Gott ist nicht tot, vielleicht hat er nur neue Kleider? Ein Katechismus des Mitgefühls.

Gottes „neue Kleider“. Der niederländische “Katechismus des Mitgefühls”.

Ein neuer Katechismus – eine Einladung, selber zu denken und den eigenen Glauben zu entwickeln.

In meiner Ra­dio­sen­dung im NDR (in der Reihe “Glaubenssachen” am 19.2. 2016) mit dem Titel “Glauben ist einfach” (klicken Sie hier) wurde der niederländische Katechismus des Mitgefühls kurz erwähnt. Einige HörerInnen waren daran so interessiert und fragten, ob es diesen menschenfreundlichen und un-dogmatischen Katechismus auch auf Deutsch gibt. “Leider nicht”, heißt meine Antwort. Ich habe aber 2010 einige ausführlichere Hinweise zu diesem bemerkenswerten Buch geschrieben, Hinweise, die ich hier noch einmal, am 21.2.2017, vorstelle:

Die 150 Abgeordneten des Niederländischen Parlaments (Tweede Kamer) erhalten dieser Tage (also 2010) einen Katechismus geschenkt. Ungewöhnlich, in einem säkularisierten Land wie Holland. Dabei handelt es sich nicht um den Versuch, klerikale Machtansprüche in der Politik durchzusetzen, das liegt den Autoren des ungewöhnlichen Katechismus auch völlig fern. Denn sie treten als “freisinnige, liberale Christen” entschieden für die Trennung von Kirche und Staat ein. Aber ihnen liegt daran, mit allen Menschen, auch mit Politikern, in einen partnerschaftlichen Dialog einzutreten, nicht über Dogmen, wohl aber auch ethische Orientierungs  – Vorschläge!

Es ist schon komisch: Ausgerechnet in Holland erscheint dieser Tage ein neuer Katechismus. Ist das Wort „Katechismus“ nicht völlig out, völlig verbraucht, gerade in den Niederlanden, wo nur noch etwa 35 Prozent der Bevölkerung Mitglieder einer christlichen Kirche sind und die wenigsten Menschen von dogmatischen Lehren unterwiesen werden wollen? In dieser Situation muss man schon etwas Außergewöhnliches vorweisen: Der neue holländische Katechismus  konnte entstehen, weil die vier freisinnigen christlichen Kirchen Hollands angesichts des zunehmenden Einflusses konservativer und reaktionärer Kirchen deutlich ihre eigene Stimme erheben, die Stimme der Freiheit, die dem Nachdenken allen Raum lässt und eben keine fertigen „ewigen“ Wahrheiten präsentiert. Es sind keine Leitungsgremien, keine Bischöfe und keine Päpste, die diesen Katechismus verfasst haben, sondern zwei Pfarrer, die im ständigen Austausch mit der Kultur der Gegenwart stehen: Christiane Berckvens – Stevelinck, Theologin der Remonstranten Kirche, und Ad Ablass, Theologe der freisinnigen Strömung innerhalb der Protestantischen Kirche (PKN) legen ein Buch vor, das in 12 Kapiteln Grundworte der menschlichen Kultur erläutert, Grundworte, die ihre Wurzeln in den biblischen Traditionen haben.  Am Anfang steht die „Compassie“, das Mitleid, am Ende die dem Mitgefühl und der Empathie verwandte Liebe. Andere Themen sind Gleichheit, Verbundenheit, Versöhnung, Gerechtigkeit, Friede, Wahrheit, Freiheit, Berufung, Glaube und Gott. Das neue Buch nennt sich ausdrücklich „Katechismus des Mitleids“, ein zweifellos ungewöhnlicher, wenn nicht gar provozierender Titel. Aber er deutet das Ziel an: Die LeserInnen werden eingeladen, angesichts der humanen, ökologischen und politischen Katastrophen der Gegenwart das Mitleiden zu entwickeln, nicht nur als spirituelle Haltung, sondern vor allem als aufgeklärtes Handeln zugunsten der Leidenden. Aber dieser Appell zum Handeln ist nicht dick aufgetragen, vielmehr bieten die einzelnen Kapitel Informationen und meditative Impulse zu diesen Grundworten humaner Existenz. So ist ein Buch entstanden, das sich wohl am besten in einer eher „meditativen und behutsamen Lektüre“ erschließt. Nebenbei: Das Buch verdankt wesentliche Anregungen der britischen Philosophin und ehemaligen katholischen Nonne Karen Armstrong, die sich ausdrücklich für eine „Charta des Mitgefühls“ einsetzt. So gehört dieses Buch zu dem weltweit entstehenden Netwerk „Compassion“! Alle Kapitel des Katechismus werden „eingeleitet“ mit schönen Nachdrucken von Gemälden, Chagall ist genauso vertreten wie Rembrandt, Claudio Taddei genauso wie Caravaggio oder Ferdinand Hodler. Die eigens für das Buch gefertigten Gemälde der Künstlerin Brigida Almeida aus Utrecht beschließen jedes Kapitel. Im Text werden die Leser mit einer Fülle an Informationen aus der Literatur, dem Film, dem Theater konfrontiert, Informationen, die gleichermaßen die Schwierigkeiten wie die Chancen einer Lebenshaltung vorstellen, die sich von den 12 „Katechismus – Grundworten“ inspirieren lassen will, biblische Perspektiven sind jeweils ein Kapitel unter den anderen. Das ist der typische freisinnige Geist, dass keinem „Bibel – Fanatismus“ gehuldigt wird, sondern spirituelle Inspirationen auch im „weiten Feld“ der Religionen und Kulturen präsentiert werden. Sympathisch werden es Berliner finden, dass zum Thema Freiheit schon im Titel auf den berühmten Ausspruch John F. Kennedys verwiesen wird: „Ich bin ein Berliner“, ein Ausspruch, der heute als Bekenntnis gegen alle Formen des Totalitarismus verstanden wird. Äußerst sympathisch ist auch, dass das Kapitel über die Liebe mit einem Bild von Julius Schnorr von Carolsfeld eröffnet wird, das die beiden Liebhaber David und Jonathan zeigt., sicher ist auch die Entscheidung für dieses Bild typisch für Freisinnige in Holland: Die Remonstranten waren ja die erste Kirche weltweit, die schon 1986 homosexuelle Paare –gleich welcher Konfession- in ihren Kirchen segnete. Sympathisch ist auch, dass der ungewöhnliche, progressive katholische Theologe Karl Rahner als Verteidiger der Mystik erwähnt wird.

Dies ist wohl der entscheidende Eindruck: Dieser auch vom Layout so schöne und freundliche Katechismus der freisinnigen Christen plädiert für die Mystik, sicher für eine moderne, eine durch die Aufklärung „hindurchgegangene” Mystik: Aber doch wird aller Nachdruck gelegt auf das innere Erleben des Göttlichen, das sich im Handeln ausdrückt. In der Mystik sehen die Autoren ohnehin die Zukunft des Religiösen. Interessant könnte es sein, wie sich die freisinnigen Kirchen selbst zu Orten (multi-religiöser) Mystik entwickeln. Vielleicht ist diese Mystik das neue Profil der Freisinnigen und ihrer Gemeinden? Vielleicht können sie mit diesem Profil weitere undogmatische, aber mystisch Interessierte einladen? Die niederländischen Autoren sind jedenfalls überzeugt: Gott ist nicht tot, er zeigt heute nur neue, ungewöhnliche „Gesichter“. Er hat vielleicht neue Kleider angelegt, wie die Autoren schreiben.

“Catechismus van de compassie”. Erschienen im Verlag Skandalon, in Vught, Holland. ISBN 978-90-76564-94-4.

 

Glauben und Wissen: Getrennt und doch verbunden? Ein religionsphilosophischer Salon am 31. März 2017

Unser nächstes Salon-Gespräch findet am Freitag, den 31. 3. 2017, um 19 Uhr in der Galerie Fantom, Hektorstr. 9 in Wilmersdorf, statt. Dazu herzliche Einladung.

Unser Thema klingt abstrakt, die Sache aber ist spannend: “Glauben und Wissen”.

Das Thema bezieht sich unmittelbar auf elementare Fragen der eigenen Lebensgestaltung:

Wo und wann und wem soll ich glauben, Glauben schenken, vertrauen? Soll ich die Inhalte eines religiösen Glaubens mir wissend aneignen?

Andererseits:  Wo und wann soll ich die Form des forschenden Wissens (absolut ?) hochschätzen? Soll ich persönlich in meinem Leben auf Glauben ganz verzichten und nur dem Wissen, der Wissenschaft, der Naturwissenschaft, ja was denn dann: glauben? Bekanntlich ist der Jetzt-Zustand einer Wissenschaft nur ein vorübergehender, ich glaube eben notwendigerweise, dass die Wissenschaft weiter und besser forscht usw…

Das zeigt schon, dass Wissen und Glauben keineswegs (die feindlichen) Alternativen im Lebensvollzug sind, die förmlich parallel nebeneinander stehen. Und wo man sich für die eine oder die andere entscheiden kann.

Die Frage also ist:  Welche Formen des im Alltag nun einmal immer schon gelebten Glaubens und Vertrauens gibt es? Weisen einige dieser alltäglichen Glaubensformen sogar in philosophisch vertretbare Fomen religiösen Glaubens? Ist die Ablehnung des reflektierten religiösen Glaubens zugleich eine maßlose Überschätzung “der” Wissenschaften?

Mit diesen Fragen werden sich gewiss alle an dem Salon Interessierten TeilnehmerInnen vorweg schon befassen, so dass sich ein weiter führendes Gespräch ergibt. Ich weise noch einmal auf die kleine Studie des Berliner Philosophen Volker Gerhard hin: “Glauben und Wissen”, Reclam 2016. Wer auch nur die Schlußkapitel liest, kommt mit eigenem Denken in Schwung.

Ich bitte wegen der begrenzten Anzahl der Plätze um eine Anmeldung: christian.modehn@berlin.de

 

 

 

Der Papst. Zu einem neuen Buch von Kardinal Gerhard Müller, Rom.

Ein Hinweis von Christian Modehn. Veröffentlicht am 16. Februar 2017

1.

Die Widmung Müllers gleich zu Beginn zeigt bereits die Richtung des auf über 600 Seiten ausgebreiteten Inhalts: Auf Latein geschrieben, wie es sich wohl für den obersten Glaubenswächter in Rom gehört, sagen schon die ersten beiden Zeilen sehr viel, von Chr. Modehn übersetzt:  „Der heiligen römischen Kirche, der Mutter und der Lehrmeisterin aller Kirchen…. widmet der Autor dieses Buch“.

2.

Die römische Kirche als Lehrmeisterin aller Kirchen … und der Papst dann als oberste Lehrer aller, diese Worte, 2017 ausgesprochen, sind doch verstörend. Diese Behauptung ist eine schlechte Empfehlung für alle weiteren ökumenischen Bemühungen im Lutherjahr 2017: Rom als die „Mutter aller Kirchen“ muss doch von allen (auch abtrünnigen Söhnen) geliebt werden. Zurück zur Mutter-Brust könnte man denken… Der Kardinal in seinem Vatikan-Palast sieht „bislang unüberbrückbare dogmatische Gegensätzen zwischen Katholiken und Protestanten“ (S. 489), nämlich im Blick auf das Weihesakrament! Diese Gegensätze sehen viele Katholiken an der Basis sicher nicht mehr. Sie wollen darum endlich gemeinsam Abendmahl feiern mit Protestanten, siehe etwa das aktuelle und richtige Statement von Pater Klaus Mertes SJ, klicken Sie hier. Aber der hohe Herr im vatikanischen Palast insistiert auf der dogmatischen Überlegenheit des Katholizismus, also bestehen die unversöhnten Gegensätze fort.

3.

Wie sich katholischer Glaube zusammensetzt, dürfte auch für Protestanten interessant sein, Müller sagt: „Er ergibt sich aus der Heiligen Schrift, dem Glaubensbekenntnis, den Katechismen, den bisherigen Lehrentscheidungen der Kirche“ (S. 332). Für die Freunde der „liberalen wissenschaftlichen Theologie“ also der Hinweis meinerseits: Von Vernunft als Quelle eines humanen Glaubens ist da keine Rede… Aber wichtig ist der folgende Satz von Müller, der alle Korrektur, alle Zurücknahme früherer, jetzt aber im Denken vieler doch heute überholter Lehren betrifft: „Die schon entschiedenen Glaubensfragen können auch nicht mit dem Vorwand ihrer Weiterentwicklung ins Gegenteil verkehrt werden“ (332). So etwas nennt man wohl einen steinernen, leblosen Dogmatismus, dem jegliche Lebendigkeit und Wandelbarkeit durch das gelebte (religiöse) Leben und Erkennen abgeht. Warum? Um die eigene Macht- und Privilegien-Position unbedingt zu halten…

4.

Dieses umfangreiche Opus des Kardinals erscheint gleichzeitig mit einem Buch, das ein Mann verfasst hat, der Jahre lang als Junge von einem Kapuzinerpater in der Schweiz missbraucht wurde: Daniel Pittet ist der Name des Opfers. Der Priester, der immer wieder vergewaltigte und dann von einem Kloster zum anderen versetzt wurde, heißt Joel Allaz, er lebt in einem Kloster in der Schweiz. Für dieses Buch von Daniel Pittet, voller schlimmster Erinnerungen, hat Papst Franziskus ein Vorwort geschrieben! Das passiert ja nicht alle Tage: der Papst als Autor eines Vorwortes. Der Titel de Buches: Mon Père, je vous pardonne (éditions Philippe Rey). Für Müllers Werk über den Papst hingegen hat Papst Franziskus nichts geschrieben.

5.

Kardinal Müller schildert auf 90 Seiten gleich zu Beginn seine glanzvolle Karriere voller tiefer Gläubigkeit im „Dienst“ „der“ Kirche. In diesem biographischen Teil lobt der Kardinal Papst Benedikt XVI. in den höchsten Tönen, er konnte „auf eine bewundernswerte Kenntnis der Theologie- und Dogmengeschichte zurückgreifen“ (S. 95 usw.)…Das theologisch und exegetisch völlig veraltete und überholte dreibändige Werk Ratzingers über Jesus von Nazareth lobt Müller selbstverständlich:

Beide, Ratzinger und Müller, sind von demselben Geist: Sie verstehen die Aussagen des Neuen Testaments im Grunde wortwörtlich, die sie zur Verteidigung ihrer eigenen Position brauchen: Also: Jesus hat den armen Fischer Petrus als ersten Papst gewollt und bestellt. Jesus von Nazareth wollte eine Kirche gründen, die katholische Kirche, natürlich: Solche bibelwissenschaftlichen Behauptungen kann heute kein Theologiestudent mehr in einem Exegese-Seminar vertreten. Eminenz Müller tut es. Da wird eine fundamentalistische Bibeldeutung betrieben, passt dies zu einem einstigen Theologieprofessor (in München)? Soll man über den Satz Müller lachen oder weinen? Wenn er sagt: Jesus habe also den Apostel Simon (Petrus) zum Felsen gemacht, auf dem er seine Kirche aufbauen will: „Damit ist Jesus selbst der Urheber der Verfassung der Kirche“. Fehlt bloß noch, dass sich Jesus von Nazareth irgendwann bei einem Spaziergang durch Palästina, schon die Glaubenskongregation in Rom, einstmals das grausame Heilige Offizium und die Inquisitionsbehörde wünschte…Interessant wäre es, wenn der Satz aus dem Matthäus-Evangelium (23,8) mit der gleichen fundamentalistischen Energie im Vatikan interpretiert und vor allem gelebt würde, der Satz aus dem Munde Jesu an seine Jünger heißt: “Nennt euch nicht Meister”. Also, Ihr seid keine Meister, keine obersten Lehrer, keine Direktoren eines heiligen Offiziums…

6.

Während die Lobeshymnen auf Ratzinger recht lang ausfallen in der Biographie Müllers, sind die Worte zu Papst Franziskus eher karg. Und ich weiß nicht, ob Müller sich des Lobes, der Ironie oder des Zynismus bedient, wenn er die wenigen Zeilen im Kapitel “Meine Lebensgeschichte” zu Papst Franziskus wiederum auf Latein mit der Überschrift versieht: “Feliciter regnans“, also „glücklich“ bzw. auch „mit Erfolg regierend“. Man muss nur die Weihnachtsansprachen von Papst Franziskus vor der Kurie in Rom lesen, um zu sehen: Dieser Papst ist mit diesem seinem Hof (curia) höchst unzufrieden. Und mit den ultrakonservativen neuen Orden ist er ebenfalls nicht glücklich, geschweige denn mit dem Finanzgebahren des Vatikans. Dass er mit einer prunkvollen Palast-Wohnung nicht glücklich war, zeigt sein bescheidenes Leben in einer Art Hotel „Haus St. Marta“ usw. usw…

Das soziale Engagement des angeblich glücklich regierenden Papstes erwähnt Müller ausführlicher: Dass im Sozialen auch ein neues theologisches (!) Amtsverständnis sichtbar wird, sagt Müller nicht. Für ihn ist Papst Franziskus eine Art sozialer Prophet. „Der bessere Theologe bin ich, Müller“, denkt man dann wie automatisch.

7.

Durchgehend wird, beinahe für den philosophisch gebildeten Leser unerträglich, die feindselige Abwehr des Herrn Müller gegenüber der Aufklärung, dem “Freidenkertum” (was auch immer Müller darunter verstehen mag), dem liberalen Denken und dem Kulturprotestantismus ausgebreitet. Von „Selbstdenkertum der Moderne“ ist abfällig die Rede, was soll diese Bezeichnung? Würden mehr Menschen selbst denken und urteilen, würde es besser in der Welt und der Kirche aussehen. Dieser Theologe bejaht nicht die Aufklärung, die Trennung von Kirche und Staat und die Laizität. Wie sehr schätzt er eigentlich die Demokratie? Mit dem Philosophen und Politiker (und Berlusconi-Freund) Marcello Pera ist Müller der Meinung, dass die (in meiner Sicht ja bloß ansatzweise) “Versöhung von Christentum und Moderne” ein Fehler für die katholische Kirche ist (399).

8.

Müller betont einmal mehr seine Freundschaft mit dem Befreiungstheologen Gustavo Gutiérrez aus Peru. Müller betont, wie wichtig ihm die Befreiungstheologie wurde. Mit seiner Freundschaft zu Gutiérrez will er die Theologie der Befreiung spalten, in eine gute (moderat wie Gutierrez) und in eine böse, weil radikale auch Papst-kritische, repräsentiert in dem großen Leonardo Boff… Müller sagt, er habe auch in Peru Theologie doziert. Ob er dort Befreiungstheologie dozierte oder aus seinem Dogmatik-Handbuch aus Regensburg vorgelesen hat, wissen wir nicht so genau. In jedem Fall hat das Leben in der angeblich bitteren Armut Perus den Herrn Kardinal Müller nicht dazu bewogen, nun in Rom weiterhin explizit den Impulsen der Befreiungstheologie zu folgen. Oder seinen eigenen Wohn-Palast aufzugeben und etwa im Sinne der Befreiungstheologie arm in einem Hochhaus in der römischen Vorstadt zu wohnen. Nach einer jüngsten Veröffentlichung des Vatikan-Insiders, des Journalisten Gianluigi Nuzzi „bewohnt Müller laut internen Dokumenten eine knapp 300 Quadratmeter große Wohnung im Zentrum Roms. Sie ist dem Leiter der Glaubenskongregation vorbehalten und gehört dem Vatikan. Für viele dieser Wohnungen ist keine oder geringe Miete fällig“ (Wochenblatt Regenburg vom 30.12. 2015, Autor Christian Eckl).

Also: Nichts als Nebel, wenn die Freundschaft zu Pater Gustavo Gutierrez OP so deutlich gepriesen wird und sich Kardinal Müller als Freund der Armen und ihrer Theologie etablieren will, siehe dazu schon einige Hinweise zu Müller und seiner Freundschaft mit Gutiérrez vom 2.1. 2016, klicken Sie hier. .

9.

Man suche bitte im Register des Buches nach Namen, die zu dem Thema Papsttum von höchster wissenschaftlicher Bedeutung sind. Hans Küng sucht man vergeblich. Sein Name kommt nicht vor. Küng ist immer noch ein Verschmähter, zu klug für die Beamten im Vatikan. Er darf auch in Herrn Müllers Papstbuch nicht vorkommen. Küng hat bekanntermaßen das wichtige Buch „Unfehlbar“ geschrieben. Auch Hubert Wolf, Kirchenhistoriker, sucht man vergebens. Auch Leonardo Boff, den Befreiungstheologen. Hingegen kommt Lenin zweimal vor… Den Namen Benito Mussolini sucht man auch vergebens, er hat bekanntlich den Deal geführt, der zur Gründung des Staates Vatikanstadt führte. Nebenbei: Zur doppelten Rolle des Papstes als geistlicher Führer und als Staatschef habe ich bisher nichts gefunden in dem Buch von Müller. Auch den Namen Lorenzo Valla sucht man vergebens. Er hat schon im 15.Jahrhundert nachgewiesen, dass die so genannte Konstantinische Schenkung eine Fälschung ist. Aber der reaktionäre Papst-Verteidiger Joseph de Maistre hätte gut in die Reflexionen von Herrn Müller gepasst.

Auch die Literaturliste, offenbar die verwendete Literatur, ist dürftig. Hans Küng wird auch da nicht erwähnt. Hingegen Dietrich Bonhoeffer, den Müller manchmal zitiert, aber nicht dessen Überzeugung, man müsse als Christ heute so leben, als gäbe es Gott nicht usw…Der italienische Politiker Marcello Pera wird erwähnt mit seinem Buch über (bzw. gegen) den Relativismus. Pera stand und steht Berlusconi sehr nahe. Insgesamt ist das ein klägliches, sehr auf konservative Autoren gerichtetes Literaturverzeichnis. Man wird neugierig, wenn völlig entlegene Werke im Literaturverzeichnis auftauchen, etwa das Buch von Richard Baumann über den Papst, das in einem Verlag erschien, der sonst explizit traditionalistisches Schrifttum verbreitet. Baumann war hoch umstrittener Konvertit zum Katholizismus. Konservative Autoren als Literaturempfehlung im Verzeichnis, Remigius Bäumer, Louis Bouyer, Kardinal Walter Brandmüller, Heinrich Denifle, Ludwig Ott, Kardinal Leo Scheffczyk  usw…Manch ein Leser hätte förmlich Lust, Bücherpakete von aktuellen Theologen nach Rom zu senden…

10.

Man wird den Eindruck wieder einmal nicht los: Diese Art von offizieller, man möchte sagen, Vatikan-staatstragender Theologie erweckt Assoziationen an das Niveau der alten Parteihochschulen der SED und anderer kommunistischer Parteien: Da wird hier wie dort nur selbst-bezogen argumentiert; die offiziellen Texte werden nach offizieller Lesart bearbeitet und zitiert; Funktionäre zitieren sich gegenseitig, Parteibeschlüsse bzw. Bischofsbeschlüsse, Konzilienbeschlüsse, Ergebnisse bilateraler Arbeitsgruppen usw.  werden hin und her zitiert. Die „Argumente“ dienen dem Machterhalt der Institutionen und ihrer Profiteure. Von kritischem, wenigstens wachem Geist kein Spur. Dies ist das Elend der offiziellen katholischen Theologie.

Sie ist in unserem Beispiel keine unabhängige Wissenschaft. Sie kennt keinen Abstand zum privaten Glauben des Autors Müller, der oftmals esoterisch gefärbt ist. Wie anders als esoterisch, also nicht-theo-logisch, d.h. logos-mäßig, vernünftig argumentierend, kann man denn diesen Satz von Herrn Müller (S. 102) lesen zur Ehe-Theo-„logie“: „Die Ehe ist als Sakrament eine vollkommene Analogie der hingebenden Liebe Christi am Kreuz, durch die er sich die Kirche als Braut erworben hat… Weil Gott selbst (!) die christlichen Ehegatten aufgrund ihres freien Ja-Wortes miteinander verbunden hat, sind sie darum in Christus ein Fleisch geworden. Und darum ist die Ehe auch innerlich unauflösbar“ (S. 103). Nur einmal als Test: Man lese bitte diesen Satz jungen Leuten vor, vielleicht Eheleuten in einem Elendsviertel in Lima, Peru, oder in Berlin-Kreuzberg laut vor und überprüfe die Reaktionen…  Man sieht nur an diesem Beispiel, dass Müller mit seinem Papst-Buch auch die heute angeblich so furchtbar wichtigen Themen der Ehe-Theologie mitbehandeln will.

11.

Es ist ein Beleg für die abgehobene Sonderrolle in einer abgeschlossenen Sonderwelt im Vatikan, dass sich Kardinäle, so auch Herr Müller, mit dem eher zum Schmunzeln führenden Namen „Gerhard Kardinal Müller“ tatsächlich als Autor präsentieren… und bitte auch in ergebenen katholischen Kreisen so angeredet werden wollen. Und die Ergebenen tun das auch.  Ich hätte spaßeshalber Lust, meinen kurzen Beitrag so zu zeichnen: „Christian Journalist Modehn“. Geschrieben am Hochfest der heiligen Juliana von Nikomedien oder wahlweise am Hochfest des seligen Papstes Gregor X. Dies ist säkular gesprochen: Der 16. 2. 2017.

Noch etwas nebenbei: Kardinal Müller hat sein Opus, wie er auf Seite 16 im Vorwort schreibt, vollendet zu Rom, „am Hochfest der Cathedra Petri 2017“. Für alle nicht so einschlägig Gebildeten: Dieses Fest feiern die Kardinäle in Rom und anderswo am 22.Februar. Es heißt auf Deutsch: “Petri Stuhl-Feier”. Gefeiert wird der Sitz Petri! Verwunderlich ist: Das Vorwort wurde laut Datierung (22.2. 2017) von Herrn Müller geschrieben nach dem Erscheinen des gedruckten Werkes. Ich habe das Buch seit dem 14. 2. 2017 in den Händen. Ist da etwa ein Druckfehler passiert? Oder findet da eine Art klerikales Bedürfnis einen Ausdruck, dieses Buch an einem Papstfeiertag zum Druck abgegeben zu haben?

Das Buch “Der Papst. Sendung und Auftrag” ist am 14.2.2016 im Herder Verlag erschienen. Es wird weitere Debatten über den Zustand katholischer Theologie in Rom auslösen. Dieser Beitrag war eine erste kritische Ermunterung, in dieses voluminöse und verstörende Werk zu schauen…Wenn man sich die Zeit nehmen will, in die “Tiefen” einer reaktionären klerikalen Theologie einzudringen…Diese Theologie aber ist Ideologie: Sie sammelt nur Argumente zur Verteidigung der bestehenden Papstkirche…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Was ist Populismus? In der Politik … und in den Kirchen.

Ein Hinweis auf das Buch „Was ist Populismus?“ von Jan-Werner Müller

Von Christian Modehn

Jan-Werner Müller arbeitet als Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Princeton University (im Bundesstaat New Jersey, USA). Er nennt seine Studie zum Populismus (2016 bei Suhrkamp erschienen) ein Essay. Dabei handelt es sich weit mehr als um einen Versuch: Das Buch, 160 Seiten, ist eine grundlegende Einführung in ein nicht nur politisches, sondern im weiteren Sinne kulturelles Phänomen, den neuen Populismus. Die zahlreichen Belege und Literaturhinweise machen diese Studie noch wichtiger.

Um zur Lektüre und zur Debatte zu ermuntern, nur einige grundlegende Erkenntnisse, die Jan-Werner Müller vorstellt:

Das erste sehr ernste Problem ist: „Demokraten müssen schlicht akzeptieren, dass das Volk als solches sich nie fassen lässt“ (60). Denn wo zeigt sich „der wahre Wille des wahren Volkes“

Im Populismus wird eine Vorstellung von einem angeblich guten und reinen Volk propagiert, dieses Volk steht den angeblich nur korrupten und angeblich nur unmoralischen Eliten gegenüber (42). Das gewöhnliche Volk (mit dem vorausgesetzten angeblich gesunden Menschenverstand) ist das „eigentliche Volk“ (42).

„Populistische Regime“ (Müller nennt in dem Zusammenhang Putin und Orban) halten noch an einigen demokratischen Institutionen fest. Aber es handelt sich nicht um „funktionierende Demokratien“, sondern um „defekte Demokratien“ (75 f.)

Tendenziell ist Populismus immer antidemokratisch (91).

Populisten glauben und schreien es raus: “Wir sind das Volk“ im Sinne von „Nur wir allein sind das Volk“. Demokratisch und vernünftig akzeptabel wäre allein der Slogan: “Wir sind AUCH das Volk“ (63), vielleicht mit der Ergänzung:“ „Und Ihr habt uns vergessen“ (ebd.)

Nebenbei: Kurz vor dem Untergang der DDR Diktatur übernahm tatsächlich das Volk den Spruch „Wir sind das Volk“, um der Clique der SED Herrscher den Machtanspruch abzusprechen. Die DDR Opposition wehrte sich also zurecht gegen eine Diktatur. Heutige Populisten, etwa Wilders, Le Pen, FPÖ und Trump usw. wehren sich mit ihren totalisierenden Sprüchen gegen demokratische Regierungen… Sie reden dem Volk ein zu glauben: „Er, (der Führer), will, was wir wollen“ (47), so ein Slogan von Herrn Strache FPÖ. Warum also noch debattieren…der Volkswille ist doch im Führer repräsentiert (48).

Im Ganzen gesehen ist der Populismus anti-pluralistisch (44). Diese Abwehr der Pluralität in einer Gesellschaft und einem Staat (und einer Kirche könnte man hinzufügen) ist in der Sicht des politischen Philosophen Jan-Werner Müller am verheerendsten. Denn die anti-pluralistische (jegliche legitime Vielfalt abweisende) Haltung führt politisch zu „Alleinvertretungs-Ansprüchen“ (70), also zur Diktatur. Loyalitätsbeschaffung durch Massenklientelismus; Unterdrückung der Zivilgesellschaft und wenn möglich der Medien“ (70). Typisch für diese Haltung ist das Trump Regime, es entspricht den drei genannten Taktiken des Populisten. Beamte werden ausgetauscht, der gesamte Staatsapparat wird in Besitz genommen usw.

Zum niederländischen Populisten Geert Wilders und seine Partei PVV nennt der Autor etliche Details: Wilders spricht von Freiheit und Toleranz, aber es ist er allein, der definiert, was diese Werte sind und wer zum „wahren niederländischen Volk gehört“ (27). Wilders propagiert die Ideologie, das Volk sei durch die gegenwärtige Regierung und ihre internationalen Verbindungen „beraubt“ worden: “Wir wollen unser Land zurück“( 34). Wilders redet dem Volk ein, selbst zum (unterlegenen) Volk zu gehören, dabei ist er seit 1990 ein Karrierepolitiker (51). Wilders bestimmt mit seinen islamfeindlichen Vorgaben bis heute die Richtung der niederländischen Politik, obwohl er nie offiziell Regierungsverantwortung übernahm“ (97)

Wie mit den Populisten umgehen? Der Autor hält es für falsch, die Ausgrenzung der Ausgrenzenden (Populisten) zu betreiben, er ist gegen das Motto „Mit denen reden wir nicht“ (96).

Statt moralisch Populisten zu diskreditieren, sollen Demokraten mit Populisten diskutieren, „um die Fakten zurecht zu rücken. Bei Volksverhetzungen durch Populisten hilft das Strafrecht“ (131).

Für unsere religionsphilosophischen Interessen ist es wichtig, sehr bald die Nähe der Kirchen zu populistischen Strömungen zu untersuchen. Die Kirchen, vor allem die katholische Kirche, schätzt ja den Pluralismus in ihrer eigenen Organisation nur sehr bedingt und sehr begrenzt. Von daher gab (Nähe zum Faschismus Hitlers und Mussolinis) und gibt es immer wieder Unterstützung für populistische Regime: Siehe die Kirchen heute in ihrer Unterstützung für Orban in Ungarn oder für die polnische PIS Partei oder die Rolle der orthodoxen Staats-Kirche in Russland, gerade dazu hat der Religionsphilosophische Salon Berlin etliches publiziert.

Es wäre weiter zu untersuchen: Wie bestimmte zentrale moralische Positionen der Kirchen, etwa die ungebrochene heftige dogmatische Verteidigung „des“ ungeborenen Lebens und die Zurückweisung jeglichen gesetzlichen Schwangerschaftsabbruches (etwa in katholisch dominierten Ländern Lateinamerikas, wie in der Dominikanischen Republik oder in Nicaragua…) zur Unterstützung populistischer Systeme führen. Es wird in diesen kirchlichen Kreisen nicht gefragt, wann personales Leben beginnt, das Selbstbestimmungsrecht der Frauen soll mit Gewalt verhindert werden…

Die Liebe zu den Menschenrechten ist in den Kirchen sehr partiell, die Menschenrechte werden oft dann beschworen, wenn die Kirchenführer darin für sich selbst oder die Kirchen im ganzen einen Vorteil sehen.

Es wäre weiter zu untersuchen, was angesichts des Populismus die viel besprochene katholische „Theologie des Volkes“ und der „Volksreligion“ bedeuten kann. Und vor allem: Was bedeutet die Rede vom „neuen Volk Gottes“ als Definition der katholischen Kirche im 2. Vatikanischen Konzil (gegenüber dem üblichen, aber starren Leib-Christi-Begriff) heute. Welches Volk meinten eigentlich die Bischöfe beim Konzil? War es das Volk der gleichberechtigten Katholiken? Sicher nicht. Die nach wie vor undemokratisch regierende Kirchenführung, angeblich göttliches Recht und die Rolle des dominierenden und unkontrollierbaren KLERUS blieb im Volk-Gottes-Denken unangetastet. Und es ist bis heute so. War das eine Kichenreform im Konzil? Eher wohl nicht.

Die internationale kritische katholische Basis – Bewegung nannte sich meines Wissens zu Beginn: „AUCH wir sind Kirche“. Jetzt nennt sie sich durchaus „etwas“ absoluter gemeint: „Wir sind Kirche“. Wir sind die “Kirchenvolksbewegung”. Dieses sehr anspruchsvolle Motto „Wir sind Kirche“ ähnelt doch durchaus dem Motto der DDR-Opposition „Wir sind das Volk“. Von da aus weiter gedacht: Sieht sich also die kritische Kirchenvolksbewegung auch im Gegenüber zu einer Diktatur, wie einst die DDR-Opposition zur SED Führung?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

The­sen­an­schlag heute: Kurz und störend. Ein Projekt zum 31. Oktober 2017!

Neun Komma fünf (9,5) Thesen zur Gesellschaft und zu den Kirchen. Als neuer Thesen – Anschlag.

Anstelle der heute schon wieder üblichen, in Büchern usw. veröffentlichten 95 Thesen:

Also: Neuneinhalb Thesen! Sie sind überschaubarer und vielleicht “heftiger”…

Thesen sind Einladungen zum Weiterfragen. Sie haben nichts Abgeschlossenes. Sie können selbstverständlich nicht „alles“ sagen zum Thema „Reformation 2017“.

Diese Thesen sind vor dem Hintergrund der Bedrohung der Demokratien durch das Lügen-Regime von Mister Trump formuliert sowie angesichts der Macht der Rechtsradikalen in ganz Europa; angesichts des Mauerbauens  rund um Europa; angesichts des vom reichen Europa zugelassenen massenhaften Krepierens von Afrikanern auf dem Mittelmeer; angesichts der zugelassenen “neuen KZs, die sich heute Flüchtlingslager nennen” (Zitat von Papst Franziskus, April 2017). Diese Thesen zum Reformationstag sind formuiert vor dem Hintergrund der Bedrohung der Menschheit durch (von Menschen gemachte) ökologische Katastrophen und durch die von Menschen gemachten bzw. gewollten Kriege. Diese sind intendiert von der Gier der Waffenproduzenten in Europas und Amerika. Gegenüber diesen Herren sind offenbar alle machtlos, nur die üblichen mahnenden Worte werden gesprochen…

Unsere leitende Erkenntnis ist also: Angesichts dieser Welt heute kann man nicht mehr „wie immer schon üblich“ von Reformation oder gar von Luther, Kirche, Spiritualität usw. reden und entsprechende Kirchen-Veranstaltungen planen. Haben wir das alles nicht schin 100 mal erlebt? Neues muss gesagt werden. Neue Thesen sollten gewagt werden. Die Erinnerung an einst ist wissenschaftlich wichtig, existentiell im Augenblick aber nicht so wichtig.

Lassen wir also Luther einmal beiseite und seine ewig wiederholten Prinzipien. Diese sind altbekannt, in schätzungsweise 50 neuen Lutherbüchern 2016/17 dargestellt: All das hat aber politisch bis jetzt wenig bewirkt. Widerstand gegen Unrecht, Unrechtssysteme und Lügensysteme ist bekanntlich alles andere als eine Kategorie im Denken Luthers und der meisten Lutheraner.

Es gilt heute den humanen Kern der biblischen Botschaft als menschlicher Weisheit freizulegen. Es gilt aber vor allem, einen alle Menschen verbindenden Humanismus der Vernunft zu entdecken und zu fördern. Dies ist die aktuelle Aufgabe der christlichen Kirche.

Wir verstehen die 9,5 Thesen als Projekt, an dem sich möglichst viele beteiligen können und sollen.

Gudrun Modlich hat am 27.9.2017 ihre neuneinhalb Thesen veröffentlicht:

Ist es sinnvoll an einen Gott zu glauben? Wenn ja, an welchen Gott?

9,5 Thesen von Gudrun Modlich

Vorwort:    Durch das Buch des Dalai Lama: “Ethik ist wichtiger als Religion” wurde mir klar, dass eigentlich gar nicht die Religionen ihre Ethik an die Menschen herantragen, sondern die Menschen sind es, die ihre jeweilige Ethik in ihre Religion hineinlesen. (Die Bewertung der Relevanz von Bibel- oder Koranstellen etwa erfolgt immer – unbewusst – im Licht des viel geschmähten “Zeitgeistes” oder – wie im Falle der Homophobie – um sein eigenes Unbehagen zu legitimieren.) Ein atheistischer Mensch verhält sich nicht unethischer als ein religiöser; das Maß an Mitgefühl und Altruismus korreliert nicht mit der Frömmigkeit. Was also bietet das Postulat eines Gottes? Ich habe etliche fromme Menschen erlebt, deren Glaube im Leid die Nagelprobe nicht bestand. Atheistisch erzogene Menschen hingegen griffen, um mit unverstehbarem Leid zurechtzukommen, zu einem sehr einfachen Gottesbild, das ihnen half. Im Folgenden versuche ich die Grundzüge dieser “Basisreligion” zu skizzieren, ohne Begriffe zu verwenden, die auf eine bestimmte etablierte Religion hindeuten könnten.  Das folgende Welt- bzw. Gottesbild habe ich aus Beobachtungen und Gesprächen mit Menschen, die mit Leidsituationen gut zurechtkamen, gewonnen und selbst bei Sterbebegleitungen mehrfach angewendet. Ich würde mir wünschen, dass noch mehr Menschen es ausprobieren und ihre Erfahrungen systematisch auswertet würden (inwieweit ist es wem, wann, unter welchen Voraussetzungen hilfreich), so dass daraus eine evidenzbasierte Maßnahme zu AEDL 13 des Pflegemodells nach Monika Krohwinkel werden könnte.

Meine 9,5 Thesen:  1. Gott ist das transzendente Du, das dem Dasein die Bedeutungsdimension hinzufügt. Diese Bedeutung ist mystisch, unverstehbar, durchzieht die Welt und übersteigt sie zugleich. Mit Gott erhält alles Dasein Glanz und Schimmer. Im Bild gesprochen: Ein an Gott Glaubender erlebt die Welt gewissermaßen in 4 D. (Was nicht heißt, dass 3 D nicht auch okay ist.)

2. Gott ist ein Baum mit vielen Blättern. Wiewohl der einzelne Mensch Gott spüren, ahnen und erfahren kann, reichen die Erfahrungen aller Menschen aller Generationen nicht aus, um das Bild Gottes zu vervollständigen.

3. Gott ist NICHT notwendig, um die Welt zu erklären. Verstandesmäßig lässt er sich nicht erfassen. Gott ist eher zu „begreifen“ mit Grundeinstellungen wie Staunen, Hingabe, Liebe.

4. Gott ist NICHT notwendig, um ethische Normen zu etablieren. Wir haben mittlerweile genügend Erfahrungen gesammelt, um daraus unsere Schlüsse zu ziehen. Der Mensch ist in der Lage, “gut” und “böse” selber zu erkennen.

5. Wer OHNE Gott NICHT auskommt, das ist der Mensch in seinen existenziellen Erfahrungen, Leid, Schmerz, Verlust, Tod. In diesen Momenten ist Gott ein Ufer, an dem wir ankern können, um nicht wahnsinnig zu werden. Ohne Gott wird es hier sehr hart.

6. Das zu verkündende Gottesbild muss demzufolge ein menschliches und Leid linderndes sein. Einen unmenschlichen und grausamen Gott brauchen wir nicht! Damit Gott ein menschlicher ist, müssen wir ihn als rettend, haltend, tröstend, helfend, liebevoll, verstehend, annehmend und verzeihend beschreiben.

7. Wir Menschen sind Partner Gottes. Gott handelt durch uns, sofern wir ihn nicht daran hindern. Indem wir von uns selbst absehen, werden wir durchscheinend für die Liebe Gottes, und durch uns wird sie in der Welt erfahrbar.

8. Gott straft nicht. Niemals. Die Hölle, das sind wir selber. Das Fegefeuer ist unser Entsetzen im Erkennen darüber, wer wir selber sind, wenn wir unser Leben betrachten. Je mehr wir vorher mit unserem Leben Frieden gemacht haben, desto friedlicher ist unser Tod. Uns erfasst eine Sehnsucht. Wir werden abgeholt. Wir gehen ins Licht. Alle.

9. Gott ist nicht nur Gott aller Menschen. Er ist Gott alles Seienden. Was wir als grundloses Leid erfahren, ist nur von unserem anthropozentrischen Blickwinkel her unverstehbar. Aus einer “onto-zentrischen” Warte, d. h. mit Focus auf alles Seiende in seinem steten Wandel (welches zu überschauen nur Gott möglich ist) wären diese Erfahrungen erklärbar.

9,5. Raus aus bedrückenden Denkmustern!

Copyright: Gudrun Modlich.

Die neuneinhalb Thesen von Christian Modehn vom Februar 2017:

  1. Kirchen und Glauben, Religionen und Atheismen sind nicht primär wichtig. Was heute für den einzelnen und die Gesellschaft im Mittelpunkt steht ist das ethisch verantwortete und reflektierte Leben.
  2. Die eigene Urteilsbildung und die seelische Reife der Menschen (und Christen) zu fördern ist wichtiger als konfessionelle Dogmen – etwa im Unterricht – zu vermitteln und zu verbreiten. Philosophieren muss im Mittelpunkt stehen. Ideologien werden entlarvt und dringende humane Projekte (Ökologie, atomare Abrüstung, Kritik der totalitären und “halbtotalitären” Herrschaft  usw.) besprochen.
  3.  Eine konfessionell geprägte, so genannte christliche Ethik, ist niemals primär und maßgeblich. Sie kann lediglich die allgemeine humane, die vernünftige Ethik verstärken. Jesus von Nazareth kann „inspirierendes Vorbild“ genannt werden. „Jesuanischer Geist“ findet sich außerhalb der Gruppen, die sich ständig und oft scheinheilig auf Jesus Christus berufen. Sein Geist ist z.B. in einigen NGOs (Ärzte ohne Grenzen, Amnesty International) anwesend und lebendig, vielleicht sogar lebendiger als in den müden, um Dogmen und andere Themen ewig ringenden und streitenden Kirchen.
  4. Die Menschen sollten sich in neuen offenen und reifen Gruppen und Gemeinden treffen; auch, um gemeinsam für mehr Gerechtigkeit hier und weltweit einzutreten. Das Ziel: Es darf keine Mauern zwischen den unterschiedlichen, aber gleichberechtigten Menschen und Kulturen geben. Wer als Politiker Mauern baut, auch in Europa gegenüber Flüchtlingen, muss zurückgewiesen und „in Pension“ geschickt werden.
  5. Das Hungersterben, das weltweite Elend, muss als absolute Schande der Menschheit wahrgenommen werden. Es muss alles Denken und Handeln begleiten. Es kann nur durch eine neue, gerechte Welt-Gesellschaft überwunden werden. Dazu müssen Umverteilungen des Reichtums, auch durch Enteignungen von Milliardären etwa, stattfinden. Es gilt, endlich eine „Obergrenze“ ethisch vertretbarer Einkünfte zu debattieren.
  6. Die getrennten Kirchen erkennen an: Wir wollen nur noch das eine Wesentliche, das eine Zentrum, des christlichen Glaubens lehren und leben: Die Liebe unter den Menschen und die Liebe zu einer Wirklichkeit, die viele Gott nennen. Die immer wieder und endlos besprochenen dogmatischen Differenzen werden als überflüssige Hobbys klerikaler Herrscher entlarvt. Gottesdienste werden aus der rituellen Erstarrung und Langeweile befreit. Sie werden zu Lebensfeiern.
  7. Der biblische Gott wird nicht länger als immer zur Verfügung stehende (Herrschafts-)Formel und Floskel verwendet. Gott wird vielmehr als Geheimnis eher schweigend und liebend und in einer allgemeinen Mystik verehrt. So finden unterschiedliche Religionen zueinander. Die neuen Götter in ihrer ganzen Vielfalt werden entlarvt (Fußball, Sport, Leistung, Körperkult usw.) sowie owie der oberste Gott, über allem, das Geld bzw. das Bestreben, „immer mehr“ das „Haben“ als absoluten Wert zu verehren.
  8. Das göttliche Geheimnis kann selbstverständlich auch in Kunst, Literatur, Musik, in der Erotik, in der Natur, im solidarischen Engagement entdeckt werden. Diese Gotteserfahrung ist dann authentisch, wenn sie die Menschen zu einer personalen Befreiung und Reifung führt.
  9. Die Befreiung der Frauen, besonders der leidenden und unterdrückten Frauen in den arm gemachten Weltregionen, hat oberste politische und kirchliche Priorität. Solange die römische Kirche (von den orthodoxen Staats- bzw. Regime-Kirchen ganz zu schweigen) Frauen nicht als völlig gleichberechtigt akzeptiert, kann sie nicht ernst genommen werden. Auch die völlige Gleichberechtigung homosexueller Menschen muss weltweit erkämpft werden. Homosexualität ist normal, Homosexualität ist eine normale Variante in der sexuellen Orientierung. Alles andere zu behaupten ist Unsinn, ist kontra-faktisch, widerspricht den Wissenschaften. Offenbar sind viele Christen und Kirchen immer noch gern gegen Wissenschaften eingestellt.

      9,5. Weiter denken: Und die eigenen neuneinhalb Thesen schreiben.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Karl Jaspers: Plädoyer für den philosophischen Glauben.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Am 26.2 1969 ist der Philosoph Karl Jaspers in Basel gestorben (geboren wurde er am 23.2. 1883 in Oldenburg). Der Religionsphilosophische Salon Berlin erinnert an Jaspers als einen kritischen politischen Denker in der BRD und einen entschiedenen Kritiker der politischen Verblendung von Martin Heidegger und: Vor allem als einen Denker, der die Vernunft so reflektierte, dass er für einen “philosophischen Glauben” (so der Buchtitel von 1948) eintreten konnte und für den “philosophischen Glaube angesichts der Offenbarung” (1962) sich stark machte. Die Konzeption und Weiterentwicklung eines vernünftigen philosophischen Glaubens bleibt ein Thema unser Diskussionen. Der “philosophische Glaube” bietet nicht nur Denk-Möglichkeiten, gerade in Zeiten, in denen der konfessionelle dogmatische Glaube der Kirchen nicht mehr als geistig-bewegende Lebendigkeit erfahren wird. Der philosophische Glaube im Sinne von Jaspers kennt nur Grundsätze, keine Dogmen. Gewalt gegen Andersdenkende wird selbstverständlich abgelehnt, er ist offen für Einwände, hält nicht wunderbare Behauptungen für selbstverständlich, er gibt keine Ruhe im Denken und Fragen. Aber der philosophisch Glaubende interessiert sich für die “Chiffren”, für vieldeutige Zeichen, die aber auch auf Transzendenz weisen können.

Es wäre interessant, den philosophischen Glauben im Sinne von Jaspers mit den Thesen des südafrikanischen Theologen und Bischofs Desmond Tutu zu konfrontieren, Thesen, die er in dem Buch “Gott ist kein Christ. Mein Engagement für Toleranz und Gerechtigkeit” (2012) mitgeteilt hat. Tutu weist die Vorstellung zurück, dass Christen im Besitz einer alleinigen Wahrheit sind, er sucht das Gemeinsame in den Religionen…; jeder Mensch lebt in enger Verbindung mit dem Göttlichen, die Vernunft in allen Menchen ist das wahrhaft Religiöse…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Spinoza und die kritische Bibelforschung

Ein Hinweis auf einen Gedenktag, also einen Tag zum Denken….an Spinozas Bibelkritik und seine Verteidigung der Philosophie….

Von Christian Modehn

Am 21. 2.1677 ist in Den Haag der Philosoph Baruch de Spinoza gestorben (geboren wurde er am 24.11. 1632 in Amsterdam). Auch als Verteidiger und Förderer der historisch-kritischen Bibelexegese muss er für weite Kreise (besonders der unbegildeten heutigen Bibel-Fundamentalisten)  noch entdeckt werden. Genau so wichtig ist Spinozas Forderung: Die Theologie (also auch die Leitung der Religionsgemeinschaften) darf der Philosophie nicht das Recht auf eigenständige Erkenntnis, auch Gotteserkenntnis, streitig machen. Der wahre Gottesdienst für Spinoza ist die lebendige Gestaltung von Gerechtigkeit und Nächstenliebe. Wichtig ist hier das Buch Spinozas “Tractatus Theologico-Politicus“, (1670 anonym erschienen).Darin wendet sich Spinoza auch gegen den schlichten Wunderglauben, der da meint: Gott wirke im Ungewohnten und Außergwöhnlichen. Man solle Gott vielmehr suchen in der durchgängigen Gültigkeit der Gesetze der Natur. Jeder Mensch hat das Recht, frei seine eigenen religiösen Überzeugungen zu sagen, diese Freiheit sei die Bedingung für eine staatliche Ordnung.

….Goethe sagte über Spinoza: “Ich fühle mich ihm sehr nahe, obgleich sein Geist viel tiefer und reiner ist als der meinige”.

Der Text des Tractatus von Spinoza ist erreichbar unter: http://www.linke-buecher.de/texte/romane-etc/Spinosa–Theologisch-politische%20Abhandlung.pdf