Ein christlicher Glaube, befreiend, kein Opium: Vor 50 Jahren erschien das Buch „Theologie der Befreiung“

Ein Hinweis von Christian Modehn am 19.11.2021

1.Der große Inspirator: Gustavo Gutiérrez

Die christlichen Kirchen erleben außerhalb Europas – zahlenmäßig – einen „Boom“. Sie zeigen eine bunte, verwirrende und manchmal widersprüchliche Vielfalt christlichen Glaubens. Dies betrifft vor allem die „unglaublich“ vielen charismatischen, pfingstlerischen und evangelikalen Gemeinschaften. Aber es gibt auch eine Minderheit: Christen und vor allem katholische Gemeinden, die sich dem politischen Projekt einer ganzheitlichen Befreiung der Armen aus Elend und Ausbeutung verpflichtet wissen…und entsprechend handeln! Und diese Minderheit der „links-politisch“ Frommen haben eine Theologie: Die „teologia de la liberacion“, die Befreiungstheologie. Sie ist unter diesem Namen auch mit verschiedenen neuen Ansätzen, etwa zur Ökologie oder zum Feminismus, lebendig. Ihr „Gründervater“ bzw. Initiator ist der Peruaner Gustavo Gutiérrez (geb. am 8.Juni 1929 in Lima). Zur Biografie nur ganz kurz: Gutiérrez hat neben Philosophie und Theologie auch Medizin und Sozialwissenschaften, vor allem in Lyon und Louvain, studiert, er ist katholischer Priester, Autor zahlreicher Studien zur Befreiungstheologie, vielfach mit Ehrendoktoraten geehrt, sowie im Jahr 1975 Gründer des befreiungstheologischen Studienzentrums „Bartolomé de las Casas“ in Lima-Rimac. Mit dem dort rigoros-engstirnig herrschenden Kardinal Cipriani vom Opus Dei hatte auch Gutiérrez viele heftige Konflikte durchzustehen.

2.Regionale Herkunft-universale Bedeutung

Die „teología de la liberación“, die Befreiungstheologie, ist zwar regional in Lateinamerika entstanden und verwurzelt, sie hat aber universale Bedeutung nicht für Christen, sondern für alle, denen eine gerechte Welt als politische Ziel der Menschheit wichtig ist. Begrenzter Herkunftsort und universale Bedeutung schließen sich bekanntlich nicht aus, siehe die Herkunft der universal geltenden Menschenrechte aus Europa…

Diese Theologie der Befreiung hat nun sozusagen einen Geburtstag, einen wichtigen Gedenktag: Als dieser gilt der 1. Dezember. Vor 50 Jahren wurde das grundlegende und international verbreitete Buch des peruanischen Theologen Gustavo Gutiérrez mit dem Titel „Theologie der Befreiung“ veröffentlicht. Es kann hier nicht der gesamte Inhalt dieses wichtigen Buches zusammengefasst werden, das zudem 1992 in seiner 10. Auflage gewisse Korrekturen des Autors aufweist, etwa hinsichtlich der Einschätzung der sozialwissenschaftlichen Dependenztheorie.

Anlässlich des „Gedenktages“ soll nur auf einige besonders relevante und „auffällige“ und nach wie vor aktuelle Themen hingewiesen werden, um Interesse zu wecken an der Lektüre des Buches…

3.Gutiérrez und seine vielen MitstreiterINNEN

Das erste große Werk von Gustavo Gutierrez, die „Theologie der Befreiung“ , ist 1973 auch auf Deutsch erschienen, in einer Übersetzung des Lateinamerika-Spezialisten Horst Goldstein. Inzwischen liegt das Buch in 20 Sprachen vor. Es geht auf Vorträge zurück, die Gutiérrez einige Jahre zuvor etwa in Montréal gehalten hatte und dann auch in Chimbote, Peru. Auch andere Theologen, wie der gleichermaßen bedeutende Juan Luis Segundo SJ aus Uruguay (1925-1996), hatten schon vorher von „Befreiungstheologie“ gesprochen. Aber Gustavo Gutiérrez war eben mit seinem Buch von 1971 etwas Grundlegendes, bei einem Umfang von 288 Seiten, gelungen. Seitdem ist die Liste der tatsächlich berühmten Befreiungstheologen lang, Leonardo Boff, Frei Betto, Pablo Richard, Elsa Tamez, Jon Sobrino, Franz Hinkelammert und so weiter. Wichtig ist auch: Einige Bischöfe waren mit der Befreiungstheologie verbunden, wie der in Deutschland leider unbekannte Pedro Casaldaliga, der Mystiker und Poet aus Sao Felix, Brasilien.  LINK:

4.Das zentrale Bild: Reich Gottes

Die zentrale Erkenntnis der Befreiungstheologie, auch im Sinne von Gutiérrez, heißt: Der von Jesus von Nazareth verkündete Sinn und das Ziel des Lebens der Menschen ist in dem Bild „Reich Gottes“ ausgedrückt, als eine Art erstrebenswertes Ideal der Gerechtigkeit für alle, auch und vor allem für Arme, der gelungenen Versöhnung der Menschen untereinander und mit dem, was religiöse Menschen die göttliche Wirklichkeit nennen. Die Armen und ihre Lebensrechte stehen im Mittelpunkt dieser Theologie. Den Armen gilt die Befreiung … hin zur Freiheit, zum realen Erleben der Gültigkeit der Menschenrechte auch für sie. Und dies nicht als frommer Traum oder als Vertröstung auf etwas Jenseitiges. Das Reich Gottes kann und soll reale, auch materielle, auch politische Wirklichkeit werden. Vorbei also sind die Zeiten, als Glaube nur etwas Spirituelles, nur etwas Seelisches war. Diese „innere“ Dimension bleibt bestehen, aber sie wird eingefügt (und dadurch relativiert) in den Rahmen des politischen Eintretens für Befreiung der Armen.

5.Auch die Unterdrücker müssen befreit werden

Wer den Spuren Jesu von Nazareth als seiner „Lebensphilosophie“ folgt, d.h. wer also religiös glaubt, ist berechtigt, die Erlösung schon hier, auch irdisch, in weltlichen – politischen Zusammenhängen, zu erleben, vor allem in demokratischer Verfassung, in Gleichheit der Menschen….  Das „gute Leben“ der Ernährung, der Bildung für alle, des humanen Wohnraums außerhalb der Dreckhütten, der Abwehr von krimineller Gewalt der Banden und der Herrscher, all das ist ein Anspruch, den der christliche Glaube als Heil und Erlösung predigt und fordert. Dabei ist für Gutiérrez klar: „Wer von Klassenkampf spricht, propagiert ihn nicht etwa! Nein, er stellt einfach eine Tatsache fest“ (S. 261). „Alle Menschen lieben heißt nicht, Auseinandersetzungen aus dem Wege gehen und eine fiktive Harmonie aufrechterhalten. Universale Liebe bemüht sich vielmehr, in Solidarität mit den Unterdrückten auch die Unterdrücker von ihrer Macht, ihren Ambitionen und ihrem Egoismus zu befreien“ (S. 263). „Die Befreiung von Armen und Reichen ist ein gleichzeitiger und wechselseitiger Prozess“, betont in diesem Sinne auch der katholische Theologe Jules Girardi“ (ebd.)

Aber dabei bleibt es nicht: Inmitten der zerrissenen und ungerechten Welt kann Friede und Gerechtigkeit wenigstens fragmentarisch erfahrbar werden.  Dies ist eine, man könnte sagen, optimistische Sicht, angesichts der grausam – und meist hoffnungslosen Kämpfe um eine gerechte, auch ökologisch gerechte Welt.

6.Erlösung soll – wenigstens als „Vorschein“ -materiell/politisch erfahrbar sein

Gustavo Gutiérrez schreibt (S. 148 in der deutschen Übersetzung): „Wer gegen eine Situation des Elends und der Ausbeutung kämpft und eine gerechte Gesellschaft aufbaut, hat ebenfalls teil an der Bewegung der Erlösung, die freilich erst noch auf dem Weg zur Vollendung ist…“ Und zuvor hat Gutiérrez geschrieben: „Wer arbeitet und diese Welt verändert, wird mehr Mensch, trägt zur Gestaltung einer menschlichen Gesellschaft bei und – wirkt erlösend“. Die so genannte Heilsgeschichte, also die Geschichte Gottes mit den Menschen, und die politische Geschichte sind also eng verbunden.  Für eine Trennung von „Zwei-Reichen“, das eine Reich ist weltlich, das andere, das religiöse, daneben und getrennt, gibt es also keinen Platz! Es gibt nur die eine Geschichte der Menschheit, nur die eine Geschichte von Heil und Unheil, an der die Menschen verantwortlich beteiligt sind.

7.Es gibt nur die EINE Geschichte der Menschen

Es ist entscheidend zu sehen, dass diese Theologie, die für ein materiell erfahrbares „religiöses Heil“ bzw. eine materiell historisch-politisch Erfahrung von Erlösung eintritt, auch von dem großen europäischen Theologen Edward Schillebeeckx (1914-2009) – er lehrte in Nijmegen (NL), unterstützt wird.

Dabei ist zweifelsfrei: Die umfassend und ganze heile und gerettete Menschheit ist in dieser Ganzheit eine Utopie: Sie vollständig „durchsetzen“ zu wollen, wäre ein totalitärer Wahn. Andererseits ist auch zweifelsfrei: Der religiösen Erlösung, allein als seelischen Gewinn oder fernes, himmlisches Ziel zu verkünden, widerspricht einerseits: Dass es die Erfahrungen des Guten und Erfreulichen („Heilen“) im privaten wie im gesellschaftlichen Leben – wenigstens kurzfristig – gibt. Und dass andererseits auch im politischen und ökonomischen Zusammenleben doch noch positive, humane Erfahrungen, also ein humaner Fortschritt, erlebbar sind, zwar selten, aber immerhin.

Schillebeeckx schreibt also in seinem Aufsatz „Befreiende Theologie“ (in „Mystik und Politik“, 1988): „Die Spur des Handelns Gottes muss auch auf der gesellschaftlich-politischen Ebene lesbar sein…Es besteht die Hoffnung, Fragmente des Heils hier und heute schon in unserer Geschichte anzusiedeln“ (S. 70). Mit anderen Worten: Der Katholik Schillebeeckx wehrt sich gegen die „Zwei-Reiche-Lehre“ Luthers, „die der Einheit der Geschichte widerspricht“, sagt Schillebeeckx (S. 71).

8.Die strukturelle Sünde

Dem entsprechend erhält der alte und belastete, oft nur moralisch verwendete Begriff der Sünde eine neue, politische und ökonomische Bedeutung. Gegen Sünde, das lehrten ja auch die europäischen klerikalen Theologen, soll der Glaubende kämpfen. So auch in der Theologie der Befreiung: Denn sie wissen, das inhumane Verhalten („Sünde“ ) so vieler verfestigt sich in der Welt, in den Strukturen der Gesellschaft und des Staates. Es gibt also ganz offensichtlich eine „strukturelle Sünde“. Gutiérrez schreibt: „Sünde wird greifbar in unterdrückerischen Strukturen, in der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, in der Beherrschung und Versklavung von Völkern, Rassen und sozialen Klassen“ (S. 169). Und, wie gesagt, gegen diese Strukturen, also inhumaner, „sündiger“ Strukturen, hat die Kirche und mit ihr die Theologie zu kämpfen.

9.Karl Marx und Thomas Müntzer und die anderen

Selbstverständlich wird an dieser zentralen Erkenntnis der Befreiungstheologie deutlich, wie stark sie sich auf die Gesellschaftskritik bezieht, die Karl Marx vorgetragen hat (siehe etwa die Verweise  auf Marx in den Fußnoten 96 und 98, s. 169 f.) Und dieser Hinweis auf Marx ist sehr treffend und selbstverständlich berechtigt, will doch die Befreiungstheologie anknüpfen an die großen berechtigen, philosophisch formulierten Sehnsüchte auch nach Erlösung inmitten dieser als grausam erlebten Welt. Kein Wunder, dass sich einige Befreiungstheologen auf einige Einsichten des Reformators Thomas Müntzer beziehen, wie etwa der katholische Priester und Theologe Hugo Echegaray, Lima, Peru (1960-1979): „Christus spricht nicht von Tugenden, es geht nicht um Tugendmoral, sondern um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit“ (in: Alejandro Zorzin, „Thomas Müntzer in Lateinamerika“, 2010, S. 14). Das Thema müsste vertieft werden, auch die Beziehungen zur Philosophie von Ernst Bloch müssten erörtert werden, an die Gestalt des revolutionären kolumbianischen Priesters Camilo Torres (1929-1966) hat der Religionsphilosophische Salon Berlin kürzlich erinnert: LINK

10.Lebenserfahrungen poetisch zur Sprache bringen

Die Befreiungstheologie ist also keine Schreibtischtheologie von hochbezahlten Professoren an gut ausgestatteten Universitäten, wie üblich in Europa, viele BefreiungstheologINNEN arbeiten in sehr bescheidenen, finanziell auf Spenden angewiesenen wissenschaftlichen Instituten. Die Befreiungstheologie ist keine bürgerliche Theologie im Sinne der üblichen „Spiegelung des Glaubens gut-situierter frommer Christen“. Sondern eine Theologie, die inmitten der Armen und Arm-Gemachten lebt. Diese Theologie hat eine eigene Spiritualität, aber diese ist Ausdruck der politischen wie der religiösen Erfahrungen und der Bibel-Lektüre der Armen und Unterdrückten. Man denke etwa an das bekannte Buch „Das Evangelium der Bauern von Solentiname. Gespräche über das Leben Jesu, aufgezeichnet von Ernesto Cardenal“, Band 1, Wuppertal 1976.

Befreiungstheologen sind mit dem politischen Befreiungskampf der Armen verbunden, und sie bringen deren Lebenserfahrungen gern zum Ausdruck. Ihre theologischen Reflexionen leben von der dichten Verbindung mit dem verzweifelten Kampf um Gerechtigkeit. Deswegen wurden und werden Befreiungstheologen verfolgt wie ihre Freunde, die Armen in den Slums oder den entlegenen Dörfern, inmitten der abgefackelten Urwälder oder den Hungerzonen in den Metropolen. Diese TheologINNNEN sind genauso bedroht wie ihre Companeros/Companeras: Sie reiben sich auf im Kampf um elementare Menschenrechte, werden von Herrschenden bedrängt und …ermordet, siehe Guatemala, Honduras, Nikaragua, Brasilien usw. Zur Befreiungstheologie gehört immer auch die Märtyrer-Erfahrung. Wer als Theologe kein religiöses Opium verkauft, das den Herrschenden gefallen würde, lebt gefährlich. Man denke an die Ermordung der Jesuiten in El Salvador im November 1989, etwa an den Befreiungstheologen Pater Ignacio Ellacuria. Oder an die Ermordung des befreiungstheologischen Erzbischofs Oscar Romero schon 1980. Die Mörder waren bekennende rechtsextreme Katholiken ebenfalls aus El Salvador, die Waffen lieferten „Ausbildungszentren“ in den USA… Wer ermordete Erzbischof Romero: LINK

11. …und die TheologInnen Europas?

Die Befreiungstheologie muss als ein radikaler Einschnitt verstanden werden innerhalb der — bis 1970 – europäisch zentrierten und europäisch beherrschten Theologien bzw. klerikalen theologischen Ideologien. Europäische TheologInnen stehen meist zu den herrschenden sozio-ökonomischen Verhältnissen in einvernehmlichem oder moderat kritischem Verhältnis. Sie wollen schließlich nicht ihren gut bezahlten Job verlieren.

12.Die Angst der Hierarchie vor Basisgemeinden

Ihren inspirierenden Ort fanden und finden Befreiungstheologen in den Basisgemeinden. Sie waren und sind Zusammenkünfte von Katholiken in Städten wie auf dem weiten Land, sie fühlen sich als Christen zurecht berufen, selbst und eigenständig ihre Gemeinden zu gestalten, gerade weil kein Priester für sie zur Verfügung stehen. Indem aber der Vatikan den Laien es untersagte, Eucharistie zu feiern oder Frauen von vorrangigen Funktionen in der Gemeinde ausschloss, waren viele tausend kleinen Basisgemeinden aufgrund des rigiden Verhaltens des Papstes nicht von langer Dauer. Viele tausend frustrierte Katholiken sind zu den charismatischen evangelischen Gemeinden übergewechselt, in etlichen lateinamerikanischen Staaten (wie Guatemala oder Chile) sind Katholiken längst nicht mehr die zahlenmäßig stärkste Konfession. Dass Lateinamerika nun aufhört, als katholischer Kontinent zu gelten, ist auch die Schuld der dogmatisch rigiden katholischen Kirche. Mit ihrer Kritik an der Befreiungstheologie ging immer die Kritik an selbstständigen Laien-Basis-Gemeinden einher. Wer noch im Sinne der katholischen Kirche denkt, muss also sagen: Die Führung der katholischen Kirche ist für ihren eigenen Niedergang in Lateinamerika verantwortlich. Die große Amazonas-Synode im Vatikan (2019) hätte eine Korrektur bewirken können. Die weitrechenden Reformvorschläge wurden aber von Papst Franziskus zurückgewiesen, wie die Aufhebung des Zölibates wenigstens für Priester in der Amazonas-Region…

13.Die Feinde der Befreiungstheologie, das Opus Die, die Legionäre Christi usw.

Man muss die globalen Zusammenhänge vor Augen haben, um das Besondere der lateinamerikanischen Befreiungstheologie zu verstehen. Diese anti-bourgeoisen katholischen Theologen und Theologinnen wurden auch vom Vatikan, dem Papst und vielen Bischöfen drangsaliert, der Häresie angeklagt, als Kommunisten bezeichnet, um so die aggressive Aufmerksamkeit des antikommunistischen CIA auf diese Christen zu lenken. Das Image der Befreiungstheologie und der mit ihr verbundenen Basisgemeinden der Armen wurde jedenfalls von Anfang an ramponiert, und zwar durch die Kirchenführer selbst, allen voran von Kardinal Ratzinger und Johannes Paul II. im Verbund mit Reagan und Co. Sowie später setzte sich die Diffamierung kirchenoffiziell fort, etwa durch die den Studienkreis „Kirche und Befreiung“, gegründet 1973, inszeniert von Bischof Franz Hengsbach, Essen, und Erzbischof Lopez Trujillo, Kolumbien, später Vatikan. Von Bischof Franz Hengsbach ist das skandalöse Wort überliefert: „Die sogenannte Theologie der Befreiung führt ins Nichts. In ihrer Konsequenz liegt der Kommunismus…“ (KNA, 13.5.1977). Der Erzbischof und spätere Kardinal Lopez Trujillo war in diesem Kreis zweifelsfrei einer der übelsten Hardliner des reaktionären Flügels der römischen Kirche. Er war als definitiver Feind der Befreiungstheologen ein Freund von Johannes Paul II. und,so wird berichtet, der Drogenmafia. Über seine privaten Leidenschaften hat der Pariser Soziologe Frédéric Martel geforscht, siehe sein Buch „Sodom“, 2019, dort die Recherchen zu Kardinal Lopez Trujillo, Seite 358 und bes. S. 365. LINK

14.Zur Wirkungsgeschichte

Hier wurde mit Nachdruck an den großen Inspirator der Befreiungstheologie Gustavo Gutiérrez erinnert. Aber, wie gesagt, gehören zur Befreiungstheologie viele andere TheologInnen, sie haben weitere Akzente gesetzt, etwa zum Feminismus oder zur Ökologie (wie etwa die letzten Bücher von Leonardo Boff), auch vorsichtige Ansätze einer schwul-lesbischen lateinamerikanischen Befreiungstheologie machen sich bemerkbar, siehe etwa die Studien von André Sidnei Musskopf, Brasilien. Und vor allem: Auch in Afrika und Asien haben sich eigene Formen der Befreiungstheologie entwickelt. In Europa müsste eine Befreiungstheologie eine Befreiung der Kirche aus dem Kapitalismus sein, aber zu einer solchen Theologie ist nur sehr marginal die Rede.

15.Kritisches zu Gutiérrez

Aber bei allem Respekt vor dem Werk von Gustavo Gutierrez: Er hat sich theologisch und kirchenpolitisch weit nach vorn gewagt, aber, offenbar um zu überleben in dieser Welt feindlicher Systeme, hat er sich auch nicht zu weit nach vorn gewagt: Ein treffendes Beispiel für die Ängstlichkeit vor der klerikalen Hierarchie ist sein Verhalten anlässlich eines Vortrages 1970 in Corodoba, Argentinien, für die Gruppe der „Priester für die die Dritte Welt“. Bei diesem Vortrag hatte sich Gutierrez die Anwesenheit des inzwischen mit einer Frau zusammenlebenden EX-Bischofs von Avellaneda, Jeronimo Podestá (1920-2000 ) ausdrücklich verbeten. Jeronimo Podestas Frau, Clelia Luro, hatte sich später noch einmal klagend wegen dieses Verhaltens an Gutierrez gewandt. Quelle: https://es.wikipedia.org/wiki/Gustavo_Guti%C3%A9rrez_(te%C3%B3logo)

Im Unterschied zu dem bedeutenden und für ökologische Fragen äußerst anregenden Befreiungstheologen Leonardo Boff aus Brasilien hat sich Gutiérrez eher selten über die unterdrückerischen Strukturen der hierarchisch verformten Katholischen Kirche geäußert. Vielleicht ließ man ihn deswegen im Vatikan weithin „in Ruhe“. Deswegen muss mit Nachdruck auf Boffs Buch „Kirche – Charisma und Macht“ empfehlend hingewiesen werden.

16.Der Freund, Kardinal Gerhard Ludwig Müller

Und merkwürdig erscheint auch die von Kardinal Gerhard Ludwig Müller (Regensburg-Vatikan) viel beschworene Freundschaft mit Gustavo Gutiérrez. Natürlich kann jeder mit jedem befreundet sein, warum nicht ein sehr Rechter und ein Linker? Für katholische Verhältnisse bleibt es aber erstaunlich, wenn ein theologisch bekanntermaßen sehr europäischer und sehr konservativer Theologe, also Müller, mit einem doch eher linken und Befreiungstheologen, befreundet sein könnte. Aber vielleicht hat diese Freundschaft Gutierrez vor Verfolgungen durch den Vatikan bewahrt…

Erstaunlich ist auch, dass Gutierrez im Alter von 72 Jahren (im Jahr 2001) dem Dominikanerorden beigetreten ist, ein ungewöhnlicher Vorgang; manche vermuten, dass die Spannungen mit dem reaktionären Opus-Dei – Kardinal von Lima, Juan Luis Cipriani, zu stark wurden, so dass sich Gutiérrez förmlich in den relativ selbständigen und aufgeschlossenen Orden der Dominikaner flüchtete.

17.Ein Kongress in Lima

Vom 25. bis 29.Oktober 2021 fand in Lima, Peru, ein internationaler Kongress statt, anlässlich von „50 Jahre „teología de la liberación“. Referenten aus Europa waren nicht dabei. Siehe, auch mit einem Statement von Gustavo Gutierrez: LINK

Mensaje de Gustavo Gutiérrez al clausurar Seminario Internacional sobre Teología de la Liberación

18.Die Kirche in Deutschland hält sich ans Spenden. Nicht an die Kapitalismus – Kritik

Hat die lateinamerikanische Befreiungstheologie die römische Kirche zum Beispiel in Deutschland verändert? Schwer zu sagen, wie die indirekten Wirkungen aus Lektüre und Begegnungen zu bewerten sind. Aber das Verhältnis der Kirche in Deutschland etwa gegenüber Lateinamerika und seiner Kirche ist weiterhin vom Geist der Spenden, der begrenzten Hilfsbereitschaft und der marginal bleibenden Studien bestimmt. Die grundlegende Kritik an den Zusammenhängen von Ausbeutung (Europa) und Unterdrückung (Lateinamerika) wurden im Sinne der Befreiungstheologie auch in Deutschland artikuliert, aber die große Wende einer Parteinahme der ganzen Kirche in Deutschland für die globale Gerechtigkeit hat nicht stattgefunden. Die Kirche in Deutschland ist und bleibt ein Teil der reichen Welt, und verhält sich auch entsprechend in ihrer repräsentativen Selbstdarstellung. Die Art, katholische Kirche zu sein, bleibt eher unberührt von der Befreiungstheologie. Basisgemeinden finden in Deutschland kein Wohlgefallen in der Hierarchie, Kapitalismuskritik (etwa auch Kritik am Kirchensteuersystem) schon gar nicht. Man schämt sich als Kirchenführung nicht, über 6 Milliarden Kirchensteuer pro Jahr zu haben. Dabei erleben die Kirchenführer hilflos, wie die Katholiken zu Hunderttausenden aus dieser über Milliarden verfügenden Amts-Kirche austreten. Die offizielle Antwort der Kirchenführungen auf das Elend weltweit heißt: Spenden, Almosen geben. Diese sind natürlich angesichts des realen Elends nett, aber strukturell wirkungslos.

19.Auch in Lateinamerika jetzt eher marginal

Aber man mache sich auch keine Illusionen: Die Befreiungstheologie ist auch im lateinamerikanischen Katholizismus eher ein marginales Phänomen geworden. Die charismatischen Katholiken werden beliebter und offiziell propagiert, man schätzt eher das fromme Tralala und Alleluja-Singen, also letztlich das religiöse Opium, das für kurze Zeit Glücksmomente beschert in einer eigentlich hoffnungslosen Gesellschaft gravierender Ungerechtigkeit.

Der größte Skandal ist wohl, dass viele brasilianische Bischöfe Bolsonaro unterstützen. Ein angesehene Politiker,der wahrscheinlich künftige Präsident Luiz Inacio Lula, ist ein alter Freund der Befreiungstheologen. Er nennt Bolsonaro explizit „einen Verbrecher und Faschisten“. (Tagesspiegel, 16.11.2021). Und den unterstützen die Reichen Brasiliens, die man naiv „Eliten“ nennt.

20.Ein Hinweis zum Autor dieses Beitrags

Der Autor dieser kurzen Hinweise, Christian Modehn, hatte bereits im Juni 1973 in St. Augustin bei Bonn die erste große internationale Tagung in Deutschland über die Befreiungstheologie angeregt und mit-gestaltet, er war damals Theologiestudent innerhalb des Ordens „Gesellschaft vom göttlichen Wort“, SVD. Zum Tgungsbericht in Orientierung, Zürich: LINK. 1975 verfasste er eine erste kleine Einführung in die Befreiungstheologie „Der Gott, der befreit“, 1977 veröffentlichte er zusammen mit Karl Rahner SJ und Hans Zwiefelhofer SJ „Befreiende Theologie“, (Kohlhammer Verlag) als Sammelband mit Beiträgen u.a. von Jon Sobrino, Juan Carlos Scannone, Leonardo Boff, Michael Göpfert, Miguel Manzanera und anderen. Das Buch fand viel Interesse und die erste (und einzige) Auflage war schnell vergriffen. Vor allem Horst Goldstein (1939-2003) hat sich als einer der ersten als Übersetzer und Autor um die Rezeption der Befreiungstheologie in Deutschland verdient gemacht. Wichtig sind für den deutschen Sprachraum die zahlreichen, auch befreiungs-philosophischen Studien von Raul Fornet-Betancourt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon Berlin.de.

Das Verbrechen und die Verbrecher – beim Weltklimagipfel in Madrid. Acht Kardinäle sprechen Klartext!

Hinweise von Christian Modehn
1.
Acht prominente Kardinäle aus allen Kontinenten haben die Untätigkeit, also die Wirkungslosigkeit des Weltklima-Gipfels in Madrid (im Dezember 2019), wörtlich als Verbrechen bezeichnet. Das ist ein neuer Ton! Und es ist bemerkenswert, dass hoch angesehene Kardinäle zu dieser radikalen Bewertung dieses politischen Ereignisses kommen. Maßgebliche Akteure, letztlich Präsidenten der Staaten, werden also wegen Untätigkeit des Verbrechens beschuldigt. Wenn man elementar, logisch, weiter denkt, kommt man zu dem Schluss: Verbrechen werden von Verbrechern begangen. Also sind die Politiker, die in Madrid „den Klimawandeln nicht wirksam eindämmen“, wie die Kardinäle sagen, Verbrecher. Und das hat eindeutig zur Konsequenz: Unsere Welt wird zumindest in ökologischer, vor allem klima-politischer Hinsicht von maßgeblichen Politikern gestaltet, die von den Kardinälen dann indirekt, aber deutlich, als Verbrecher qualifiziert werden.
An wen die Kardinäle konkret als Verbrecher denken, wird vornehmerweise bzw. aus diplomatischer Rücksicht nicht gesagt. Aber eindeutig ist: Verbrecherisches Handeln zeigen diejenigen Politiker im Weltklima-Gipfel, denen die Zukunft unseres Planeten egal ist und die sich Theorien zusammenbasteln, gegen alle eindeutige wissenschaftliche Erkenntnis, dass die Entwicklung des Klimas doch eher normal oder „halb so schlimm“ sei. Dabei sind die reichen Länder, USA, auch Brasilien, auch Indien, auch China, die Hauptverursacher dieser Katastrophe. Europa natürlich auch.
2.
Die Frage ist: Was machen die acht Kardinäle weiter mit ihrer Aussage: “Beim Weltklima-Gipfel in Madrid geschehen Verbrechen”? Konsequenzen werden nicht genannt: Aber gerade dann könnte es doch spannend werden: Es müssten nämlich große Aufklärungskampagnen auch mit offizieller kirchlicher Unterstützung organisiert werden: Sie müssten den ökologischen Wahn des sich christlichen nennenden Mister Trump heftig vor Ort, in den USA, kritisieren. Sie müssten den ökologischen Wahn und die bereits ganz offensichtlichen ökologischen Verbrechen am Amazonas von Brasiliens Präsident Bolsonao freilegen. Sowie: Die ganze katholische Kirche Brasiliens gegen diesen ökologischen (und dem Namen nach katholischen) Verbrecher mobilisieren. Aber wie viele Bichöfe stehen aufseiten Bolsonaros, bloß weil sie gegen den “linken” Lula und seine Arbeiterpartei sind.
3.
Verbrecher werden in Demokratien normalerweise bestraft und eingesperrt, zumindest aus dem öffentlichen Verkehr gezogen. Was schlagen die acht Kardinäle vor, wie man mit den Politikern umgeht, die das Verbrechen in der Madrider Klimakonferenz begangen haben? Dazu sagen sie nichts. Es fehlt meines Erachtens auch ein internationales Strafgericht für Verbrechen gegen das ökologische Überleben dieser Erde, gegen Klima-Verbrechen zumal. Vielleicht ließe sich in Den Haag noch ein großes Haus für diese Prozesse finden?
4.
Verbrecher werden üblicherweise als Todsünder im Verständnis der katholischen Kirche zur Beichte und zur Buße aufgefordert. Andernfalls stehen sie außerhalb der kirchlichen und menschlichen Gemeinschaft. Papst Franziskus hat Verbrecher aus Mafia-Kreisen exkommuniziert. Zeigte das Wirkung?
5.
Die Kirchenführung in Rom könnte mit gutem Beispiel vorangehen und die üblichen Weltkonferenzen und häufigen Synoden, die in Rom stattfinden reduzieren. Denn sie verursachen tausende von Flügen aus aller Welt nach Rom, manche Kardinäle fliegen ja wöchentlich nach Rom…Die Bischöfe, Kardinäle usw. könnten die neue Technik nutzen und per Lifeschaltungen hin und her sich verständigen ohne ständige Flugreisen. Aber daran denkt im Vatikan noch niemand. Vielleicht könnte Greta Thunberg mal dem Vatikan entsprechende Vorschläge machen. Auf diese jugendliche Aktivistin hören vielleicht noch die alten Männer in Rom. Damit man ihnen nicht alsbald vorwirft: Das ständige kirchliche Bedürfnis, Weltkonferenzen in Rom zu veranstalten, mit tausenden von eingeflogenen Bischöfen, Theologen, Experten etc., sei doch auch ein (kleines) Klima – Verbrechen. Und was könnten die Kardinäle Woelki aus Köln oder Marx aus München alles erleben, wenn sie mit der Bahn nach Rom reisten, 2.Klasse selbstverständlich, wie es sich für die armen Nachfolger des armen Jesus von Nazareth gehört. Sie würden bei der Bahnfahrt in interessante Gespräche verwickelt…
6.
Vielleicht wäre es sinnvoll, angesichts der nun amtskirchlichen Qualifizierung etlicher führender Politiker als Verbrecher (in klima-politischer Hinsicht), wenn in den Kirchen und ihren Gemeinden über dieses Thema mit der gleichen Intensität debattiert würde wie, sagen wir mal, über den Zölibat oder die wiederverheiratet Geschiedene.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Der Hinweis zu den Verbrechen auf dem Weltklimagipfel ist nachzulesen bei Radio Vatican: https://www.vaticannews.va/de/welt/news/2019-12/kardinaele-klimaschutz-untaetigkeit-verbrechen-hollerich-hummes.html

Die acht Unterzeichner des genannten Textes sind vier lateinamerikanischen Kardinäle und je ein weiterer Kardinal aus den übrigen Erdteilen Europa, Asien, Afrika und Ozeanien: Claudio Hummes aus Brasilien als Generalrelator der Amazonien-Synode, Oscar Rodriguez Maradiaga aus Honduras, die beiden Peruaner Pedro Ricardo Barreto Jimeno und Hector Miguel Cabrejos Vidarte, sowie der Präsident der EU-Bischofskommission Comece aus Luxemburg, Kardinal Jean-Claude Hollerich, Oswald Gracias aus Indien, Fridolin Ambongo Besungu aus dem Kongo und John Ribat aus Papua-Neuguinea.

Über die Vernichtung der Menschheit: Die „Lunge der Welt“ wird am Amazonas bewusst zerstört.

Der Regenwald rund um den Amazonas brennt –
Wie kann sich die Weltgemeinschaft von Bolsonaro und seiner Lobby befreien?

Ein Hinweis von Christian Modehn

Wenn der Urwald rund um den Amazonas, vor allem in Brasilien, durch Brandtstiftung zerstört wird, dann wird, das ist völlig klar, die „Lunge der Menschheit“ vernichtet. Mehr als 70.000 Feuer wüten momentan (23.8.2019) vor allem in den nordostbrasilianischen Bundesstaaten, wie Acre, Mato Grosso. Auch in Paraguay, Bolivien, Peru und Nordargentinien brennt es: Wer die „Lunge der Menschheit“ zerstört, der zerstört also letztlich die Menschheit sowie die Erstbetroffenen, die dortigen indigenen Völker und ihre Natur. 900.000 Indigene aus mehr als 300 Völkern leben dort. So dass sich jetzt die Menschheit, vertreten durch die wenigen noch demokratischen Staaten und die vernünftigen, d.h. an Menschenrechten und Naturrechten orientierten Menschen, sehr heftig und sehr erfolgreich wehren müssen gegen diese Zerstörung der Überlebensgrundlage. Es geht also um Leben und Tod. Denn die Brandstiftung ist eine Art Kriegserklärung, motiviert allein aus der ökonomischen Gier des Kapitalismus und seiner Konzerne. Diese Zerstörung der Lunge der Menschheit wird mit ungeahnter Brutalität betrieben, von Präsident Bolsonaro und seinem Clan sowie seinen verblendeten Verbündeten (wie Trump) geduldet und gewünscht. „Die brasilianische Regierung ist als geistiger Brandstifter verantwortlich für die Situation“, erklärt Roberto Maldonado, Brasilien-Spezialist beim WWF Deutschland.

Das Schlimme ist: Der letztlich verantwortliche brasilianische Politiker Bolsonaro wurde zum Präsidenten gewählt, er ist also formal gesehen kein Diktator. Er wurde bekanntlich gewählt vor allem mit den Stimmen der ultrafrommen Evangelikalen, der Pfingstler und des mächtigen konservativen (antisozialistischen, „Anti-Lula“) Teils der katholischen Kirche. Werden sich diese (begüterten) Kreise von Bolsonaro abwenden? Sie könnten das, aber sie tun das aus ökonomischen Gründen nicht. Sind sie gewissenlos? Vielleicht!
Die entscheidende Frage abe ist: Wie kann die bedrohte Weltgemeinschaft einen Präsidenten und seinen Clan, definitiv „privatisieren“?
Das ist die Frage, die sich Demokraten jetzt stellen müssen.

Rechtlich gesehen ist das alles neu und es gibt meines Wissens kein Beispiel, wie letztlich verbrecherische, aber gewählte Politiker, etwa als Zerstörer der „Lunge der Menschheit“, bestraft werden können. Es wäre dringende Aufgabe der Juristen zu prüfen, wie schnell Bolsonaro vor ein internationales Tribunal gestellt werden könnte. Und wie man die Opposition in Brasilien so stärken kann, dass sie Bolsonaro und seinen Clan abwählt oder absetzt.

Das katholische Hilfswerk ADVENIAT in Essen, auf Lateinamerika seit Jahren spezialisiert, spricht in dem Zusammenhang in ungewohnter politischer Deutlichkeit. Ich zitiere aus einer Pressemeldung vom 23.8. 2019:

„Deutschland und die Europäische Union machen sich mit ihrer Unterschrift unter das Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten an den verheerenden Waldbränden mitschuldig“. Das sagt der Brasilien-Referenten des Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat, Klemens Paffhausen: „Die versprochenen niedrigeren Zölle auf Importe von Rindfleisch und Soja aus Südamerika führen zu mehr Abholzung und mehr Anbauflächen.“

In jedem Fall: Auf der verbrannten Erde am Amazonas wird eines Tages Soja angebaut für den Fleischkonsum, auch in Europa! Unser Fleischkonsum ist also mitschuldig an der Zerstörung der “Lunge der Menschheit”.

Im Pressebericht von ADVENIAT heißt es weiter:
„Medienberichten zufolge ermittelte die Staatsanwaltschaft im Bundesstaat Pará bereits, ob es einen gezielten Plan von Großgrundbesitzern in der Stadt Novo Progresso gegeben hat. Sie sollen einen Tag des Feuers ausgerufen haben. Und just an dem von ihnen genannten Stichtag, dem 10. August, sei die Zahl der Brände in dieser Region um mehr als 700 Prozent angestiegen“, berichtet Klemens Paffhausen, Brasilien Spezialist von ADVENIAT.
Aber die Zerstörung des Urwaldes dort hat leider eine lange, oft unbeachtete Geschichte:
„Es gibt jedoch auch eine langfristige Ursache, auf die Wissenschaftler seit Jahren hinweisen. Nach ihren Angaben seien 20 Prozent des Regenwaldes im Amazonasgebiet abgeholzt, weiter 40 Prozent geschädigt. Entlang der Flüsse und Straßen fressen sich die gigantischen Sojaplantagen und Rinderweiden gnadenlos in den Regenwald. Der Verlust des wasserreichen Waldes führt seit Jahren zu immer längeren Trockenperioden. Kein Wunder, dass er nun wie Zunder lichterloh brennt. Der Wald verdorrt, die Regionen verwüsten, die Indigenen verlieren ihre Lebensgrundlage“, sagt Brasilien Experte.

Bolsonaro will von der Katastrophe ablenken, indem er Regime-Kritiker „Neokolonialisten nennt.

Selbst der oberste katholische Bischofsrat Lateinamerikas sagt klar: „Was im Amazonasgebiet passiert, ist keine lokale Angelegenheit, sondern von globaler Tragweite.“
Man kann gespannt sein, ob die katholische AMAZONAS Synode im Oktober 2019 dazu auch politisch deutlich spricht. Warum kann Rom Herrn Bolsonaro, der ja formal noch katholisch ist (trotz seiner Bindungen an die Evangelikalen) nicht exkommunizieren?

Und warum findet diese „Amazonas“ – Synode in Rom statt und nicht naheliegenderweise am Amazonas, etwa in Manaus, wenn sie doch „Amazonas Synode“ heißt? Sollen doch die Bischöfe den monströsen Waldbrand vor Augen erleben und in dieser Situation auch politisch relevante Entscheidungen treffen. Aber nein: Rom und der Vatikan sind relativ gemütlich. Von den Flugkosten der aus dem Amazonasbereich einfliegenden Bischöfe und dem CO2 Verbrauch redet man kirchlicherseits im Vatikan nicht.

Es geht vor allem auch um ein neues ökologisches Denken und Handeln auf Weltebene: Nicht mehr der gierige Mensch steht im Mittelpunkt, sondern die Natur im Ganzen, der Mensch ist NUR ein Teil der Natur, keineswegs aber der allmächtige, d.h. immer auch zerstörerische Herrscher gegenüber der Pflanzen – und Tierwelt.
Es gilt also den Herrschaftsanspruch der Menschen zu brechen. Daran können die Kirchen entschieden mitarbeiten: Sie müssen die Gläubigen zum Widerstand aufrufen und erziehen, zum Widerstand gegen die Gier der Konzerne. Und zum Widerstand gegen den Fleischkonsum.
Die Kirchen insgesamt sollten also zeigen, dass der biblisch überlieferte Herrschaftsanspruch des Menschen über die Welt und die Natur eigentlich ein Missverständnis ist.
Was kann der einzelne tun angesichts der Zerstörung der “Lunge der Welt”? Er sollte sich dauernd informieren über das, was in Brasilien passiert. Und in Gesprächen andere auf Brasilien aufmerksam machen. Er sollte sich solidarisieren mit Gruppen in Brasilien, die der Vernichtung des Regenwaldes Widerstand leisten und an einer Absetzung des Herrschers Bolsonaro arbeiten. Und, auch dies, er sollte weniger Rindfleisch essen, denn die Waldbrände am Amazonas sollen letztlich den Rindfleisch-Konsum auch in Europa fördern. Rindfleisch Essen hat also förmlich etwas mit dem Untergang der “Lunge der Menschheit” zu tun.

PS:
Die katholische Kirche in Brasilien verfügt seit langem über den ökumenischen indigenen „Missionsrat“ CIMI sowie über das Amazonasnetzwerk REPAM (Red Ecclesial PanAmazónica). Wichtig sind auch die Publikationen von Bischof Erwin Kräutler, der viele Jahre am Amazonas lebte und die Rechte der Menschen und der Natur heftig verteidigte. Es lohnt sich, die Bücher und Beiträge des ungewöhnlichen katholischen Bischofs zu lesen!

Die notwendige Kritik in Deutschland an Brasiliens Regenwald-Vernichtung fällt schwer, wenn man bedenkt: Statistisch gesehen gehört Brasilien bis jetzt nicht zu den ganz großen Umwelt-„Sündern“, sondern eben Deutschland, Europa, USA und China.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin