Ein Religionsphilosoph als Politiker. Erinnerung an Jean Jaurès

jeanjauresEin Religionsphilosoph als Politiker: Erinnerung an Jean Jaurès

Von Christian Modehn

Selbst deutsche Touristen kennen seinen Namen. In vielen Städten Frankreichs ist mindestens eine Straße oder eine Schule nach ihm benannt: Jean Jaurès. Manche Autoren nennen ihn den am meisten geliebten Politiker Frankreichs. Sarkozy, Chirac, Hollande und die anderen wirken dagegen klein und, Verzeihung, (auch intellektuell) recht begrenzt… Ob sich die französischen Sozialisten umfassend an ihn erinnern? Und von ihm lernen? Man hat nicht den Eindruck.

Die SPD erwähnt 2014 in einem Artikel anlässlich seiner Ermordung am 31. Juli 1914 lediglich mit einem Wort, nebenbei, dass Jaurès Philosoph gewesen sei. Aber die Bedeutung dieses Philosophen wird mit keinem Wort verdeutlicht. Man kann Jean Jaurès nur verstehen kann, wenn man ihn als (Religions-) Philosophen deutet.

Zum 100. Todestag dieses bedeutenden, weil religiös-humanistisch gesinnten sozialistischen französischen Politikers des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wurde weithin vor allem an dessen Leidenschaft für den Frieden erinnert: „Man macht nicht den Krieg, um den Krieg zu vermeiden.“. Jaurès versuchte noch kraft seiner Autorität mit aller Macht der Worte den Ersten Weltkrieg zu verhindern; am 31. Juli 1914 wurde er von einem verwirrten fanatischen Nationalisten ermordet. 1924 wurde sein Sarg ins Pantheon zu Paris aufgenommen.

Uns interessiert der – in Deutschland – bislang wenig beachtete Jaurés, der Philosoph und der „théologien laique“, wie der Spezialist Eric Vinson jetzt schreibt, also der „weltliche Theologe“, der niemals – auch als Sozialist – darauf verzichtete, die göttliche Wirklichkeit zu denken, zu benennen und zu verteidigen. Die göttliche Wirklichkeit war für den Philosophen Jaurès keine Illusion, sondern eine Wirklichkeit des Lebens. Das ist schon vom Ansatz her eine mutige Leistung, wenn man bedenkt, mit welchem Hass damals linke Politiker, Philosophen und Schriftsteller jegliche göttliche Wirklichkeit bekämpften.

Der Historiker Eric Vinson hat zusammen mit Sophie Viguier-Vinson jetzt das wichtige Buch vorgelegt „Jaurés le prophète: Mystique et politique d un combattant républicain“, erschienen 2014 bei Albin Michel, Paris. Dies ist sicher ein Standardwerk zum Thema und es wird helfen, ein umfassendes Bild dieses Sozialisten zu verbreiten.

1859 in einer katholischen, aber republikanisch gesinnten Familie im Tarn, Südfrankreich, geboren, studierte Jaurès in Paris Philosophie mit den entsprechenden akademischen Abschlüssen, er lehrte dieses Fach zuerst als Gymnasiallehrer in Albi, 1886 folgte die Berufung zum Universitätsprofessor in Toulouse. Aber schon 1885 begann die Zeit seines „militanten Kämpfens“ als Politiker, er wurde schließlich zur Stimme der Sozialisten Frankreichs.

Unbeachtet ist bis heute, dass für Jaurès das politische Handeln unmittelbar aus der philosophischen Konzeption der göttlichen Wirklichkeit entspringt. „Gott ist gleichzeitig immanent und transzendent“, „Gott ist das Ich in allen andern Ich“. Jaurès hat die Überzeugung, dass alles Weltliche, also auch jeglicher Mensch, in der göttlichen Wirklichkeit aufgehoben ist und von Gott nicht getrennt ist. Die Menschen sind absolut wertvoll, weil sie von der göttlichen Wirklichkeit nicht getrennt sind. Aber diese Überzeugung hat Jaurès niemals als Leitlinie gesehen für sein politisches Handeln auch als Gesetzgeber; er hat niemals eine klerikale, kirchenfreundliche und hierarchie-ergebene Gesetzgebung betrieben; seine ethische Haltung war gewiss von seiner religiösen Bindung geprägt, aber sie war sozusagen seine innere Gestaltungskraft (Spiritualität). Jaurès hat die Trennung von Kirchen und Staat entschieden unterstützt (siehe den Hinweis weiter unten).

Seine Philosophie ist nicht an die Dogmen der Kirche gebunden, sie ist ein freies religiöses Konzept, eine Haltung, die unter Intellektuellen Frankreichs damals, im 19. Jahrhundert, üblich war. In seiner Überzeugung, dass die getrennte und verfeindete Menschheit doch eins werden kann in einer universalen Brüderlichkeit, hat sich Jaurès die Kämpfe der Arbeiter unterstützt, er hat die Todesstrafe verurteilt, ist für die Rechte des schuldlos verurteilten Hauptmanns Alfred Dreyfus eingetreten. Dabei hatte sich Jaurès, der freie religiöse Denker, oft gegen die Herren der Kirchen zu wenden, wenn sie etwa die Todesstrafe verteidigten und kirchliche Weisungen im Staat durchsetzen wollten.

Wie oben angedeutet: Jaurès setzte sich für die Trennung der Kirchen vom Staat ein, was dann 1905 gesetzlich geregelt wurde. Der Staat ist weltlich, da haben die Kirchen nicht reinzureden, und die Kirchen sind religiöse Organisationen, die unabhängig von staatlichen Einflüssen existieren. Diese „laicité“, die nichts mit Laizismus zu tun hat, wie man in Deutschland oft behauptet, war die wichtigste Überzeugung des überzeugten Demokraten Jean Jaurès. Ohne diese laicité war Demokratie, war Republik, für ihn nicht denkbar.

Es ist kein Wunder, dass katholische Kreise, bis 1960 eigentlich in breiten Kreisen immer noch gegen die Republik und die laicité, diesen Religions-Philosophen und Politiker Jean Jaurès eher verdrängten und verachteten.

Léon Blum hat später bei Jaurès dessen Reinheit des Gedankens, die Lauterkeit gepriesen, ja auch dies: in gewisser Weise seine „weltliche Heiligkeit“. Auch Vinson nennt Jaurès einen „Archetypen“ einer „weltlichen Heiligkeit“: Integer, gütig, intelligent.

Man hat den Eindruck, die Auseinandersetzung über diesen Politiker, der als Religionsphilosoph lebte, hat erst richtig begonnen. Einen Politiker mit diesem geistigen Format kann im Europa von heute sehr lange suchen. Ob man ihn findet? Vaclav Havel ist schon etliche Jahre tot….

Vgl. auch: Jean Jaurès, Ecrits et discours théologico-politiques, Editions Vent Terral, 440 pages, 35€. Herausgegeben von Jordi Blanc.

Konsumismus als Religion. Ein Kommentar nicht nur zum 9.November

Konsumismus als Religion: Die neuen Götter in Berlin

Ein Kommentar nicht nur zum 9. November

Von Christian Modehn

Ein Motto zu Beginn: “Jetzt kommen die Investoren, denen ist Berlin völlig egal. Weil sie die Stadt als große Spielwiese der Spekulationen sehen. Da gibt es kein Halten mehr. Wir benötigen Gesetze, die alle diese Investoren ein bißchen im Zaum halten. Man kann denen doch nicht die Stadt überlassen. Wem gehört die Stadt, das ist die Frage”. Katja Lange-Müller, Schiftstellerin, in Der Tagesspiegel, 9. November 2014, Seite 23.

An der zentralen Schnittstelle zwischen dem einstigen Ost- und West-Berlin, am Leipziger Platz, gibt es seit Ende September 2014, wie ein Stadtmagazin schreibt, „die schöne, neue Shopping-Welt: Die Mall of Berlin“. An der früheren Wall of Berlin mit ihrem Todesstreifen nun also die „innovativste“ und „superlativträchtige“, wie es heißt, Mall of Berlin. Sie umfasst 270 Geschäfte auf 76.000 Quadratmetern Verkaufsfläche, es gibt Büros und sogar Wohnungen, natürlich in der üblichen Luxusausstattung, auch ein Parkhaus und ein Motel. Die Kosten: 1 Milliarde Euro, so „TIP“ Berlin.

An Einkaufsscenters ist in Berlin seit dem Fall der Mauer wahrlich kein Mangel: Die „Potsdamer Platz Arkaden“ sind unmittelbar Nachbarn, in der Nähe das „Alexa Shopping Center“ mit bloß 57.000 Quadratmetern Verkaufsfläche; weiter entfernt das „Bikini Berlin“ oder die „Gropiuspassagen“ mit 85.000 Quadtratmetern Verkaufsfläche oder der „Boulevard Berlin“ in Steglitz mit bloß 76.000 Quadratmetern für Geschäfte und Boutiquen.

Dies ist nur eine kleine Auswahl an Centers, “Arcaden” und Kaufhäusern, die über die ganze Stadt Berlin verteilt in bester Lage und niemals zu übersehen mit ihrer dominanten Architektur eine einzige und einfache „gute Botschaft“ verbreiten: „Ihr Menschen seid in erster Linie Käufer, ihr seid wesentlich Konsumenten. Ihr braucht z.B. ständig Neues, das euch von den so genannten Modeschöpfern als der weltweite Stil des Jahres aufgedrängt und von der Werbung eingeredet wird. Fragt nicht, warum die Preise eurer Klamotten so billig sind, fragt nicht nach den Produzenten, kauft und schmeißt diesen Krempel spätestens im nächsten Mode-Jahr bitte wieder weg. Aber bleibt eurer Marke, eurer Firma, treu, sie gibt euch das Gefühl, wertvoll zu sein, einen Status zu haben. Steigt also niemals aus dem endlosen Prozess des Kaufens aus, verlasst nicht diesen Kreislauf, der euer Leben bestimmt“.

Hier wäre ein Ansatz für ein Kapitel kritischer Philosophie zum Thema „25 Jahre nach dem Mauerfall“. Eine solche Philosophie wurde noch nicht geschrieben. Anregungen gäbe es bei Pier Paolo Pasolini und seiner Konsumismuskitik, vielleicht wird sie anlässlich von seinem 40. Todestag 2015 (2. Nov.) umfassend gewürdigt.

Also: Was wurde wirklich neu gebaut im vereinten Berlin? Was fällt in die Augen, wer durch die Straßen flaniert? Kirchen, Orte der Stille, der Ruhe, der Kontemplation, wurden nicht neu errichtet, eher wurden sie verkauft wie die St. Agnes Kirche. Auch erkennbare Neubauprojekte, Tempel anderer Religionen, etwa des Buddhismus, sind nirgendwo in Sicht. Ein so genanntes Interreligiöses Zentrum (die evangelische „Petrikirche“ in Mitte) soll gebaut werden, mit sehr mäßiger muslimischer und sehr mäßiger jüdischer Beteiligung, Buddhisten sind nicht dabei, Katholiken oder Orthodoxe auch nicht, Freikirchen auch nicht. Humanisten und Atheisten (da gibt es doch auch Glaubenshaltungen!) sind nicht mit von der Partie. Das soll inter-religiös sein? Da und dort wurde in Berlin eine Moschee errichtet. Ein neues Theater wurde nicht gebaut, kleinere Kinos wurden abgerissen (wie die Kurbel), neue Kino-Komplexe gebaut. Haben diese etwa Charme? An eine Agora, als einem geräumige Platz/Ort für den Disput der Bürger, denkt offenbar niemand. Lediglich die Zahl der Galerien ist gestiegen, geht es dabei aber zuerst auch um Kommerz oder um Kunst?

Die Stadt Berlin ist – wie alle anderen Städte der reichen Welt – nach dem Mauerfall zur „Stadt des Konsums, zur Stadt der malls und Shoppinglandschaften“ geworden. „Ich shoppe, also bin ich“, heißt das Credo. Mindestens 400.000 Berliner können an dieser wunderschönen Konsumwelt nicht teilhaben, sie sind Hartz IV Empfänger und oft ziemlich arm, sie leben von Suppenküchen und nicht von den Menus in den Restaurants der Malls.

Die Konsum-Tempel sind langweilig, öde. Sie strapazieren die Seele. So waren sie wohl schon immer. Vielleicht hat man in den „goldenen Zwanzigern“ die großen Kaufhäuser von Tietz und Co. noch mit glänzenden Augen verlassen, staunend und entzückt vom unendlichen Angebot an Käuflichem. Der Charme des Neuen kann jetzt gar nicht entstehen, man glaubt dort, keine wirklichen Überraschungen mehr zu erleben, die Phantasie ist ausgelöscht bei all den Neubauten, deren Architektur man schon tausendmal gesehen hat.

Wer als Flaneur in Berlin durch die neuen shoppings malls geht, findet immer dieselben Namen multi-nationaler Ketten, kein einziges individuelles Geschäft mehr. Die kleinen Händler haben keine Chance, da machen sie den Charme einer Stadt aus: Der Verlust des Individuellen, typisches Kennzeichen der heutigen Gesellschaft, wird hier mit Händen zu greifen. In den Malls sucht man etwa kleine, private Buchhandlungen vergeblich, mit einem Buchhändler, den man kennt, mit dem an plaudert usw… Es gibt dort keinen privaten Stil, nichts „Kleines“, nichts Experimentelles.

Und so ist man hilflos in der Erkenntnis, dass es der kapitalistischen Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten gelungen ist, uns einzureden: Der Mensch ist wesentlich der Käufer, er gilt als der Bedürftige, der ständig Neues braucht, der ständig stolz auch Neues wegwirft, der also der Gierige ist. Es wird das Bild eines Menschen propagiert, der förmlich wie ein hungriges Baby ewig schreit „Haben, haben, haben“. Die dermaßen vom System total reduzierte Person stolziert also gelangweilt, eigentlich alles schon habend, nichts wirklich brauchend, durch diese malls. Und fühlt sich inmitten der Käufer allein.

Es gibt keine Institutionen mehr, die diesen trostlosen Charakter unseres fremdbestimmten Daseins auch nur ansatzweise kritisieren. Noch denkt man bei dem Thema in unseren Breiten an die Kirchen, aber die sind selbst viel zu sehr mit ihren Kirchensteuer und sonstigen Milliarden Einnahmen befasst, sie verwalten sich selbst und schweigen als Komplizen des Systems zu dieser Verblendung. Die evangelischen Kirchen kritisieren gelegentlich das System, aber ihre Stimme wird kaum gehört, ist paradoxerweise trotz/wegen ihres Reichtums zu schwach. Nur zu Weihnachten sind die Kirchen voll. Aber da ist prophetische Kritik unerwünscht, weil störend. Es könnten ja anschließend die Gottesdienstbesucher aus der Kirche austreten…

Was hat das alles mit dem 9. November zu tun, dem Durchbruch durch die Mauer, dem Abreißen der Betonwände, von betonierten Köpfe errichtet? Man wird traurig über den offenbar totalen Sieg des Konsumismus auch in dieser Stadt, die sich rühmt, irgendwann einmal, in der fernen Vergangenheit von 1989, die Freiheit als der Güter Höchstes proklamiert zu haben. „Wir sind das Volk“ von 1989 meinte „Wir sind ein freies Volk“, nicht aber “Wir wollen unbedingt ein Volk der Konsumenten werden“.

Tatsächlich siegte die Herrschaft des Geldes, auch in Berlin. Profit, nicht Freiheit und Gerechtigkeit, wurde zum obersten aller Götter erklärt, dem sich jeglicher Wunsch nach Individualität bitte schön unterzuordnen hat. Alles, was menschlich, human, notwendig wäre, was also die viel besprochene Lebens-Qualität fördern könnte, aber eben doch dem Staat Geld kostet, wird unterlassen: Orte freien Gesprächs, Orte, wo man kostenfrei sitzen, lesen, dösen, diskutieren kann ohne für Geld konsumieren zu müssen. Orte also, wo man sich mit vielen Touristen zwanglos treffen kann, um in ein freundliches Gespräch über dieses vielfältige Europa einzutreten. Wer hat denn auch im entferntesten daran gedacht, in einer Stadt mit ca. 4 Millionen ausländischen Touristen Orte der freien, „kostenlosen“ Begegnung zu schaffen? Oder auch Orte, wo nicht ganz Arme mit wirklich Armen das Brot teilen, Orte, wo man probieren kann, ob und wie jeder Mensch wirklich ein Künstler ist (Beuys), Orte, in den der Disput über die Zukunft der Stadt gepflegt wird: All das gibt es nicht, all das will man nicht vonseiten einer technokratischen Regierung.

Eigentlich wäre da, wie gesagt, auch eine Aufgabe der Kirchen, aber die sind fixiert auf Dogmen und Geld. Und tun diakonisch viel Gutes, sie tun das, was eigentlich ein Staat, der sich Sozialstaat nennt, leisten müsste. Kirchen sind doch mehr als diakonische Unternehmen, die einspringen, wenn der angeblich soziale Staat versagt.

So müssen die Bürger sich abfinden, die Rolle des konsumierenden Geldausgebers spielen zu dürfen, wenn sie die Öffentlichkeit, und dies ist wesentlich Konsum-Öffentlichkeit, betreten, in der bei allem Reden und Gerede und bei allem florierenden „Kulturbetrieb“ (Adorno) das Gespräch, der Dialog, das freie Miteinander, irgendwie schon ausgestorben zu sein scheint.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Glücklich sterben? Hinweise zum Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 31. 10.2014

Glücklich sterben? Hinweise zum Gespräch im

Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 31.10.2014

Von Christian Modehn

Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf das Problem: Warum muss es tatsächlich schwerstkranken Menschen ohne Aussicht auf eine Form der Genesung und Schmerzfreiheit in Deutschland per Gesetz verboten sein, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, um auf selbst bestimmte Art (und ohne sich selbst Gewalt anzutun, wie Sich-Erschießen, Sich-Erhängen usw.) aus dem schwersten Leiden zu treten.

Diesen Schritt des ärztlich assistierten Suizids deuten viele Schwerstkranke selbst als Form der Erlösung. Hans Küng, der katholische Theologe, schreibt in seinem neuen „Glücklich sterben?“ (2014), dass die von ihm angestrebte selbst bestimmte Form des Sterbens mit Hilfe der schweizerischen Organisation EXIT ein Weg zu Gott ist, in der frommen Hoffnung, bei Gott Gnade und Heil zu finden. Für Küng kann es also durchaus dem Willen Gottes entsprechen, wenn ein Christ bei starkem Leiden sich selbst, ärztlich assistiert, definitiv verabschiedet. Für Küng kommt diese Möglichkeit selbst bei „beginnender Demenz“ (S. 23) in Betracht. „Man kann aus Gottvertrauen heraus freiwillig sterben“ (S. 29). „Ich sage immer, das ist für mich die Wahl“ (S. 38).

Dann folgt der Satz, der zu denken gibt: “Es liegt an den Deutschen, die keine Gesetze machen können, damit solch ein Sterbetourismus (in die Schweiz) nicht notwendig ist“ (S. 39). Wobei Deutsche die Hilfen der Organisation EXIT nicht in Anspruch nehmen können; sie ist auf Schweizer Bürger begrenzt, für Nichtschweizer gibt es den –immer wieder umstrittenen- Verein „Dignitas“.

Es sieht allerdings nicht so aus, als würden neue Gesetze für ein selbst bestimmtes Sterben in größter Not der Schmerzen in Deutschland alsbald möglich sein. Da ist die gegenwärtige Regierung viel zu verbissen in der üblichen Abwehr, in der Verbreitung diffuser Ängste (“Dammbruch“), wobei sicher der Blick auf die Macht der Kirchen politisch eine Rolle spielt. Keine Regierung in Deutschland wagt es, mit den Kirchen in einen offenen Streit und Widerspruch zu treten, das gilt auch für Fragen zur tatsächlichen Trennung von Kirchen und Staat oder bei Fragen zur Kirchensteuer und den staatlichen Zuwendungen an die Kirchen gemäß der Gesetze von 1803 usw. Dabei ist allen Beobachtern natürlich klar, wie schwach tatsächlich die Kirchen in Deutschland bereits sind, schaut man nur auf die stetig sinkenden Mitgliederzahlen, auf den stetigen Rückgang in der Teilnahme an den Sonntagsgottesdiensten (außer am Heiligen Abend). Dabei sind die Kirchen in Deutschland finanziell opulent ausgestattete Organisationen mit Milliarden Euro Einnahmen allein durch die Kirchensteuer.

Zum Thema „aktive Sterbehilfe“ wollen wir einige weiter führende, durchaus unbequeme Fragen stellen (nur die ewig gleichen Fragen sind bequem), in dem Bewusstsein, dass dieses Thema niemals leichtfertig besprochen werden darf. Es darf aber auch nicht sein, die seit Jahrzehnten bekannten Vorbehalte und Verbote, auch der Kirchenleitungen, bloß gehorsam nachzubeten und zu wiederholen. Im Gegenteil, es gilt, die legitimen Forderungen der Patienten in ihrer Not endlich zu respektieren und den Forderungen eine rechtliche Form zu geben.

Eine kritische philosophische Prüfung, also in der Distanz von konfessionellen Bindungen, ist nötig. Dabei immer im Blick auf ein ethisches, vernünftiges Leben, um etwas klarer zu sehen und hoffentlich Neues zu erkennen. Dabei müssen wir das weite Umfeld des Themas erst einmal in den Blick nehmen und dabei vielleicht zu überraschenden Erkenntnissen kommen.

Die Kirchen haben seit dem 4. Jahrhundert immer – von ganz wenigen kritischen, oft häretischen Theologen abgesehen – das Töten der Feinde im Krieg für ethisch richtig und geboten gehalten. Sie haben die Waffen gesegnet, mit denen die Soldaten in den Krieg zogen, Christen gegen Christen, in dem festen Wissen, bloßes Kanonenfutter zu sein; die politischen und die mit ihnen verbündeten kirchlichen Herrscher haben also den Tod ihrer armseligen Untertanen, die sich nicht wehren konnten, direkt gern in Kauf genommen, einzig aus nationalistischen, machtpolitischen Gelüsten heraus.

Bis heute sind fundamentalistisch Fromme, Evangelikale und pfingstlerische Kreise die entschiedenen Verteidiger der Todesstrafe, etwa in den USA. Diese Christen haben keine Skrupel, einem anderen Menschen, auch ein Verbrecher ist ein Mensch, den Tod zuzufügen. Diese Menschen, die anderen den Tod zufügen, bedenken nicht die Dialektik, die darin besteht: Wer andere bewusst tötet, der tötet auch seine eigene Seele und seinen Verstand. Insofern ist die Tötung anderer im Krieg oder auf den Elektrischen Stuhl immer auch eine bewusste oder unbewusste Selbsttötung der Tötenden. Das Töten der Seele hat bekanntlich Jesus von Nazareth als viel schlimmer denn das Töten des Leibes betrachtet (Mth 10,28). Insofern ist ein breiter Strom der blutigen Geschichte und der Kirchengeschichte eine lange Geschichte des seelischen Selbstmordes.

Die Märtyrer der frühen Christenheit haben sich oft fröhlich, wie berichtet wird in den Heiligenberichten, in den Arenen Roms und anderswo den Löwen zum Fraß vorgeworfen. So wollten es die heidnischen Kaiser, weil sich diese Christen weigerten, bestimmte einfache Formen der heidnischen Herrscherkulte mit zu vollziehen. Diese dann offiziell hoch gepriesenen christlichen Helden und Heilige kann man durchaus als „begeisterte Selbstmörder“ verstehen, um den Titel eines Buches von Dries van Collie (1960, bezogen auf die Christenverfolgung in China unter Mao) aufzugreifen.

Dieses Verhalten der heiligen, begeisterten Selbstmörder der frühen Kirche hat nie ein Herr der Kirche auch nur ansatzweise kritisiert. Diese Heiligen gelten als gute Selbstmörder, weil sie einer guten Sache dienten, nämlich der Standfestigkeit der christlichen Kirche.

Schlechte Selbstmörder sind jene, die in größter Qual um ärztliche Hilfe zum Tod bitten. Dabei vertreten sie doch eine gute Sache, nämlich den grenzenlosen Respekt vor der subjektiven Freiheit, die ja bekanntlich die klassische Tradition als „der Güter Höchstes“ bewertet.

Wir nehmen uns selbstverständlich die Freiheit, auch zu fragen, ob die Entschiedenheit Jesu von Nazareth, seinen Weg der Gerechtigkeit und Treue seinem eigenen Gottesbild gegenüber nicht auch eine Dimension des Suizids hat: Wir wissen, diese Frage ist ketzerisch und wurde so selten öffentlich gestellt. Tatsache ist: Jesus von Nazareth weiß im Laufe seines Prozesses genau, dass er sich freiwillig dem Tod überliefert, wenn er bei Gericht nicht widerruft. Und er hat nicht widerrufen, ist also freiwillig in den – vorzeitigen, also nicht natürlichen, äußerst schmerzlichen Tod gegangen. Diese Deutung des Todes Jesu überrascht viele orthodox fixierte Christen, die sich nur der Deutung Jesu durch die späteren Theologen anschließen: Jesus habe sozusagen sterben müssen, um Gott mit der Welt zu versöhnen. Dies ist eine theologische Behauptung aus einem alten Weltbild, das heute der kritischen Betrachtung nicht standhält. Jesus von Nazareth ist freiwillig in den Tod gegangen, er hat am Kreuz geschrieen: Mein Gott, warum hast du mich verlassen. Das ist die Basis, auf der man ernsthaft theologisch diskutieren kann. Alle anderen Bilder und Dogmen, die sich durchgesetzt haben, wie Sühnetod, Versöhnung mit dem zornigen Gott usw. haben für aufgeklärte religiöse Menschen eine sehr geringe Relevanz.

Viele andere Menschen, die den eigenen Tod gezielt anstrebten und annahmen, etwa Widerstandskämpfer, haben sich auch bewusst dem eigenen Tod ausgesetzt. Gilt ihr Tun als Wahl des eigenen Todes deswegen nicht als verachtenswerter Suizid, weil ihr Handeln einem „guten Zweck“ diente? Gibt es also gute und selbst von Christen verteidigte gute Suizide und eben schlechte Suizide derer, die nichts anderes anzielen, als endlich keine unerträglichen Schmerzen mehr zu haben. Diese Menschen möchten in ihrem Leiden nichts anderes als sich auch friedlich verabschieden, mit ärztlicher Hilfe wollen sie gern möglichst schmerzfrei sterben, so wollen sie einen Beitrag leisten für eine neue Kultur des Sterbens (!) Noch einmal: Diesen ärztlich assistierten Suizid ziehen sie der üblichen Zwangspraxis vor, vom Staat diktiert, die sie nötigt, sich irgendwo im Wald eine Pistole in den Mund zu stecken und sich abzuknallen wie einen Verbrecher.

Entscheidend ist: Wir sollten die Diskussion über Suizidbeihilfe und über aktive Sterbehilfe in den großen Rahmen stellen der europäischen Emanzipationsgeschichte: Dies ist die Geschichte des Kampfes um Freiheit, um individuelle Freiheit wie Freiheit in Staat und Gesellschaft. Nur einige wenige Beispiele: An dem Kampf um die Rechte der Frauen wäre zu erinnern, an den Kampf um das Frauenwahlrecht oder die schlichte Tatsache, dass Frauen auch ohne Zustimmung des Gatten ein Bankkonto eröffnen können; an den Kampf um den Respekt für Homosexuelle bis hin zu Homoehe und Homo-Elternpaaren mit ihren Kindern wäre zu erinnern; an den Kampf um die „Pille“ oder an den Kampf um die legitimen Forderungen nach Abtreibung in bestimmten gesetzlichen Grenzen usw.

In allen diesen erfolgreichen Kämpfen wurde die individuelle Freiheit durchgesetzt, die Machthaber mit ihrer eigenen rigiden Moral der Unterdrückung der subjektiven Freiheiten wurden sozusagen entthront.

Das heißt aber nicht, dass mit jeder neuen gesetzlichen Regelung im Rahmen der Reformen auch immer rundherum alles Bestens läuft. Eine Gesetzesreform, die rundherum total nur Gutes bringt, gibt es nicht. Dies auch von den bevorstehenden neuen Gesetzen zur Suizidbeihilfe und zur aktiven Sterbehilfe zu verlangen, wäre naiv. Aber die oben genannten Beispiele der Emanzipation zeigen, dass doch die Befreiung gegenüber dem alten Zustand der Unterdrückung und Verfolgung (etwa der Schwulen) ungleich besser und wertvoller ist.

Warum also sind die Kirchenführer und die meisten ihnen gehorchenden Theologen gegen die gesetzliche Neuregelung von Suizidbeihilfe und aktiver Sterbehilfe? Wir vermuten: Weil sie mit dieser Reform tatsächlich ihre aller letzte noch verbliebene Bastion verlieren könnten, von der aus sie die Gewissen lenken und leiten können … und auch die Gesetze. Mit anderen Worten: Der Kampf gegen die neue gesetzliche ärztlich assistierte Suizidbeihilfe ist auch der Kampf der Kirchen um die letzte noch verbliebene gesellschaftliche Macht.

Wir fördern und fordern mehr Hospize, keine Frage, sie sind hilfreich und sinnvoll, auch wenn sie nur eine Minderheit erreichen. Im vergangenen Jahr starben in stationären Hospizen Deutschlands 9.000 Menschen. In ambulanten Hospizen, also in den Wohnungen der Sterbenden, starben 37.000 Menschen. Aber Palliativstationen und Hospize sind aber nicht die absolut beste und einzige Antwort. Selbst katholische Ärzte in Palliativstationen und Hospizen bestätigen das, etwa die katholische Ärztin Corinne van Oost aus Belgien in der neuen Ausgabe der Zeitschrift „Le Monde des Religions“ (Paris, November 2014, Seite 22 f.) Sie betont in dem Interview, aus Mitleid zu handeln, wenn sie Schwerstkranken hilft, durch die in Belgien gesetzlich mögliche Euthanasie sterben zu können. „Es ist die Gewissheit mit meiner ganzen ärztlichen Equipe, dass es keine andere Möglichkeit mehr gibt“. Die übliche Lösung, den Kranken mit hohen Opium Dosen total in den Schlaf zu schicken, hält sie für keine gute Lösung. „Denn da ist der Kranke total von seiner Umgebung abgeschnitten. Die gibt es dann keine Begleitung mehr“.

Philosophisch entscheidend ist ein weiterer Hinweis: Ich muss nicht leben. Es gibt keinen Zwang, dass ich leben muss. Ich darf leben, will leben, kann leben, aber niemals gilt: Ich muss leben: Bestenfalls im Blick auf andere, die mich unbedingt brauchen, für die ich leben will bloß aus Mitleid mit ihnen. Aber das ist die Ausnahme.Nur Diktatoren reden mir ein, ich müsste unter allen Umständen leben. Fidel Castro z.B. war empört, als sich ein Companero selbst tötete. Totalitäre Staaten wollen Menschen zwingen zu leben zwingen, sie wollen sie sozusagen binden an den Aufbau des eigenen Staates usw.

Der zentrale Punkt ist: Das „Geschenk des Lebens“ kann ich auch wieder zurückgeben.

Es ist ja ein klassischer Topos: Das menschliche Leben ist für mich Geschenk, also darf ich es selbst nicht abgeben, zurückgeben. Tatsache aber ist: Das Geschenk wird nicht vom Schenkenden bleibend und ständig bestimmt. Ich bin als der Beschenkte nicht verpflichtet, ein Geschenk ständig zu bewahren. Das gilt, wenn ich Gott personal verstehe oder eher offen an eine schöpferische Urkraft denke.

Gott als der Schenkende „will“, dass wir in aller Freiheit uns selbst mit diesem Geschenk persönlich auseinandersetzen und inmitten unseres Lebens entwickeln. Es gibt den Spruch: Achte auf den Zusammenhang von Gabe und Aufgabe. Es gibt immer den Aufruf zum eigenen, individuellen Handeln mit dem mir gegebenen Leben. Gott spricht nicht unmittelbar in mein Leben hinein, und er sagt mir nicht, wie ich mit seinem Geschenk, also meinem Leben, umgehen soll. Nach Gesetzen der Ethik und der Vernunft, gewiss, aber Gott überlässt mir vollkommen den Umgang mit seinem Geschenk. Und das lässt auch die Möglichkeit offen, dass ich im Fall von äußersten Leiden dieses Geschenk zurückgebe.

Wir zitieren gern eine Einsicht des Renaissance Philosophen Pico della Mirandola (1463 bis 1494): Er lässt Gott zum Menschen sagen
„Du sollst deine Natur ohne Beschränkung, nach deinem freien Ermessen, dem ich dich überlassen habe, selbst bestimmen“ (zit. aus „Enzyklopädie Philosophie“, Band III, S. 2411, in einem Beitrag von Volker Gerhardt).

Wichtig erscheint uns das Buch von Christiane Berkvens-Stvelinck, „Vrije Rituelen“ (2012), in der die Remonstranten Theologin (Rotterdam) zusammen mit Pastor Johan Blauuw einen eigenen Ritus im Falle von Euthanasie beschreibt und zur Nachahmung empfiehlt. Bekanntlich ist ja in Holland seit 2002 Euthanasie gesetzlich möglich, dieses Wort verwenden Holländer, in Deutschland gibt es gegenüber dem Begriff verständlicherweise Vorbehalte).

Angeraten wird der um das Sterbebett versammelten Familie/dem Freundeskreis, etwa eine Kerze anzuzünden, ein Gedicht, ein Gebet, einen Psalm vorzutragen, Erinnerungen auszutauschen, ein buntes Band zu legen, das alle, auch den Sterbenden, verbindet zu einer großen Gemeinschaft. Und dann wird ein Gebet empfohlen, das wir hier in der Übersetzung anbieten:

Ewiger.

Jetzt nähert sich der Moment des Abschiednehmens

Weil das Leben seinen Glanz verloren hat

Und der Körper kein Zuhause mehr ist

Um darin noch zu wohnen.

Deswegen geben wir dir, dem Ewigen, das Leben zurück.

Als ein Geschenk hast du uns das Leben gegeben.

Jetzt, wo dieses Geschenk nicht länger erfreut

Weil die menschlichen Möglichkeiten, um dieses Geschenk zu genießen

Viel zu begrenzt wurden.

Deswegen geben wir dir in Dankbarkeit, dem Ewigen,

dieses Geschenk zurück.

Mögest du es annehmen und aufnehmen

In deiner Barmherzigkeit und in deiner Liebe.

Segne dieses Leben

Mit dem Licht deiner Augen und mit dem Frieden,

der allen Verstand noch einmal überragt. Amen.

Aus: Christiane Berkvens-Stevelinck, Vrije Rituelen“. Untertitel: „Vorm geven aan hat leven“.

Verlag Meinema,in Zoetermeer. 2007. ISBN 978 90 211 4152. Das Gebet befindet sich auf Seite 98. Übersetzt von Christian Modehn

Es kommt in den gegenwärtigen und zukünftigen Diskussionen darauf an, von der bloßen Fixierung auf neue Gesetzestexte wegzukommen zugunsten der umfassenderen Frage: Was ist eigentlich gutes Sterben? Sterben ist kein technisches und auch kein bloß medizinisches Problem. Diese Frage sollte im Mittelpunkt stehen: Wie kann eine Kultur des Sterbens entstehen, in einem Miteinander, das wieder gepflegt werden sollte angesichts des Zusammenbruchs der alten Großfamilien. Wie können würdige Abschiedsfeiern gestaltet werden? Das gelingt nur, wenn sich tatsächlich die zum Sterben entschlossenen Menschen/Patienten bei Bewusstsein und schmerzfrei verabschieden können.

Die Kirchenführer sind fixiert auf den Erhalt der bisherigen Gesetze. Sie haben wie immer Angst vor Neuerungen und Reformen. Sie haben das Wort Zuversicht aus ihrem Vokabular gestrichen, Ist das christlich? Sie sehen auch jetzt wieder die üblichen Dammbrüche und Katastrophen, sind aber nicht in der Lage, einmal nach Holland zu schauen, nach Belgien, in die Schweiz usw., um zu fragen: Ist dort tatsächlich Mord und Totschlag an der Tagesordnung, bedingt durch liberalere Gesetze beim Sterben. Die alles Wissenden deutschen Theologen und Pfarrer, ebenso die mit den Kirchen verbandelten Politiker, sprechen nicht mit Pfarrern und Theologen aus der schweizerischen, belgischen und holländischen Nachbarschaft, die selbstverständlich Menschen in den letzten Stunden begleiten, wenn sie unter ärztlicher Assistenz aus dem Leben scheiden und von schwersten Schmerzen befreit, erlöst, werden.

Die Kirchen in Deutschland könnten ihre eigentliche Aufgabe wahrnehmen, wenn sie den Prozess der Freiheit und Befreiung auch in Fragen des Sterbens zunächst einmal bejahen und aus dieser Bejahung dann auch mitgestalten. Sie sollten sich fragen, wenn sie schon auf die Bibel starren, wo denn in der Bibel der Suizid verboten ist.

Durch das pure Pochen, langweilig, ängstlich und autoritär wie eh und je, begeben sich die Kirchen wieder mal selbst ins Getto.

Religiöse Menschen und religionsphilosophisch Interessierte sollten hingegen den Prozess der Befreiung auch im selbst bestimmten Sterben mitgestalten, statt ihn permanent zu bejammern. Eine starre Haltung hat, wie immer in der Geschichte, keine Zukunft.

Diese Erstarrung aus Angst vor neuen Gesetzen diskreditiert alle Versuche, eine neue Ordnung zu schaffen, in der auch die jetzt qualvoll Leidenden und zum Tode Entschlossenen eine humane Antwort finden. Dann könnte endlich auch einmal nicht nur vom Sterben, sondern von dem viel anspruchsvolleren Thema „TOD – Was ist das?“ gesprochen werden. Die langen Debatten rund um das Sterben haben das Thema Tod und definitive Endlichkeit in den Hintergrund treten lassen. Leider, meinen wir.

Ein Hinweis zum Schluss:

In der katholischen Monatszeitschrift HERDER Korrespondenz Heft 11 (2014 Seite 567 ff.) wird ein Beitrag von Giovanni Maio publiziert, er ist als Arzt in München Uni-Professor für Medizinethik,, (philosophisch M.A.) und Mitglied des Ausschusses für ethische Grundsatzfragen der Bundesärztekammer UND Berater der Deutschen (katholischen) Bischofskonferenz, eine interessante Verbindung und Nähe übrigens.

Sein Beitrag hat den Titel: „Handhabbarer Tod? Warum der assistierte Suizid nicht die richtige Antwort ist“.

Wir können aus diesem viele alte bekannte Argumente wiederholenden Beitrag nur darauf hinweisen, wie da gegen die Menschen argumentiert wird, die in größter Not der Schmerzen aus diesem Leiden befreit werden wollen. Kein einziger Patient, der um assistierten Suizid bittet, wird zitiert, kein Verteidiger dieser Position auch nur namentlich erwähnt. Ein merkwürdiger arroganter Beitrag, meinen wir.

Herr Maio unterstellt, diese um den assistierten Suizid bittenden Menschen würden sich in ihrem Leben jetzt „überflüssig“ fühlen (s. 568), sie würden sich „wertlos vorkommen“, „als Last, als Bürde, ja als Zumutung für andere“ (ebd.). Dass die Überwindung unerträglichen Leidens aus freier subjektiver Kraft die erste Rolle spielt, wird in dem Beitrag nicht gesehen. Das Gefühl lästig zu sein, kann ihnen auch von Geld gierigen Gesunden eingeredet werden. Und das passierte immer schon, auch vor der debatte um die assistierte Sterbehilfe.

Hingegen wird zurecht gesagt, es sei alles Erträgliche zu tun, „um Suizidwünsche zu vermeiden“ (ebd). Das ist ja richtig im Fall eines allgemeinen Suizidwunsches, aus Liebeskummer, mieser Stimmung usw., das gilt aber nicht für den Sonderfall des assistierten Suizides im Falle schwerster und aussichtsloser Krankheit.

Autonomie versteht Herr Maio falsch, indem er Autonomie deutet ,„alles ohne Hilfe Dritter machen zu können“ (S. 569). Autonomie aber kann niemals ohne die Bezogenheit auf andere verstanden werden. Entscheidend ist: Es muss jedoch eine freie und gleichwertige Beziehung sein, keine Beziehung der Herrschaft und des Oben und Unten. Herr Maio verwechselt offenbar Autarkie und Autonomie.

Dann meint er den assistierten Suizid deswegen abweisen zu können, weil dieser ein Mittel sein soll der Leidverhinderung und sogar Leidenslinderung (s. 569). Es geht nicht um die Verhinderung von Leiden im Fall des assistierten Suizides, sondern um die definitive Abweisung eines Lebens, das nichts mehr als Leiden ist. Es geht um Befreiung und Erlösung aus diesem Leib und der Hinkehr zu Gott, so fromme Menschen, wie Hans Küng.

Es geht auch nicht um die Schaffung „einer leidlosen Gesellschaft“, wie Herr Maio suggeriert, sondern nur um die Abwehr des einzelnen, definitiv schmerzhafteste Zustände zu ertragen. Natürlich wird auch ein Schwerstkranker noch das Leiden von Zahnschmerzen etc. ertragen. Indem, wie so oft üblich in konservativen Kreisen, der assistierte Suizid so in maßlose, globale und gerade alberne Dimensionen wie „Forderung nach Leidlosigkeit“ gezogen wird, werden Schreckgespenster wachgerufen. Die Utopie, dass sich in „besserer Zukunft“ (S. 570) „alle sich um den alten Menschen ranken, ihn verehren“ (ebd.) soll bitte den Politikern der CDU und SPD nahe gebracht werden, sollen sich diese Herrschaften einmal dem Gespräch stellen mit den Betroffenen. Und dann sollen sie bitte noch ca. 10.000 weitere stationäre Hospize in Deutschland bauen und dabei zur Finanzierung auf ihr üppiges Salär verzichten zugunsten der alten Menschen, „um die sich alle ranken” (? ) und „die alle verehren“.

copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

Über das Nichts hinaus. Paradoxien des Nihilismus. Eine Ra­dio­sen­dung am 26.10.um 11.30 HR2

Über das Nichts hinaus. Paradoxien des Nihilismus

Eine Ra­dio­sen­dung der Reihe Camino (HR 2) um 11. 30 am Sonntag, 26.Oktober 2014

Der Nihilismus ist zuerst ein Lebensgefühl, bevor er philosophisch und religiös Ausdruck findet. Mitten im Alltag erscheinen Bindungen an Werte banal, Freundschaft und Liebe langweilen, Gottesbilder wirken belanglos. Das Gefühl der Sinnlosigkeit von allem macht sich breit. Wenn nichts mehr Lebendigkeit verheißt, legt sich das Nichtige wie ein Schleier über alles. Ist der Nihilismus eine Art Endstation der Verzagten und Verzweifelten? Oder gibt es inmitten von allem Nein Wege zu einem verwandelten, neuen Leben hin? Der Philosoph Nietzsche war dieser Meinung. Er plädierte nach dem Tod Gottes und dem daraus folgenden Nihilismus allerdings für den „Übermenschen“. Anders die Mystiker wie Meister Eckart. Sie bejahen die Leere, finden gar über das Nichts hinaus den wahren, den „göttlichen Gott“. Im Nein zeigt sich für religiöse Menschen ein Ja, das stärker ist als die negative Kraft des Nichts.

Gut leben. Ein philosophischer Salon mit Barbara Muraca am 20. November um 19 Uhr

Anläßlich des Welttages der Philosophie am Donnerstag, den 20. November, veranstaltet der Religionsphilosophische Salon Berlin zusammen mit dem Wagenbach Verlag ein Gespräch und eine Diskussion mit der Philosophin Dr. Barbara Muraca, Uni Jena, über ihr neues Buch “Gut leben”. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums ist der Untertitel.

Das Thema berührt uns alle, mehr gedankliche Klarheit ist erforderlich. Dazu will dieser Salonabend beitragen. Er findet statt im Kulturzentrum AFRIKA HAUS in der Bochumer Str. 25 in Berlin-Tiergarten . Einlass ab 18.30 Uhr, Beginn um 19 Uhr bis ca. 21 Uhr. Getränke sind dort erhältlich. Eintrittsgebühr: 3 Euro. Die Lektüre des Buches vorher könnte für die Diskussion dann inspirierend sein. Das Buch kostet 9. 90 €. Herzliche Einladung. Für weitere Fragen und Anmeldungen bitte an: christian.modehn@berlin.de

Zur Liste der Veranstaltungen anläßlich des Welttages der Philosophie 2014, siehe die Unesco website, klicken Sie bitte hier.

 

Über die Reformation hinaus: Für eine Ökumene der Zweifler und Skeptiker

Über die Reformation hinausgehen: Für eine Ökumene der Zweifler und Skeptiker

Einige neue Thesen und Vorschläge  zum Reformationstag (31. 10. 2014)

Von Christian Modehn

An Gedenktagen sollte man denken. Auch heute. Und zwar Neues denken, Neues, d.h. auch bisher eher Ungesagtes oder an den Rand Gedrängtes. Dann wird man sich der Grenzen des Vergangenen und der bisherigen Interpretationen des Vergangenen bewusst. Man will weg aus Engführungen und kleinlichen Debatten der Spezialisten.

Das gilt auch für die Erinnerung an den Reformationstag 31.10. 2014:

Für den Philosophen G.W.F. Hegel war die Reformation Luthers „die Hauptrevolution“, so schreibt er in seiner „Philosophie der Geschichte“. Hegel teilte die Welt-Geschichte nicht nur „nach Christus“, sondern zusätzlich noch „nach Luther“ ein. Natürlich spielen bei Hegel ideologische und politische Bindungen seiner Zeit, des frühen 19. Jahrhunderts, hinein. Einen wahren Aspekt hat diese Interpretation der Lutherischen Reformation als grundlegender Umwandlung, als Revolution, aber doch. „Jeder Mensch hat nun an sich selbst (also in sich selbst, also in seinem eigenen Geist CM) das Werk der Versöhnung (zwischen Gott und Mensch CM) zu vollbringen“. Der einzelne, „das Subjekt“, ist also unendlich aufgewertet, ist unendlich wichtig, denn „in ihm ist Gott“. Worte, die an Meister Eckart erinnern, ihn erwähnt Hegel. Der Mensch ist also in gewisser Hinsicht mehr als bloßer Mensch. In seinem Geist ist das Unendliche lebendig zugegen. Alles Transzendieren des menschlichen Geistes geschieht nur kraft dieser „Dynamik“.

Gott ist in allen, so die metaphysische Aussage Hegels bzw. Luthers. Noch einmal: Diese Perspektive gilt für alle Menschen. Heutige Theologie und Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie auf andere Weise können diese Aussage nicht mehr nur auf den kleinen Kreis der Getauften beziehen. Vielmehr: Alle Menschen sind – in christlicher Deutung, die sich natürlich den anderen nicht aufdrängt – mit dem einen Gott und in dem einen Gott verbunden. Jeder und jede auf unterschiedliche Weise, je nach der Kultur, Sprache, Religion usw…

Gott in allen und im allem: Das ist für religiöse Menschen eine Perspektive zum Reformationstag 2014 und später. Sie befreit von den langweiligen innerkirchlichen und „ökumenischen“ Debatten, sie befreit von dem endlosen Streit um Studien und Konsens-Papiere zugunsten der Kircheneinheit, die Theologenkommissionen seit Jahrzehnten produzieren. Dabei wecken sie den Eindruck, Kircheneinheit, was man auch immer darunter verstehen mag, sei Sache von theologischen Gremien, also Sache des Herrschaftswissens einiger Hierarchen und ihrer Haustheologen.

„Gott in allen und in allem“ gilt, und das wäre das „Neue“ als eine Provokation, auch für Menschen, die sich gottlos oder agnostisch nennen. Diese Wahrnehmung und Interpretation der anderen, der Atheisten und Agnostiker, ist keine Arroganz religiöser Menschen, keine Kampfansage, kein Auftrag zur Bekehrung in die Kirchen hinein. Diese Wahrnehmung der „anderen“ kann lediglich behilflich sein, das Denken der sich irgendwie christlich nennenden Menschen friedlich zu bestimmen. Der einst feindlich betrachtete Atheist wird dann der Gesprächspartner, der Mensch, den es absolut zu respektieren gilt.

Aber über diese bloßen Dispute zwischen Glaubenden und Nicht-Glaubenden muss man hinauskommen, nette Diskussionen finden als eine Art freundliche Konfrontation von Unterschieden schon seit Jahren statt. Etwas anderes ist freilich die wissenschaftlich fundierte Debatte unter Philosophen. Aber die gut gemeinten christlich–atheistischen Gespräche als Konfrontation der fixierten Meinungen sind in dieser Form eher überflüssig. Das spürte man deutlich bei den Dialogen „Vorhof der Völker, die der Vatikan mit Atheisten (etwa auch in Berlin) organisierte.

Jetzt kommt es darauf an, im Rahmen einer erweiterten, neuen Reformation, die Gemeinsamkeit von Glaubenden und Nichtglaubenden zu erkennen und praktisch zu leben. Denn Glaubende und Nichtglaubende (Atheisten usw.) haben als gemeinsame (!) geistige Basis, dass sie Suchende, Fragende, Zweifelnde sind. Denn auch religiöse Menschen, auch Christen, „haben“ ja niemals Gott, sind immer auf der Suche, fragend, nach dem göttlichen Gott…Es geht also um den Dialog und die Praxis unterschiedlicher Zweifler und Suchender. Es geht letztlich darum, am jeweiligen Zweifel noch einmal zu zweifeln, um daraus eine gemeinsame geistige, philosophische oder möglicherweise neue religiöse Ebene zu entdecken. Und um gemeinsame politische Aktionen zu starten, um gegen die militanten Nihilisten, diese Mörderbanden, die Zerstörer aller Kultur und Lebendigkeit, anzugehen. Es gilt also, eine Ökumene der Zweifler, der Humanisten, ob religiös oder nicht, zu fördern und vor Ort zu leben und zu beleben.

Daneben drängt sich eine weitere Thematik auf im neuen Gedenken an die Reformation Luthers. Bisher wird eben fast nur mit viel Aufwand an Luther erinnert und leider nicht ausführlich an die mutigen Theologen, die ihm sozusagen den Mut gaben und den Boden bereiteten, etwa Petrus Valdes und die Valdenser oder Jan Hus aus Prag. Auch die Konzeptionen eines humanistischen Christentums durch Erasmus und später durch die Remonstranten (und ihre heutige freisinnige Kirche) stehen absolut im Hintergrund. Unverständlich bleibt auch, warum nach dem Ende der DDR fast kein Theologe und Kirchenmann (keine Kirchenfrau) es mehr wagt, Thomas Müntzer, den großen Zeitgenossen Luthers, diesen Theologen der sozialen Befreiung, überhaupt zu erwähnen. Wo bleiben die -kritischen- “Müntzer Tage” oder “Müntzer Kongresse” bei all den vielen Luther-Feierlichkeiten?

Der Religionsphilosophische Salon wird jedenfalls einen Salon über das humanistische Christentum und über Thomas Müntzer im Jahr 2015 veranstalten.

Coypright: Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Gebet und Gedenken. Inidviduelle Arbeit am Sinn der Geschichte. 3 Fragen an Wilhelm Gräb

WEITER DENKEN: 3 Fragen an Wilhelm Gräb:

Gebet und Gedenken – Individuelle Arbeit am Sinn der Geschichte

Beten als eine Form religiöser Poesie wird von kulturell interessierten Menschen längst nicht mehr leichtfertig beiseite geschoben. Wenn das Sich Aussagen des eigenen Lebens vor dem Unendlichen gelingt, kommt auch die Sinndimension hinein, das Bewegtsein von der Frage: Was ist der Sinn meines Lebens? Was trägt mich? Was bewahrt mich vor Verzweiflung und resigniertem Abstandnehmen von dieser Welt, in der heute offensichtlich so unglaublich viel Unsinn besteht?

Wer betet, wird sich seiner selbst in der Zugehörigkeit zur Welt gesteigert bewusst – nimmt nicht gedankenlos hin, dass er das Leben hat und alles was er zum Leben braucht, bleibt nicht gleichgültig, wenn anderen oder auch ihm selbst Entscheidendes zum Leben fehlt. Wer betet, dankt für das Glückende, klagt an, wenn ihm und anderen elementare Lebenschancen verweigert werden. Wer betet, resigniert nicht vor dem Elend der Flüchtlinge, der ungerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, der rücksichtslosen Gewalt und Arroganz der Mächtigen. Er hält Ausschau nach dem, was Hilfe bringt – wagt es vor allem, seine Anklagen und Bitten vernehmlich vorzubringen.

Wer betet, richtet seinen Dank, seine Anklage, seine Bitte an Gott – recht verstanden aber nicht an einen Gott der außerhalb oder über der Welt ist. Was und wie könnte ein solcher Gott außerhalb oder über der Welt uns in der Welt helfen?

Gott ist in der Welt, wenn er denn der Grund von allem Sein und Sinn ist. Der uns in unserem Selbst- und Weltverhältnis gründende, des Sinns welthaften Daseins uns vergewissernde Gott ist bei uns und geht mit uns, in allem was wir denken und tun. Weil er in der Welt ist, fühlen wir seine Gegenwart, gerade dann, wenn wir bewusst Anteil nehmen an dem, was mit uns und unserem Dasein in dieser Welt geschieht, was uns ängstigt und Sorge bereitet, mit Freude erfüllt und zur Hoffnung ermutigt.

Wer betet, gewinnt deshalb aber auch zusätzliche Kraft, am Sinn seines Tuns und Vorhabens festzuhalten, auch wenn ihm viel Sinnloses entgegensteht und die eigenen Anstrengungen aussichtslos erscheinen. Wer betet, richtet sich gerade in den Sinnabgründen an Gott – den unverlierbaren Sinngrund der Welt und des eigenen Daseins in ihr. Wer betet, nennt die Missstände beim Namen, schonungslos – weil er die Welt, weil er keinen und keine je ganz verloren gibt.

Es gibt kein größeres Missverständnis des Gebets als die Vorstellung, Betende würde sich an einen Gott außerhalb bzw. über der Welt wenden, darum bittend, dass er doch in diese Welt eingreifen und in ihr etwas zu deren und dem eigenen Wohl tun möge. Diesen Gott außerhalb bzw. über der Welt gibt es nicht. Es gibt aber den Gott, der die Welt als Ganze in seinen Händen hält. Diesen Gott finden wir und zu diesem Gott beten wir, wenn wir – von uns selbst und der Sinngewissheit unsers Daseins ausgehend – den Sinngrund benennen, der uns trägt und zum Widerstand ermutigt, wenn wir mit dem Sinnlosen und Absurden konfrontiert sind.

Wo wir uns der Verantwortung für uns selbst, für das Wohl anderer, für eine verbesserliche Welt bewusst werden, dort macht dieser göttliche Sinngrund sich in unserem Selbstgefühl bemerkbar – ob wir nun ausdrücklich in die Haltung und Poesie des Gebets finden oder nicht. Der Gott, der der Grund unsers Daseinssinns ist, zeigt sich im weltlich grundlosen Gefühl eines unerschöpflichen Lebensmutes. Ob wir uns in der Sprache des Gebets oder in meditativer Selbstbesinnung zu diesem Sinngrund (ihn als Person imaginierend oder nicht) verhalten, es wird uns bewusst, wem wir uns verdanken, was uns einen unbedingt verlässlichen Halt gibt und wozu es unseren Einsatz hier und jetzt in der Welt braucht.

Nun haben Sie in Ihrem Vortrag auf dem „Europäischen Kongress für Theologie“ im September 2014 in Berlin ( Thema: Geschichte und Gott) darauf hingewiesen, dass Beten keineswegs nur die individuellen Lebensfragen thematisiert und dadurch deutlicher bewusst macht. Beten ist auch „Arbeit“ als Suche nach dem Sinn der Geschichte. Was meinen Sie mit diesem weit ausgreifenden Thema „Sinn der Geschichte“?

Statt „Geschichte“ können wir, wie ich das in meiner Antwort auf die vorige Frage getan habe, auch „Welt“ sagen. Wir sind als Individuen immer zugleich in eine Welt einbezogen. Nur in Bezug auf sie werden wir überhaupt dessen bewusst, dass wir unser Leben zielorientiert führen. Nur in Bezug auf eine Welt, zu der wir gehören und die uns vor Aufgaben stellt, entstehen uns mit den individuellen Lebensfragen auch die Probleme, die uns in Politik und Gesellschaft herausfordern.

Die Welt, zu der wir gehören und die uns permanent vor Aufgaben und Herausforderungen stellt, ist die wirkliche Welt. Die wirkliche Welt aber ist die geschichtliche Welt, die Welt der großen und kleinen Geschichten, der Völkergeschichten, der Kriegs-und Friedensgeschichten, der Gesellschaftsgeschichten und der unendlich vielen Lebensgeschichten. Die Welt, zu der wir gehören und mit Bezug auf die wir überhaupt nur uns unseres individuellen Daseins und seines Sinns bewusst werden können, wird nur als Geschichte und in Geschichten für uns konkret. Umgekehrt muss man aber auch sagen, es gibt keinen Sinn der Geschichte unabhängig davon, dass eben wir es sind, die sich mit der Frage nach dem Sinn der Geschichte des Sinnes unseres eigenen individuellen Daseins zu vergewissern suchen.

Der Sinn der Geschichte, der großen Geschichte, der politischen Geschichte, der Weltgeschichte, wie auch der individuellen Lebensgeschichten ist nie eine absolute Größe. Dort, wo der Sinn der Geschichte als eine solche absolute Größe behauptet wird, begegnen wir den gewaltsamen Ideologien, müssen wir an Volksbewegungen und ihre Führer denken, die sich, den Gebetsruf „Gott mit uns“ auf den Koppelschlössern, zu Vollstreckern dieses angeblich objektiven Sinns der Geschichte gemacht haben und immer wieder machen (denken wir an die selbsternannten „Gotteskrieger“ von heute) – und dabei über Leichen gehen.

Von einem „Sinn der Geschichte“ zu reden, ist hochgefährlich. Wir können im Grunde nur vom Sinn der Geschichte reden, wenn wir dabei von uns selbst ausgehen, von der unser Denken und Handeln tragenden Sinngewissheit und damit unserer je eigenen Verantwortung für den guten Fortgang aller Dinge. Das genau geschieht aber auch, wenn wir beten. Wir danken Gott für unser Leben, wir klagen ihm unser Leid angesichts alles dessen, was in dieser Welt fehlt zum Gelingen. Wir bitten Gott um die Kraft, bessern zu können, was dem Wohl des Ganzen dient wie auch hinnehmen zu können, was sich offensichtlich nicht mehr ändern lässt.

Im Gebet identifizieren wir nicht unsere immer partikularen Interessen und Zwecke mit einem ‚objektiven‘ Sinn des Ganzen. Wir versuchen auch nicht, Gott unserem Willen gefügig zu machen. Im Gegenteil, wir überlassen uns und alle Welt Gottes unerforschlichem Ratschluss. Dergleichen sieht dann zwar wiederum nach demütiger Unterwerfung unter eine göttliche Schicksalsmacht aus. Das ist es aber nicht, wenn wir Gott, von uns selbst ausgehend, als den unser Sinnbewusstsein und damit unsern Lebensmut gründenden Sinn des Ganzen der Geschichte denken. Dann wird uns das Beten, mit dem wir uns unter Gottes Willen beugen, zur Stärkung unserer Lebenssinngewissheit, damit dann aber auch zur Befähigung, selber zu denken und eigenverantwortlich zu handeln.

Wenn wir uns in der religiösen Poesie, Gebet genannt, des Lebenssinns im Ganzen versichern können, was muss geschehen, dass dies auch praktisch gelingen kann? Sind die Kirchen Orte solcher Praxis? Können sie das noch sein? Oder sollte die Form des Betens nicht auch in der kulturellen Szene außerhalb der Kirchen präsent werden?

Wenn wir das Beten als selbstbewusste Reflexion auf den Sinn des Ganzen verstehen, wird überall gebetet, wo Menschen sich darauf besinnen, was mit ihrem Leben und der Welt, in der sie es verantwortlich zu führen haben, der Fall ist. Beten ist kein mehr oder weniger frommes Verhalten von Menschen, die, um sich selbst zu entlasten, einen (hoffentlich) wundersam in diese Welt eingreifenden Gott anrufen. Ich bin eher der Meinung, dass ein solches, den Menschen von sich selbst und seiner Weltverantwortung wegführendes Beten eine ebenso gottlose wie selbstvergessene Angelegenheit ist.

Zur zornigen Anklage, zum verzweifelten Schrei um Hilfe, zum Drängen nach Zuwendung käme es nicht, wenn da nicht zugleich ein ungeheurer Wille zum Leben wäre. Immer wenn Menschen, trotz allem, was den Lebensmut rauben und in die Resignation treiben möchte, das Ganze doch nicht verloren geben, beten sie.

Dieses Beten geschieht ständig und überall. Dieses Beten begleitet all unser Denken und Handeln. Das merken wir, sobald wir uns in unserem Engagement, in unserem Sorgen und Planen der abgrundtiefen Abhängigkeit von dem uns dabei tragenden, unser Sinnbewusstsein stabilisierenden göttlichen Sinngrund bewusst werden.

Auf besonders eindrückliche Weise werden wir in solches Beten, das sinnreflexive Selbstthematisierung ist, auf den Theaterbühnen verwickelt, im Kino, in den Kunstateliers und zwischen Bücherdeckeln. Und es geschieht natürlich auch – die, die daran teilnehmen, aktiv einbeziehend – in den Gottesdiensten der Kirchen, ja, gebetet wird im rituellen Zentrum aller Religionen.

Die Fragen stellte Christian Modehn

Copyright: Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin