Eine Welt der neuen Klänge. Warum die “zeitgenössische Musik” inspiriert. Ein Vorschlag von Joachim Gies

Ein “Rückblick” auf unseren Salonabend zum Thema: “Sprache der Musik – ein Weg in die Transzendenz ?” (am 26. 9. 2014): Dabei hat Joachim Gies mit uns diskutiert und auch Ausschnitte aus seinen Kompositionen fürs Saxophon zu Gehör gebracht. In seinem folgenden Beitrag geht Joachim Gies der Frage nach, warum wir “zeitgenössische Musiker” – selbst wenn sie manchmal für viele Irritierendes  komponieren – doch als  Inspiration schätzen lernen könnten.

Liebe Freunde besonderer Musik,

heute möchte ich über einen Komponisten des 20. Jahrhunderts reden, den ich für einen der Größten von den 60er bis zu den 90er Jahren halte: György Ligeti    http://de.wikipedia.org/wiki/György_Ligeti

Nach dem Aufstand in Ungarn 1956 flüchtete er nach Österreich und wurde zu einem Erneuerer der zeitgenössischen Musik im Westen. Nachdem er zwei politische Diktaturen überstanden hatte, unterhöhlte er die Denkschablonen der Nach-Schönberg-Ära, in der die Kompositionen in allen Bereichen (Tonfolge, Rhythmik, Atonale Harmonik bis hin zur Klangfarbe) determiniert waren. Also fast so, wie zuvor die politischen Diktaturen agiert hatten: alles Individuelle war einem „System“ unterzuordnen. Ligetis erste Aufsehen erregende Komposition war 1961 Atmosphéres, hier in einer Interpretation mit Claudio Abbado:

http://www.youtube.com/watch?v=JWlwCRlVh7M

Als berühmtes Chorwerk entstand 1966 „Lux Aeterna“:

http://www.youtube.com/watch?v=mIcO8fPspP0

Alles verschmilzt zu einem Klangfeld, das magisch wirkt. So sehr, dass die meisten von euch die Musik schon gehört haben, denn Stanley Kubrick benutzte die Werke in seinem Film „2001: Odyssee im Weltraum“ neben der „Blauen Donau” von Johann Strauss und dem „Zarathustra-Beginn“ von Richard Strauss. Auch in seinen späteren Filmen „Shining“ und „Eyes Wide Shut“ setzte Kubrick die Musik Ligetis ein. Eine hübsche Anspielung auf Ligeti machte Kubrick in „A Clockwork Orange“, wo in einem hippiemäßig ausgestatteten Plattenladen eine Ligeti-LP zu sehen ist. Für mich sind Kubricks Filme genauso sehenswert wie die Musik Ligetis hörenswert ist. Filme mit philosophischem Ernst sind heute ja kaum noch zu finden. Kubrick setzt Nietzsches Gedanke der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ in „“2001“ und in „Shining“ eindrucksvoll ins Bild.

http://de.wikipedia.org/wiki/Stanley_Kubrick

Weitere beeindruckende Werke von Ligeti sind:

http://www.youtube.com/watch?v=GrVagXdfnbc

„Lontano“ für großes Orchester

http://www.youtube.com/watch?v=l2OQbA3r78M

Nach Ligeti weiß man als ehrlicher Komponist stets, wen man nachahmt, wenn man eine Komposition mit einem Ton beginnen lässt oder wenn man sich auf wenige Töne begrenzt.

Das Besondere an Ligeti ist es aber, dass er, bei allen Erfolgen, nie einen Stil bis zur Ermüdung beibehalten hat. Er ist dabei durch schwere Schaffenskrisen gegangen, aber am Ende hat er sich stets neu erfunden. Solch eine Lebenshaltung gibt mir zurzeit viel Mut.

So befasste er sich in den 80er Jahren fremdartigen Stimmungen, die für uns „wohltemperiert“ Zentralbeheizte ein wenig „falsch“ klingen. Ein sehr schönes Beispiel ist das „Hamburg Concerto“ für Orchester und einen Horn-Solisten.

http://www.youtube.com/watch?v=OXWjayXSzcE

Ligeti beschäftigte sich auch intensiv mit afrikanischer Polyrhythmik und einer Art von Maschinenmusik, fast unspielbar:

Ètude Nr. 1 “Désordre”

http://www.youtube.com/watch?v=qj9QlWltv8s

Für 30 € gibt es die sehr gut aufgenommene Sony-Edition mit 9 CD bei einem Internethändler, der nicht mit „A“ beginnt.

https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/Gy%F6rgy-Ligeti-1923-2006-Gy%F6rgy-Ligeti-Edition-Sony-Classical/hnum/5116806

Auch das Ligeti-Project ist mit 5 CDs noch erschwinglich:

https://www.jpc.de/s/ligeti+project

Ich würde mich freuen, wenn ich euch dazu anregen könnte, einmal etwas Zeit der neuen Musik zu gönnen. Natürlich ist das nichts zum nebenher hören. Aber ich glaube, die Reise in die Welt der neuen Klänge zeigt uns vieles, was außerhalb und innerhalb von uns liegt, woran wir sonst vorbei gingen.

Copyright:   Joachim Gies, Berlin

Die Sprache der Musik. Ein Weg in die Transzendenz? Zu einem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon

Sprache der Musik – Sprache der Transzendenz? Ein Abend im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin (am 26.9.2014)

Hinweise von Christian Modehn

Wir haben uns viel vorgenommen, in diesem Salonabend mit dem Komponisten und Saxophonisten Joachim Gies (Berlin). Seine Wort-Beiträge, seine Musik, die wir hörten, seine Präsenz waren für die meisten TeilnehmerInnen eine Öffnung hin zu der Einsicht und dem Erfahren, dass Musik eine Sprache ist mit einer eigenen weiten Ausdruckskraft. Bezeichnend dafür ist der Bericht von Joachim Gies, wie er bei seinen Reisen in Sibirien und der Mongolei mit Menschen musikalisch kommunizierte; wie er also seine Musik spielte und seine Freunde dort darauf antworteten auf musikalische Weise. Und sie verstanden einander; das Verstehen musste nicht noch in begriffliche Sprache, in Worte, übersetzt zu werden. Musikalisch miteinander sprechen: eine Perspektive, die so viele sich wünschen, die aber so wenige wohl erreichen (auch aufgrund mangelnder Kenntnis, Instrumente selbst zu spielen usw.).

So bleibt für die meisten wohl die Frage: Was bewegt sich in mir beim Hören der Musik? Was lässt mein Leben wachsen und verwandeln durch die Musik, die ich gerade höre? Oder wohl treffender gefragt, wenn das Hören intensiv ist als eine Art Mitleben mit der Musik, eine Art Eintauchen in die Musik: Was habe ich da gerade vor einigen Minuten in dieser Symphonie eigentlich gehört? Das bloße Eintauchen in die Musik und das Verweilen in ihr kann ja nicht alles sein, meine ich.

Im Anschluss daran möchte nur einige Hinweise geben und auf Themen aufmerksam machen, die uns in unserem philosophischen Salon auch bewegt haben.

Was meinen wir, wenn wir so oft und so selbstverständlich sagen: Musik ist eine Sprache? Um da weiter zu kommen, müssen wir uns selbstverständlich lösen von dem allgemeinen Vorurteil, Sprache sei immer nur begriffliche Sprache, Reden in Worten. Sprache hingegen ist die Urform des Ausdrucks des Menschen anderen Menschen gegenüber und auch sich selbst gegenüber: Insofern ist Sprache auch Zeichensprache, Sprache ist Tanz, Sprache ist Schweigen, Sprache ist Musik machen, Sprache ist Gehen, Sprache ist Sich-Bewegen usw.

„Musizieren“ ist eine Form und eine Gestalt von Sprache und Sprechen. In ihr drückt sich der Komponist aus, sagt also musikalisch, wie er sich befindet. Musik „machen“, also „komponieren“, ist ja mehr als das Wort komponieren sagt, im Sinne eines „Zusammensetzens“, componere, von Tönen in einer bestimmten Abfolge. Musik ist keine Mathematik, sie weckt keine Freude daran, sozusagen bloß die Qualität der Quinten oder Quarten zu erleben in ihrem Aufeinanderbezogensein…

Aber, und das ist meine Meinung, alle Formen von Sprache, auch jene, die sich nicht begrifflich äußern, sind „immer schon“ geistig begleitet durch die stille Anwesenheit des Begrifflichen. Wenn der Geist auch als die Fähigkeit des Begrifflichen nicht immer schon bei jeder sprachlichen Äußerung (Musizieren, Tanzen, Sich bewegen usw.) anwesend wäre in seiner Fähigkeit, etwas Erlebtes als etwas Erlebtes zu benennen, dann wüssten wir gar nicht, dass und was wir musizierend hören, dass und in welcher Form wir tanzen usw. Das heißt: Das begriffliche Moment ist in jeder Form menschlichen Sprechens, auch still und verschwiegen im Musikhören anwesend, oft unbewusst. Aber das Begriffliche kann nach dem Hören der Musik und nach dem Eintauchen in die Musik dann doch „zum Durchbruch“ kommen: Ich kann dann sagen, wie mich die Musik bewegte. Vielleicht haben sich beim Hören der Musik schon bestimmte Stimmungen eingestellt, die wir dann im Hören andeutend begrifflich fassen, bereits „eingeschlichen“, etwa: „wie traurig“, „eine Erhebung“, „eine Bewegung“, „ein Abbruch“ usw. Wer das Requiem von Mozart hört, geht verwandelt aus der Musik heraus. Und er kann dann wenigstens in einem Wort sagen, wie und warum er verwandelt aus dem Requiem von Mozart herausgeht: „Ich bin getröstet“. „Ich blicke wieder neu auf den Tode“ etc…Sonst wäre das Hören der Musik in der Weise des „l art pour l art“, also spielerisches (banales) Spiel.

Damit wird in meiner Sicht der Nachdruck darauf gelegt, dass die Sprache der Musik keine von allem sonstigen geistigen Leben losgekoppelte, sozusagen autonome und in sich ruhende (total unbegriffliche) Welt ist. Auch die Musik gehört zur Welt des Geistes und damit wenigstens elementar zur Welt der begrifflichen Sprachlichkeit. Wir wollen uns doch schließlich austauschen über das Gehörte, wobei wir nicht nur über den mathematischen Zusammenhang von Quinten und Oktaven sprechen, sondern über den geistigen Gesamteindruck eines Cellokonzertes von Haydn oder eines Klavierstücks von Satie…

Aber inwiefern kann Musik auch eine Sprache der Transzendenz sein? Da hängt alles davon ab, wie wir Transzendenz verstehen. Es ist schon wichtig, Transzendieren als den ständigen Überschritt des Geistes über alles Gegebene und Vorfindliche zu begreifen. Wir gehen ständig über unsere kleine Welt hinaus, denken weiter, denken an morgen und die fernere Zukunft, denken an den Tod, denken an das endgültige Ende oder den Übergang usw. Musik ist eine Sprache, die uns oft hilft, aus den Verklammerungen an das bloß Gegebene und Vorfindliche hinauszukommen. Musik hilft uns hinweg über die kleinlichen Fixiertheiten auf den Alltag im Jetzt, Musik treibt ins Weite, öffnet, lässt uns manchmal rasend machen im Überschreiten der Grenzen. Musik ist Sprache, in der wir eben lebensmäßig und praktisch „Transzendieren“.

Entscheidend ist jetzt in meiner Sicht: Das Transzendieren ist eine Kraft des Geistes, die etwas Wunderbares ist, die uns staunen lässt darüber, was sozusagen alles in uns steckt an schöpferischer Kraft des Übersteigens. Diese in uns anwesende Kraft IST das von uns nicht Zerstörbare, insofern Absolute, insofern Göttliche, wenn man denn davon schon an dieser Stelle der Überlegung sprechen will. Das Göttliche ist also gerade nicht in einem fernen Himmel. Das Göttliche ist IN uns als die unbesiegbare (unabwerfbare) Kraft des ständigen und ruhelosen Überschreitens. Dann erkennen wir durch die Musik: Wir SIND Überschreiten. Wir überschreiten uns selbst. Dank der Musik.

 

Diese Gedanken werden wir in unserem philosophischen Salon weiter besprechen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Zwei Opus-Dei-Bischöfe von Papst Franziskus abgesetzt.

Selbst das Opus Dei wird nicht mehr geschützt und protegiert: Zwei Opus Dei Bischöfe wurden von Papst Franziskus abgesetzt

Von Christian Modehn

Das ist eine Sensation: Das Opus Dei, vor dem alle (höheren) Kreise innerhalb der römischen Kirche weltweit Angst haben (aufgrund der üblichen Einschüchterungen etc.), dieses  Opus Dei also, ein ultra-konservativer katholischer Geheimclub internationaler Ausbreitung, wurde Weiterlesen ⇘

Das Christentum auf den “Punkt gebracht”: Was ist wesentlich, inspirierend, am christlichen Glauben ? Ein Vorschlag im RBB Kulturradio am 12. Oktober um 9.04 Uhr

RBB Kulturradio am 12. Oktober 2014 um 9.04 Uhr

Der Glaube auf den Punkt gebracht

Über das Wesen des Christentums

Von Christian Modehn

Die Frage, was ist denn eigentlich wesentlich im Christentum, im Sinne von entscheidend und damit auch möglicherweise anregend für eine Lebensorientierung, diese Frage bewegt doch noch viele Menschen. Diesem Thema ist die Sendung gewidmet.

Der Hintergrund: Wenn die Kirchen arm werden und an der Seite der Ausgegrenzten leben wollen, dann dürfen sie nicht mit einem komplizierten System aus Dogmen und Moralprinzipien „glänzen“. Diese Überzeugung vertritt mit Leidenschaft Papst Franziskus. Dabei wiederholt er alte theologische Weisheit: Der christliche Glaube ist einfach. Er hat seinen Mittelpunkt in einigen zentralen Erfahrungen von Sinn und Befreiung. „Man muss nicht Theologie studieren, um glauben zu können“, betont der protestantische Theologe Christoph Markschies von der Humboldt Universität, „das Wesen des Glaubens lässt sich in wenigen Worten aussagen“. Die „Kurzformeln des Glaubens“ werden wieder aktuell, der katholische Theologe Karl Rahner hat sie entwickelt. So werden Menschen ermuntert, persönliche „Glaubensformeln“ zu formulieren. Sie nennen das, worauf es wirklich ankommt.

Die zentrale Aussage der Sendung wird damit schon angedeutet: Eigentlich ist der christliche Glaube etwas sehr einfaches, und keineswegs dieses riesige ungetüme Lehrsystem, als das er oft sich präsentiert. Und damit stellt sich das Christentum auch dem philosophischen Gespräch. In diesem Beitrag kommt u.a. der bekannte Theologe Karl Rahner SJ zu Wort sowie der brasilianische Kardinal Evaristo Arns (Sao Paulo), der die Menschenreche als den Kern des Evangeliums versteht … und lebt.

“Mr. May” – ein philosophischer Film. Eine Empfehlung

„Mr. May“ – ein philosophischer Film

Trauer um die Vergessenen – Gemeinschaft der Verstorbenen.

Eine Empfehlung von Christian Modehn

Philosophie lebt überall. Keineswegs nur in Büchern, auf denen das Stichwort Philosophie zu lesen ist. Es ist keine Frage: Philosophie lebt auch im Film, sicher in jenen, die leibhaftige Menschen in den Freuden und Nöten Weiterlesen…

Jenseits des Wachstums. Barbara Muraca bietet Perspektiven für ein „gutes Leben“. Eine Buchempfehlung

Jenseits des Wachstums. Barbara Muraca bietet grundlegende Informationen und Perspektiven für ein „gutes Leben“

Hinweise auf ein wichtiges Buch von Christian Modehn

Es geht um die Befreiung von einer krankhaften Abhängigkeit und lebensfeindlichen Bindung: „Wie bei einer Sucht, die tief in unsere kollektive Vorstellungswelt eingedrungen ist und alle Aspekte des Lebens durchdringt, müssen wir von der durchdringenden Wachstumslogik mühsam befreien“.

Mit diesen Worten beschreibt sehr treffend die Philosophin Barbara Muraca (Universität Jena, ab 2015 Oregon State University) in ihrem neuen Buch „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“ (Wagenbach Verlag 2014) die große Herausforderung von heute und für die nächsten Jahre. Der von der kapitalistischen „Ordnung“ heftig verbreitete Glaube an das ständig fortschreitende und immer währende ökonomische Wachstum der Wirtschaft ist ein Wahn. Das “Immer mehr haben wollen“ erreicht nur eine Minderheit der Weltbevölkerung, der große Rest bleibt im Elend, die Natur wird total zerstört. Wer es noch nicht wahrhaben will: Klar ist und evident: Der Glaube an das Wachstum hat katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt, auf die Menschen; auch die Seele leidet unter dieser von den Herren dieser Wirtschaft heilig gesprochenen Gier; es leiden die Gesellschaften, es leidet das friedliche Miteinander in der einen Welt der einen Menschheit. Wachstum in Permanenz erzeugt Krieg. Das wussten schon die weisen Lehrer des Zen-Buddhismus.

Debatten über „Wege aus dem Wachstumswahn“ werden etwa bei den verschiedenen internationalen „Degrowth-Konferenzen“ ausgetauscht, die sich der Überwindung der Wachstumsideologie widmen, wie jetzt im September 2014 in Leipzig. Diese Tagung mit mehr als 2000 TeilnehmerInnen hat Barbara Muraca mit-organisiert.

Das neue Buch von Barbara Muraca bietet eine konzentrierte und klare Übersicht zum Thema. Neue Informationen und neue Literaturhinweise werden den „Aktivisten“ in den verschiedenen wachstumskritischen Bewegungen geboten; vor allem aber sind die Informationen bestens geeignet, sehr viele Menschen für die Überwindung der Wachstumsgesellschaft „wach zu machen“. Insofern gehört das Buch in weiteste Kreise! Es gilt, sich von einem „stillschweigenden Grundkonsens“ unserer Gesellschaften zu befreien, der sich in den Köpfen festsetzen will als unumgängliche „Alternativlosigkeit“.

Barbara Muraca betont, dass die Suche nach einer politischen und ökonomischen Gestaltung ohne Wachstum durchaus mit dem Begriff Utopie zu denken ist. Dabei versteht sie Utopie als „Öffnung von Denk- und Handlungsräumen“, die aus der technokratischen Welt des „immer mehr Habens“ herausführen. „Das Reale ist kein unveränderlicher Block von immer gleichen vorgegebenen Strukturen, sondern offen und in stetigem Wandel“ (S. 16). Utopie ist also alles andere als ein traumhafter, illusorischer Begriff; er enthält die Kraft, das Gespür für das „Real – Mögliche“ zu entwickeln. Und „real möglich“ ist eine Gesellschaft ohne (tödliches) Wachstum. „Utopie bedeutet, dass Wandel durch menschliches Tun hervorgebracht werden kann“ (S. 21).

Für viele Leser in Deutschland wird es hoch interessant sein zu erfahren, dass die ersten Impulse für eine Welt – Gesellschaft ohne Wachstums, im Sinne der Abnahme oder Reduzierung von Wachstum, in Frankreich zu finden sind, in der „Dé-Croissance-Bewegung“, seit 1973 durch André Amar zur Diskussion gestellt. Dazu bietet das Buch hilfreiche Informationen, auch zu dem wegweisenden Philosophen Serge Latouche. Das Thema ist klar: Es geht um eine „gut durchdachte Schrumpfung (Décroissance) in den westlichen Industrieländern“. Inzwischen wird über dieses Konzept mit unterschiedlichen politischen Zielvorstellungen debattiert. Die äußerst rechtslastige Nouvelle Droite in Frankreich hat sich – etwa über ihren Meisterdenker Alain de Benoist – formal dieser Begrifflichkeit bemächtigt, sie preist nun die klassischen Werte des Verzichts, der Bescheidenheit, der altvertrauten Familie, der Bodenständigkeit, der nationalen Kultur, der westlichen Welt im Anschluß an eine Kritik der (globalen) Wachstumgesellschaft. So kann eine demokratische Bewegung auch noch missbraucht werden.  Auch die Kritik an der Wachstumsideologie durch den konservativen Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel (etwa sein Buch „Exit“) wird von Barbara Muraca einer Kritik unterzogen. Miegel setzt eindeutig nur auf Wertewandel „statt auf Umverteilung und gesellschaftlicher Transformation“ (S. 61).

Die demokratische und politische Bewegung gegen das Dogma des permanenten ökonomischen Wachstums ist inzwischen in Spanien, Italien und vielen anderen Ländern in vielen Basisinitiativen lebendig. Wichtig ist auch, dass die indianischen Völker etwa Ecuadors das (uralte) Konzept des Buen Vivir (gutes Leben) in den Mittelpunkt stellen und sogar für eine Verankerung dieses Konzepts in der Verfassung sorgen konnten (s.S. 46ff). Leider hat sich die ökonomische Macht des Nordens (USA, Europa) als stärker erwiesen: Ecuador hat jetzt große Flächen des Regenwaldes für Erdölbohrungen freigegeben. „Buen vivir“ ist in Lateinamerika leider noch mehr Projekt als Realität.

In Deutschland, so Muraca, hat vor allem der Ökonom Nico Paech „dafür georgt, dass der Begriff Postwachstum breit bekannt wurde“ (S. 35). Auch über sein Konzept wird in dem Buch debattiert.

Das Buch zeigt eindringlich: Die Suche nach einer praktischen Überwindung der Wachstumsgesellschaft ist nicht eine aktuelle Aufgabe neben vielen anderen. Die Überwindung des „Götzen Wachstum“ (S. 51) geht ins Grundlegende, „sie fordert eine radikale Veränderung der Machtstrukturen und wird nicht ohne heftige Auseinandersetzungen zu realisieren sein“ (s. 87). Das andere Leben ist bereits unter uns, wie es die Occupy – Bewegung, die „Indignados“ in Spanien und anderswo zeigen: Es gibt überall die Kooperativen, Tauschbörsen, Reparaturwerkstätten, gemeinsam verwaltete (Stadt-) Gärten usw.. „Solche Experimente sind Laboratorien für gesellschaftliche Veränderungen, durch die viele Menschen motiviert werden, für Demokratie zu kämpfen“ (S. 89).

Zum “Welttag der Philosophie” am 20. November 2014 wird Barbara Muraca über “Gut leben” im Kulturzentrum “Afrika-Haus” in Berlin, Bochumer Str. 25 sprechen. Beginn um 19 Uhr. Eine Veranstaltung zusammen mit dem Wagenbach Verlag. Weitere Hinweise folgen.In jedem Fall schon jetzt: Dazu herzliche Einladung!

Barbara Muraca, „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“. Wagenbach Verlag Berlin, August 2014, 94 Seiten. 9.90 Euro.

Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”. Ein Buchhinweis in PUBLIK-Forum

Kürzlich veröffentlichte die christliche und ökumenische Zeitschrift PUBLIK FORUM (Heft 13/2014, Seite 55) eine kurze Besprechung des wichtigen Buches von Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”. Wir bieten hier den Text noch einmal für jene, die PUBLIK FORUM nicht lesen.

Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”.

Shlomo Sand, weltweit bekannter und geschätzter Professor für Geschichte in Tel Aviv, bietet mehr als ein persönliches Bekenntnis. Er kann aus objektiven Gründen nicht länger Jude sein, weil er den heutigen Staat Israel ablehnt. Dabei gibt es für ihn keinen Zweifel, als polnischer Jude, 1942 in Österreich geboren, für das Existenzrecht Israels einzutreten. In dem „jüdischen Staat“ lebt er seit 1949. Aber gerade diese Definition findet er unerträglich. Denn Israel bevorzugt die Bewohner, die dem jüdischen Volk zugehören. Dabei ist es ein Mythos, so wörtlich, über die jüdische Rasse den Staat Israel zu definieren. Die „Rasse“ der Hebräer gibt es nicht. Jude, meint Sand, sei man einzig durch sein religiöses Bekenntnis. Als Atheist möchte er aufhören, als Jude zu gelten, kann es aber nicht, weil er vom Staat unaufhebbar dem „Volk“ zugerechnet wird. In dieser „Volksideologie“ sieht Sand zudem die Wurzel der verhängnisvollen Besatzungspolitik. Er plädiert für eine „republikanische Identität“ Israels mit dem absoluten Respekt der Menschenrechte und einer Zweistaatenlösung mit Palästina. Das wichtige Buch verdient intensive Diskussionen.

Shlomo Sand: Warum ich aufhöre, Jude zu sein.  Propyläen Verlag, 2013. 156 Seiten. 18 €

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

PS: „Shlomo Sand hat Intelligenz und Humor. Er schreibt, wie Professoren meist nicht schreiben können“, schreibt der Publizist Rupert Neudeck in Kölner-Stadt-Anzeiger, am 06.12.2013.