Hannah Arendt: Politisch denken in dieser Zeit der globalen Krisen

Hinweise von Christian Modehn am 11.5.2020

Der folgende, etwas ausführliche Hinweis auf Hannah Arendt wurde aus Anlass der großen „Hannah Arendt Ausstellung“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin zusammengestellt.
Diese vier Beiträge habe ich 2016 geschrieben. Sie können heute hilfreich sein, als Inspiration im Umfeld eines Besuches der Ausstellung. Oder, wichtiger noch: Wenn man sich angesichts des zunehmenden Rechtsradikalismus die Frage stellt nach Ursprung und Überwindung dieser Verirrung, dieses Wahns.

Wesentliche und zum Teil heute weit verbreitete Urteile von Hannah Arendt vor allem zum „Eichmann-Prozess in Jerusalem“ 1961 werden in der Forschung der letzten Jahre immer mehr differenziert, korrigiert oder zurückgewiesen. Dies gilt besonders für Hannah Arendts Einschätzung, Eichmann sei ein Repräsentant der „Banalität des Bösen“ gewesen. Die bekannte Historikerin Irmtrud Wojak hat (in ihrem Buch „Eichmanns Memoiren“, 2001) gezeigt, „dass Hannah Arendt sich von Adolf Eichmanns Verteidigungsstrategie (im Jerusalemer Prozess) täuschen ließ“. So fasst Franziska Augstein die wesentliche Erkenntnis Wojaks zusammen (in: Hannah Arendt, „Über das Böse“. Piper Verlag 2015, Seite 184). Hannah Arendt kannte auch nicht die Protokolle der Gespräche Eichmanns (in Argentinien) mit dem niederländischen SS Offizier Willem Sassen, da sagt Eichmann ganz klar:“ Ich war kein normaler Befehlsempfänger… sondern ich habe mitgedacht, ich war ein Idealist gewesen“ (a.a.O. 185).
In Jerusalem (1961) hat sich Eichmann dann als „gehorsamer Befehlsempfänger“ stilisiert. Wenn die Rede von der Banalität des Bösen bezogen auf Eichmann z.B. überhaupt einen Sinn macht, dann nur, um zu betonen: Dieser entschiedene, von der Nazi-Ideologie total durchseuchte Massenmörder war ein Typ der „Jedermänner“, wie Franziska Augstein sagt. Also nach außen hin brav wirkend, der gehorsame Durchschnittsbürger: Eichmann und die vielen anderen braven, gehorsamen Deutschen waren bereit, den von „oben“, dem NS Staat definierten Feind, die Juden, total zu vernichten. Diese Normalbürger wurden zu Massenmördern weil sie sich gehorsam in die tödlichen „Logik“ des NS Regime einfügten.
Der populär gewordene Hannah-Arendt-Slogan „Die Banalität des Bösen bezogen auf Eichmann“ bedarf also der Korrektur.
Immer wieder wird auch in aktuellen Publikationen daran erinnert. In einem Beitrag über Gabriel Bach, einen der Ankläger in Jerusalem 1961, veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung (23./24. Mai 2020, Seite 51) betont die Autorin Alexandra Föderl-Schmid: „Bach lasse es nicht gelten, Eichmann sei eigentlich nur ein schlichter Schreibtischtäter gewesen. Er habe Hannah Arendt damals angeboten, ausführlicher mit ihm zu sprechen“. Dann wird Gabriel Bach zitiert: “Ich weiß bis heute nicht, warum sie das nicht angenommen hat“. „Das Buch Arendts „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ habe er nur „überflogen“ und rasch wieder weggelegt“. „Es stimmt einfach so vieles nicht“.

Diese Hinweise machen auf die Grenzen der Studien Hannah Arendts aufmerksam. Diese Grenzen gilt es wahrzunehmen, angesichts der großen Popularität Hannah Arendts, populär, schon aufgrund ihrer leicht zugänglichen Sprache. Problematisch bleiben etliche ihrer Ausführungen: Dies gilt auch für ihre auch nach 1945 fortgesetzte Beziehung zu Martin Heidegger: Diese Beziehung berührte nicht nur das „Persönliche“, sondern: Heideggers Philosophie prägte in gewisser Weise auch ihr Denken noch nach 1945, darauf hat der Philosoph Emmanuel Faye hingewiesen. In Berlin, im Rahmen der Forschungen der FU, erscheint eine kritische Gesamtausgabe der Werke Hannah Arendts erscheinen. Dann wird noch mehr kritische Deutlichkeit möglich sein. (https://www.arendteditionprojekt.de/Neuigkeiten/Information_philosophie_29042020.html)

Es bleiben jetzt Fragen offen in der Interpretation ihrer Schriften. Darum ist auch die Auseinandersetzung mit den Studien von Emmanuel Faye in Deutschland wichtig. Hannah Arendt inspiriert zwar, aber sie ist keine umfassend nur positive, von jeglicher Kritik befreite, gar enthusiastisch gefeierte “Meisterin des Denkens”.

Die Ausstellung im DHM in Berlin wurde am 11.5. eröffnet …sie sollte bis zum 18.Oktober 2020 besucht werden.

1.
Hannah Arendt: Die Banalität des Bösen, die „lebenden Leichname“ und die Überflüssigen

Hannah Arendt legte Wert darauf, nicht (nur) als Philosophin (im „klassischen Sinne) zu gelten. Sie verstand sich ausdrücklich eher als Politikwissenschaftlerin, wobei selbstverständlich ihr origineller Blick auf politische Ereignisse und Politiker durchaus philosophische Prägungen (etwa durch die Methode der Phänomenologie) offenbart.

Dieser Blick, unverstellt und ohne ideologische Brille Phänomene zu sehen, wird wirksam in ihrer Beobachtung des Prozesses gegen Eichmann in Jerusalem 1961. Ihr Buch „Eichmann in Jerusalem“ trägt den – gleich nach der Veröffentlichung höchst umstrittenen – Titel „Ein Bericht von der Banalität des Bösen“. Damit wollte Hannah Arendt – entgegen vielfacher und tief verletzender Polemik – gerade NICHT den Völkermord an den Juden durch die Nazi Herrschaft als banales Geschehen darstellen. Sie wollte lediglich betonen: Einer der Hauptakteure der Vernichtung, Adolf Eichmann, sei eigentlich nicht ein unbeschreibliches Monster oder ein undefinierbarer Teufel oder sonst etwas Mysteriös – Bedrohliches! Sondern Eichmann ist ein banaler Durchschnittstyp, ein auf Gehorsam und Befehle empfangen und Befehle geben fixierter Bürokrat.

Dieser Täter (wie andere in der SS-Führung) ist banal, und gerade wegen dieser Alltäglichkeit beschreibbar und verstehbar und auf seinem Weg zum Schreibtischtäter “nachvollziehbar”. Nur wer das Böse „banalisiert“, also in den Alltag des Gewordenseins stellt, kann das Böse auch möglicherweise überwinden oder einschränken. Es müssen die Wege und Stufen beschrieben werden, die einen Menschen langsam zum Schreibtischtäter werden lassen. Das ist Hannah Arendts überzeugendes Argument! Die beispiellosesten Verbrechen der Menschheit werden von den gewöhnlichsten Leuten begangen. Die Philosophin Susan Neiman (Direktorin des Einstein Forums in Potsdam) hält in ihrem Buch „Das Böse denken“ zu recht die Studie Hanna Arendts zur „Banalität des Bösen“ für den wichtigsten philosophischen Beitrag zum Problem des Bösen im 20. Jahrhundert (Neiman, Seite 397, Suhrkamp).
1988 schrieb Ingeborg Bordmann (in: Freibeuter, Heft 36, 1988, S. 86): “Hannah Arendt versucht nicht, Eichmann zu entlarven, also eine verborgene Wahrheit hinter seinen Worten zu finden, sondern sie achtet darauf, wie Eichmann sich verhält, wie er redet, wann er stockt, verstummt oder in plötzliche emphatische Selbstdarstellung verfällt….Er erinnert sich nur an die Situationen, die mit den Wendepunkten seiner Karrriere zusammenfallen”. Eichmann lebt in einer geschlossenen Welt, seine “standardisierten Ausdrucks- und Verhaltensweisen sind nicht korrigierbar durch den Kontakt mit der Realität… Sein Gewissen ist systemkonform”. Hannah Arendts Eichmann Buch ist ein Bekenntnis zur Freiheit des Menschen. Und dieser menschliche Mensch besitzt eigentlich und immer die Fähigkeit, sich zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen. Bei Eichmann ist diese Fähigkeit der Verantwortung aber in einem langen Prozeß der Indoktrination von autoritären Verhaltensvorschriften Schritt für Schritt getötet worden. Das ist das eigentlich Böse an dieser Gestalt, dass diese Form des Absterbens von Verantwortung und Freiheit eigentlich immer wieder (bei allen Menschen) passieren kann. Das banale Böse ist in Hannah Arendts Sicht eigentlich wiederholbar. Denn es wütet, so ihr Bild, als das extreme Böse “wie ein Pilz auf der Oberfläche, der sich rasant verbreiten kann, wenn man den Pilz nicht ausreißt”, so Hannah Arendt in einem Brief an Gershom Scholem(vgl. Fn. 10 bei Ingeborg Normann, S. 94). Und Hannah Arendt geht noch weiter: Nicht die Zuverlässigen, die Treuen, die Stützen und gehorsamen Bürger sind diejenigen, die dem moralischen Zusammenbruch widerstehen. “Viel verläßlicher sind die Zweifler und Skeptiker, … weil sie daran gewöhnt sind, Dinge zu prüfen und sich eine eigene Meinung zu bilden…”(S. 92 in Freibeuter)

Und dieser Banalität des Bösen in Form der “Schreibtischtäter” begegnen wir heute vielfach, in der Kriegsführung, etwa im Einsatz von Drohnen, die ferngesteuert Bomben abwerfen und „eben“ zahllose „Kollateralschäden“ unter der Zivilbevölkerung bewirken. Oder im völlig verantwortungslosen Handeln gewisser Banker, die um ihres egoistischen Profits willen eine ökonomische Katastrophe und damit Schaden für Millionen Menschen in Kauf nehmen: immer sind es brave, ängstliche Männer, die die eigene Karriere für absolut vorrangig halten vor allen ethischen Verantwortlichkeiten…

Ein prominenter Schüler Hannah Arends ist Richard Sennett. In seinem Buch „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ geht es ihm darum aufzuweisen, wie die neue Kultur, die von der New Economy der 1990er Jahre ausgeht, zu tief greifenden Veränderungen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene führen. Sennett betont: Man muss darauf hinweisen, dass heute in der Ökonomie und Politik weltweit Massen sozusagen nutzloser Menschen „erzeugt“ werden, man denke heute an junge Arbeitslose zu Millionen in Spanien, Griechenland, Portugal usw. Oder an “Überflüssige” in den Slums der Großstädte Aftikas und Asiens…
Das kapitalistische System erzeugt förmlich permanent die überflüssigen Menschen, die zudem auch wissen, dass sie niemand braucht und vom System noch mit einer Minimalunterstützung manchmal noch gerade am Überleben erhalten werden.

Für Hannah Arendt stellten diese überflüssigen Menschen sozusagen die Basis dar, aus der die Mörderbande der Nazis ihre „Mitstreiter“ holten. Eine so genannte demokratische Gesellschaft und ein Staat, die ständig immer mehr „Nutzlose“ erzeugen, gefährden ihre eigene Zukunft.
Auch das ergibt sich aus einer Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Werk. In ihrem Buch „Elemente und Ursprung totaler Herrschaft“ (1951) zeigt sie ausdrücklich, wie „der irrsinnigen Massenfabrikation von Leichen die historisch und politisch verständliche Präparation lebender Leichname vorangeht“. (S. 686, Serie Piper).
Damit meint sie: Die lebenden Leichname wurden „produziert“ vom Gesellschaftssystem, es sind die „Millionen Heimatlosen, Staatenlosen, Rechtlosen , wirtschaftlich Überflüssigen und sozial Unerwünschten“ (ebd.). Das totalitäre System des radikal Bösen konnte sich also nur entwickeln, weil so viele „überflüssige“ Menschen „produziert“ wurden. Denn auch die Henker und Täter fühlten sich als Nihilisten, sie lebten in dem Gefühl, dass ihr Leben sinnlos und überflüssig ist. Hannah Arendt warnt: Totalitäre Systeme können wieder „auftreten, wenn wieder hingenommen wird, dass es viele „überflüssige Menschen“ eben geben darf…
Die einzige „Therapie“ zur Rettung der wahren Demokratie ist für Hannah Arendt das aktive Leben, also das bewusste kritische und selbstkritische Handeln mit und für die Stadt, die Polis und die Gesellschaft. Wer das aktive Leben meidet, das Engagement gegen die Produzenten der „lebenden Leichen“, verfehlt sein eigenes Leben. So radikal ist die Botschaft Hannah Arends heute.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

2.
Ist Hannah Arendt gebunden an Heideggers eher braunen Denkweg?

Ein Hinweis auf ein verstörendes und inspirierende Buch des Philosophen Emmanuel Faye, Rouen

Am 12.5.2020 geschrieben:
Es ist interessant zu beobachten, dass manche Bücher, die sich auch sehr kritisch mit dem politischen Denken Hannah Arends befassen, in Deutschland kaum wahrgenommen werden. Das gilt etwa für das in Frankreich viel beachtete, sehr umfangreiche Buch von Emmanuel Faye, “Arendt et Heidegger”. Es hat in Frankreich seit seinem Erscheinen 2016 viele Debatten gefunden. Vor allem auch einige, zum Teil polemische Ablehnungen von Philosophen und Autoren, die sich “ihre” in jeder Hinsicht vorbildliche Hanna Arendt nicht nehmen lassen wollten.
Faye will nur darauf hinweisen: Dass Hannah Arendt stark an bestimmte Denkmuster von Martin Heidegger gebunden bleibt. Und dass sich deswegen konsequenterweise fragwürdige, problematische Äußerungen finden in ihren Büchern “Über die Revolution” oder “Vita activa”. In beiden Büchern legt Emmanuel Faye Aussagen, Tendenzen, frei, die mit einem demokratischen Denken und mit einer vorbehaltlosen Anerkennung und Verteidigung der Demokratie nicht so viel zu tun haben.
In einer Stellungnahme zu einer Rezension seines Buches in der Zeitschrift “La Vie des Idées” (Paris) macht Faye auf verschiedene Erkenntnisse aufmerksam: Heidegger ist für Hannah Arendt immer eine Art “Paradigma” des Denkens. Dabei betont Faye: “Ich kritisiere nicht die Person Arendt”. Aber von ihr wurde Heidegger zu einem Meisterdenker erklärt, “aufgrund ihrer Lobeshymnen auf ihn”. Wichtiger sind noch die Hinweise Fayes zu Arendts Buch “Vita activa”, in dem sie in gewisser Weise ihre Sehnsucht äußert nach einer “aristokratischen Politik”, verbunden mit einer Kritik an “egalitären Gesellschaften”. Eine Vorliebe für den Begriff des Aristokratischen bei Hannah Arendt steht im Mittelpunkt der Kritik Fayes.

Ich war einer der ersten in Deutschland, der auf diese Veröffentlichung des Buches von Emmanuel Faye 2016 reagiert hat. Als Hinweis verstanden! Hier noch einmal dieser Text, kurz nach Erscheinen von Fayes Buch. Und ich betone noch einmal: Dieser erste Hinweis sollte ein erster Anstoß zur Debatte auch in Deutschland sein. Diese kritische Debatte hat meines Wissens in Deutschland kaum stattgefunden. Als erste Information könnte vielen die auf Deutsch im Internet zugängliche Studie Fayes dienen:„Nationalismus und Totalitarismus bei Hannah Arendt und Aurel Kolnai“, in „Theologie-Geschichte. Beiheft 5/2012, Seite 61ff., Universitätsverlag Saarbrücken.
…………………………….
In Frankreich spricht man in diesen Tagen von einem „livre choc“ und einem „séisme intellectuel“, also einem „intellektuellen Erdbeben“: Ausgelöst hat dieses der französische Philosoph Prof. Emmanuel Faye: Er ist weltweit bekannt geworden durch seine Studien über die Verstrickungen Martin Heideggers in die Nazi-Ideologie. Dieses erste, von ihm in gewisser Weise unterstützte Erdbeben, wird in vollem Umfang nun auch bestätigt durch die Publikation der „Schwarzen Hefte“ Heideggers.
Jetzt aber steht ein zweites “Faye-Erdbeben”, womöglich noch größerer Art, bevor: Falls sich nicht ein noch Kompetenterer durch die 560 Seiten umfassende Studie Fayes so durcharbeitet, dass man zum Schluss herauskommt: Der Heidegger-Kritiker Faye hat geirrt. Es geht in der neuen „minutiös“ genannten Studie Fayes um eine globale und radikale Dekonstruktion, im Sinne von Entzauberung, wenn nicht Zerstörung, der international doch eigentlich hoch geschätzten, und kann man wohl sagen viel gelesenen und “beliebten” Philosophin und Politik-Denkerin Hannah Arendt. Sie wird jetzt in der französischen Presse (Le Monde, 7. Octobre 2016, S. 7) als „maitresse“ Heideggers tituliert. Selbst nach 1945 sei sie ihm gewogen geblieben, und zwar auch in ihrer Philosophie! Und das ist das Ergebnis der Studie von Faye. “Le Monde”-Autor Nicolas Weill nennt das umfassende Faye Buch (erschienen im Herbst 2016 bei Albin Michel, Paris) eine „unerbitterliche Anklagerede“ gegen Hannah Arendt. Die Rezensenten betonen, Faye haben alle greifbaren Ausgaben und Ausführungen Arendts gelesen, und er sei zu dem Schluss gekommen: Sie habe in zahlreichen Werken, in Andeutungen, Ausführungen und Thesen letztlich die Nazi-geprägte Philosophie Heideggers nach 1945 unterstützt. Wenn sie etwa von den umstrittenen Judenräten in den KZs spreche, dann wolle sie damit die Juden mitverantwortlich machen für ihr eigenes „Schicksal“, eine These, die Heideggers sympathisch gefunden haben soll. Eine andere These Fayes, über die “Le Monde” berichtet: Wenn Arendt Adolf Eichmann als Beispiel für die “Banalität des Bösen” wählt, dann sei ihr positives Gegenbild der „penseur par excellence Heidegger“, also Heidegger als der herausragende Denker. Eine These, mehr nicht, denke ich. Nicolas Weill schließt seinen Bericht über dieses insgesamt verstörende und beunruhigende Buch: “Es fehlen vielleicht die Nuancen, damit dieses Bild (von Hannah Arendt) vollständig sei“. Eine kurze Besprechung im „Philosophie Magazine“, Paris, (Oktober 2016) berichtet: Faye halte das Denken Hannah Arendts für „fascisante“, also faschistoid. Eine ungeheuerliche Behauptung, die jeder, der Hannah Arendts Werke liest, wohl zurückweisen wird. Ist Hannah Arendt nicht immer dem Denken des Aufklärers Kants verpflichtet gewesen? Wie aber passen etwas Kants “Kategorischer Imperativ” mit Heideggers (willkürlich wirkenden) “Seins-Geschicken” zusammen? Wie mit einem Heidegger, der sich weigerte, überhaupt eine Ethik zu denken und zu schreiben, weil eben alles “geschicklich” sei…Und überhaupt: Hannah Arendts Erkenntnis zur absoluten Notwendigkeit des Sich-selbst-Reflektierens ist ein Kontrast zu Heidegger, der offenbar ein weites Stück seines langen Lebens in der Nähe zum antisemitischem Denken sich eben NICHT selbst kritisch reflektierte!

Die Diskussion über dieses Buch Fayes hat in Deutschland meines Wissens noch nicht begonnen. Diese verstörende Studie wird hoffentlich nicht davon ablenken, nun auch noch die nazi-freundlichen Briefe Martin Heideggers an seinen Bruder Fritz gründlich zu lesen und allmählich ein Heidegger-Bild zu entwerfen, das sich der Frage stellt: Was brauchen wir von Heideggers Denken heute wirklich noch? Wie durchsetzt ist seine Philosophie von der Nazi-Ideologie und dem Antisemitismus? Dass dies überhaupt der Fall ist, wird immer deutlicher. Nun aber auch Hannah Arendt in das offenbar braune Denken Heideggers einzubeziehen und nun auch ihre aufklärerische Philosophie für faschistoid zu halten, das ist, einem ersten Eindruck der Rezensenten in Frankreich nach, wirklich schwierig, wenn nicht perfide. Der total antisemitisch “verdorbene” Heidegger soll wohl dadurch als solcher weiter etabliert werden, dass er mit seinem Denken selbst seine „maitresse“ Hannah, beeinflusste, die Jüdin, die vor dem Holocaust flüchten musste! Ein “Erdbeben”, wie Le Monde” schreibt, ist dieses Buch? Oder bloß – wieder einmal – eine französische “Intellektuellen Erregung”?

„Arendt et Heidegger. Extermination Nazi und Déstruction de la pensée“. Autor: Emmanuel Faye. Verlag: Albin Michel, Paris, 560 Seiten. 29 €.

Copyright: Christian Modehn

3.
Hannah Arendt über Pluralität und Erfahrung des anderen: Sie haben ihre Wurzeln im Selbstgespräch des einzelnen.

Ein Hinweis auf ein neues Buch von Hannah Arendt.

Hannah Arendt hat als Flüchtling in den USA nur noch politische Philosophie bzw. politische Theorie betreiben wollen, das hat sie etwa auch in dem berühmten Fernseh-Interview mit Günter Gaus betont. 1954 hat Hanna Arendt an der Notre-Dame University Vorträge zu dem Thema gehalten, auch über Sokrates und Platon hat sie gesprochen. Damit zeigte sie, dass die klassischen Themen der klassischen Philosophie für sie doch auch selbstverständlich wichtig blieben; sie wollte diese nur ausdrücklich im Zusammenhang des politischen Zusammenlebens erörtern.

Jetzt ist im Verlag „Matthes und Seitz“ (Berlin) zum ersten Mal eine deutsche Übersetzung ihres Vortrags mit dem Titel „Sokrates. Apologie der Pluralität“ erschienen. Dieser eher knappe Text ist originell und bedeutsam für weitere Diskussionen, weil er die Erfahrung der Andersheit der vielen anderen Menschen (Pluralität) gerade IN der Erfahrung des Selbst begründet: Von Selbstbewusstsein, diesem klassischen philosophischen Begriff, spricht Arendt in dem Text – soweit ich sehe – nicht. Aber sie verweist auf die elementare Denkerfahrung, die sich abstrakt etwa so beschreiben lässt: Ich denke mich und erlebe mich dabei als den von mir Gedachten, wobei das von mir gedachte Ich in gewisser Weise von mir als dem Denkenden verschieden ist. Es ist also eine gewisse Spaltung, “Pluralität”, im Ich oder im Selbstbewusstsein sichtbar und erfahrbar. Also eine Art zweifache Gegebenheit des einen Ich, so dass Hannah Arendt tatsächlich meint: Das Ich ist in seinem Selbstbewusstsein pluralistisch: “In sich selbst trägt der Mensch die Signatur dieser Pluralität in sich” (Seite 60 in dem genannten Buch). Also ist die Vielfalt verwurzelt im Ich selbst, und nur aufgrund dieser pluralistischen Erfahrung kann der einzelne auch den anderen als den anderen erkennen. Dies ist die zentrale These in dem Buch. (Es bietet darüber hinaus und im Gang der Argumentation wichtige Hinweise zu einer Philosophie der Freundschaft oder zur Differenz Sokrates-Platon, darauf kann hier nicht näher eingegangen werden).

Diesen zentralen abstrakten Gedanken formuliert Arendt mit den Begriffen des im einzelnen immer schon gegebenen Selbstgesprächs: „Indem ich mit mir selbst spreche, lebe ich auch mit mir zusammen…. Die Menschen tragen die Signatur der Pluralität in sich“ (S.26 in dem genannten Buch). Das hat ethische Konsequenzen: Ich muss also mit mir (als dem gedachten Ich) ins Reine kommen; ich darf mit mir (als dem gedachten Ich) nicht im Widerspruch stehen. Ziel ist eigentlich: Ich muss mit mir übereinstimmen. Das ist der oberste Lebenssinn für Sokrates. Und Hannah Arendt zeigt in dem Buch, wie Sokrates dieses Mit-sich-Eins-Sein selber lebte und lehrte. Dieses Mit-sich-Eins-Sein ist ein Werden, ein Prozess, eine bleibende Aufgabe.

Wer als Ich diese dauernde Aufgabe erkennt, wird auch mit den anderen Menschen in seiner Umgebung geduldig umgehen, weil diese sich ja auch wahrscheinlich bemühen, mit sich selbst überein zu stimmen. Voraussetzung für eine humane Gestaltung der Pluralität bleibt für Arendt: „Die Einsamkeit mit sich selbst, der Dialog des Zwei-in-Einem ist integraler Bestandteil des Zusammenseins und Zusammenlebens mit anderen“ (S. 81). Nur im Mit mit sich selbst allein sein kann diese Entdeckung der inneren, eigenen Pluralität denkend wahrgenommen werden.

Bedrängend, wenn nicht zerstörerisch ist die Erfahrung, wenn die Nicht-Übereinstimmung des Ich mit sich selbst erlebt und dann aber ignoriert bzw. überspielt wird. Dann wird die Daseinslüge zum Gesetz des Ich.

Jedenfalls ist die innere Pluralität im Selbstbewusstsein des einzelnen für Arendt so elementar, dass sie das große philosophische Wort thaumzein, sich verwundern, darauf bezieht: Im Thaumazein, Erstauntsein und Sich-Wundern, wird ja die Urerfahrung beschrieben, mit der Sokrates und Platon – zunächst über die Sprachlosigkeit im Thaumazein – ins weitere Philosophieren fanden.

Das Ur-Erstaunliche ist also das Selbstbewusstsein, das mit sich selbst übereinstimmen soll, das also die Differenz der Andersheit in seinem Selbst sozusagen positiv gestalten kann.

Diese Begründung der Erfahrung der menschlichen Pluralität, also die Erfahrung des anderen, erscheint für viele wahrscheinlich neu und sicher erstaunlich. Man könnte meinen, Hannah Arendt sei insofern doch klassische Philosophin geblieben, als sie für die Erfahrung des anderen als anderen eine Art apriorische Struktur im Ich entdeckt bzw. freilegt. Diese Denkhaltung könnte man wohl transzendentalphilosophisch nennen. Vielleicht ahnte dies Hannah Arendt, und vielleicht verwendet sie deswegen nicht den klassischen Begriff Selbstbewusstsein. Um eine apriorische Struktur handelt es bei Hannah Arendts Hinweis dann doch, wenn sie auf das in sich plurale „Selbstgespräch“, wie sie sagt, hinweist als Voraussetzung, über die andere Person als andere Person wahrzunehmen und zu respektieren.

Gewonnen ist die wichtige auch politisch so relevante Einsicht: Wir Menschen können und sollen Pluralität unter den Menschen anerkennen. Sie ist normal. Ich sage: Sie ist apriorisch und gehört zum “Wesen des Menschen”, könnte man auch klassisch sagen. Pluralität unter den Menschen ist also etwas allgemein Menschliches, noch einmal anders gesagt, Pluralität – in Gleichberechtigung – ist also zu hegen und zu pflegen.

Die weitere Frage bleibt, die Hanna Arendt nicht beantwortet, ob denn die Erfahrung des “anderen” in mir selbst noch einmal eine andere Qualität hat, als jene Erfahrung im Ich-Du bzw. Ich-Wir, wenn ich dem anderen, leibhaftig vor mir stehenden Anderen, begegne. Ich denke, etwa Lévinas hätte dem zugestimmt. Der leibhaftige Andere ist für ihn wohl die Gründung erst meiner Ich-Erfahrung. Das unterscheidet Lévinas von Heideggers “Sein und Zeit”, wo die Freilegung der Strukturen der Existenz auch ohne den herausfordernden “Anderen”, das Du, das Wir, geleistet wird.So werden hier auch die Grenzen dieser Überlegung Hannah Arendts sichtbar, oder ihre Bindung an Heideggers “Sein und Zeit”?

Hannah Arendt lag daran, in einer Zeit kurz nach dem Holocaust und in der Nachkriegsgeschichte entschieden für die unabweisbare Pluralität der Menschen zu plädieren. Und für den Respekt dieser Pluralität einzutreten.

Hannah Arendt, Sokrates. Apologie der Pluralität. Matthes und Seitz Verlag, Berlin. 2016, 109 Seiten. 12 Euro. Übersetzung: Joachim Kalka.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

4.
Von der Macht der Kommunikation: Hannah Arendt. Eine Sonderausgabe des „Philosophie Magazin“.

Wer Hannah Arendt liest, wird ins (selbst)kritische Denken geführt und ins Streiten für und über die Demokratie verbunden. Ist es diese Sehnsucht nach einem radikalen-tätigen, aber stets erhellenden Denken, die so viele LeserInnen heute zu Hannah Arendt führt?

Die neue Sonderausgabe über Hanna Arendt der Zeitschrift PHILOSOPHIE MAGAZIN bietet wichtige neue Erkenntnisse, die zum weiteren Forschen und Lesen einladen. Das Sonderheft wurde von Catherine Newmark redaktionell inspiriert und verantwortet. Und es ist nicht übertrieben: Damit ist ihr ein kleines Meisterwerk gelungen. Dieses Sonderheft wird weite Verbreitung finden, es wird einen sicheren Platz haben unter den schon zahlreichen Einführungen ins Denken und Handeln Hannah Arendts. Es ist diese Verbindung von wichtigen Arendt-Texten mit neuen Interpretation und kritischen Hinweisen, die dieses Heft so wertvoll macht.

Hannah Arendt war eine Meisterin der Freundschaft und der liebenden Beziehungen, dazu schreibt Michel Legros einen schönen Beitrag unter dem schon Wesentliches sagenden Titel „Zwischen zwei Menschen entsteht eine Welt“.

Als sie in den USA, zuerst viele Jahre als Staatenlose in rechtlicher Schutzlosigkeit lebend, dann doch Karriere machte, gab es viele, die ihr Denken und ihre Schriften als „Journalismus abgetan haben“, wie ihr einstiger Schüler, der Dirigent und Autor Leon Botstein im Interview mit Catherine Newmark berichtet. Wie das Exil und die von den Nazis erzwungene Flucht aus Deutschland Arendts Denken beeinflusste, zeigt die Philosophin Stefania Maffeis (FU). „Der philosophische Standpunkt des Exils ist jener der Lücke und des Bruchs. Er steht nicht auf dem sicheren Boden der unhinterfragten Wahrheiten der Vergangenheit und kann auch seine zukünftigen Ziele nicht vorhersehen“ (S.55).

Es sind die Interviews, die Catherine Newmark leitet, die in dem Heft in meiner Sicht besonders herausragen. Die Gründerin des Hannah Arendt Zentrums an der Uni Oldenburg, Antonia Grunenberg ist auch vertreten. Sie stellt sich auch der eher spekulativen Frage, wie denn etwa Hannah Arendt auf den IS reagiert hätte: „Sie hätte mehr darüber nachgedacht, wie sich die westlichen Gesellschaften verteidigen gegen diese Gefahr, ob sie einknicken oder ihre plurale Öffentlichkeit leben und öffentlich verteidigen“, so Antonia Grunenberg (S. 74). Erneut und sehr zurecht wird in dem Heft auf die eigenständige Leistung Arendts hingewiesen, dass sie eben als eine der wenigen „PhilosophInnen“ über die Geburt nachgedacht hat: Mit jedem neuen Menschsein wird jeweils ein Anfang gesetzt, und deswegen „können Menschen die Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen“ (Arendt).

Besonders umstritten ist auch heute die viel zitierte Einschätzung Arendts, der Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann sei eine typischer Vertreter für die Sichtbarkeit der „Banalität des Bösen“. Da finde ich die Hinweise der Philosophin Susan Neimann sehr erhellend: Hannah Arendt habe viele historische Details über Eichmann im Jahr 1961 eben gar nicht kennen können, als sie in Jerusalem den Eichmann-Prozess beobachtete. Noch wichtiger aber erscheint mir der Hinweis von Susan Neiman:. „Das Böse ist (für Hannah Arendt) nicht dämonisch und allumfassend, sondern nur die Summe von menschlichen Handlungen, oft gedankenlosen“ (S. 107). Neiman meint, Arendt habe in dieser „Relativität des Bösen“ eine Art philosophische Theodizee gesehen (S. 107). Praktisch heißt das: Mit besserem Denken und besserem Handeln können wir Menschen gegen das Böse vorgehen. „Die These von der Banalität des Bösen mag zwar historisch für Eichmann nicht zutreffend gewesen sein, aber für Millionen von anderen Menschen stimmt sie schon, Menschen , deren Absichten nicht dämonisch böse waren. Sondern irgendwo zwischen relativ niedrig und deutlich gut rangieren, aber ohne die es keinen Holocaust gegeben hätte“ (ebd.).

Eine andere, schärfere, Vernunft-skeptische Position vertritt die Philosophin Bettina Stangneth, die kürzlich das Buch „Böses Denken“ (bei Rowohlt) veröffentlichte. Sie sagt: „Das Denken ist ein Werkzeug. Und mit Werkzeugen kann man bekanntlich alles Mögliche anstellen – so wie man mit einem Hammer einen Nagel einschlagen oder aber die Schwiegermutter erschlagen kann, deshalb versuche ich, mehr über das böse Denken zu lernen“. Aber darüber wäre viel zu diskutieren, ob Denken überhaupt ein Werkzeug ist und ob nicht auch derjenige, der Böses denkt und Böse tut, sich meistens, wenn nicht gehirngeschädigt, doch wohl frei für diese Tat entschieden hat.
Und der Böse erlebt dieses Böses-Tun dann doch als seine Form seines privaten egoistischen Ego-Glücks und des nur für ihn subjektiven „Guten“. Womit gesagt sein soll, dass auch der Böse letztlich an eine Priorität des Guten (formal) gebunden ist. Das Gute ist also in der Wahrnehmung selbst noch des Bösen vorhanden und als Gutes in der Hinsicht nicht “totzuschlagen”. Das könnte heißen: Menschen als Wesen des Geistes, der Vernunft, sind an die Idee des Guten irgendwie “gebunden”. Aber diese interessanten “spekulativen” Fragen führen über das Heft hinaus.

Politisch sehr aktuell und sehr inspirierend ist das moderierte Gespräch Gesine Schwans mit Volker Gerhardt, die sich beide in den meisten Fragen zum Thema “Öffentlicher Streit in der Demokratie” einig sind. Sie sind sich auch einig, wenn es um die These von Hannah Arendt geht „Macht gründet auf Kommunikation“. Da wird sehr zurecht von beiden Philosophen daran erinnert, dass die Kanzlerin Merkel – etwa auch in der Flüchtlingspolitik – „gerade nicht kommunikativ war“, so Gesine Schwan (S. 142). …“und unsere Kanzlerin ist ganz besonders avers gegen öffentliche Kommunikation und gegen die Kommunikation von Alternativen“ (ebd). Volker Gerhardt sagt: „Die Politiker (Deutschlands, Europas) konnten schon seit langem wissen, was auf Europa zukommt, aber sie haben die Bürger nicht auf den bevorstehenden Ansturm eingestimmt… Aus der Sicht Hannah Arendts haben die Offenheit und die immer auch visionäre Kraft des Arguments gefehlt“ (S, 142).

Insofern möchte man hoffen, dass dieses Heft über Hannah Arendt auch von Politikern gelesen und besprochen wird. Gibt es das eigentlich, dass PolitikerInnen über ihre gemeinsame philosophische Lektüre öffentlich sprechen? Oder sind sie nur im hektischen Geschäft des politischen Agierens und Tuns befasst?

Zum Heft selbst eine kleine kritische Anmerkung: Ich hätte mir einen eigenen Beitrag gewünscht zu der Tatsache, dass Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus von 1964 ausdrücklich darauf besteht, sie sei keine Philosophin mehr sei, sondern eine Theoretikerin der Politik (S. 17). Diese ausdrückliche Abwehr seit ihrer Zeit in den USA, eben nicht mehr als Philosophin zu gelten, hat sicher ihre Gründe: Erkenntnis der Abgehobenheit „der“ (klassischen) Philosophie? Arendt schrieb ja noch bei Heidegger eine Doktorarbeit über die „Liebe bei Augustin“. Ein hübsches Thema?! Spielt etwa auch das Erleben der Spätphilosophie Heideggers (nach 1945) eine Rolle, dieses angeblich so unpolitische Stammeln von Seins – Erfahrungen, so dass Hannah Arendt nicht mehr als Philosophin, zu diesem „Club“ gehördend, gelten wollte?

Die Sonderausgabe des “Philosophie Magazin” über Hannah Arendt hat den Titel “Die Freiheit des Denkens”. Es ist im Juni 2016 erschienen, hat 146 Seiten, zahlreiche Fotos und Graphiken,Literaturhinweise usw. Es kostet nur 9,90 Euro.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Voltaire: Unterwegs zu einem vernünftigen Christentum

„Die wahren Philosophen sind die Apostel Gottes“
Ein Hinweis von Christian Modehn anlässlich von Voltaires Todestag am 30.5.1778 (In unserer Rubrik “Eckige Gedenktage”)

Voltaire nicht nur als Kritiker, bissig, polemisch, einseitig, zu sehen, sondern als einen Denker, der gerade heute Anregungen bietet, um einen vernünftigen, und das heißt einen dem Menschen würdigen christlichen Glauben zu entdecken: Dies mag ungewöhnlich sein und provozierend. Aber nur für den, der nicht unterscheiden kann und will zwischen dem heftigen Polemiker Voltaire in seinen jüngeren Jahren und dem Voltaire, der später differenzierter sieht, etwa, was die Gestalt Jesu Christi betrifft. Voltaire-Forscher, wie auch Bernard Cottret, weisen also auf einen Bruch, eine Weiterentwicklung im Denken Voltaires hin, dies gilt etwa ab 1760. Dass Voltaire dabei einen Widerspruch wahrnahm zwischen den Lehren Jesu und dem real existierenden Christentum/Kirche seiner Zeit (und unserer Zeit?), ist selbstverständlich.
Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf sein “Philosophische Wörterbuch”, an dem Voltaire schon in Potsdam zu bearbeiten begann. Auf dieses “Philosophische Wörterbuch” beziehen sich diese Hinweise.

1.
In Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie kommt vieles vorher Selbstverständliche ins Wanken. So auch der traditionelle Glaube vieler Christen und ihrer offiziellen theologischen Lehrmeister. Bisher galt: Der Gott der Christen (und der Juden) handelt, indem er in die Geschichte eingreift. Diese Meinung ist bekanntlich der Kern der Theologie vom „Bund Gottes mit den Menschen“. Dieser Gott ist in der langen Tradition der liebende und der strafende Gott. Je nach dem. Eben unergründlich, unerklärlich, mysteriös, ein Bild, verwendbar je nach Lage und Laune. Manchmal ist dieser Gott auch tyrannisch, manchmal sehr nationalistisch denkend…Der eine Gott des Alten Testaments hat viele Gesichter. Und Hiob wäre daran fast zerbrochen.
Auch in diesen Corona-Zeiten herrscht Verwirrung unter Theologen: Viele sagen: Gott mit Corona nichts zu tun. Dann hilft er also auch nicht konkret. Andere sagen. Corona hat Gott als Strafe geschickt, damit die Menschheit zur Besinnung kommt. Also dann doch durch den Tod so vieler Menschen an dieser Pandemie…
2.
Aber: Es ist heute evident, dass dieser Glaube an diesen mal hier mal dort helfenden Gott nicht mehr so viel gilt. Als Bild, Mythos von einst, warum nicht. Aber wer kann es noch ernsthaft leugnen: Der Glaube an diesen Gott ist in der Krise. Und das ist gut so. Denn so wird auch der Aberglaube überwunden.
3.
Ich bin so mutig, als religionsphilosophische Anregung einige zentrale Gedanken des Philosophen Voltaire vorzustellen.
Entscheidend ist:
Voltaire ist für mich ein „Fremdprophet“, der von außen kommt, der aber dem Christentum provozierend Wahres sagt. Der katholische Theologe Edward Schillebeeckx nannte diese Philosophen sehr richtig und voller Hochachtung „Fremdpropheten“.
4..
Willkommen also bei Voltaire, dem Fremdpropheten des Christentums, dem noch unterschätzten Erneuerer des christlichen Glaubens, vor allem wegen einiger Texte seines “Philosophischen Wörterbuches”. Vorausgesetzt ist dabei: Man nimmt alle festsitzenden, förmlich „aufgepflanzten“ Scheuklappen ab. Und meint nicht länger, was in dem sich rechtgläubig gebenden Kreisen oder in katholischen Verlagen behauptet wird: „Voltaires prinzipielle Kritik ist mit keiner christlichen Position zu identifizieren oder zu harmonisieren“ (so der Romanist Dirk Hoeges im„Autorenlexikon Religionskritik“, HERDER Verlag, 1979, Seite 296). Und der Philosoph Kurt Flasch meint: . „Je orthodoxer gedacht wird, um so heterodoxer, also ungläubiger, gilt Voltaire“ (so Kurt Flasch in seinem empfehlenswerten Buch „Kampfplätze der Philosophie“, 2008, S. 346).
5.
Der Philosoph und Schriftsteller Voltaire ( Francois Marie Arouet) wurde von katholischer und offizieller staatlicher Seite aufs Heftigste attackiert. Man hat ihm das Leben schwer gemacht. Aber er war klug sich zu schützen und gut zu überleben…
Voltaire entwickelt seine eigenen philosophisch fundierten Glaubensüberzeugungen in der Abwehr des überlieferten, damals wie heute sich rechtgläubig, orthodox gebenden Glaubens der Kirche.
Darum geht es hier! Und nicht um eine umfassende Biografie oder Deutung seiner vielfältigen Werke, die ja schon als vollendet geschriebene Prosa nicht nur inspirieren, sondern be-geistern, d.h. den kritischen Geist wecken soll. Und man muss leider auch feststellen, dass dieser große Geist von antisemitischen Vorurteilen geprägt war. Ohne diese Haltung zu entschuldigen, ist sie dennoch zeitbezogen verständlich zu machen: Durch Voltaires entschiedene Abwehr eines zu menschlich gedachten, willkürlich nach Laune handelnden, manchmal herrschsüchtigen, manchmal liebevollen Gottes der Offenbarung, auch des Alten Testaments.
6.
Das zentrale Hauptmotiv für Voltaires eigenes Glaubens-Denken ist die Kritik an einer Religion und damit an einer Gotteslehre, die die Texte der Offenbarung, also die Bibel, wörtlich versteht und entsprechend rabiat in die Praxis umsetzt. Zu Voltaires Zeit war diese Bibeldeutung die einzige kirchliche und staatlich erlaubte Exegese.
7.
Es ist in dem Zusammenhang entscheidend, Voltaires Buch „Philosophisches Wörterbuch“ zu beachten, das gern als populäre „Kampfschrift im Taschenbuchformat“ (so Karlheinz Stierle) bewertet wird: Collini, Voltaires Sekretär, berichtet: „Der Plan zu diesem Philosophisches Wörterbuch wurde in Potsdam geboren“, im Jahr 1752“, als sich Voltaire am Hof Friedrich II. aufhielt. Erst 1764 ist dieser „Dictionnaire philosophique portatif“ pseudonym – aus verständlicher Angst des Autors – erschienen: Voltaire saß bekanntlich schon als junger Mann im Gefängnis des sehr katholischen Königs…Das Buch wurde begeistert gekauft und gelesen, in neuen Auflagen immer auch ergänzt (1766 schon die 17. Auflage) …und es wurde von den Herrschern in Paris, Genf und Rom selbstverständlich verdammt und verbrannt. Der Papst setzte es auf den Index: „Ein verbotenes Buch“. Theologisch – klassisch etwas begabte Freunde dieser Herrscher schrieben auftragsgemäß ihre oberflächlichen „Gegenschriften“! Das Buch Voltaires als „Bestseller“ erschütterte die Welt.
8.
Die Kritik des damals wie heute üblichen orthodoxen biblischen Glaubens läuft bei Voltaire auf das Urteil hinaus: Dieser Kirchen-Glaube sei eine Form des Aberglaubens, der den Fanatismus verteidigt und fördert und deswegen weithin nur als Wahn bezeichnet werden kann. Beim Glauben an diesen Gott ist sozusagen alles möglich und auch gleichzeitig unmöglich. Gott wird zum Inbegriff der Unvernunft. Und dies nennen manche „göttlich“. Dieser Gott ist eher eine Projektion der zerrissenen Seelen. Vielleicht ein Tyrann?
Dem religiösen, sich christlich nennenden Aberglauben stellt Voltaire seinen von der kritischen Vernunft bestimmten Glauben gegenüber. „Voltaire war nie Atheist“, schreibt der Philosoph Kurt Flasch (a.a.O., S.335). Voltaire wollte den Atheismus absolut NICHT fördern mit seinem berühmten Spruch „écrasez l infame“, „Vernichtet das Niederträchtige, das Unverschämte“: Damit meinte er die engste Liaison von absoluter Herrschaft und fundamentalistisch verstandenem Glauben. Es ist die praktizierte Frömmigkeit, die Voltaire missbilligt, etwa den religiöse Fanatismus von Menschen, die lieber Gott (und den religiösen Traditionen) als den vernünftigen Gesetzen gehorchen. Voltaire schreibt: „Und daher sind diese Frommen überzeugt, in den Himmel zu kommen, wenn man einem anderen Menschen – aufgrund von Gottes Willen – den Hals abschneidet“ (S. 246). Ein aktuell anmutender Hinweis!
Darum die Forderung: „Vernichtet den Aberglauben, auch den in der Kirche“. Diesem Impuls folgt sein Buch, das über einen längeren Zeitraum entstanden ist, das bewusst populär sein will und keinen Anspruch stellt auf ausgereifte philosophische Systematik.
9.
Voltaire verstand sich selbst, um hier einmal eher oberflächliche Kategorien zu gebrauchen, nicht als Deist, sondern als THEIST. Diese Verwischung beider Begriffe war im 18. Jahrhundert üblich. Im „Philosophischen Wörterbuch“ nennt sich Voltaire „Theist“. (Man lese etwa den Artikel „Atheisten“ , S. 71 in der Ausgabe Reclam, Leipzig, 1967).Denn der Gott Voltaires lebt, er spricht in der Seele, er inspiriert zum Handeln, zum Tun des Guten. Er ist der Welturheber. Und nicht nur eine „Weltursache“.
10.
Heilmittel gegen Fanatismus ist für Voltaire die Philosophie, weil sie – wie die vernünftige Religion – „die Ruhe der Seele bewirkt“ (246)
11.
Dies ist das Zentrum von Voltaires Theismus: Gott hat den Menschen ein vernünftiges moralische Gesetz gegeben. Diese Theisten „brauchen keinen äußeren Kultus“ (S. 72). „Sie sind friedfertig“, sie sind „Anhänger der Toleranz“ (73). Diese Glaubenden „sind Philosophen“ (73). „Daher betrachte ich die wahren Philosophen als die Apostel Gottes“ (70). Newton ist Voltaires Vorbild. „Je besser man seitdem die Natur erforscht hat, je klarer hat man deren Schöpfer erkannt“ (71). Diese Theisten verteidigen eine universale Moral der Menschen, „im Gewissen dringt die Stimme Gottes zu den Menschen“ (74). „Möglicherweise gibt es in uns etwas Unzerstörbares, das empfindet und denkt, ohne dass wir die geringste Vorstellung davon haben, wie dieses etwas beschaffen ist…“ (82). Etwas UNZERSTÖRBARES im Menschen könnte es geben! Also etwas „Ewiges“.
12.
Die Vernunftreligion ist für Voltaire unverzichtbar für das Glück der Menschen. Atheismus ist für ihn – wie der Fanatismus – ein, so wörtlich, „Ungeheuer“, das die „Gesellschaft zerreißen und verschlingen kann“ (69). Voltaire respektiert Atheisten „als kühne Gelehrte“. Aber „sie sind vom rechten Weg abgekommen und ziehen die falschen Schlüsse, nehmen ihre Zuflucht zur Hypothese der Ewigkeit der Welt….weil sie Probleme wie die Schöpfung der Welt, den Ursprung des Bösen und andere Schwierigkeiten nicht bewältigen können“(78).
13.
Voltaires Vorschlag, Gott als das höchste Wesen zu denken, kann heute übersetzt werden: Gott als den letzten und wahren Sinngrund wahrzunehmen, als einen umfassenden, bergenden Sinngrund, innerhalb dessen Menschen leben können in allen Situationen, von Liebe und Leid, Freude und Trauer. Jesus von Nazareth ist der Lehrer von Weisheit und das ewig lebendige Vorbild, dem zu folgen schon in diesem „irdischen Leben“ Erlösung bedeutet. Jesus lehrt als göttlichen Auftrag, respektvoll, gerecht, mitfühlend zu leben, gegenüber andere Menschen, gegenüber der Natur.
14.
Diese Ausführungen Voltaires zu seiner vernünftigen, also dem Menschen entsprechenden „theistischen Philosophie“ eröffnen neue religiöse Lebendigkeit. Bittgebete im magischen Sinne brauchen diese Frommen nicht mehr. Sie wissen sich als Gläubige von Gott geborgen, in einen tragenden Sinn gesetzt, der sie nicht verzweifeln lässt angesichts des Todes. Und das besprechen diese Gläubigen miteinander in einem reifen Gespräch ohne Tabus! Und plappern nicht ständig irgendwelche Bittgebete.
Es gibt also eine vernünftige Spiritualität, die sich von Voltaire anregen lässt. Dieser Glaube ist für den einzelnen wie für andere intellektuell nachvollziehbar. Es ist dieser einfache christliche Glaube, der heute so vielen Menschen so erstrebenswert erscheint, als Einheit von einfacher Theorie/Theologie und humaner Praxis.
15.
Die alte kirchliche Welt, mit ihrer unüberschaubaren und immer noch barocken Fülle von Riten und Geboten und Gesetzen und Lehren und Dogmen und klerikalen Hierarchien: Diese alte Welt sollte von diesen vielen religiösen, durchaus auch ideologischen Traditionen befreit werden. Dafür ist Voltaire eine inspirierende Hilfe. Er stellt die alles entscheidende Frage den Christen: Ist euer Glaube vernünftig, ist er in vernünftiger, argumentierender, selbstkritischer Sprache vermittelbar? Hat er positive Auswirkungen für eine humanere Welt? Oder ist er nur ein euch egoistisch berauschendes charismatisches Tralala, ein Wunderglaube, Aberglaube, eine Bindung an Hierarchen, an den Klerus, der mehr sein will als die Laien?

Ob dieses vernünftige Christentum eine Chance hat, Wirklichkeit zu werden?

Nebenbei: Wie in diesem Hinweis gezeigt wurde, ist die Erfahrung und die Auseinandersetzung mit dem tragenden, gründenden Lebenssinn das Zentrum eines vernünftigen Glaubens, auch im Sinne Voltaires. Um so mehr muss es überraschen, dass der noch ziemlich junge Theologieprofessor Joseph Ratzinger im Sommer 1968 (“68”!) sozusagen beim Abschied von der Uni Tübingen das damals viel gelesene Buch “Einführung in das Christentum” veröffentlichte. Und darin auf Seite 47 diese bemerkenswerten Worte schreibt: “Christlich glauben bedeutet ja, sich anvertrauen dem Sinn , der mich und die Welt trägt, ihn als festen Grund annehmen, auf dem ich furchtlos stehen kann”. Ein Wort einer vernünftigen Theologie, könnte man denken. Und zurecht meinen: Damit ist alles Wesentliche gesagt. Aber nein: In den folgenden 250 Seiten dieses Buches und in allen vielen weiteren Büchern wird Ratzinger bis heute zum Apologeten der alten “klassischen”, und wie er stets meint, “katholischen Theologie”. So wird der Stillstand des theologischen Denkens nur einmal mehr bezeugt. Dieses nur auf Verteidigung des Alten bezogene Theologie kann nur von der Polemik gegen alles “liberal-theologische” bestehen. Das wird bei Ratzinger schon 1968 in der Polemik gegen den großen protestantischen Theologen Adolf von Harnack deutlich…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ratzinger/Ex-Papst Benedikt: Die gescheiterte oberste Reinigungskraft

Das Leitbild im Denken Joseph Ratzingers: Die Reinigung
Ein Hinweis von Christian Modehn

“Reinigung” der katholischen Kirche war eines der Lieblingsworte Joseph Ratzingers, zumal, als er im Vatikan tätig war. Diese von ihm so oft beschworene Reinigung der Kirche war förmlich sein Programm, Reinigung gestaltete er als Kardinal wie als Papst vor allem als Verfolgung und Ausschluss von angeblichen theologischen Abweichlern (siehe die Verfolgung von progressiven Theologen, LINK). Den Staub und Schmutz der Traditionalisten (im Umfeld Lefèbvres) sah er nicht, im Gegenteil, diese “Revisionisten” des 2. Vatikanischen Konzils hofierte er höchst persönlich (siehe etwa Ratzinger und das traditionalistische Kloster Le Barroux oder die “Versöhnung” mit den Lefèbvre-Bischöfen). Und mit der nun wirklich gebotenen Reinigung der Kirche von klerikalen Tätern sexuellen Missbrauchs hatte er es nicht so eilig…

Ratzinger war wohl zu schlau, dass er nur das Wort Reinigung als sein Programm verwendete und nicht das politisch bekanntere und viel deutlichere Wort “Säuberung”. Politische Säuberungen (etwa in der Sowjetunion) führten bekanntlich zu Ausschluss, Verfolgung und allerdings auch zu Mord und Totschlag etwa durch Stalin. Die Reinigungen Ratzingers störten und verletzten allerdings meist nur “die Seele” der Betroffenen, und oft auch ihr materielles Wohlbefinden… Wen Ratzinger als “oberster Glaubenschef” allerdings unter den lateinamerikanischen Befreiungstheologen zu einem Kommunisten oder Sozialisten erklärte, war sich seines Lebens in den Diktaturen dort nicht mehr sicher, siehe das Martyrologium in Lateinamerika. Über den Zusammenhang von Reinigung und Säuberung im durchaus von seinem Tun beinahe besessenen Ratzinger (und Johannes Paul II.) werden alsbald kritische Historiker forschen, hoffentlich. CM.

1.
Wer heute noch Zeit und Nerven hat, den entscheidenden theologischen Hintergrund von Joseph Ratzinger, dem einstigen Chef der vatikanischen Glaubensbehörde und nun EX-Papst Benedikt XVI., wahrzunehmen, der sollte seinen obersten Wert studieren: Es ist der Begriff Reinigung. Denn Ratzinger war und ist die unentwegte oberste Reinigungskraft der katholischen Kirche.

Von Reinigung als seiner Hauptaufgabe spricht er auch jetzt wieder: In der neuesten Biografie des Ratzinger Intimus Peter Seewald. Darin bekräftigt Ratzinger seinen bekannten universalen Anspruch: „Ich wollte ja nicht bloß und nicht einmal in erster Linie die Reinigung in der kleinen Welt der Kurie voranbringen, sondern in der Kirche als ganzer.“

So tröstlich: Als oberster Sauberkeits-Chef fühlt sich Joseph Ratzinger noch immer, sonst hätte er nicht schon wieder darauf verzichtet, seinen Mund zu halten und als EX-Papst gebührend Buße zu tun und zu schweigen, wie es sich gehört.
2.
Zur Erinnerung: Es gefiel den Herren der Kirche, vor allem Papst Johannes Paul II., dass Ratzinger schon als Theologieprofessor und Erzbischof sehr die Reinigung liebte, d.h. die Kritik von „dogmatischen Schmutzfinken“.
Deswegen wurde ihm das oberste Reinigungsamt im Dienste des Herrn, im Vatikan, übergeben, das heißt: Die Leitung der Glaubenskongregation, die im 16. Jahrhundert gegründet, als römische Inquisitionsbehörde funktionierte: Reinigung hieß für die Inquisitoren immer Reinigung von so genannten Irrlehren durch Verbrennung und Auslöschung der angeblichen „Beschmutzer“ der angeblich „reinen“ Lehre. Man denke etwa an den prominenten Fall des Giordano Bruno.

Zurück zur obersten Reinigungskraft Joseph Ratzinger: Er setzte als Chef der Glaubenskongregation seit 1981 das große Saubermachen mit Bravour durch: Niemand wie er war so sensibel für den Geruch der häretischen Fäulnis, des angehäuften Schmutzes in so vielen theologischen und philosophischen Büchern, des revolutionären Ungeistes in verderbten Klöstern und theologischen Seminaren. Wo immer Ratzinger den klerikal-theologischen, vor allem den – in seiner Sicht – miesen reformerischen Dreck wahrnahm, schickte er seine Reinigungskolonnen los, die bis nach Brasilien, Peru, El Salvador, Sri Lanka, Indien, Japan ausschwärmten, nach Holland sowieso und nach Frankreich und nach Deutschland auch, etwa zu seinem alten Kollegen Hans Küng in Tübingen. Die Kolonnen, assistiert von Hilfskräften in den jeweiligen Ländern, sollten vom UnGeist der angeblichen Häretiker reinigen, indem sie versuchten, ihnen mindestens den Mund zu stopfen. Auch Küng verbreitete einen üblen Gestank mit seinen Büchern, die sich kritisch mit der Unfehlbarkeit des Papstes und dann auch mit der Kirchenreform befassten.
3.
Interessanterweise hat die oberste Reinigungskraft mit ihren zahllosen Bediensteten immer nur den angeblichen Schmutz beseitigen wollen, den so genannte Linke, schlimmstenfalls angebliche Marxisten, immer aber Reformer, progressive Laien, Theologen, Bischöfe, erzeugten. Den realen Gestank, den rechtsgerichtete und rechtsextreme katholische Kreise erzeugten aus dem Umfeld der Piusbrüder und anderer Traditionalisten, wollte man wie unter eine Art Käseglocke stellen und dadurch wieder als normal erscheinen lassen. Man denke nur daran, wie glücklich und wohl sich die oberste Reinigungskraft Kardinal Ratzinger in traditionalistischen Kreisen fühlte, etwa unter den reaktionären Benediktinern von le Barroux in Frankreich oder im Linzer Priesterkreis oder bei den Petrusbrüdern…Le Barroux war ein traditionalistisches Benediktinerkloster unter Führung des rechtsradikalen, Front National verbundenen Abtes Dom Calvet. Dort hielt sich Ratzinger gern auf und überredete Calvet und seine Mönche, sich mit dem Papst zu versöhnen. “Alles anderes könne so bleiben wie bisher“. Dies nennt man „Reinigung“ der ganz oberflächlichen Art.

Darum merke: Die oberste Reinigungskraft agierte einseitig. Sie sah Schmutz, wo keiner oder wenig war, wie bei den Reformern. Und sie übersah den Dreck, der antisemitisch und sehr rechtslastig gar nicht zu übersehen war.
Und die vatikanischen Reinigungskräfte ignorierten besonders gern den Dreck in Klerikerkreisen, wo viel Geld vorhanden war, etwa bei dem Gründer des Ordens der Legionäre Christi, Marcial Maciel, der als Multimillionär (durch Erbschaften erschlichen) den ganzen päpstlichen Hof immer wieder so reicht beschenkte, vorzüglich mit feinstem, teuren Schweineschinken aus Spanien zum Fest der Geburt Christi… Geld stinkt nicht, war auch die Devise der obersten vatikanischen Reinigungskräfte und sie säuberten nicht.
Maciel wurde als bekannter sexueller Missbrauchstäter von dem polnischen Papst wie ein Freund unterstützt. Ratzinger wusste davon, tat aber als Kardinal nichts dagegen. Auch oberste Reinigungskräfte drücken manchmal alle Augen zu und ertragen gern den Dreck, weil das ja auch Vorteile, finanzielle bei Maciel, bringen kann.
4.
Aber dann wurde aus Ratzinger Benedikt. Plötzlich wurde er mit den Bergen des ganzen alten Drecks konfrontiert, er sah zwei riesige Ansammlungen an Schmutz: Den Umgang des Papst-Staates mit dem Geld. Und den verbrecherischen Umgang, den Tausendende von Priestern mit Kindern „praktizierten“. Und er war empört, dass sich Journalisten erdreisteten, seine ureigene Aufgabe als oberste Reinigungskraft zu ersetzen: Man denke an die so genannten „Vati(can)-Leaks“, also geheime Dokumente zum vatikanischen Schmutz, die 2011 und 2012 an die Öffentlichkeit gelangten. Seither stinkt es förmlich an vielen Orten der Kirche, und der Ex Papst ist hilflos. Wahrscheinlich sieht er seine eigenen Fehler beim Reinemachen: Wenn er Schmutz wahrnahm in diesen dunklen Barock-Behausungen und Palästen des Vatikans, dann wurde Jahre lang alles unter die wertvollen Teppiche gekehrt. Damit es niemand sieht. Wenn die Teppiche angesichts des darunter gekehrten Drecks sich erhoben, Berge bildeten, dann begannen das nervöse Vertuschen, Verschweigen, Versetzen der Mitarbeiter, die Ablenkungsmanöver. Zu viel Dreck war einfach liegen geblieben, manchen Dreck musste er liegen lassen, weil sonst das heilige Image der heiligen Kirche gefährdet gewesen wäre. In seiner Sicht. Aber der Schmutz in der Kirche wuchs dem Reinigungsspezialisten förmlich über den Kopf. Und je schmutziger es wurde, deso nobler und feiner und sauberer wurden die päpstlichen Gewänder und die hübschen roten Schuhe.
5.
Als das Buch von Peter Seewald „Letzte Gespräche“ im Jahr 2016, drei Jahre nach dem Rücktritt, erschien, erklärte der EX-Papst und leidenschaftliche Putz-Mann: Es sei ihm nicht gelungen, die Kirche so vom „Schmutz“ zu reinigen, wie er sich das gewünscht habe (Tagesspiegel, 8.9.2016).

Der Saubermann war letztlich hilflos, er ist gescheitert, sein Rücktritt ist Ausdruck der Resignation und Schwäche. Viel zu viel Schmutz. Der oberste Putzmann trat also ab. Flog mit dem Helikopter nach Castel Gandolfo, kehrte aber bald in den Vatikan zurück und rückte Papst Franziskus auf die Pelle.
Nach einer gewissen Zeit des Schweigens aber machte der Ex – Papst wieder viel Gedöns, nun wieder einmal zusammen mit Peter Seewald. Denn der alte Saubermann weiß: Ich habe aus alter Zeit noch meine Ergebenen, meine Mitarbeiter, meine Gemeinde…Meine parallele (saubere?) Kirche.

Auch jetzt, in Zeiten der Corona-Pandemie, kann der alte Putzmann nicht den Mund halten. Für ihn hat das Reinigen kein Ende. Wenn er schon die Kirche in seinem Sinne nicht reinigen konnte bzw. „nur“ den linken Flügel reinigend ausradierte, dann putzt er eben, ziemlich aufgebracht für einen Greis, auf internationaler, politischer Ebene. So in dem neuen Buch von Peter Seewald. Ratzinger sieht so viel üblen säkularen Humanismus, so viel säkulares Denken, so viel Homo-Ehen und was sonst noch alles aus dem Repertoire des Reaktionären, dass er eigentlich die Moderne in ihrem Schmutz versenken will. Und seine frommen Anhänger, von den vatikanischen Palästen bis nach Traunstein und Regensburg, fragen sich angesichts des Alters des obersten Reinigers: „Mein Gott, wer soll denn das alles noch desinfizieren?“ „Wer beschert uns eine klinisch reine, desinfizierte Kirche, die wir so ersehnen, so schön steril“?
6.
Man denke aber den Reinigungsbegriff einmal weiter: Denn aus der Reinigung wird meist auch Säuberung. Um diesen Begriff zu erhellen, lese man, was Stalin unter Säuberung verstand oder die Nazi-Ideologen: Sie alle wollten das totalitäre Groß-Reinemachen, wollten Säuberungen vornehmen. Auch ein gewisser „Menschenschmutz“, wie sie sagten, wurde dabei weg gefegt, verbrannt. Darum folgt auf die Säuberung oft die Auslöschung.
So gibt es also eine Art Trinität: Reinigung – Säuberung -Auslöschung.

Damit will ich nur auf einen geistigen, politischen Zusammenhang hinweisen. Ich sage ja nicht, dass Ratzinger mit Stalin vergleichbar wäre oder mit den verbrecherischen Reinigungskräften des NS Systems. Ich sage nur: Der einseitige Reinlichkeitszwang Ratzingers war und ist ein Hinweis auf totalitäres Denken gegenüber kritischen Christen und kritischen Menschen überhaupt. Nur we der eigenen rechtslastigen Ideologie entsprach oder viel geld hatte, konnte in seinem nun wirklichen Schmutz bleiben. Treffend sprach ja der große katholische Theologe Hans Küng im Zusammenhang des Vatikans von totalitärer Ideologie. Diese mag jetzt unter Papst Franziskus etwas milder geworden sein, in einigen Kreisen jedenfalls. Aber der üble Geruch des bewusst und leidenschaftlich verteidigten Anti-Demokratischen (Wahlrechte, Synodale Strukturen, Gleichberechtigung de Frauen usw.) bestimmt noch immer den Vatikan und seine vielen internationalen Dependenzen.

Hinweise:
Die vielen Belege zum Thema „Reinigung und Ratzinger“ können hier gar nicht aufgeführt werden.

Als Erzbischof von München entwickelte er in seiner Silvesterpredigt 1980 den Gedanken, es müsse auch eine Art akustischer Reinigung geben: Denn nach dem Papstbesuch 1980 in Deutschland habe es „feindselige Nebentöne“ gegeben.. „und es werde immer auch in der Kirche Nebentöne von schlecht gestimmten Pfeifen geben, die sich vordrängen und den Klang bestimmen wollen“. (Hg. vom Pressereferat der Erzdiözese München und Freising, Seite 3.) Der Wahlspruch von Erzbischof Ratzinger war: „Cooperatores veritatis“, „Mitarbeiter der Wahrheit“. Ein solcher Mitarbeiter reinigt natürlich von Unwahrheiten, wischt sie weg.

Schon am 29.11.1991 hatte der Journalist Hans Jacob Stehle in der ZEIT ein Interview mit Kardinal Ratzinger unter dem Titel „Auch die Religion bedarf der Reinigung“ geführt.

Konkretisiert wurde dieser Reinigungsgedanke in seinem Vortrag bei den Salzburger Hochschulwochen 1992 „Der christliche Glaube vor den Herausforderungen der Kulturen“. Das lief bei Ratzinger darauf hinaus, dass die (nichtchristlichen) Religionen alle auf Christus verweisen. Also dann nahe liegenderweise von der Kirche gereinigt werden. (Styria Verlag, 1993, Evangelium und Kultur, S. 15, 16, 24)

Am 19.1.2004 sprachen Kardinal Ratzinger und Jürgen Habermas miteinander in der Katholischen Akademie in München. Am Schluss seines Vortrags sprach Ratzinger ausdrücklich von der Reinigung, von der „gegenseitigen Reinigung“ von Vernunft und Glaube. Allerdings nannte Ratzinger die Vernunft „das göttliche Licht der Vernunft“, das die von ihm genannten Pathologien auch der Vernunft reinigen soll. Dieses göttliche Licht der Vernunft ist für Ratzinger wohl in erster Linie, als göttliches (!) Licht, ein Bestandteil der Kirche(nführung)? Und nicht die allen gemeinsame menschliche Vernunft? Bezeichnenderweise nannte Ratzinger die Pathologien der Vernunft bedrohlicher und größer als die Pathologien der Religionen. Von Pathologien im Katholizismus war bei ihm in München nur ganz am Rande und im Hinweis auf Kirchenväter des 4. Jahrhunderts die Rede!

Im April 2008 sprach Benedikt XVI. während seiner Reise in den USA von der „Reinigung der Kirche“ usw…auch bei anderen Reisen.

Am 17.5.2010 veröffentlichte Peter Seewald „40 Fragen an den Papst“ und nannte Reinigung das Lieblingswort Ratzingers.

Das Buch von Peter Seewald: „Benedikt XVI. Ein Leben. 1184 Seiten. 2020. Verlag Droemer/Knaur.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Den Wahn des Aberglaubens überwinden. Denken in Krisenzeiten. 10. Teil.

Hinweise von Christian Modehn am 26.4.2020

Das Motto: “Der Aberglaube ist der schlimmste Feind der reinen Verehrung, die wir dem höchsten Wesen schuldig sind”. (Voltaire,Philosophisches Wörterbuch, Leipzig, 1967, Seite 84)

Aberglaube gehört auch heute zu den sehr häufigen geistigen Verirrungen. Aberglaube ist eng mit dem Glauben an Wunder und Magie verbunden. Politisch zeigt sich Aberglaube in Verschwörungstheorien. Und im politischen wie religiösen Fanatismus.
Es gilt diese Entwicklung: Aus unvernünftigem Glauben wird Aberglaube. Aus Aberglaube wird Fanatismus:”Ich habe die absolute Wahrheit”. Aus Fanatismus entstehen Verschwörungstheorien :”Der Politiker X ist mit bösen Mächten „irgendwo YZ verbunden”.
Gibt es Heilmittel? Das wirksamste, privat wie politisch, ist der Gebrauch der Vernunft. Das ständige Ringen um eine vernünftige Welt. Dies ist die Welt der geltenden universalen Menschenrechte.
Die folgenden Hinweise sind vor allem auf den religiösen Aberglauben bezogen, der vor allem immer noch stark den Katholizismus bestimmt. Ohne den konfusen Glauben an allerhand Wunder gibt es keinen Katholizismus. Und ohne Aberglauben auch keinen evangelikalen Glauben und keine Pfingstkirchen und keine Orthodoxie…, so dass man meinen könnte, die Konfession der meisten Menschen auch heute sei der Aberglaube. Nach ihm wird leider in religionssoziologischen Untersuchungen/Interviews nicht gefragt. C.M.

1.
Wenn jemand an Gott glaubt, an himmlische Mächte oder an das Nichts, lebt trotz dieser Haltung immer auch – mehr oder weniger in ihm – der Aberglauben. Dieser kann förmlich zur Verstärkung erklärt werden angesichts der Schwächen des „eigentlichen“, des korrekten Glaubens, wie immer der dann auch aussehen mag. Man hat zu Gott um ein Wunder gebeten, dieses geschah aber nicht, also sucht sich selbst der Fromme anderweitig zu behelfen. Offenbar gilt das Motto: Etwas mehr spirituelle Praxis, und sei sie noch so absonderlich, kann ja nicht schaden, da wird die leise Stimme der kritischen Vernunft stillgelegt. „Mehr hilft mehr“, heißt es dann. So können selbst dogmatisch korrekte Katholiken gleichzeitig an die Wunderkraft heiliger Quellen (aus Lourdes) oder an die Rettung durch bestimmte Öle (etwa im Rahmen des Kultes der heiligen Rita) oder an die Heilkraft der Reliquien glauben. Andere, nicht konfessionell gebundene, sich aufgeklärt gebende Leute, können okkulte Praktiken hilfreich finden, etwa Formen des Spiritismus oder, banaler noch, das Tischerücken. Man denke an die Vorlieben des Dichters Victor Hugo oder des Schriftstellers Conan Doyle. Bekannt ist, dass der französische Staatspräsident Mitterrand regelmäßig seine Astrologin, Elisabeth Teissier, konsultierte. Wie viele astrologische Ratschläge ins politische Handeln umgesetzt wurden, bleibt wohl ewig unbekannt…Was als „new age“ und „neue Esoterik“ verkauft wurde, war doch wohl überwiegend großsprecherischer Aberglauben.
Es ist nicht einfach, als Mensch dem Aberglauben zu entkommen, selbst wenn man den Anspruch nach außen formuliert, sozusagen ständig vernünftig zu denken und vernünftig zu handeln und im Alltag einzig den Erkenntnissen der Vernunft zu folgen. Zu vielfältig, zu zerrissen ist offenbar „das Innere“, die Seele. Aber ist die „unbewältigte Zerrissenheit“ eine Entschuldigung, sich an abergläubische Praktiken zu binden? Es fällt also schwer, die vernünftige Balance zu bewahren oder immer wieder neu zur Vernunft zu kommen. Tatsache ist ja auch: Die Vernunft kann gar nicht alle Fragen nach einem letzten Grund und Sinn des Lebens schlüssig und allgemein gültig, geschweige denn naturwissenschaftlich – exakt, beantworten. Diese Erkenntnis von den Grenzen der Vernunft ist ihrerseits vernünftig, sie ist eine evidente Erkenntnis der Endlichkeit und Begrenztheit der Menschen. Diese Erkenntnis von den Grenzen des Menschen gilt es vernünftigerweise anzunehmen und auszuhalten und trotzdem nicht in den Nebel des Aberglaubens hinab zu steigen. Aber viele sind zu schwach. Sie weichen, irgendwelche Hilfe bzw. Strohhalme suchend, in die Gefilde des Magischen und Wunderbaren aus. Und dann bindet man sich oft an Meister dieser undurchsichtigen Gründe und Abgründe. Die Gurus können schnell das eigene Leben bestimmen. Mit der Autonomie, der zurecht viel besprochenen Selbständigkeit, ist es dann vorbei. Aberglauben entmündigt.

Es könnte hier auch ein weiteres Thema diskutiert werden: Die Verschwörungstheorien als Ideologien eines politischen Aberglaubens. Gerade in CORONA-Zeiten basteln sich hilflose und geistig verwirrte Politiker eine Mischung aus skurrilen, vor allem menschenverachtenden Ideen zusammen, um Sündenböcke für umfassende, medizinische wie auch ökonomische Krisen zu benennen, Krisen, die sie als Politiker selbst durch ihre Ignoranz mit-verursacht haben. Man denke an den jüngsten Wahn, den islamische Obergelehrte in der Türkei Ende April 2020 verbreiten, in bestem Einvernehmen mit Herrn Erdogan, wenn sie behaupten: “Die Homosexualität (also damit die Homosexuellen) ist schuld an der Corona-Pandemie”. (https://www.focus.de/politik/ausland/bewertung-von-vorne-bis-hinten-korrekt-coronavirus-erdogan-verteidigt-homophobe-theorie_id_11933890.html)
Ich will dieses Thema Verschwörungswahn als Form des politischen Aberglaubens hier nicht weiter ausbreiten, ich bleibe bei dem explizit religiös gefärbten Aberglauben.

2.
Meines Erachtens unterstützen und fördern Verantwortliche der katholischen Kirche den Aberglauben, also spirituelle Lehren und Praktiken, die man schlicht magisch nennen muss. Diese Magie wird von der Krise wachgerufen, sie schlummerte förmlich verdeckt im Glauben und in einer sich kritisch gebenden Theologie. Es gibt viele Beispiele für der Aberglauben, der letztlich nichts anderes ist, als mit allen menschlichen Mitteln irgendwie die göttliche Wirklichkeit zu beeinflussen, umzustimmen, zum direkten Handeln zu bewegen, selbst wenn denn dieser personal gedachte Gott im Himmel als Schöpfer dieser Welt die eigenen, von ihm geschaffenen Naturgesetze durchbricht. Und etwa Person A rettet, Person B aber nicht. Damit wird das volkstümliche, aber übliche Gottesbild problematisiert. Also die Vorstellung von Gott als eines sich ständig aktuell um den einzelnen, je nach dessen Wunsch, kümmernden transzendenten Wesens. Die populäre Vorstellung eines Bundes zwischen Gott und Mensch (Bund als Versprechen des Beistandes, der Hilfe) wird damit zweifelhaft! Und dies hat sehr weit reichende theologische Konsequenzen, weil ja die offiziellen Kirchen immer noch dieses populäre Gottesbild dogmatisch vertreten und verkünden. Das kann hier nicht weiter diskutiert werden.
Entscheidend bleibt die Erkenntnis: Christlicher Glaube ist „eigentlich“ etwas Elementares, etwas Einfaches: Christlicher Glaube ist ganz entschieden und vor allem ein Grundvertrauen, ein Urvertrauen darauf, dass die Welt und die Menschen in einem letztlich sinnvollen Gesamtzusammenhang leben. Sozusagen auf einen schöpferischen, tragenden, wohlwollenden Urgrund bezogen sind. Wer das weiß, braucht keine einzelnen Wunder mehr, braucht keinen frei erfundenen Aberglauben mehr, keine Magie. Aber diesen einfachen, also elementaren Glauben lehren die meisten Kirchen nicht. Im Gegenteil:
3.
Anstatt von diesem Grundvertrauen/Urvertrauen als der Basis menschlichen Lebens zu sprechen, reden katholische Bischöfe Zwiespältiges: So etwa Pierre-Antoine Bozo, Bischof im französischen Limoges, der sich gedrängt fühlte, am 19. April 2020 eine für Limoges populäre Reliquie (aus dem 3. Jahrhundert, angeblich) des heiligen Martial zu zeigen. Anschließend weihte er die ganze Stadt der Jungfrau Maria. Bischof Bozo begründete dieses öffentliche Vorzeigen alter Knochen: „Es gibt keinen Grund, bei diesen außergewöhnlichen Umständen heute, auf die übernatürlichen Mittel zu verzichten, über die wir verfügen (sic!), um Gott um Hilfe zu bitten. Einmal abgesehen von den natürlichen Mitteln, um die Epidemie zu bekämpfen“. Das Vorzeigen von Reliquien und das Gebet vor diesen Knochen soll also übernatürliche Wunderkräfte mobilisieren, die parallel gesetzt werden zu den natürlichen, d.h. den medizinischen, wissenschaftlichen Initiativen, sozusagen als Konkurrenz bzw. als Ergänzung. Als wäre nicht schon die Forschung der Ärzte und der anderen Wissenschaftler ein Beweis für die Kraft der menschlichen Vernunft, Linderung und Heilung zu bewirken. Bekanntlich wissen Christen, dass die Vernunft (also auch die Wissenschaft) von Gott dem Schöpfer den Menschen gegeben wurde. Diese Vernunft ist in dem Sinne eine heilige Gabe Gottes, was will man eigentlich mehr? Die Vernunft war und ist ja immerhin so weit erfolgreich, dass zum Beispiel eine andere Pandemie, die Pest, durch Medikamente weithin medizinisch eingeschränkt, wenn nicht geheilt werden kann. Diesen medizinischen Sieg haben wohl, ernsthaft betrachtet, NICHT Bittprozessionen oder Reliquienverehrungen bewirkt. Jedenfalls ist das nicht „nachweisbar“.
Aber schlimmer noch: Der Bischof von Limoges antwortet auf die Frage „Wie kann bei dieser Tatsache (also der Verschiedenheit von übernatürlicher und natürlicher Heilung) dann noch den Glauben von Aberglauben unterscheiden?“„Es gibt immer ein bisschen diese Mischung“, antwortet Bischof Bozo, „ein sehr schöner Glaube an die Macht Gottes, an seine Vorsehung, kann gelegentlich zusammenleben mit einer gewissen Folklore, mit einem gewissen Aberglauben…Ja, der Heiligenkult ist manchmal ein bisschen gemischt (mélangé), aber es handelt sich trotzdem um einen authentischen, spirituellen Weg zu Gott“.
Anders gesagt: Der Bischof will den Wunder- Kult um die heiligen Knochen nicht abschaffen. Er will den Leuten nicht sagen: Hört auf damit, bildet euch lieber gemeinsam weiter, seid solidarisch, meditiert über den Sinn des Lebens. Noch einmal: Obwohl der Bischof weiß, dass im Glauben an die heilsamen Reliquien Aberglaube und Folklore (und damit also prinzipiell auch Profit für Kirche und Stadt) entscheidend sind, belässt er es bei den angeblich „ehrwürdigen Traditionen“ (siehe dazu La Croix, Paris, 21.4.2020)
4.
Geradewegs absurd sind die „Corona-Äußerungen“ vieler anderer konservativ orientierter Kirchenleute. Das gilt für Evangelikale, Orthodoxe wie auch für Katholiken. Der pensionierte Weihbischofs von Salzburg, der Theologe Andreas Laun, wärmt eine alte Drohung wieder auf, wenn er verkündet: „ Man mag Corona eine „Plage“ oder eine „Strafe Gottes“ nennen, biblisch betrachtet ist es richtig…“ Als Begründung führt Laun an: Schon Jesus lehrte selbst der Überzeugung, „von einem strafenden Gott“.Dieser strafende Gott, der Seuchen und Pandemien über seine Schöpfung verfügt, ist der brutale Gott, der himmlische Mörder dessen, was er selbst geschaffen hat. Das kann Jesus allerdings nicht gelehrt haben, er nannte Gott bekanntlich ganz entschieden den liebenden „Vater“. (Zu Bischof Laun siehe. Kath.net vom 20.4.2020).
Ähnlich wie Laun denkt der katholische Bischof Athanasius Schneider von Kasachstan: Die Epidemie ist seiner Meinung nach zweifellos “ein göttliches Eingreifen, um die sündige Welt und auch die Kirche zu züchtigen und zu reinigen“. (Kath.net 1.4.2020).
Man schaue sich die aktuellem Fotos an, wie Priester in Helicoptern des Militärs über die Städte der Dominikanischen Republik gleiten, die Fenster im Helicopter leicht geöffnet, die Priester mit bestem Mundschutz. Und sie strecken die goldene Monstranz hinaus, darin die Hostie, also den Leib Jesu Christi in dieser rechtgläubigen Interpretation: Und sie segnen mit diesem Stückchen Brot (der Leib Christi kam ja bekanntlich grässlich um am Kreuz) die Stadt und die Menschen. Kann man sich mehr offiziell – katholischen Aberglauben noch vorstellen? Sollen doch diese Priester besser Zettel und Plakate drucken, die auf den Schutz vor dem tödlichen Virus hinweisen. Sollen sie doch die Menschen bilden, warnen, aus den Elendshütten herausholen und wenigstens für ein paar Wochen in den prächtigen Bischofspalais mit – wohnen lassen. Aber nein: Wie im Mittelalter soll mit einer Art Wundermittel, der Monstranz mit der Hostie, das Virus vertrieben werden.
Die Liste des Aberglaubens heute ist lang, und der Aberglaube gebiert Ungeheuer, wie Goya treffend sah. Man sehe sich bitte das Fotos an mit dem Priester, der von einem Helicopter aus die Stadt segnet. LINK

In Bregenz wurde eine Ausstellung über die traditionell sehr bekannten „14 Nothelfer“ vorbereitet, also jene Heiligen der frühen Kirche, die himmlischen Beistand in schwierigsten Zeiten gewähren sollen, wie die heilige Barbara, der heilige Georg, der Pantaleon usw. Der Kurator Markus Hofer hat sich eine eher flapsige Art bewahrt, wenn er nach der Bedeutung dieser Heiligen befragt wird. Welchen Nothelfer er dann als Allheilmittel empfehlen würde“, heißt die wörtlich zitierte Frage. Darauf sagt Markus Hofer: “Den einen Nothelfer gibt es da nicht. Am besten –wie beim Coronavirus jetzt – hilft“, so wörtlich, „das Versicherungspaket“. Das heißt konkret: Bitte gleich mehrere Nothelfer buchen, d.h. anflehen. Für Kurator Markus Hofer ist der heilige Achatius ein, so wörtlich, „guter Tipp“ (In Tag des Herrn, 15. März 2020, Seite III).
Und evangelikale Pastoren fühlen sich in ihrer Arroganz über medizinischen Erkenntnisse und staatliche Verordnungen erhaben, dass sie trotz Corona öffentliche Gottesdienste mit einem teilnehmenden Massenpublikum veranstalten, wie etwa der viel zitierte Trump Freund, der Pfingstler Prediger Rodney Howard-Browne.
Man verstehe bitte in dem Zusammenhang die Aktualität des biblischen Verbotes, dass sich der Mensch Bilder von Gott schaffe. Und man erfreue sich bitte einmal neu an den bildlose Kirchen der reformierten Tradition, also der auf Calvin sich beziehenden Kirchen und der weithin bildlosen Kirchen der Remonstranten.
5.
Die meisten christlichen Kirchen haben sich jedenfalls allgemeinen Charakteristika von „Religionen überhaupt“ angeglichen, so dass sie das Absonderliche, Mysteriöse, Spinöse selbst nicht nur als irgendwie religiös, sondern als christlich und kirchlich verstehen und ins kirchliche Leben problemlos integrieren, siehe Limoges. Und das ist, was katholische und orthodoxe Kirchen angeht, seit Jahrhunderten üblich: Man denke nur daran, dass jetzt (April 2020) in Polen alle Christen von den katholischen Bischöfen – wie schon im Mittelalter – aufgefordert werden, angesichts der lang anhaltenden Dürre „beharrlich und inständig zu beten, um Regen zu erflehen“: Sie sollten darauf vertrauen, dass Gott die Gebete erhöre. Manche Beobachter meinen, gemeinsames Nachdenken über die Herkunft des (schlimmen) Kimawandels sei hilfreicher. (Zu den Regen-Gebeten siehe kath.net vom 22.4.2020).
Man möchte schmunzeln, wenn sich der orthodoxe Metropolit Pawel von Weißrussland in Minsk in einen Hubschrauber setzt, sich eine Ikone der Mutter Gottes unter den Arm klemmt und, mit einem großen Weihwasser –Kübel ausgestattet, die ganze Stadt mit heiligem Wasser von oben herab besprengt, “damit der Allmächtige unser Land und das fromme weißrussische Volk vor der verhängnisvollen Epidemie schützt”, wie der Theologe und Erzbischof betont. (Quelle: Dom Radio Köln, 23.3.2020).
Historiker sollten sich mit dem Thema “Die enge Bindung des Christentums an den Aberglauben” weiter befassen, und etwa die Ideen-Welt des französischen Dominikaner Theologen Pater Thomas Philippe studieren: Er hatte Frauen zu Sex-Kontakten überredet und gezwungen mit dem Argument, dadurch würden himmlische Gnaden auf die Frauen herabkommen. Aber nur unter der Bedingung, so lehrte Pater Philippe, dass die missbrauchten Frauen Stillschweigen über diese sonderbare “Mystik”, von der er sprach, bewahren. Recht absurde mystische, durchaus krankhafte Vorstellungen wurden von Pater Philippe auch zu Maria, der Mutter Jesu von Nazareth, verbreitet: Er vertrat die Meinung, Maria sei eigentlich so etwas wie die Gattin Jesu gewesen, Phantasien, die damals schon der Philosoph Jacques Maritain und der Theologe Charles Journet zurückwiesen. Selbst der Vatikan war gegen diese mysteriöse Mystik. Darum merke: Jegliche Mystik immer auch auf Aberglauben prüfen. (Über diesen Aberglauben von Pater Thomas OP siehe: https://www.la-croix.com/Archives/2015-10-16/L-Arche-fait-la-lumiere-sur-la-face-cachee-du-P.-Thomas-Philippe-2015-10-16-1369653)
6..
Der Aberglaube also blüht aller Orten. Die Schwäche der kritischen Vernunft „im Volk“ ist dabei das wichtigste Instrument der Herrscher, damals wie heute. Sie lieben geradezu den Aberglauben, das Irrationale, das sich so leicht umbiegen und manipulieren lässt. Willkürherrschaft und Aberglauben sind aufs engste verbunden. „Der Abergläubische wird vom Fanatiker beherrscht und wird selbst zum Fanatiker“, schreibt treffend Voltaire in seinem „Philosophischen Wörterbuch“ zum Stichwort Aberglaube. Und sehr richtig sind die weiteren Ausführungen Voltaires: “Ausnahmslos alle Kirchenväter haben an die Macht der Magie geglaubt. Die Kirche hat die Magie immer verdammt, aber immer an sie geglaubt“. Die Erkenntnisse Voltaires zur Religion, zu den Kirchen und der Theologie inspirieren noch heute. Aber welcher Theologe, welcher Bischof, hat jemals ein paar Zeilen dieses Buches als kritische Inspiration wahrgenommen? Die Zitate von Voltaire habe ich der Ausgabe der „Universal-Bibliothek“ von Reclam entnommen, Leipzig 1967, S 53 ff. Voltaires „Philosophisches Wörterbuch“ ist leider nicht mehr im Buchhandel erreichbar, antiquarisch finde ich die Preise „abergläubisch“ hoch.
7.
Aberglaube verbirgt sich bis heute auch in vielen dogmatischen Traditionen der Kirchen, vor allem in der ganz zentralen Lehre von der Erbsündenlehre. Sie wurde von dem Kirchenvater Augustinus erfunden und bis aufs Blut verteidigt, um die Macht der Kirche, d.h. des Klerus, hinsichtlich der absoluten Notwendigkeit der Taufe (gespendet vom Klerus !) zu betonen.
Werden die Kirchen sich von vulgären religiösen, d.h. magischen Vorstellungen befreien können? Werden sie helfen, dass Glaube und kritischer Geist eine unzertrennliche Einheit bilden? Dazu fehlt der Wille bei den Kirchenführern. Nur einige protestantische, liberal-theologische Theologen sind da auf der Höhe der Reflexion. Aber deren Kirchen sind zahlenmäßig klein… die Leute lieben offenbar, wenn sie schon religiös sein wollen, den Zauber, das Mysteriöse, das Unverständliche, die Magie, die man dann als typische religiöse Kennzeichen definiert.
8.
Die Frage ist: Wie kann man den Aberglauben einschränken und überwinden? Welche Rolle spielt die Bildung, das Verstehen der Psyche, die argumentative und emotionale Überwindung infantiler Gottesbilder? Denn sie begegnen uns ständig, in der ganze Ikonographie der Kirchen, man denke an die bilder-Gewalt der Barock-Kirchen. Kann man bei diesen Bilderwelten und Bilderfluten noch einen christlichen Gauben ohne Aberglauben entwickeln?
9.
Nur wer es wenigstens als einzelner wagt, alle Bilder und die meisten bildhaften Dogmen für sich beiseite zu legen, kann sich vom Wahn des Aberglaubens befreien.
Aberglaube ist eine Krankheit, er verdirbt das menschliche Selbstbewusstsein und zerstört die vernünftige Kommunikation unter den Menschen, auch angesichts von Krisen, auch angesichts der Corona-Pandemie.
10.
Wird die Corona-Krise einmal in die Geschichte eingehen als ein massives Aufflackern des magischen religiösen Denkens, Aberglaube genannt, unter den Christen? Wird man sich an den theologischen und philosophischen Widerstand gegen diese verrückte religiöse Lust an der Magie, am Aberglauben, noch erinnern? Eher wohl nicht. Vielleicht ist der Aberglaube eine unheilbare religiöse Krankheit.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wozu Philosophie in Corona-Zeiten? Denken in Zeiten der Krise 9.Teil.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 19.4.2020

1.
Die Frage „Wozu Philosophieren, wozu Philosophie in Corona-Zeiten“ ist eine radikalere, der Zeit verpflichtete Form der allgemeinen Frage: “Wozu noch Philosophie“. Theodor W. Adorno hat sich 1962 mit diesem Thema auseinandergesetzt. Der Aufsatz mit diesem Titel ist im Suhrkamp Band „Eingriffe“ (1963) veröffentlicht. Adorno wusste von dem „amateurhaften Klang“ (11) dieser Frage, aber er fand sie wichtig in damaligen Zeiten und keineswegs „unter seinem Niveau“. Sie ist heute von neuer Aktualität. Es geht um die Erkenntnis des gleichermaßen kritischen wie besinnlichen Denkens.
2.
Zunächst zu Adorno, den man sich förmlich als „Vorbild“ für diese Frage wählen kann: Denn dass umfassende Reflexion, selbstkritisches Nachdenken, kritische Analyse gängiger, alltäglicher Begriffe zur Leistung von Philosophie gehört, ist für ihn zweifelsfrei.
Adorno erinnert zunächst an Hegel, der es als Aufgabe der Philosophie erkannte und sich dieser Herausforderung auch selber stellte, „die Zeit in Gedanken zu fassen“. „Als erster erreichte er die Einsicht in den Zeitkern der Wahrheit“ (26), betont Adorno. Den „philosophischen Kern seiner Zeit“ hat auch er stets zu fassen gesucht. In dem Aufsatz zeigt Adorno sich überzeugt, dass „der Zustand der Welt“ „auf die Katastrophe zutreibt“ (23). Er dachte als Philosoph an die Zukunft der Menschheit. Philosophie entwickelt aus der Kritik gegenwärtiger Verhältnisse nicht nur Utopien, die ein besseres Leben zeigen und für möglich halten. Philosophie hat auch angesichts der Analyse der Gegenwart eine Art Prognose mitzuteilen für das Kommende, wenn denn die Gewohnheiten der Menschen jetzt so bleiben wie sie jetzt sind. Adorno hatte verschiedene katastrophale Entwicklungen damals (1963) vor Augen: Den Holocaust als die technische, bürokratische Ausrottung von vielen Millionen Menschen, vor allem der Juden. Adorno sah, wie nach dem Krieg die totale Verdinglichung der humanen Erfahrung kein Ende nimmt, er dachte an die Atombomben, an die geradezu als normal empfundene dogmatische Bevormundung der Bürger selbst in so genannten Demokratien…. Themen, die Adorno immer wieder ausführlich dargelegt hat.
3.
Für manche Adorno-Leser wird es überraschend sein, wenn in dem Aufsatz ausdrücklich auch „eine Spur von Hoffnung“ (18) genannt wird, eine Hoffnung, „dass das Übel … doch nicht das letzte Wort behalte“(18). Hoffnung wird nur als Widerstand gelingen. Und in diesem Widerstand gegen das Übel leistet auch die Philosophie, d.h. das Philosophieren, ihren eigenen, spezifischen Beitrag: Als Kritik, die „Widerstand ist gegen die sich ausbreitende Heteronomie“, als „machtloser Versuch des Gedankens, seiner selbst (als Mensch) mächtig zu bleiben“ (17). Angesichts der Corona-Pandemie haben Philosophen manchmal den Eindruck gegenüber den Ärzten, den Spezialisten der Virologie usw.: Eher nur marginal zu sein, nicht gebraucht zu werden. Dabei sind sie es doch eigentlich, die die kritische Lebendigkeit der Vernunft ständig „befeuern“ sollten. Adorno spricht bescheiden von einem „machtlosen Versuch des philosophischen Gedankens“. Macht muss Philosophie ja nicht gleich haben, aber sie sollte unter den Menschen fürs ständige Fragen und Nachfragen sorgen!
4.
Adorno erkannte damals als seine wichtigsten Gegner, die es argumentativ an den Rand zu stellen gilt, den logischen Positivismus (etwa Carnap) wie auch das Seins-Denken Heideggers: Er wollte die damals (1963) vorherrschenden „philosophischen Schulen“ so auseinander nehmen, man möchte sagen intellektuell blamieren, dass beide „Schulen“ als haltlose Gestalten ideologischer Verblendung wahrgenommen werden. Philosophie darf für Adorno weder das Selbstverständliche (d.h. „positiv“ Gegebene) noch das Unverständliche, Mysteriöse in Seins-Schickungen (das sich jeglicher Debatte entziehende Seins/Seyns-Denken) hinnehmen.
Denn es geht um die Rettung des kritischen Gedankens, des allgemein disputierbaren Gedankens, es geht um Emanzipation. Diese können der das Gegebene umstandslos bejahende Positivismus und das gehorsame, „hörige“, Seins-Denken nicht leisten.
Adorno stellt in seinem Aufsatz diesen ideologisch verformten Schulen das „Philosophieren“ und ausdrücklich die „Besinnung“ als Form der Philosophie, seiner Philosophie, (23) gegenüber. Diese Besinnung hilft, die Zeit auf den Begriff zu bringen. Also Philosophie als relevant für die Gegenwart zu erweisen.
4.
Was hat das mit der Corona-Krise zu tun? Es gilt, philosophisch, argumentativ, nicht bloß optimistisch naiv-behauptend oder religiös bekennend, „eine Spur der Hoffnung“ aufzuzeigen und einem noch größeren drohenden Unheil Widerstand zu leisten: Denn philosophisch ist mit Adorno klar: Das „Übel soll nicht das letzte Wort behalten“ (18).
Aber das kann nur dialektisch gelingen, wenn sich das Denken an dem Negativen erst einmal aufhält, es ansieht, in allen Dimensionen, auch die zukünftigen bedenkt. Nur wer durch das Negative hindurch gegangen ist, hat Aussicht auf „die Spur der Hoffnung“. Philosophie ist – auch für Adorno – kein beliebiges Hobby und auch keine in sich verschlossene akademische Veranstaltung besonders Begabter oder nur eine marginale historische Disziplin. Philosophie muss die Gegenwart, „die Zeit in Gedanken fassen“. Wenn sie das versucht und leistet, hat sie einen eminent praktischen Auftrag. Und auch dieses: Sie hat einen hilfreichen Auftrag.
5.
Philosophie sogar als Therapie: Dieser Gedanke drängt sich auf, der große Philosoph Pierre Hadot hat immer wieder nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht. Er erinnerte an das „praktische Profil“ des hellenistischen und römischen Denkens, etwa der Philosophie der Stoa oder Epikurs.
Philosophie ist auch heute niemals l art pour art. Darum muss auch heute die philosophische Überzeugung bedacht, philosophisch meditiert werden: „Philosophieren heißt Sterbenlernen“! Philosophieren wird als eine Art geistiger Übung begriffen, die dann, wenn sie das Ganze des (eigenen) Lebens berührt, zu einer geistlichen, spirituellen Übung (Exerzitien) wird. Die griechischen Philosophen sprachen von askesis, Askese, als Gestalt einer Lebenskunst. Dann kann es im und durch das Denken zu einer Bekehrung kommen, zu einem Umbruch hinsichtlich der Werte und Normen des Lebens. Die wesentlichen Erkenntnisse der Philosophie werden als knappe Sätze, als Formeln, Sentenzen, verbreitet; sie werden als Vorschläge, die zu einem wahren humanen Leben führen, immer wieder von einzelnen inmitten des Lebens wiederholt: „Denke daran, dass du sterben wirst“, ist eine solche Erkenntnis. Sie führt zur Distanz gegenüber allen Anhaftungen und Bindungen an die alltägliche Welt der Sinneserfahrungen. Philosophieren kann also die Seele heilen, schreibt Pierre Hadot (in „Philosophie als Lebensform“, Fischer Taschenbuch, 2001, S. 21). Hadot bezieht sich auf Platon, der wohl als eine der ersten die Maxime formulierte „Philosophieren hießt Sterbenlernen“ (ebd. 29 ff). „Sich im Sterben üben bedeutet, sich zu üben, in seiner Individualität und in seinen Leidenschaften abzusterben, um die Dinge aus der Perspektive der Universalität und der Objektivität zu sehen“ (30). Es geht also bei dieser Maxime um eine bessere Klarsicht. Die Stoiker haben diese Maxime aufgegriffen, und dabei die Wandlung der Grundstimmung im Menschen betont. Der skeptische und mit der Stoa eng verbundene Philosoph Montaigne (1533-1592) hat einen seiner berühmtesten Essays unter den Titel „Philosophieren heißt Sterben lernen“ veröffentlicht, (in der hervorragenden Übersetzung von Hans Stilett, Eichborn Verlag, 1998, Seite 45 – 52, dieser ist die Nr. 20 aller unter dem Titel „Essays“ versammelten kleineren Essays, auch diese Nr.20 wurde wohl 1572 verfasst, gehört also zu den frühen Essays Montaignes).
„Das Vorbedenken des (eigenen Todes) ist Vorbedenken der Freiheit. Wer sterben gelernt hat, hat das Dienen verlernt.“ (48). Das heißt in die heutige Zeit übersetzt; Aus dem Gedanken an die Sterblichkeit aller Menschen, auch der Herrscher, kann der Gedanke an die Gleichheit aller Menschen, auch in rechtlicher Hinsicht, sich als wahr aufdrängen. Und die Frage bleibt: Könnten Herrscher menschlicher, toleranter, weiser, gerechter werden, wenn sie selbst denn ständig die eigene Sterblichkeit vor Augen hätten? Hat das Denken an den eigenen Tod eine Ausstrahlung auf eine humanere Lebensgestaltung?
6.
Damit ist nicht gesagt, dass sich die aktuelle Bedeutung der Philosophie in Corona – Krisen – Zeiten in der Erinnerung an die Sterblichkeit des Menschen erschöpft. Philosophie ist in aller Vielfalt der Entwürfe immer eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie Menschen in tiefen Erschütterungen leben und überleben können. Dabei kann man Überraschungen erleben, wenn man etwa „Auszüge aus dem letzten Interview“ liest, das Jean Paul Sartre seinem Freund Benny Levy gegeben hatte (abgedruckt etwa in der „Sondernummer“ von „Pflasterstrand J.P. Sartre“, 1980 in Frankfurt /M. publiziert, hg. von Daniel-Cohn Bendit). In dem Interview bekennt sich Sartre zu einem Humanismus, der ganz wesentlich als eine Beziehung zum anderen Menschen verstanden werden muss. Es ist für ihn absolut abzulehnen, „sich des Menschen als Mittel zum Zweck zu bedienen“. Sartre plädiert vielmehr ganz stark für einen Humanismus, der auch die „Dimension der Verpflichtung“ (41) respektiert: „Ich verstehe darunter, dass in jedem Moment, in dem ich mir einer Sache bewusst bin, immer auch eine Art Forderung da ist, die über das Reale hinausgeht…“ Sind also doch leiseste Spuren von Transzendenz bei Sartre spürbar/ahnbar?
Es gibt gewiss umfassendere Entwürfe für einen philosophischen Humanismus für Corona-Krisen-Zeiten. Diese sind, wenn man schon ans Umfeld Sartres denkt, viel eher bei seinem Gegner Albert Camus zu finden. Hier ging es mir nur darum, auf einige sehr späte Fragmente in Sartres Denken aufmerksam zu machen, der ausdrücklich am Lebensende von Aspekten spricht, „die ich in meinen philosophischen Werken nicht untersucht habe, nämlich die Dimension der Verpflichtung“ anderen Menschen gegenüber“.
Diese ethische Verpflichtung des einzelnen den anderen gegenüber ist und bleibt DAS Thema der philosophischen Lebensweise und philosophischen Kritik in Corona-Zeiten!
6.
Über Sterben und Tod in dieser Corona-Gesellschaft muss philosophisch auf “breiter Ebene“ diskutiert werden. Es ist leider üblich geworden, etwa in Italien, dass jetzt hinsichtlich der Chancen auf Gesundung zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Patienten unterschieden wird. Die einen a priori Chancenreichen sind die Jungen (oder selbst, wenn schon alt, dann die Wichtigen, die Politiker, die Berühmtheiten, kurzum die „Herren“). Die anderen sind die Alten (ab wann genau alt, 79 oder 80?). Diese Form der Aussonderung mag ja wie eine „letzte Rettung“ der Ärzte in wirklichen heftigsten und umfassend unmenschlichen Kriegszeiten mit Massenabschlachtungen (2. Weltkrieg usw.) sinnvoll sein: Aber jetzt offenbart diese Aussonderung von Kranken nach Nützlichkeitserwägungen eine irritierende Art zu handeln. Man muss rechtzeitig diese „Triage“ kritisieren, damit sie nicht üblich wird und sich förmlich als normal einbürgert. In Corona-Zeiten Triage anzuwenden ist ja nur Ausdruck für das vorliegende, völlig unzureichende Gesundheitssystem selbst in den europäischen an sich so wohlhabenden Staaten. Hätten die politisch Verantwortlichen einen Pandemie Fall rechtzeitig bedacht und medizinisch/technisch vorgesorgt, gäbe es keine Triage. Diese ist Ausdruck des Versagens der Politiker, die etwa die Krankenhäuser als Orte des Profits konzipiert haben…Triages haben, wie gesagt, nur in heftigstem Krieg eine Bedeutung. Aber indem Politiker vorschnell die Corona – Krise als Krieg deuteten und öffentlich auch so bezeichneten, konnten Kriegs-Maßnahmen wie Triage jetzt beinahe üblich werden.
7.
Dabei ist klar: Diese Aussonderungen, Triages, sind ja in unserer sich demokratisch nennenden, den universalen Menschenrechten angeblich verpflichteten Staaten längst vertraute, sozusagen allgemein übliche ökonomische Handlungen: Sie bestimmen die Art der reichen Länder des Nordens im Umgang mit den armen Menschen im Süden: Die Menschen dort sind eigentlich nicht wichtig, weil ökonomisch „für uns“ uninteressant. Darum können wir mit gönnerischer Üblichkeit denken: Es macht „uns“ also nichts, wenn die Armen im Süden, diese vielen Millionen Menschen, nur eine Schale Reis pro Tag haben; in Elendhütten leben, vor Hunger krepieren; bei ihrer Flucht auf dem Mittelmeer fast keine Hilfe mehr empfangen. Die Flüchtlingslager in Lesbos oder die riesigen Lager in Libyen gelten unter kritischen Beobachtern als institutionalisierte, als eine von der EU zugelassene Katastrophe, wenn nicht für viele Soziologen als KZs des 21. Jahrhunderts.
Dieser Geist der Aussonderung ist schon lebendig, man muss ihn bekämpfen und nicht heute noch in Krankenhäusern verbreiten.
8.
Über den Begriff der Nützlichkeit des Menschen müsste also viel breiter diskutiert werden. Denn diese Praxis der Aussonderung von pflegwürdigen und nicht mehr pflegewürdigen Patienten ist, philosophisch gesehen, Ausdruck einer auf Nutzen gerichteten Haltung. Triage ist ja in gewisser Hinsicht eine schlichte Form des Utilitarismus: Der klassische Utilitarismus ist „eine der am weitesten verbreiteten Theorien der Moral“, schreibt Uwe Czaniera in der „Enzyklopädie Philosophie“, Band III, Seite 2849 (Hamburg 2010). Utilitarismus ist eine Form einer normativen Ethik. Konkreter gesagt: Die moralische Qualität einer Handlung „wird durch außermoralische natürliche Eigenschaften konstituiert und kann entsprechend mit unserem gewöhnlichen Erkenntnis-Instrumentarium und ohne Rekurs auf Intuitionen, Vernunftprinzipien oder göttliche Offenbarungen erfasst werden“ (ebd. 1849). Utilitarismus ist also, wie es heißt, eine sehr „gewöhnliche“ Moral, sie ist keineswegs auf dem hohen Stand der moralischen Reflexionen, etwa durch Kant oder die Tugendlehren. Es geht in dieser utilitaristischen Moral darum, ein größtmögliches Übergewicht an Glück oder Gesundheit für viele gegenüber einem – so glaubt man – klein gehaltenen Unglück für einige durchzusetzen.
9.
Philosophie bringt solche Zustände öffentlich zur Sprache, aber „als Spur der Hoffnung“, dass wenigstens diese rassistisch anmutende Praxis überwunden wird. Das kritische Sich – Abarbeiten am Negativen wird also in der Corona-Krise niemals die armen Menschen in Indien, Brasilien, Afrika, ja in der ganzen armen Welt des Südens, vergessen dürfen. Wenn diese leidenden Menschen dort nicht auch menschenwürdig gepflegt werden, entsteht ein explosives politisches „Potential“. Der Zusammenhang von universaler Corona-Krise und Gewalt/Krieg könnte leider ein Thema der Zukunft sein, selbst wenn dann schon in einigen Ländern Europas wieder etwas Normalität zurückgekehrt ist. Aber Normalität kann nicht zurückkehren, wenn im Süden wegen Corona sozusagen die „Hölle los ist“. Und im reichen Norden gibt es als kommende Gefahr den Zustand, dass eine Gruppe der erfolgreich Überlebenden den Massen der hier zumindest ökonomisch zutiefst geschädigten (und noch kranken) Menschen gegenübersteht. Dieses Denken an eine Zukunft wird jetzt eher selten praktiziert, fast alle sind mit dem gegenwärtigen Alltag befasst: „Wann öffnen bloß die Möbelhäuser und die Baumärkte wieder“ ? Dabei sollte man auf Stimmen von international vernetzten Wissenschaftlern, Philosophen und auch Theologen hören. Der internationale bekannte, kluge und sehr aufgeschlossene „progressiv“ denkende Dominikaner – Theologe Timothy Radcliffe aus Oxford schreibt. „Nach und nach nehmen doch Politiker wahr: Wenn es keine internationale Solidarität gibt zugunsten der Ärmsten, kann eine sozialer Niedergang daraus resultieren, den Europa seit langem nicht gekannt hat. Wir können als Gesellschaft nur durch einen radikalen Wandel überleben. Die weit reichende ungleiche Verteilung des Reichtums hat unsere gemeinschaftlichen Bindungen schon so weit zerstört, dass eine extreme Finanzkrise nun eine Auflösung der Gesellschaft selbst zur Folge haben kann. Ein Teil der politischen Elite sollte begreifen: Wenn wir nicht lernen, dass wir Menschen alle in einem und demselben Boot sitzen, werden im Falle der Nichtbeachtung dieser Tatsache die (schlimmen) Konsequenzen nahezu unvorstellbar sein…“ (Quelle: La Croix, 26.3.2020)

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die Pyramide des lieben Gottes. Über die Macht und das System in der katholischen Kirche. Mskr. einer Ra­dio­sen­dung im WDR, 2009.

Lebenszeichen WDR 3
Die Pyramide des lieben Gottes
Über die Macht und das System in der römischen Kirche
Von Christian Modehn. Sendung 1.11.2009.

Ein Motto, am 19. Juni 2024 von C.M. notiert:

Die Pyramide ist immer das Bild, um Diktaturen zu beschreiben. Der Faschismus Italiens z.B. war als Pyramide konzipiert und organisiert, an der Spitze konzentrierten sich alle Gewalten. So ähnlich ist auch der Vatikan, die Leitung der katholischen Kirchem bis heute organisiert. Alles dreht sich um den – bis jetzt noch – allmächtigen Papst. (vgl. den Aufsatz “Antithese des Faschismus”, von Roberto Scarpinato, in “Lettre International”, Nr. 145, S. 7).

1. Spr.: Berichterstatter
2. Spr.: Zitator

32 O TÖNE zus. 17 10“. 185 Zeilen = ca. 12 Min.

Dieser Text enthält auch zwei bemerkenswerte O TÖNE von Kardinal Ratzinger, vor allem seine Empfehlung, dass doch Theologiestudenten bitte förmlich wie Spitzel ihre Professorenbeobachten sollten, vgl. O TON 16.

1.O TON, 010“, Pesch
Egal, wie man das Wort Hierarchie versteht: Herrschaft kann und darf es nicht bedeuten. Wenn es das tut, ist es Missverständnis und Missbrauch.

1. SPR.:
Otto Hermann Pesch, katholischer Theologe in München, plädiert für menschenfreundliche Strukturen in der römischen Kirche:

2. O TON, 0 14“, Pesch
Dass die Fakten oft anders sind, muss in diesem Sinne also dann als Defekt bezeichnet werden, als ein Missbrauch, der geändert werden muss.

1.SPR.:
„Ändern“ wollten Papst und Bischöfe ihren Umgang mit der Macht tatsächlich schon einmal: Vor fast 50 Jahren, beim Zweiten Vatikanischen Konzil, verpflichteten sich die „Oberhirten“, ihre Vorherrschaft zu begrenzen.

3. O TON, 0 21“, Pesch
Wenn sich eins im Vergleich zur Zeit vor dem Konzil bleibend im Bewusstsein der katholischen Gläubigen festgesetzt hat, dann ist es das Bewusstsein: Wir sind die Kirche. Und nicht wie früher: Wir haben an ihr Teil, während die Kirche die Hierarchie eben ist. Wir sind die Kirche!

1.SPR.:
Worte, auf die sich Kirchenreformer bis heute wie auf eine göttliche Utopie berufen. Unmittelbar nach dem Konzil wurden zahlreiche Landessynoden und Beratungen in den Bistümern veranstaltet. Dort versammelte sich das „Volk Gottes“ im Geist der Gleichheit und Brüderlichkeit. Den Weg der Kirche mitzubestimmen, sollte kein frommer Wunschtraum der Laien bleiben.

4. O TON, 0 15“, Pesch
Auf der anderen Seite fällt auf, dass man aus Furcht vor Demokratisierung der Kirche mit dem Volk-Gottes-Begriff in den lehramtlichen Äußerungen nach dem Konzil sehr zurückhaltend geworden ist.

1. SPR.:
Das Prädikat „zurückhaltend“ findet Otto Hermann Pesch dann doch zu beschönigend. Er entschließt sich, deutlicher zu werden:

5. O TON, 0 17“, Pesch
Manche sprechen ja regelrecht schon von einer Art roll back hinter das Konzil zurück., Man fürchtet, dass doch wieder daran gearbeitet wird, faktisch doch wieder die alten Überordnungs- und Unterordnungsverhältnisse, oder wenn sie wollen, Herrschaftsverhältnisse wiederherzustellen.

1. SPR.:
Die Hoffnungen auf eine möglichst herrschaftsfreie Kirche ließen sich nicht verwirklichen. Kritische Theologen wissen spätestens seit dem Regierungsantritt Benedikts des XVI: Papst und Bischöfe bevorzugen wieder verstärkt uralte Modelle geistlicher Herrschaft. Professor Otto Hermann Pesch:

6. O TON, 0 37“ , Pesch
Der Ausdruck Hierarchie für die kirchliche Ämterverfassung kommt zum ersten Mal auf im 5. und 6. Jahrhundert im Zusammenhang mit einem berühmten Buch eines Verfassers namens Dionysius vom Areopag. Und der hat ein Buch geschrieben über die himmlische Hierarchie, und das bedeutet die Abstufung, der Stufenweg, von Gott zur Schöpfung und der Stufenweg von Gott zu den Menschen. Und dieser Hierarchie, der himmlischen Hierarchie, muss auch die kirchliche Hierarchie entsprechen. Das heißt, auch da muss es dann auch die Abstufungen geben.

1. SPR.:
So gibt es also auch seit dem 4. Jahrhundert eine regierende Spitze und eine gehorsame Basis. Dieses Modell ist nicht von Weisungen des Evangeliums inspiriert, sondern vom Meisterdenker Platon aus dem 3. Jahrhundert vor Christus. Der Kopf als „Ort“ des Geistes sei wichtiger als der übrige Körper, meinte der griechische Philosoph, und so seien auch die führenden Häupter wichtiger als der Leib mit seinen niederen Organen. Diese untergeordneten Glieder sind für die geweihten Amtsinhaber „natürlich“ das Volk, die „Laien“. Das griechische Wort laikós (Betonung hinten!) bedeutet ja: Zum Volk gehörig. Auch mit dem Urbild des altägyptischen Sakralbaus, der Pyramide, konnte sich das Papsttum anfreunden: An der obersten Spitze thront mit Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist der Papst, der Stellvertreter Christi auf Erden. Mit diesem eher unbescheidenen Denken hat sich der katholische Theologieprofessor Josef Imbach aus Basel befasst:

7. O TON, 0 46, Imbach
Faktisch wird das so gehandhabt, dass man von diesem pyramidalen Denken ausgehen muss. Aber theologisch hat dieses pyramidale Denken eigentlich keinen Rückhalt. Wenn wir auch die Konzilstexte in Betracht ziehen, letztes Konzil, und natürlich auch die Anfänge der Christenheit, dann stellen wir da schon ein anderes Denken fest. Wenn wir dann zurückschauen auf die frühe Christenheit, die haben schon gestritten, aber das Communio prinzip, das war natürlich maßgebend, das Gemeinschaftsprinzip, Austausch usw. Von daher ist das pyramidale Denken theologisch gar nicht haltbar.

1. SPR.:
Zeitgemäße theologische Kritik hat für viele Kirchenführer in Rom keine Bedeutung, meinen etliche Beobachter. Und mit dem Kirchenmodell des Neuen Testaments, der „brüderlichen Gemeinschaft“, wollten sie auch nicht so viel zu tun haben. Statt dessen bestimmten autoritärer Umgang, Kontrollen, Überprüfungen, Treue – Eide, Zensurbestimmungen das kirchliche Leben.
Nur ein Beispiel: Der Minoritenpater Josef Imbach, Professor an der Päpstlichen Fakultät San Bonaventura, wurde vom vatikanischen Machtapparat gemaßregelt: Auf Betreiben der römischen Glaubenskongregation unter Kardinal Joseph Ratzinger musste er im Jahr 2002 seinen Lehrstuhl aufgeben. Der Grund: Er hatte die Lehre über die von Gott gewirkten Wunder modern interpretieren wollen. Ein fairer Prozess nach demokratischen Grundsätzen wurde ihm wie so vielen anderen „verdächtigten“ Theologen nicht zugestanden. Inzwischen arbeitet der Katholik Josef Imbach an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Basel. Aber viel schwerwiegender als die eigenen Erfahrungen sei die Personalpolitik des Papstes, meint der angebliche Irrlehrer.

8. O TON, 0 24“, Imbach
Da werden Bischöfe ernannt von Rom. Welche Personen kommen da in Frage? Personen, die von vornherein sich die römische Denkart voll und ganz zu eigen gemacht haben. Dann ist es klar, dass dann der Weltepiskopat einheitliche Positionen von vornherein vertritt, eben aufgrund dieser Auswahlkriterien.

1. SPR.:
Die Stromlinienförmigkeit der „Oberhirten“ weltweit spiegelt sich auch in den Synoden wieder, das hat der frühere Leiter des Karmeliterordens, Pater Camillo Macisse, beobachtet und aufgeschrieben:

2. SPR. (bitte deutlich machen als Zitierung):
Sogar die Bischofssynoden in Rom werden von der Kurie des Papstes kontrolliert und in den Diskussionen und in ihren Ergebnissen genau überwacht. Einige Bischöfe haben die Heftigkeit der Kontrollmaßnahmen beklagt, die von Neokonservativen mit einer anachronistischen Theologie ausgeübt werden. Wer es wagt, diese Autoritäten zu kritisieren, wird bedroht, angeklagt, verurteilt.

1.SPR.:
Auch die gesamte theologische Lehre und Forschung steht unter der Kontrolle der Ortsbischöfe oder des Vatikans selbst. In Deutschland dürfen nur Theologen an eine katholische Fakultät berufen werden, die die offizielle Genehmigung, das nihil obstat der Kirche haben; eine Politik des Verdachts, die Joseph Ratzinger schon als Kardinal offiziell verteidigt hat:

9. O Ton mit Applaus 0 21“, Ratzinger
Deswegen verursachen wir manchmal mit dem nihil obstat Ärger, es zieht sich hin usw., aber ich nehme diesen Ärger auf mich. Weil ich glaube, es ist wichtig, dass wir eben Ärger eben einkaufen müssen. Beifall.

1. SPR.:
Fröhlichen Beifall für eine harte Linie spenden hier Mitglieder des ultra konservativen „Linzer Priesterkreises“. Ganz anders ist dem katholischen Theologen Josef Imbach zumute:

10. O TON, 0 28“, Imbach
Das ist der Tod der theologischen Forschung. Denn wer irgendwie eine akademische Laufbahn einschlagen möchte, wird sich natürlich von vornherein hüten müssen, irgendwelche heißen Eisen auch nur anzurühren. Und so wird auch hier langfristig eben dirigiert. Und das ist natürlich katastrophal für die theologische Forschung. Es ist nicht so, dass alles gesagt wurde, was hätte gesagt werden sollen. Es ist so, dass sich niemand zu sagen traut, was zu sagen ist.

1.SPR.:
Theologen an katholischen Fakultäten wagen es nicht mehr, für das Priestertum der Frauen einzutreten. Ihnen kommt es nicht mehr in den Sinn, die buddhistische Meditation als einen Weg zur Erlösung offiziell anzuerkennen. Und sie haben den Mut verloren, z.B. eine authentisch –afrikanische Liturgie zu entwickeln…Über den Umgang mit den Theologen hat der amerikanische Dominikanerpater Matthew Fox dem Papst geschrieben:

2. SPR.
Ihre Behandlung von Gelehrten ist Bücherverbrennung faschistischer Regime nicht unähnlich. Auch Ihre Entscheidung, autoritäre Persönlichkeiten zu belohnen ist problematisch. Denn diese sind oft krank, gewalttätig, sexuell besessen.

1.SPR.:
Matthew Fox, der radikale Kritiker, wurde aus seinem Orden ausgeschlossen. Eine Diskussion führte der Vatikan nicht mit ihm. Im offiziellen Katechismus der Katholischen Kirche von 1993 wird die Herrschaft von Papst und Bischöfen bezeichnenderweise als „heilige Gewalt“ beschrieben. Rom setzt seine Linie mit allen Mitteln durch, zum Beispiel wenn Bischofskonferenzen einmal eigene Reformvorschläge veröffentlichen wollen. Als vor zwei Jahren im brasilianischen Aparecida (sprich: Appareßida mit Betonung auf dem i!) Bischöfe aus ganz Lateinamerika behutsam die Basisgemeinden unter Führung von Laien fördern wollten, korrigierte der Vatikan vor der Veröffentlichung kurzerhand das Papier. Der katholische Theologe und Lateinamerika Experte Gerhard Kruip hat diesen Vorgang unmittelbar beobachtet, wie ein progressives Reformpapier „gesäubert“ wurde:

11. O TON, 0 40“ Kruip
Die Änderungen sind erfolgt aus einem großen Misstrauen heraus gegenüber kritischen Kräften innerhalb der katholischen Kirche. Die Änderungen sind geprägt von einer Haltung der Ängstlichkeit. Man betont immer wieder den hierarchischen Aspekt der Kirche! Man betont immer wieder die Kontrolle, die die Bischöfe ausüben müssen über ihre Ortskirchen, man ist insgesamt skeptisch gegenüber allem, was ein Neuaufbruch sein könnte. Wenn es vorher hieß, die Basisgemeinden sind ein Zeichen der Vitalität der lateinamerikanischen Kirche: Dann ist das nachher unter die Bedingung gestellt worden, dass die Basisgemeinden treu zur katholischen Lehre und zum jeweiligen Ortsbischof stehen.

1. SPR.:
Pfarrer sind die Stellvertreter der Bischöfe in den Gemeinden und damit ebenfalls Glieder der Hierarchie. Weil aber der Mangel an Priestern auch in Europa immer größer wird, haben viele tausend Gemeinden keinen eigenen Pfarrer mehr. Aber anstatt kompetente Laien, Frauen und Männer, mit der Leitung der Gemeinden zu beauftragen, werden die wenigen verbliebenen Priester mit immer mehr Aufgaben belastet, berichtet der Baseler Theologe Xaver Pfister:

12. O TON, 0 30“ Pfister
…wobei bei uns jetzt Pfarreien zusammengelegt werden! Da muss immer ein leitender Priester dabei sein. Wenn ein Regionaldekan in 17 Pfarreien die Pfarreiverantwortung hat, dann ist dem Buchstaben Genüge getan, aber dem Leben überhaupt nicht. In dieser Zeit ist ganz klar die Tendenz, dass der Bischof Kirche repräsentiert und jede Pfarrei vom Bischof her ihre Form hat und nicht eine Vielfalt hat.

1. SPR.:
Diese Entwicklung ist in ganz Europa und auch in Amerika zu beobachten. Den autoritären Führungsstil der Kirchenführung erleben Betroffene als heftigen Widerspruch zur Kultur ihrer Länder:

13. O TON, 0 29“, Pfister
Man hat keine Mühe damit, dass etwas entschieden wird, wenn das einmal einsichtig ist. Aber man möchte eigentlich eine Einsicht haben und ernst genommen sein als Mensch, der handelt, weil er etwas einsieht. Und der nicht handeln muss, weil es ihm etwas aufoktroyiert ist oder befohlen ist. Das ist sicher ein sehr wichtiger Aspekt, dass man demokratisch verhandeln kann und aushandeln kann, dass das so gehandhabt wird.

1. SPR,;
Xaver Pfister sagt, er habe unter den so wenig demokratischen Maßnahmen der kirchlichen Hierarchie über viele Jahre schwer gelitten. Als langjähriger Leiter der Pressearbeit im Bistum Basel ist er schließlich an Depressionen erkrankt, darüber hat er später ein Buch geschrieben. Wie er freimütig bekennt, hat ihn auch das Erleben kirchen-amtlicher Autorität psychisch geschädigt.

14. O TON, Pfister, 0 32“
Ich hatte da zu wenig Rollendistanz gehabt, und ich hab mich von meinem Naturell her ganz reingegeben, und immer wieder was Neues probiert und noch mal probiert. Da kommt mal an eine Grenze. Es fehlt auch die nüchterne Bilanz: Was ist der Spielraum, was ist möglich, was ist erwartbar. Aber es gibt eine Grenze. Und jetzt beschränke ich mich darauf meine Überzeugung zu sagen.

1. SPR.:
Der stille Rückzug der Reformer stört die meisten „Hierarchen“ wenig. Gemeint sind mit dem Wort Machthaber in der Kirche, geweihte Männer, die die Herrschaft des Klerus über die Laien verteidigen. Wer noch katholisch sein will, soll gehorsam sein und dem „Mitarbeiter der Wahrheit“ Folge leisten! Diesen anspruchsvollen Wahlspruch hatte sich Joseph Ratzinger als Kardinal in München ausgesucht: An seinem Motto „Mitarbeiter der Wahrheit“ hält er auch als Papst unbeirrt fest, meint der katholische Theologe Herman Häring aus Tübingen.

15. O TON, 0 40“, Häring
Nach meinem Wissen gibt es keinen Fall, also keinen Kollegen, keine Kollegin, kein betroffenes Kirchenmitglied, das vorher Sanktionen erfahren hat und bei dem, bei der er sich mal entschuldigt hätte oder was revidiert hätte. Es wurde auch nichts zurückgenommen. Für ihn war katholischer Glaube von Anfang an ein autoritätsgebundener Glaube. Mich hat er immer erinnert an ein Kirchenlied, das wir als Kinder gesungen haben: Fest soll mein Taufbund immer stehen, ist der erste Vers, und der zweite: Ich will die Kirche hören. Nicht: ich will die Bibel oder Christus, sondern die Kirche. Und das war für ihn dann schon immer der Rahmen.

1. SPR.:
Schon als Kardinal ermunterte Joseph Ratzinger besonders „rom-treue“ Theologiestudenten, ihre möglicherweise häretischen Theologieprofessoren aufzuspüren und zu benennen. Von „Spitzeln“ wollte er bei einem Vortrag im Jahr 1990 doch lieber nicht sprechen.

16. O TON, 0 34“, Ratzinger
Mir scheint, dass also ein erster Punkt der ist, dass solche Theologiestudenten in aller Offenheit dies dem Bischof offenbaren in einer Weise, die ihm auch verständlich macht, dass es hier nicht um Denunziation oder irgendetwas geht, sondern wirklich um die Not des Gewissens und um die Verpflichtung des Glaubens, den Dienst der Kirche und die Verkündigung ihres Glaubens rein zu halten.

1.SPR.:
Der „reine Glaube“ wird als ein wertvoller Schatz gedeutet, als „Glaubensdepositum“, wie man in Rom sagt, als ein dogmatisches System, das es zu hüten und pflegen gilt: Der katholische Theologe Hermann Häring:

17. O TON, 0 15“, Häring
Für ihn ist der Glaube halt von Anfang an sozusagen das Glaubensdepositum gewesen. Man denkt automatisch an Fort Knox, mit Goldbarren, die drin liegen, und da ist alles, und das muss unberührt bleiben, und da kann man mal was abrufen.

1. SPR.:
Was einmal als Dogma formuliert wurde, behält nach amtlicher Lehre ewige Gültigkeit. Revisionen und Korrekturen sind unerwünscht. Eines von vielen Beispielen ist die Erbsündenlehre aus dem 4. Jahrhundert, der zufolge alle Menschen mit der Geburt als Sünder definiert werden, für den Philosophen Herbert Schnädelbach ein eher abstoßender Gedanke:

18. O TON, 0 34“, Schnädelbach
Das geht ja vollkommen gegen den Augenschein. Also, wir haben das Glück, drei sehr niedliche Enkel zu haben Und wenn ich mir jetzt vorstelle und gucke mir die an und sehe wie die aufwachsen. Und dann zu sagen: So sind das sind geborene Sünder und die müssen erst mal getauft werden. Das ist ja eine Geschichte, die hat die Menschen Jahrhunderte tyrannisiert. Da wurden Halb- und Totgeborene noch schnell getauft, dann gab es diese Lehre von der Vorhölle für die ungetauften Kinder alle sind. In dieser ganzen Debatte wird ja klar gemacht, sie sind unfähig zum Guten. Und das ist ja etwas, wo gegen man sich auflehnen kann.

1.SPR.:
Denn ohne Taufe, also ohne die entscheidende Mitwirkung der Kirche, bleibt jeder Mensch ein unwürdiger Sünder… Zwar lehnen sich auch Theologen gegen diese Lehre und andere Dogmen auf. Sie ganz abzuschaffen, dürfen sich Theologen nicht erlauben. Selbst bei vorsichtigen Interpretationen uralter Traditionen stoßen sie in Rom keineswegs auf offene Ohren, meint Otto Hermann Pesch:

19. O TON, 028“
Wenn da eine offenere Gesprächsatmosphäre wäre, auch mit dem Risiko, dass man einen Konfliktfall im Moment nicht beilegen kann, sondern darauf vertraut, dass in der öffentlichen Disputation innerhalb der Kirche sich dann die Wahrheit herausstellt, wenn solches Vertrauen mal wachsen und ein Papst auch mal sagen würde: Habt keine Angst vor dem Streit in der Kirche bei einer so wichtigen Sache wie den Dingen, die christliche Glaube vertritt, ist doch natürlich, dass man darüber sich streitet, wie das richtig zu verstehen ist. Habt keine Angst, wenn es solchen Streit gibt, als ob dann der Untergang der Kirche bevorstünde, wenn so etwas mal von päpstlicher Seite aus gesagt würde, das würde Mut machen.

1.SPR.:
Aber das bleibt ein frommer Wunsch. Die meisten Oberhirten halten sich lieber an die Gruppen und Zirkel treu ergebener Schäfchen. Hubert Gindert vom sehr konservativen „Forum deutscher Katholiken“ hat diese Vorliebe Roms mit Kardinal Ratzinger besprechen können:

20. O TON, 0 14“
Er hat sich einmal geäußert, ihm kommt es nicht auf die große Zahl an. Nein, ihm kommt es drauf an: Gibt es innerhalb der Volkskirche, gibt es also hier missionarische Bewegungen, missionarische Zellen.

1. SPR.:
Die Kirche als kleine Herde der hundertprozentig treuen Seelen: das ist das Kirchenbild heutiger Hierarchen. Kritische Beobachter fürchten, die römische Kirche könnte sich bald dem intellektuellen Niveau einer großen Sekte nähern. Der Baseler katholische Theologe Xaver Pfister hat diese Mentalität der Behüter und Bewahrer genau beobachtet:

21. O TON 0 14“
Wir müssen die sammeln, die noch übrig sind. Und die sollen zusammenbleiben und die sollen eine Heimat finden. Und in dieser Einseitigkeit, denke ich, ist das wirklich der Selbstvollzug des Endes.

1. SPR.:
Aber selbst vom Schwund an Gläubigen lassen sich Bischöfe wie der Kölner Kardinal Joachim Meisner nicht irritieren. Sie sind eher stolz darauf, dass noch einige Kreise der offiziellen Lehre treu ergeben sind und dies auch lautstark bekennen, wie Pater Klaus Einsle vom Orden der Legionäre Christi:

22. O TON, 0 30“ Einsle
Wir wissen, dass Christus die Kirche gegründet hat mit einer bestimmten Struktur, einer bestimmten Hierarchie und diese Hierarchie ihre Funktion hat. Und in dem Sinn haben wir ein ganz krampfloses Verhältnis und positives Verhältnis zum Papst, den Christus bewusst eingesetzt hat. Die Kirche ist für uns das Lehramt und die Bischöfe, die in Einheit mit dem Lehramt sind. Da würde ich sagen, dass unsere Denkart sehr die des Lehramtes ist.

1. SPR.:
Wie das Lehramt denken und alle Glaubenssätze möglichst unverändert bewahren: Darin sieht auch die weltweite Gemeinschaft der konservativen Neokatechumenalen Gemeinschaften ihre Aufgabe, betont der Missionar Bruno Caldera:

23. O TON, 0 14“ Caldera
“Unsere Theologie ist das Katechismus der katholischen Kirche. Gott ist derjenige ist, der uns lehrt. der jenige, der uns lehrt, der uns die Antwort gibt. Ich bin der Meinung, dass Gott da ist, um uns Antworten zu geben”.

1. SPR.:
In den Kreisen der neuen geistlichen Gemeinschaften, also der Neokatechumenalen und Legionäre, der Charismatiker und Opus Dei Mitglieder, fühlten sich konservative Amtsträger sehr wohl, betont der katholische Theologe Pfarrer Ferdinand Kerstiens aus Marl. Er hat sich als Mitglied im „Freckenhorster Kreis“, einem Forum von Kirchenreformern, mit diesen „Bewegungen“ auseinander gesetzt.

24. O TON, 0 17″ Kerstiens
Solche Gruppierungen sind immer bei der Hierarchie beliebt, weil sie keine Schwierigkeiten machen, weil sie keine kirchlichen Strukturen in Frage stellen, weil sie keine kirchlichen Gesetze in Frage stellen, weil Sachen wie Zölibat und Priestertum der Frau und solche Fragen bei ihnen nicht diskutiert werden.

1. SPR.:
Angesichts der machtvollen Hierarchie ist die römische Kirche heute gespalten: Selbstbewusste, kritische Gläubige sehnen sich noch immer nach dem geschwisterlichen „Volk Gottes“. Ihnen steht die einflussreiche Gruppe derer gegenüber, die den Ruhm des Papsttums und der Hierarchie wie ein Glaubensbekenntnis verstehen:

25. O TON, 0 22“, Meisner
Der Petrus von heute heißt Benedikt XVI. Sein Verkündigungsdienst ist heilsnotwendig für Kirche und Welt. Mit hoher Authentizität verkündet der Papst die rettende Kraft des Evangeliums, um dann einen überzeugenden Weg zum Heil aufzuweisen.

1. SPR.:
Kardinal Joachim Meisner bei einer Messe zu Ehren des Papstes in der Berliner Sankt Hedwig – Kathedrale im April 2007:

26. O TON, 0 33“. Meisner
Papst Benedikt XVI ist es gegeben, die den Menschen heil machende Botschaft des Evangeliums in ihrer Schönheit, in ihrer Faszination und Harmonie aufzuzeigen, so dass man ihn Mozart unter den Theologen nennt.
Seine Worte klingen wie Musik in den Ohren und Herzen des Menschen. Ihm gelingt es wirklich meisterhaft, die Noten des Evangeliums in hinreißende Musik umzusetzen.

1. SPR.:
Diese „hinreißende Musik“ päpstlicher Stellungnahmen enthält aber auch kritische Töne, zum Beispiel den Vorwurf: In den Staaten der westlichen Welt herrsche „der Relativismus“.

27. O TON, 0 24“, Meisner
Als Diktatur des Relativismus bezeichnet der Papst das Grundübel unserer westlichen Gesellschaften, für die es keine oberste und unveräußerlichen Wahrheit und Werte mehr gibt, für sie ist alles gleichgültig, was die Menschen dann gegenüber der Frage nach gut und böse gleichgültig macht.

1. SPR.:
Relativismus bedeutet für die modernen demokratischen Gesellschaften das Ringen verschiedener, aber gleichberechtigter Positionen um die Wahrheit. Niemand „hat“ die Wahrheit, alle suchen sie. Relativismus und Demokratie sind untrennbar! Die Frage drängt sich auf: Ist die Zurückweisung des Relativismus durch den Papst zugleich eine Zurückweisung der Demokratie? Ein Jahr vor seiner Wahl zum Papst hat Kardinal Ratzinger mit dem damaligen italienischen Senatspräsidenten Marcello Pena über den Relativismus in den westlichen Gesellschaften diskutiert, dabei nannte er ein typisches Beispiel:

2. SPR.:(Zitat Ratzinger)
Dass Homosexualität, wie die Katholische Kirche lehrt, eine objektive Ordnungsstörung im Aufbau der menschlichen Existenz bedeutet, wird man bald nicht mehr sagen dürfen.

1. SPR.:
Ein wenig irritierend ist die Aussage Kardinal Ratzingers! Könnte denn für die Kirche eine Zeit kommen, in der eine freie kirchliche Stellungnahme nicht mehr möglich sei? Befürchtete der damalige Kardinal Ratzinger etwa eine „Diktatur“ der Demokraten? Eine Angst, die er übrigens mit vielen muslimischen Machthabern gemeinsam hat, wie kürzlich der Publizist Alan Posener zeigte, in seinem Buch „Benedikts Kreuzzug. Der Angriff des Vatikan auf die moderne Gesellschaft.“

2. SPR.:
Der Vatikan ist sich mit fundamentalistischen islamischen Staaten immer einig, wenn sie sich gemeinsam gegen kritische, angeblich blasphemische Karikaturen wehren. In diesen Fällen treten sie gemeinsam für die Einschränkung der freien Meinungsäußerung ein.

1. SPR.:
Die Entwicklung solcher Denkmodelle findet der protestantische Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf aus München alles andere als erstaunlich:

28. O TON, 0 37“, Graf
Es gibt keine römisch-katholische Demokratie-Theorie, in der nicht die Zustimmung zur Demokratie von Vorbehalten abhängig gemacht worden ist. Es heißt immer: die wahre Demokratie, die rechte Demokratie, nie die Demokratie als solche. Und die eigentliche Demokratie ist die Demokratie, die sich den sittlichen Einsichten, den moralischen Vorschriften des Lehramtes öffnet. Es ist jedenfalls nicht eine parlamentarische, pluralistische Parteiendemokratie, in der die Kirche in ihren Mitbestimmungsansprüchen an den Rand gerückt wird.

1. SPR.:
Die römische Kirche kann zwar nicht mehr die Gesetze der Staaten bestimmen. Aber sie kann in der Gesellschaft versuchen, ihre traditionellen Moralvorstellungen durchzusetzen, etwa zu Fragen der Schwangerschaft. Die katholische Ethik gilt den Konservativen innerhalb der Hierarchie als die letzte Bastion, die es unbedingt zu verteidigen gilt. Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf:

29. O TON, 0 40“. Graf.
Man kann sagen, dass die Römisch-Katholische Kirche seit 200 Jahren den Prozess der Modernisierung darin kritisch begleitet, dass sie sich als eine Gegeninstitution etabliert. Deshalb hat sie die Autorität des Papstes zunehmend verstärkt im 19. Jahrhundert, deshalb hat sie immer stärker auf römischen Zentralismus gesetzt. Was wir jetzt erleben ist im Grunde genommen eine innerlich stimmige, konsequente Kirchenpolitik: Je mehr religiösen Pluralismus es gibt, desto konsequenter stellt die Römisch katholische Kirche ihre spezifischen Merkmale in den Raum. Hier RAUS GEHEN

1. SPR.:
Hingegen meint der katholische Theologe Hermann Häring, Relativismus und Katholizismus seien durchaus zu versöhnen:

30. O TON, 1 03“. Häring
Ich bin Relativist, weil ich weiß, ich hab nicht die ganze Wahrheit. Und nicht, weil ich die andere Meinung als Bedrohung, sondern als Ergänzung, als Erweiterung, als eine andere Perspektivierung meiner eigenen erfahre. Deshalb verstehe ich nicht, dass manche Leute Relativismus so schlimm finden. Jeder, der die Wahrheit in einer Organisation sieht, der kann keine Abweichung dulden, für den ist die Wahrheit in der Sprachregelung. Das verstehe ich wohl. Aber das Problem, dass man eben meint, diese Organisation sei die Wahrheit. Ich halte bei Gott viel von der katholischen Kirche oder von den christlichen Kirchen, aber sie sind nicht die Wahrheit, sondern sie haben sie weiter zu tragen. Es gibt ein rabbinischen Spruch, der sagt: Ein Schriftwort, das nicht 99 Auslegungen zulässt, hat die Wahrheit Gottes nicht.

1. SPR.:
Aber von jüdischer Weisheit lässt sich der Vatikan nicht so häufig inspirieren: Vielfalt der Meinungen zuzulassen, könnte ja bedeuten, den demokratischen Staat nachzuahmen und demokratische Prinzipien für die Kirche selbst anzuerkennen. Tatsächlich gleicht der Vatikan eher einem spätantiken Feudalstaat. Dort vereinte der eine Herrscher alle Gewalten in seiner Person. Der Vatikan glaubt, diese Rolle habe der Papst von Anbeginn gehabt. Aber gibt es wirklich eine ungebrochene Linie vom ersten Papst, dem Fischer Petrus vom See Genezareth, hin zu Benedikt XVI. in seinem Palast? Der katholische Theologe Otto Hermann Pesch warnt vor einer allzu weitgehenden Interpretation:

31. O TON, 0 30“. Pesch
Wie kommt es dann, dass die Nachfolger des Petrus bis hin zu Clemens absolut legendarische Figuren sind. Auf festem Boden einer römischen Gemeinde mit ganz bestimmter Leitungsstruktur sind wir wieder erst mit dem ersten Clemens, der nach Corinth schreibt, aber nicht mit Weisungsbefugnis, sondern mit Ermahnung. Dieser Clemens ist nun mitnichten Papst Clemens der Erste, sondern Mitglied des römischen Presbyteriums.

1. SPR.:
Der Papst als der erste unter vielen anderen Bischöfen inmitten vieler Gemeinden: Ist diese frühchristliche Tradition wirklich nicht mehr gültig? Könnte sich der Stellvertreter Christi auf Erden nicht daran orientieren, fragt Otto Herman Pesch:

32. O TON, 0 43“.
Er sollte sein Amt verstehen und auch ausüben, wie es allein vom Neuen Testament her begründet werden kann, nämlich als Petrusdienst. Man sagt heute schon mal ganz gerne Petrusdienst und meint das Petrusamt, das ist aber in der Form dann etwas eine Schönfärberei. Petrusamt heißt Vollmacht des Papstes in jede einzelne Diözese hineinregieren zu können, nach gutem Ermessen, um nicht zu sagen nach Gutdünken. Petrusdienst heißt, dass der Papst als Bischof von Rom und eben Haupt des Bischofskollegiums einen Dienst tut, da, wo er helfen muss und helfen kann.

1. SPR.:
Der Papst als bescheidener Helfer, als Ratgeber, als Freund und Begleiter: Das ist keine Utopie, sondern biblischer Auftrag. Ein Zitat aus dem Markus Evangelium:

2. SPR.:
„Wer bei euch groß sein will, der sei der Diener aller“.

1. SPR.:
Joseph Ratzinger hat bei einem Vortrag im österreichischen Aigen vor 15 Jahren einmal angedeutet, dass es den Amtsträgern nicht in erster Linie auf Macht und Einfluss ankommen sollte:

33. O TON, 0 43“ Ratzinger,
Auch in der Kirche ist nicht das entscheidende, welche Funktion einer einnimmt. Sondern das Höchste, was wir erreichen können, ist nicht, dass man Kardinal wird oder ich weiß nicht sonst etwas wird, sondern das Höchste, was wir erreichen können, ist, dass wir Gott nahe und ihm ähnlich werden, dass wir heilig werden. Und wenn ein Bischof oder Kardinal es nicht wird, dann nützt ihm seine ganze Würde nichts, dann ist er wirklich eben bei den geringsten im Reich Gottes, wo wir immer noch hoffen, dass er wenigstens noch drinnen ist. Lachen und Beifall.

1. SPR.:
Kritische Äußerungen zum Umgang mit päpstlicher Macht hat man von Joseph Ratzinger als Papst Benedikt XVI. nicht gehört. Darum sind sich viele kritische katholische Theologen in aller Welt einig: Das vom Vatikan geförderte System kann nur zu einer in sich geschlossenen Herrschaftselite führen, zu Abwehr, Ausgrenzung und neurotischem Freund – Feind – Denken. Trotzdem: Mit dieser Vorherrschaft maßgeblicher kirchenamtlicher Kreise wollen sich Kirchenreformer nicht abfinden, falls ihnen nicht zuvor die so viel beschworene „Freude am Glauben“, also die positive Zustimmung, katholisch zu sein, verloren geht. Pater Josef Imbach:

34. O TON, 0 32“, Imbach
Wie können wir eigentlich froh unseren Glauben leben, wenn es in unserer Kirche so unfroh zu- und hergeht? Der französische Schriftsteller Paul Claudel hat einmal gesagt: Dort, wo die meiste Wahrheit ist, ist auch die meiste Freude. Ja, wenn sie sich dann so umschauen innerhalb unserer Kirche, dann muss ich mich ja fragen, wie viel Wahrheit ist eigentlich in unserer Kirche, in meiner Kirche?

………………………………………………………………….
LITERATUR:
Graf, Friedrich-Wilhelm: Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne. C. H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-58478-7

Graf, Friedrich-Wilhelm: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. C. H. Beck, München 2004, ISBN 3-406-51750-1

Häring, Hermann: Im Namen des Herrn. Wohin der Papst die Kirche führt. Gütersloher Verlagshaus. 2009, 192 Seiten.

Imbach, Josef: “Der Glaube an die Macht und die Macht des Glaubens.
Woran die Kirche heute krankt”. 248 Seiten, Patmos Verlag Düsseldorf, 2.
Aufl., 2005,

Modehn, Christian: „Alles, was rechts ist.. Politisch theologische Optionen Joseph Ratzingers“, S 143 – 162. in: Sommer, Norbert. und Seiterich, Thomas (Hg.): Rolle rückwärts mit Benedikt. Wie ein Papst die Zukunft der Kirche verbaut. Publik – Forum- Edition, Oberursel, 2009, 222 Seiten.

Pesch, Otto-Hermann: Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung, Bd. 1/1: Die Geschichte der Menschen mit Gott, Ostfildern 2008

Posener, Alan: “Benedikts Kreuzzug. Der Kampf des Vatikans gegen die moderne Gesellschaft” (Ullstein 2009)

Sommer, Norbert und Seiterich, Thomas (Hg.): Rolle rückwärts mit Benedikt. Wie ein Papst die Zukunft der Kirche verbaut. Publik – Forum- Edition, Oberursel, 2009, 222 Seiten.

Kann die Kunst unser Leben verändern? Denken in Zeiten der Krise. 8.Teil

Ein Hinweis von Christian Modehn. Zugleich eine Buch-Empfehlung!

Wie viele hektische Besuche von Galerien und Besichtigungen in Museen haben wir schon absolviert? „Bloß nichts verpassen“, ist die Devise. Wie oft haben wir intensiver die ultra-kurz gefassten historischen Erläuterungen unterhalb der Gemälde gelesen als die Kunstwerke selbst betrachtet? Wie viele Kunstbücher und Ausstellungskataloge ruhen nicht beachtet und nicht betrachtet in unseren Bücherregalen?
Damit soll nun Schluss sein. Zu einer Kehrtwende in einem oberflächlichen Kunst-„Konsum“ ermuntert ein (relativ) neues Buch des bekannten Philosophen Alain de Botton: „Wie Kunst Ihr Leben ändern kann“ ist der Titel. Das Buch hat de Botton gemeinsam mit dem Philosophen und Kunsthistoriker John Armstrong verfasst. Erschienen ist es 2017 im Suhrkamp Verlag. Der englische Titel ist deutlicher: “Art as therapy“.
Denn darum geht es den Philosophen: Kunstwerke sollten wir um einer besseren Lebensgestaltung betrachten und sie wirklich gebrauchen lernen und sogar wie eine Medizin, als Therapie, „verwenden“, als Heilung für unsere zerrissene Seele und den verwirrten Geist.
Diese Perspektive der Kunstinterpretation ist natürlich eine Provokation, bei allen, die immer noch an eine „L art pour l art“ glauben. Oder bei Philosophen, die einen Übergang von ästhetischen Erfahrungen und Einsichten zu ethischen Einsichten und entsprechender Praxis ablehnen. Alain de Botton plädiert hingegen sehr entschieden für den praktischen Wert der Kunst, also jener Objekte, die im Rahmen der Ästhetik diskutiert werden. Kierkegaard wäre als widersprechender Gesprächspartner hier wichtig, er wird in dem Buch leider nicht erwähnt.

Alain de Botton hatte auch in seinen früheren Publikationen stets vom Nutzen, man möchte sagen praktischen Gebrauchswert, von Religion und Philosophie gesprochen. Nun also auch von der Kunst. In dem Buch „Wie Kunst ihr Leben verändern kann“ stellt er Kunstwerke unterschiedlicher Epochen in einer überraschenden Vielfalt auch als (kleine) Farbdrucke (141 insgesamt) vor, immer von der Frage geleitet: Wie könnte dieses Bild, dieses Kunstwerk, uns helfen, dass wir uns wieder richtig erinnern, dass wir die Hoffnung wieder entdecken oder mit dem Leiden sinnvoll umgehen usw.
Ich finde besonders das erste Kapitel hilfreich hinsichtlich der therapeutischen Funktion von Malerei und Skulpturen: Wie kann Kunst vor Pessimismus und Schwarzmalerei bewahren? Wie können wir Ermutigung im Leben sehen und durch Kunst-Berachtung auch wieder finden? De Botton zeigt das etwa an den „Tänzern“ von Matisse (von 1909). Es besitzt „so viel Anmut und Liebreiz, dass es uns für einen Augenblick das Herz zerreißt“ (13). Die Betroffenheit kann paradox sein: „Unsere Tränen kommen nicht, weil das Bild so traurig ist, sondern weil es so hübsch ist“ (17).

In der Interpretation von Richard Serras Objekt mit dem Titel „Fernando Pessoa“ betonen die Autoren, wie dieses Kunstwerk wirkt. Es ist benannt nach dem portugiesischen Dichter und Poeten Fernando Pessoa: Wir werden durch dieses Objekt förmlich dazu gedrängt, Leiden und Schmerzen auch als Momente der Würde im Leben anzunehmen. Es geht darum, im meditativen Blick auf Kunst „unser seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen“ (29). Voraussetzung ist natürlich, dass der meditative oder kontemplative Kunst-Betrachter um die eigene Befindlichkeit, wenigstens als Frage und Suche, schon etwas weiß. Diese Voraussetzung scheint mir in dem Buch nicht ausreichend reflektiert zu werden. Oder ist das Erschüttertwerden oder gar das “Umgeworfenwerden” durch Kunst das entscheidende, unerwartete Erlebnis, das uns in die Tiefe unseres Lebens führt? Dann wäre ein erschütterndes Kunsterlebnis einer religiösen Erfahrung mit Gott/dem Göttlichen vergleichbar. Und Kunst könnte die Funktion des Religiösen übernehmen…Ein umstrittenes Thema…

Die elementare Bedeutung der Kunst für eine menschliche Ethik steht den Autoren außer Frage: „Dabei liegt es auf der Hand, dass viele der besten Kunstwerke …eindeutig einen moralischen Anspruch haben, nämlich die Intention, uns durch verschlüsselte Botschaften zu ermahnen oder zu warnen und so das Gute in uns zu fördern“ (33). Kunstwerke regen also an, „das Beste aus uns herauszuholen“ (34), heißt es pragmatisch, fast ratgebermäßig. Aber wer sich in die Geschichte der Kunst vertieft, wird wohl sehr oft diesen „das Gute in uns fördernden Aspekt“ erkennen. Man denke nur an die Genre-Malerei der Niederländer. Brouwer oder Steen malen Wirtshausszenen nicht um ihrer selbst willen, sondern um versteckt, aber für die Zeitgenossen damals und auch für uns unübersehbar vor einem allzu ausgelassenen Lebenswandel zu warnen. Diese Bilder (etwa „Singende Trinker“, von Adriaen Brouwer, 1635) sollen auch und vor allem „Abscheu und Ekel erregen“ (so im „Katalog von Frans Hals bis Vermeer“, Berlin 1984, Seite 128). Und die vielen Marien-Darstellungen, diese vielen Pietas: Sind sie doch bewusst geschaffene Bilder des Trostes nicht nur für Mütter in trostlosen Zeiten.

Ich empfehle das Buch „Wie Kunst ihr Leben verändern kann“, gerade in diesem Zeiten, in denen einige doch hoffentlich längere Zeiten fürs Lesen und Betrachten (Kontemplation) frei haben. Schauen Sie sich als erstes das (mir bis dahin) unbekannte Bild von Jean-Baptiste-Siméon Chardin an, mit dem schlichten Titel „Dame beim Tee“ (von 1735). „Der Raum ist bewusst schlicht gestaltet. Und doch hat das Bild etwas Glamouröses. Es glorifiziert diese alltägliche Situation und das schlichte Mobiliar… Es regt den Betrachter an, (nach dem Museumsbesuch) nach Hause zu gehen und seinen eigenen Lebensentwurf zu gestalten… Die Kunst hat die Macht, den schwer zu definierenden, aber dennoch vorhandenen Wert des normalen Lebens zu würdigen… Die Kunst kann in uns ein neues Bewusstsein wecken für die wahren Vorzüge des Lebens, das wir nun einmal gezwungen sind zu leben“ (56 f.)

Natürlich unterscheiden die Autoren genau, was Kunst ist und was sich nur Kunst zu nennen wagt, was also Kitsch ist. Sie denken etwa an die verblödenden populären TV-Serien, „die uns genau das liefern, was wir haben wollten“ (156). Sie beleidigen die Menschen, weil sie nicht zeigen, „wozu wir als Menschen eigentlich in der Lage sind“ (157). Die Autoren kritisieren den dummen Wahn der Reichen, diese „Klasse der obszön Reichen“ (157), die ihre totale Ahnungslosigkeit und blöde Geschmacksverirrung auch künstlerisch, etwa in ihrer Architektur ihrer pompösen Villen ausdrücken müssen (zwei Beispiele auf Seite 156 und 158).

Den Autoren liegt es fern, nur den einzelnen durch Kunst heilen zu wollen. Die einzelnen sollten „die Werte, die die Kunst repräsentiert, in der realen Welt umsetzen… Die wahre Ehrfurcht vor der Kunst besteht darin, das Gute, was in einem Kunstwerk kraftvoll dargestellt ist, aktiv in Umlauf zu bringen“ (225).

Zu diesen Zitaten und den Hinweisen: Im Hintergrund steht als Kriterium des „Ändern des eigenen Lebens“ durch die Kontemplation der Kunst ein bestimmtes Menschenbild: Der Mensch als ein Dasein, das sich im Laufe seines Lebens inmitten vieler Krisen und Widersprüche entfaltet, das sich geistig entwickelt, zu sich selbst kommt, sich selbst und andere lieben lernt … und die Solidarität hoch schätzt.

Alain de Botton und John Armstrong, Wie Kunst Ihr Leben verändern kann“, Suhrkamp Verlag, 2017, Taschenbuch, 240 Seiten. Nur 17,95 EURO!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin