mehr ein Gespenst geblieben“ (298).
Die religiöse Überzeugung Friedrich II. wird in diesen Vorlesungen nicht weiter explizit herausgearbeitet. Dass der Preußische König als Philosoph eher dem aufklärerischen Gottesbegriff des Deismus folgte, dass er also kein orthodoxer Christ war, wird in den Vorlesungen nicht erwähnt. Denn von seinem eigenen Standpunkt aus müsste Hegel dieses Gottesbild als ungeistig kritisieren, weil es an der Abstraktion und Unbegreiflichkeit Gottes festhält. Für Hegel ist Gott vernünftiger absoluter Geist und somit Subjekt und somit auch für den vernünftigen Menschen erkennbar als Subjekt. Von dem fernen Gott der Deisten hielt Hegel nur insofern etwas, als es „Durchgangsstufe“ zur Wahrheit ist.

Um so erstaunlicher ist, dass Hegel in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ Friedrich II. als „Held des Protestantismus“ bewertet (519). Da sieht er in einer eher auf das konfessionelle Gegeneinander der Großmächte fixierten Blickweise die Leistung des Königs darin, Preußen als „protestantische Macht“ unter den „großen Staatsmächten“ Europas etabliert zu haben. Ausdrücklich weist er aber auch dort darauf hin, „dass er ein philosophischer König“ gewesen sei, eine ganz eigentümliche und einzige Erscheinung in der neueren Zeit“ (519). Aber die Philosophie dieses Philosophenkönigs wird hier ausgeblendet, Friedrich bleibt jetzt der „protestantische Herrscher“. Wobei, nebenbei, auffällt, dass der Luther Freund Hegel hier auf das eher diffuse Bild des Protestanten zurückgreift, also selbst die Reformierte Konfession nicht anspricht. In jedem Fall ist für Hegel Friedrich II. eine Gestalt, die die Vernunft vorangebracht hat. Dass der König den Juden gegenüber intolerant war, wird nicht erwähnt. Immer wieder hingegen wird auch in beiden Vorlesungen ausführlich herausgearbeitet, dass der Katholizismus eine unvernünftige Religion der Veräußerlichung und des blinden Gehorsams sei, also eine alte bzw. veraltete und zu überwindende Gestalt der Religion, die Luther und der Protestantismus auch überwunden hat. Das ist eine zentrale Überzeugung des Religionsphilosophen Hegel.

Die Zitate stammen in beiden Fällen aus der Theorie Werkausgabe des Suhrkamp Verlages, 1970 bzw 1971.
Die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte sind dort Band 12; die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie dort Band 20.
Copyright: christian modehn

Friedrich der Große – Religionsphilosoph und Kirchenkritiker

Zur Aktualität der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie „Friedrich des Großen“

Hinweise anlässlich seines 300. Geburtstages von Christian Modehn am 23.1.2012.

1.

Der Satz Friedrich II., als Weisheit populär, aber selten Realität: „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden“ wurde wohl 1740 gesprochen.

Eine ähnliche Formel verwendet er: “Im übrigen mögen wir das Sprichwort: Leben und Lassen“. (Seite 490 in: „Der Briefwechsel Voltaire – Friedrich d.Gr.“ Hg., übersetzt und vorgestellt von Hans Pleschinski, Zürich 1992. Die Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch).

Weitere programmatische Worte Friedrich II: “Halten Sie (gemeint ist Voltaire) es für möglich, dass man mich gottlos schimpft, weil ich erkläre, dass die Menschen nicht auf die Welt gekommen sind, um sich gegenseitig zu vernichten?” (41).

“Es ist gewiss, dass man niemals zum Erkennen der letzten Ursachen vordingen wird.” (26).

Der König ist ein Meister der Sprache, ein Meister der Ironie und des Witzes. Er versteht sich in der Korrespondenz mit Voltaire selbst häufig als ein Philosoph (z.B. 491), auch wenn die Verwendung dieses Begriffs gegenüber dem Philosophen und „Patriarchen“ Voltaire eher leicht ironisch klingt.

Friedrich zeigt sich als universal gebildeter Mann. Er hat z.B. Pufendorf und Grotius gelesen ( 488), er kennt die Quäker, ist über das Leben der Jesuiten (er nennt sie Ignatianer“) und deren Unterdrückung durch den Papst informiert (490), er kennt Bossuet, Corneille usw. Nur die deutsche Literatur ist ihm fremd.

2.

Grundlegend ist: Friedrich betrachtete die Lehren der Kirchen insgesamt als Formen des Aberglaubens.
Er weiß, dass den französischen Herrschern der Aberglaube politisch nützlich ist (519).
Mit Bedauern spricht er vom französischen König Ludwig XV., „der von Priestern im dümmsten Aberglauben erzogen wurde“ (504). Die Salbung der französischen Könige in der Kathedrale von Reims empfindet Friedrich als „bizarre Zeremonie“. Tatsächlich wurden dem gesalbten König heilende Wunderkräfte zugesprochen, was das Volk glaubte. „Ein weiser und aufgeklärter Fürst könnte das Heilige Salbgefäß abschaffen und sogar die Salbung selbst“( 511).

Friedrich hat die christlichen Abendmahlsfeiern wohl nur in einer – damals durchaus verständlich – verzerrten Form von Theologie kennen gelernt. Er nennt das Abendmahl eine „widerwärtige und gotteslästerliche Absurdität, den eigenen Gott (im Abendmahl) zu verspeisen. Das ist die größte Beleidigung des Höchsten Wesens…“ (533).

3. DIE HEDWIGSKIRCHE in BERLIN

Friedrich bekämpft diesen Aberglauben nicht militant, er gestattet etwa den Bau der ersten katholischen Kirche in Berlin nach der Reformation, die heutige “St. Hedwigkathedrale.” Errichtet aber im Stil eines römischen Pantheons. Nur mit ein paar Worten berichtet Friedrich seinem hoch geschätzten Freund Voltaire am 9. Oktober 1773: “Die katholische Kirche von Berlin wird bald eingeweiht. Der Bischof von Ermland wird sie weihen. Diese für uns fremdartige Zeremonie lockt Neugierige in hellen Scharen an“ (486). Eigentlich ist der Bau dieser Kirche in der Korrespondenz kein wichtiges Thema.

4.

Friedrich hatte keinerlei Verständnis für die Verfolgung von Religionskritikern in Frankreich. Selbst die sogen. Blasphemie, etwa ein “Kruzifix zu zerbrechen und freche Lieder dabei zu singen”, ist für ihn in Preußen kein „wirkliches Verbrechen“. (498)

5.

Welche Religiosität war für Friedrich II. persönlich wichtig?
Trotz kriegerischen Auseinandersetzungen, die er führte mit der üblichen Grausamkeit der Kriege: Ihm war der aufgeklärte Humanismus als Leitidee auch eine praktische Verpflichtung: Am 24. Oktober 1773 schreibt er, von einer Reise zurückgekehrt: „Ich war in Preußen, um die Leibeigenschaft aufzuheben, barbarische Gesetze zu reformieren und vernünftigere zu verkünden“….Er spricht dann von seinem Einsatz, Kanäle zu bauen, Städte aufzubauen, Sümpfe trocken zu legen usw…

Interessant ist, dass er für seine im Jahr 1758 verstorbene „Lieblingsschwester“ Wilhelmine einen Gedenktempel im Park von Sanssouci bauen ließ, in Form eines griechischen Rundtempels (!) (Monopteros). „Diesen Tempel habe ich in einem Hain meines Gartens plaziert. Ich begebe mich häufig dorthin, um mich an Verlorenes und an einst genossenes Glück zu erinnern“ (489f). In der antiken Welt findet er offenbar meditative Inspirationen, nicht im christlichen Glauben.
Hier ist vielleicht ein Hinweis des inzwischen leider fast vergessenen –und in geschichtlichen Fragen kompetenten – Schriftstellers Reinhold Schneider wichtig: Schneider schreibt in seinem Buch „Die Hohenzollern“ (Fischer Taschenbuch 1958) über die für Friedrich so erfreulichen Jahre in Rheinsberg: „Aus der Fülle dieses müßig – tätigen Lebens wendet sich Friedrich dankend an das höchste Wesen. Er muss genießen können, um zu beten. Die Weisen Griechenlands und Roms wecken dieses Gefühl der Frömmigkeit in ihm auf, das den gütigen Beglücker verehrt“. Aber von der Kirche wendet sich Friedrich schon in Rheinsberg ab: “Für den Kronprinzen werden die bestellten Diener des Herrn für immer zum Gegenstand des Spottes“ (alle Zitate S. 114).

6. Die katholischen Bischöfe

An Voltaire schreibt Friedrich II. am 24. August 1743 sehr deutliche, wohl provozierende Worte: “Wir können hier mit mit einem Kardinal und ein paar Bischöfen aufwarten, von den die einen die Liebe von vorn, die übrigen von hinten betreiben, Bischöfe, die eher in der Theologie des Epikur als in der des heiligen Paulus bewandert sind…” (274).

Eher nebenbei wird in einem Brief erwähnt, dass Friedrich „den großen Julian“ schätzt, also Kaiser Julianus Apostata, den vom Christentum zum Heidentum rück – konvertierten römischen Kaiser. Er wurde in der christlichen Historiographie „der Abtrünnige“ genannt, dabei war er durchaus auch tolerant gegenüber den Christen. Julian, meint Friedrich, würde heute einen bedrohten Freigeist schützen, „die Kyrillos und Gregors von Nazianz hätten ihn vom Leben zum Tode befördert“. (503), beide sind berühmte Kirchenlehrer des 4. Jahrhunderts, Zeitgenossen Julians.

7.

Die Kirche – Staat –Politik möchte er am liebsten als König einseitig zugunsten des Staates gestalten, eine Konsequenz seiner Kritik am kirchlich verbreiteten Aberglauben. Man sollte, so meint Friedrich, „der Staatsgewalt erlauben, Bischöfe entsprechend dem Staatswohl einzusetzen. Nur so kann man vorgehen. Das leise und lautlose Unterminieren des Gebäudes der Unvernunft (der Kirchen) hat unweigerlich zur Folge, dass es ganz von selbst in sich zusammenbricht“. (519).

Friedrich II.  meinte, ein Staat könne nur lebendig sein, wenn sich alle Bürger an die Prinzipien der Humanität halten, konfessionelle Bindungen gehören an die zweite Stelle.

Immanuel Kant hat diesen preußischen König sehr respektiert.

8.

Friedrich wollte mit seiner  Vorrangstellung der allgemeinen Vernunft vor allen religiösen Dogmen  letztlich dem Fortschritt dienen, verstanden auch als Befreiung von Aberglauben: “Es steht fest, dass diejenigen, die Leute von Welt genannt werden, in allen Ländern mit dem Denken anfangen. Im abergläubischen Böhmen, in Österreich, ehedem die Bastion des Fanatismus, beginnen weltoffene Menschen die Augen zu öffnen… Wenngleich sich Fortschritte nicht gleich einstellen, so ist es doch ein gewaltiger Schritt nach vorn, wie bestimmte Menschen sich die Binde des Aberglaubens von den Augen reißen… In unseren protestantischen Ländern geht es schneller voran …Von diesem weiten Reich des Fanatismus bleiben kaum mehr als Polen, Portugal, Spanien und Bayern übrig, wo die schiere Ignoranz und der Winterschlaf des Geistes den Aberglauben noch am Leben erhalten.” (428 f).

9.

Das Glaubensbekenntnis des jungen Friedrich II: (am 8. Februar 1737 an Voltaire): ” Mein Glaubensbekenntnis besteht darin, das höchste Wesen zu verehren, das einzig gut, einzig barmherzig ist und schon daher meine Verehrung verdient; auch dies: Soweit ich vermag, den Menschen, um deren Elendiglichkeit ich weiß, Hilfe und Stütze zu sein; mich ansonsten auf den Willen meines Schölpfers zu verlassen, der über mich verfügt, wie ihm gutdünkt, und von dem ich, komme was mag, nichts zu fürchten habe. Ich schätze, dies ist so ungefähr mein Glaubensbekenntnis.” (35).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de

Die Stoa und das Christentum. Ein Diskussionsbeitrag

Im Salon am 13. Januar 2012 sprachen wir über die Philosophie der Stoa. Einige Teilnehmer hielten die Gedanken etwa von Seneca und Marc Aurel zu praktischen Lebensgestaltung durchaus für aktuell. Andere meldeten ihre Bedenken an. Wir dokumentieren hier eine Stellungnahme unseres Freundes Wilhelm Lotze, Berlin und laden zur weiteren Diskussion ein.

Augustin soll Marc Aurel praktisch als Heiligen angesehen haben. Da kommt mir der Gedanke, dass es doch sehr interessant wäre, das Verhältnis und die historischen Verbindungen von Christentum und Stoa näher zu erkunden.

Meine Bemerkung im Salon über Marc Aurel, dass sein ganzes Leben eine permanente „Selbstvergewaltigung“ gewesen sei, war insofern nicht verständlich, als ich vergaß vorwegzuschicken, dass er möglicherweise auf Grund seiner philosophischen Praxis doch der beste Herrscher war, den es je gab. Dies hatte der Kaiser jedoch sehr teuer erkauft: Seine Praxis bestand ja in einem täglichen Kampf gegen die auch von der Stoa, ähnlich wie von der Kirche, so gesehenen “niederen” Seiten des menschlichen Wesens, als da sind animalische Triebe und Bedürfnisse und mehr oder weniger “natürliche”, zumindest “unkultivierte” oder auch kulturell “deformierte” psychische Reaktionsmuster, die durch die höchste Kraft des menschlichen Wesens, die philosophische Vernunft, vermittelst einer ungeheuerlichen Willenskraft täglich in ihre Schranken zu weisen und in Zaum zu halten sind. (Hätte Marc Aurel mehr Rücksicht auf seinen Körper genommen, hätte er ja deutlich mehr Kraft zur Umsetzung seiner Ziele haben können?) Da gibt es auffällige Parallelen zum Christentum, die näher betrachtet werden sollten. Diese “niederen” Seiten unseres Wesens fasst die Kirche bekanntlich unter dem Begriff der Erbsünde zusammen. Auch der Kampf gegen die Sünde gestaltete sich ja normalerweise meistens (wenn er denn ernsthaft geführt wurde) als eine lebenslange „Selbstvergewaltigung“. Im Zentrum dieser Selbstvergewaltigung stand dabei der Kampf gegen die sexuelle Lust. In dieser Hinsicht ähneln sich Marc Aurel und Augustin ungemein, obwohl letzterer hier freilich noch weit exzessiver war.

Die christliche Leibfeindlichkeit hat also wohl ihre Wurzel nicht allein in der Erwartung des nahen Weltendes durch Jesus, wonach Gott unsere Natur in Bälde in eine rein geistige, also auch asexuelle umwandeln würde, sondern auch in einer Leibfeindlichkeit, die ganz andere Wurzeln, nämlich in der hellenistischen Kultur hatte. Hier wäre es interessant, Verbindungen im Denken des Apostels Paulus zur Stoa herauszuarbeiten. Schließlich bewegte Paulus sich ja sein Leben lang im geistigen und kulturellen Raum des Hellenismus.

Aufgrund dieser Leibfeindlichkeit ist es nicht leicht, so denke ich, aus der stoischen und christlichen Tradition Impulse in die Zukunft zu retten. Allerdings gibt es da sehr viel, was unbedingt zu retten wäre, freilich müssen diese Elemente traditioneller Denkfiguren erst in einem strengen Purgatorium gereinigt werden, damit sie fruchtbar werden können. Ich vermute auch, dass die Leibfeindlichkeit auch mit der Wahrnehmung zu tun hat, dass wir in unserer Leiblichkeit in enger Verwandtschaft mit den Tieren stehen, was für ein unaufgeklärtes menschliches Selbstbewusstsein zunächst schockierend wirken kann. Im Alten Testament ist dies noch unbekannt, sondern die Leiblichkeit wird als wunderbares Geschenk Gottes genommen und genossen.

Selbst denke ich freilich, dass die Leibfeindlichkeit ebenso der Stoa wie des Christentums zu den stärksten Ursachen dafür zählt, dass beide ihre Ziele bis heute im Wesentlichen und weitgehend noch nicht erreicht haben, selbst wenn der Fortschritt seit 2000 Jahren unverkennbar ist: Die Vermenschlichung des Menschen steht im Wesentlichen noch aus. Sie ist nicht gegen unsere Natur zu erreichen, sondern nur im Einklang mit unserer Natur und unserem innersten Wesen.
Ein wesentliches Merkmal menschlicher Natur ist es, so denke ich, dass sie kultiviert werden kann, indem unsere animalische Natur lernt, ihre Ziele besser zu erreichen, wenn sie sich auf unser inneres Wesen einlässt. Unser innerstes Wesen aber ist die Liebe. Nur in dem Maße, wie wir sie in uns wirksam werden lassen, werden wir menschlich, wirkliche Menschen, mit uns selbst im Einklang, können ein glückliches und erfülltes Leben finden: Ein evolutionärer Prozess, in dem unser inneres Wesen unsere animalische Natur kultiviert. Liebe ist jedoch nur Liebe, wenn sie frei und spontan von Herzen kommt. Durch Willensanstrengungen welcher Art auch immer ist sie nicht hervorzurufen. Im traditionellen Christentum wie in der Stoa stehen Willensanstrengungen, sei es zur Befolgung der Gebote Gottes oder der Vernunft, jedoch in der Praxis seit je im Mittelpunkt, wodurch aus meiner Sicht statt Liebe nur ein pathologischer Krampf entstehen kann. Liebe wird nur durch Liebe hervorgerufen. Wo wir sie nicht im Verhalten unter uns Menschen finden, können wir sie nur in der Versenkung in uns selbst in Meditation und Gebet finden, in unserem innersten Wesen, für den Gläubigen also in Gott. Dieser Weg in unser innerstes Wesen ist für mich ein allen Menschen zugänglicher Erfahrungsweg, für den es nicht nötig ist, an Gott zu glauben, es kann jedoch hilfreich sein. Allerdings eher, wenn dieser Glaube an Gott nicht so sehr im Für-Wahr-Halten von auf der rationalen Ebene angesiedelten Glaubenssätzen über Gott besteht, als vielmehr in dem vorrationalen Vertrauen, dass der Urgrund des Seins, ob wir ihn nun Gott nennen oder wie auch immer, uns tragen wird, wenn wir uns auf die Liebe einlassen, die aus ihm strömen will.
Copyright: Wilhelm Lotze, Berlin

111 Tugenden und Laster. Eine philosophische Revue

Ein philosophisches Buch zum Weiter – Denken. Ein Begleiter für das ganze Jahr:

Martin Seel, „111 Tugenden und 111 Laster“.
Eine philosophische Revue.

Aus der großen Fülle philosophischer Einführungen ragt jetzt ein Buch ganz wunderbar hervor: Der in Frankfurt/M. lehrende Philosoph Martin Seel, einigen schon bekannt, etwa durch seine Studien „Paradoxien der Erfüllung“, hat nun ein neues Buch vorgelegt, das alle interessieren, ja begeistern kann (im Sinne von inspirieren), die auf dem Weg des kritischen Reflektierens sind. Und das sollten und könnten ja alle Menschen sein….
Dass Martin Seel sein Buch durchaus auch unterhaltsam meint, zeigt schon der Untertitel an: „Eine philosophische Revue“. Tatsächlich präsentiert er in seiner Revue in 111 kürzeren oder längeren „Auftritten“ (Kapiteln) 111 Tugenden, also für den Menschen positive Lebenseinstellungen bzw. „Dispositionen“ (wie Mitgefühl, Besonnenheit) und dazwischen gemischt, aber doch inhaltlich verbunden, Laster bzw. Untugenden (wie Aberglaube, Fanatismus).
Der Clou dieser positiv wie negativ besetzten Revue ist, dass alle Werte und alle Tugenden auch – ohne die vernünftige Mitte gelebt – in Untugenden umkippen können, aus Mut kann schnell „Übermut, Tollkühnheit, Draufgängertum werden“, (S. 179). Ebenso haben Untugenden und Laster auch positive Aspekte. Mit einer Ausnahme meint Martin Seel: Im Laster der Grausamkeit gibt es keinerlei noch positiv zu verstehenden Entwicklungslinien. Auf die Ambivalenz aller anderen Tugenden und Laster hingewiesen zu werden, bringt den Leser, die Leserin, sehr zu recht ins Schleudern und dann ins weitere Nachdenken, das zu einem Neu – Verständnis führen kann. So ist etwa die Faulheit (Seite 69ff) sicher eine milde Form des Lasters: „Faulheit kann aber ein Mangel an Selbstsorge sein“, andererseits kann sie auch den „ausgelassenen Genuss des Daseins“ signalisieren. Faulheit kann ein Mittel sein, sich vom destruktiven Zwang der Selbststeigerung zu befreien, wie es schon Theodor W. Adorno (S. 71) andeutete. Faulheit als Müßiggang verstanden kann sogar „aller Liebe Anfang“ sein, schreibt Martin Seel (ebd).
Wer an der Revue teilgenommen hat oder immer wieder beinahe beliebig wieder einsteigt, kann dann auf gut 40 Seiten sozusagen die innere Struktur der einzelnen Auftritte erkunden, also in das innere Leben der Tugenden hineinschauen, so, wie es Philosophen in der langen Geschichte gedeutet haben. Diese Seiten, etwas anspruchsvoller, handeln etwa von den Kardinaltugenden, das sind ja nicht jene, die etwa katholische Kardinäle haben (sollten), sondern die von lateinischen Worte CARDO herstammen und die alles entscheidenden Angelpunkte meinen, also in dem Falle unentbehrliche Tugenden, ohne die ein menschliches Leben kein menschliches Leben ist (Weisheit, Besonnenheit, Mut und Gerechtigkeit). Außerdem zeigt Martin Seel sehr schön, dass kein Mensch alle Tugenden in seiner Person vereint leben kann, ja, dass kein Mensch also „nur“ tugendhaft sein kann. Immer gibt es im Einzelleben diese Melange aus Tugend und Laster, natürlich auch bei den so genannten Heiligen der Kirche, wobei den Frommen stets von offizieller Seite vorenthalten wird, wo denn die Laster dieses Heiligen waren. Erst Journalisten kümmern sich darum und weisen etwa auf die Scharlatanerie des heiligen Pater Pio (Süditalien) hin, aber dies nur als Beispiel des Rezensenten.
Insgesamt empfehlen wir nachdrücklich das neue Buch von Martin Seel, es kann hoffentlich einen Durchbruch bewirken im Verstehen, dass Philosophie populär ist und dass dieses Thema nicht von einem ständig in allen Medien herum gereichten Star reserviert sein kann.
Hoffentlich kann man bald die 10. usw. Auflage dieses Buches melden und eine Herausgabe als sehr preiswertes Taschenbuch!
Copyright: christian modehn, religionsphilosophischer Salon.
Martin Seel, „111 Tugenden und 111 Laster“.
Eine philosophische Revue. S. fischer verlag 2011, 285 Seiten.18,95 Euro

WDR 5 brachte am 13.1.2012 ein Gespräch mit Martin Seel:

Ökumene in Taizé – Hinweise und Fragen

Ökumene in Taizé

In den Debatten des “religionsphilosophischen Salons” spielen immer auch die Auseinandersetzungen mit den bestehenden Religionen und Kirchen eine Rolle.  Wer sich heute für Spiritualität aus christlichem Ursprung interessiert,  gelangt, zumal in Europa, schnell zum “ökumenischen Kloster” Taizé in Burgund, Frankreich. Ich weise hier auf einen Beitrag hin, der am Freitag, 13. 1. 2012, in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM (Oberursel) erschienen ist.