Einige einführende Hinweise zur Philosophie von Gottfried Wilhelm LEIBNIZ. Von Christian Modehn.
Veröffentlicht am 19.11.2016, anläßlich des Religionsphilosophischen Salons am 18.11.2016.
Aktualisierung am 22.11.2016: Ein Freund hat mir zu dem unten publizierten Beitrag geschrieben: “Treffender wäre es, wenn man heute – angesichts des Elends in Afrika und weltweit, der Kriege, der Analphabeten, der von Menschen gemachten ökologischen Katastrophen usw. – von der schlechtesten aller denkbaren Welten sprechen würde.“ ABER: Was wäre, wenn man diesem Vorschlag folgen würde? Dann könnte jeder glauben, alles sei eigentlich böse. Alles sei verloren. Die Welt sei am Ende. Da brauchen wir eigentlich nicht mehr gegenzusteuern. Nicht mehr in freiem Handeln dann doch noch das Gute tun. Also Resignation und Verzweiflung auf der ganzen Linie. Vielleicht auch absoluten Egoismus, weil ja alles verloren ist.
Hingegen gilt die Erkenntnis von Leibniz: „Wir leben in der besten aller denkbaren möglichen Welten“, sie ist immer eine das Leben fördernde Erkenntnis. Leibniz hält an der Freiheit jedes Menschen fest, in dem Sinne, dass die Menschen frei das Gute tun können. Und: Das Böse ist eine Tat freier Menschen, die sich auch anders, im Sinne des Guten, entscheiden könnten. Durch Bildung und Aufklärung ließe sich eine bessere Welt schaffen, wenn der Mensch denn dem Gewissen folgt und die vielfältigen Formen des Egoismus überwindet.
Der Gedanke, wir leben in der besten aller möglichen Welten, ist bei Leibniz um so mehr vertretbar, weil er eine Schöpfung dieser Welt durch einen guten Gott im Denken annimmt.
Der heute weit verbreitete Spruch „Eine andere Welt ist möglich“ ist ja letztlich die Aussage „Eine bessere Welt ist möglich“. Mit „andere Welt“ kann im Ernst nur eine bessere Welt gemeint sein. Insofern sind die heutigen Bewegungen für Alternativen etwa zum Kapitalismus durchaus noch von Leibniz geprägt. Die Gedanken von Leibniz haben vielleicht eine universale Bedeutung, sie entsprechen der Sehnsucht der menschlichen Seele nach einer anderen, einer besseren Welt. Vielleicht ist die Überzeugung „Eine andere/bessere Welt ist möglich,“ unthematischer Ausdruck eines religiösen Glaubens!
Das Gerede führender und sehr mächtiger Politiker, etwa auch der Bundeskanzlerin, „Da gibt es keine Alternative“, „There is no alternative“ (Thatcher) usw. ist nichts als Ideologie, ist Ausdruck von Denkfaulheit und dem Verlust an Mut, dem Verlust an Hoffnung und vor allem: der Missachtung der Kreativität der menschlichen Freiheit. Und es ist gelinde gesagt für Demokraten ein heftiges Problem, dass nun ausgerechnet eine populistische und sehr rechtslastige Partei in Deutschland in ihrem Titel das Wort „Alternative“ führt. Trotz dieser Partei und dem Niedergang des demokratischen Bewusstseins und der demokratischen Praxis im allgemeinen: Wir halten uns an Leibniz: Diese Welt ist aufgrund der anerkannten Freiheit des Menschen, des freien, vernünftigen Tuns im Sinne der Menschenrechte, die beste aller möglichen Welten.
Der Text vom 19. 11. 2016:
Das Motto unseres Salons ist: „Im ganzen der Wirklichkeit offenbart sich die Gottheit“. So Friedrich Heer in seinem immer noch lesenswerten und umfassenden Essay über Leibniz in dem Fischer Taschenbuch „Leibniz“(1958). Dort S. 59.
1.Ein Vorwort: Wir entdecken in der Reflexion auf einige zentrale philosophische Begriffe von Leibniz ein Modell, wie ein Philosoph (und tatsächliches „Universalgenie“ damals) Antworten findet (!) auf zentrale Lebensfragen. Wie er durch rationale Argumente eine Art Urvertrauen wecken will, aber ein begründetes Urvertrauen, das nicht in esoterischen Sprüchen, sondern in Argumenten seine Kraft hat. Und der dazu aufrief, deswegen für die „Verbesserung der Welt“ aktiv einzutreten und Gerechtigkeit für alle zu schaffen: das war für ihn die „Liebe des Weisen“. Dabei kämpft Leibniz zugleich gegen den Pessimismus der Calvinisten und der katholischen Jansenisten und aller, die sich in ihre begrenzte und damit Angst machende Dogmenwelt einschließen. „Gott weidet sich an den Qualen der Verdammten“, so beschrieb der schottische Theologe Baxter damals dieses grausige Gottesbild der orthodoxen Calvinisten (in Heer, S. 52). Mit solcher Unvernunft und Inhumanität wollte Leibniz absolut nichts zu tun habe. Er widersetzte sich diesen Lehren der Grausamkeit: eben denkend und handelnd: Zugunsten der besseren, d.h. gerechteren Welt. Seine Erfindungen, sein Bemühen um technischen Fortschritt, seine Auseinandersetzungen um ein besseres Rechtssystem usw. sind AUSDRUCK seiner Überzeugung: eine bessere Welt ist möglich. Und wir haben die Pflicht, dies auch zu tun gegen alle Widerstände der Dummheit.
Noch viel zu wenig bearbeitet ist meines Erachtens, welche Anregungen Leibniz in der Begegnung mit den philosophisch damals hoch gebildeten Kapuzinern in Paris empfing, vor allem von Pater Yves de Paris. Über das Werk des Paters Yves de Paris und Pater Laurent de Paris (bei Heer S. 37) wollen wir später weiter arbeiten.
Was wir immer vor Augen haben sollten: Leibniz war naturgemäß auch eingebunden in damals übliche Denkkategorien, etwa die Vorstellung des Monarchen war ihm noch selbstverständlich. Wenn er darum Gott dachte, dann durchaus in der damals üblichen Begrifflichkeit des Monarchen, allerdings des GUTEN Monarchen.
Aber Leibniz bietet uns in seiner Metaphysik und seiner Erkenntnis von Gott ein Modell, das heutige Modelle wiederum in Frage stellt. Er führt zu der Einsicht: Dass doch viele Erkenntnis von einst nicht deswegen zu verwerfen sind, weil sie von früher stammen. So hilft er vielleicht, dass sich heute Menschen für sich selbst und ihre Gemeinde/Freunde eine rational vertretbare Form des wissenden Glaubens an eine göttliche Wirklichkeit entwickeln.
2.Zur Biographie
Wir müssen beachten, dass Leibniz in der Zeit kurz nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges lebte und philosophisch dachte. Und zu seiner Zeit fand der Schwedisch-Brandenburgische Krieg statt, der sogenannte. „Große Türkenkrieg“ sowie die verschiedenen Polnisch Russischen Kriege, der große Nordische Krieg usw. D.h. Töten und Abschlachten aufgrund der Nationalität und der Religionszugehörigkeit (und des Kolonialismus und Rassismus) waren zu Leibniz Zeiten sozusagen selbstverständlich. Leibnizens Philosophie und Metaphysik ist deswegen um so mehr als Friedens-Philosophie zu lesen.
Leibniz wurde am 1.7. 1646 in Leipzig geboren. Er verstarb am 14. 11. 1716, im Alter von 70 Jahren, in Hannover. Er lebte, trotz vieler Reisen, seit 1676 im Dienst des Hauses Hannovers und gehörte dem Hof an. Auch nach Berlin hatte er intensive Beziehungen, durch die Freundschaft und philosophischen Gespräche mit Königin Sophie Charlotte. Er schätzte die intellektuelle Qualität der Frauen besonders hoch ein, damals keine Selbstverständlichkeit.
Leibniz lebte in der Zeit des Barock. Und wenn Barock beschrieben wird, dann durch „das Üppige, das Kraftvolle, das Prächtige, den Überschwang, die Fröhlichkeit, die nach außen gestellte Freude“.
Die Qualitäten des Umfangreichen und durchaus – freilich vernünftig gesteuerten – Überschwänglichen gelten auch für die universalen Interessen (und Arbeiten) von Gottfried Wilhelm Leibniz; allein schon wegen der unglaublichen Breite und Tiefe seiner vielseitigen Begabungen. Seine umfassenden Texte und Studien, Bücher, Briefe, Notizen haben in gewisser Weise das Üppige, auch das Großartige. Man hofft, bis etwa zum Jahr 2040 (!) tatsächlich auch den gesamten Nachlass von Leibniz entziffert und dann ediert zu haben….
ABER:
In Paris erlebt Leibniz den schönen Schein des barocken Staates. 1672 schreibt er über die „Mala Franciae“: Paris blüht nur dem Scheine nach, die Provinzen und die Menschen dort darben und hungern. „Alles ist nur dem Schein nach schön, innen aber verkrüppelt und verkümmert. Für ihn stecken hinter diesem zur Schau getragenen Frommsein Hochmut und Selbstsucht; diese vornehme Gesellschaft ist für ihn bigott, verlogen, sie ist ein Kind einer großen entsetzlichen Angst. (so Friedrich Heer, S. 20).
Leibniz wollte eine Lösung finden im damals wie heute herrschenden Konflikt zwischen Wissenschaft und Glauben, im Kampf der Religionen gegeneinander; es musste ein Weg zum Frieden gefunden werden und es musste eine Antwort gegeben werden auf die persönlichen Erfahrungen des Leidens gerade im Krieg und nach dem Krieg. Die Idee des Besseren, des Besserwerdens und Bessermachens war für ihn Leitmotiv seiner Arbeiten.
3.Philosophisch ist zentral
Eine wesentliche Frage für uns heißt: Was ist der Mittelpunkt seines vielfältigen Schaffens insgesamt? Meine Überzeugung: Es ist seine philosophische, begründete Lehre von Gott, Welt und Mensch. Dies wurde angesichts der vielen technischen und mathematischen Begabungen von Leibniz meines Erachtens in den „Gedenkartikeln“ in diesem Leibniz Jahr 2016 nicht herausgearbeitet. Leibniz ist zuerst Philosoph! Alles andere bei ihm steht im Dienst der „Verbesserung der Welt“.
Leibniz will für die Verbesserung der Welt sorgen und vor allem weiter entwickeln durch die in seiner Sicht einzige Kraft, die dieser Forderung entsprechen kann: Das ist die allgemeine Vernunft, die nichts Beliebiges ist, sondern die sich durch Logik auszeichnet, durch die Anwendung von Begründungen und Gründen für etwas; durch die Reflexion und durch die Erkenntnis, dass auch religiöse Texte wie die Bibel der kritischen Betrachtung bedürfen. Leibniz sah in der Vernunft, die allgemein ist, über die sich debattieren lässt, das Heilmittel zur Verbesserung von Mensch und Welt. Dass es nach dem 30 jährigen Krieg die Welt besser, „fortschrittlicher“, werden muss, ist förmlich eine Evidenz. Menschen, besonders im Umfeld von Kriegen, können niemals auf den Begriff des Fortschritts, in dem Falle des Friedens, verzichten. Sie wollen zudem wieder eine „metaphysische Geborgenheit“ erleben. Fortschritt wird nur dann schlecht geredet, wenn Menschen bereits vieles Gute erreicht haben und sehen, dass global doch nicht alles ihnen so gut gelungen ist, wie es gemeint war… ABER: Fortschritt gibt es immer nur in einer bestimmten Hinsicht, etwa was die Rechte von Frauen angeht, die Rechte von Minderheiten usw. In dieser Hinsicht gibt es zumindest im Bewusstsein der Menschheit tatsächlich Fortschritte. Wenn angesichts des großen Wissens der Friedensforschung etwa tatsächlich auch heute der Friede weltweit keine Realität ist, liegt es am Unwillen der politischen Akteure, der Vernunft zu folgen und eine friedliche Ordnung zu schaffen. Es ist mit anderen Worten, der böse Wille, das Nicht-Reflektieren, also der nationalistische Egoismus, der auch heute unnötigerweise Kriege und Mord und Totschlag produziert.
Leibniz, so wird berichtet, war von einer “ausgesuchten Höflichkeit”; er stellte sich je neu in seinen Argumenten auf seine Gesprächspartner und seine Briefpartner ein. Er wollte deren Sprache sprechen, um sein Ziel zu erreichen: Eine vernünftigere und bessere Welt. Von diesem Ziel war er überzeugt.
Die Wurzel dieser Überzeugung ist letztlich sein vernünftig begründbarer Glaube an Gott. Deswegen wurde er oft –manchmal ironisch, abfällig – „Optimist“ genannt. Er hatte eine friedfertige Gesinnung; legte sich das Pseudonym „Pacidius“ zu, auf Deutsch der Friedfertige. Leibniz wusste natürlich von seiner exzellenten höchsten Begabung für so vieles; deswegen wollte er mit vielen Fürsten und Königen etc. in Kontakt treten, um irgendwie dann doch ein beratender Philosoph in der Politik zu sein. Das ist ihm kaum gelungen.
4.Zur Metaphysik und Gotteslehre
Dies ist der Mittelpunkt des Leibnizschen Denkens: Leibniz sah vernünftiges Denken von Logik bestimmt. Er war sozusagen der Entdecker des „Satzes vom zureichenden Grund“: Ohne einen zureichenden Grund kann kein Wesen vorhanden sein und existieren. Konkret: Wenn es diese Welt gibt, dann muss sie einen gründenden Grund haben. So kam, zusammenfassend gesagt, Leibniz philosophisch zur Idee Gottes als des Schöpfers dieser Welt. Diese Überzeugung ist für ihn absolut zentral. Ohne diese Überzeugung zu sehen, kann man Leibniz nicht verstehen.
Das Verhältnis der Welt bzw. darin auch des Menschen zu Gott als dem Gründenden ist von fundamentaler Bedeutung bei Leibniz…
Er sah als Naturwissenschaftler, wie sich die Überzeugung durchsetzte: Die Welt im ganzen ist gesetzmäßig („wie eine Maschine“) strukturiert. Von daher habe auch der Mensch keine Freiheit, so wurde behauptet.
Leibniz versucht dagegen, diese gesetzmäßige Struktur des Weltganzen mit der menschlichen Freiheit zu verbinden. Dabei sind für ihn gewisse Deduktionen von Grundeinsichten üblich. Er will damit Klarheit schaffen, das Dunkel der Ängste vertreiben, eine Art sicheren Boden zeigen, wie trotz aller Erfahrungen von Leiden das menschliche Leben dennoch sinnvoll ist!
Gott ist kein materieller Gegenstand, sondern Geist, geistige Ursubstanz. Als Geist ist Gott aber dann Vernunft. Und Vernunft handelt logisch. Sie strebt nach dem Guten und Wahren.
Wenn Gott eine Welt erschafft, dann kann er eben nur eine Welt, etwas anderes als Gott, und nicht einen zweiten Gott erschaffen. Ein zweiter Gott würde die Frage nach dem Verhältnis beider Götter stellen und so in unsinnige Debatten führen. Selbst Polytheisten erkennen zwar viele kleinere Götter an, denken aber dann doch einen waltenden Übergott (Zeus).
Gott muss also, wenn er die Welt schafft, etwas Nicht-Göttliches (also Endliches und Begrenztes) schaffen, auch wenn sein Werk, die Welt, als sein Werk, mit ihm verbunden bleibt, eben durch die Vernunft. Die Vernunft des geschaffenen Menschen ist also mit der göttlichen Vernunft verbunden, mehr noch: Beide sind eins. Leibniz Forscher, wie Hans Poser, betonen: „Die menschliche ist von der göttlichen Vernunft nicht prinzipiell, sondern graduell verschieden“, Hans Poser, „Leibniz` Philosophie“, Hamburg 2016, S. 259. Es gibt zwischen Gott und Mensch keinen Dualismus, kein Gegeneinander. Es herrscht die große Einheit. Aufgrund dieser Verbundenheit mit Gott kann also der Philosoph Leibniz förmlich die Gedanken Gottes selber nach vollziehen. Dieses Motiv ist schon in der Mystik, etwa bei Meister Eckart, lebendig, später dann wieder bei Hegel…Das Problem ist nur, dass in der Mystik dann doch wieder die „Andersheit“ Gottes festgehalten wurde. Aber selbst wenn der ganz andere Gott ins Denken „einfällt“ (Lévinas), dann ist doch der menschliche Geist fähig (!), diesen denkend anzunehmen. Also: So „ganz anders“ kann Gott dann doch nicht gegenüber dem menschlichen Geist/der Vernunft sein! Die „dialektische Theologie“ (Kierkegaard, Karl Barth) hat im Sinne von Leibniz also unrecht.
Nun fühlt sich der Mensch in der Welt in seinem Handeln durchaus frei. Er kann seine Willensentscheidungen als Tat realisieren und damit in der Welt und ihrem Geschehen frei wirken. Diese subjektive Freiheitserfahrung verbindet Leibniz mit der Tatsache, dass Gott diese Welt geschaffen hat und ihr die eigenen Gesetze eingefügt hat, also auch Naturgesetze. Aber: Gott ist „im menschlichen freien Tun“ sozusagen „versteckt“ dabei, weil es ja Gott ist, der die Welt schafft und als Gott diese Welt und die Menschen zum Guten und immer Besseren führen will.
Eine göttliche Schöpfung kann also nicht durch Taten der Menschen total versinken und verschwinden. Das wäre sozusagen eine Katastrophe für Gott, er wäre dann nicht mehr Gott; denn sonst würden sich die endlichen, die geschaffenen Menschen als die Herren der Welt zeigen. Das wäre ein Widerspruch zur göttlichen Schöpfung. Heute können die Menschen durch ihre Erfindung der Atombombe tatsächlich Gottes Schöpfung zerstören. Sie haben ihre Freiheit der Forschung maßlos und ohne jeden Bezug auf Ethik beim Bau der Atombomben durchgesetzt. In der Sicht Leibniz` haben sie also eine gottferne Wirklichkeit geschaffen. Die Menschen können jetzt nur noch alles tun, durch Verhandlungen die zerstörerische Macht der Atombomben einzuschränken. Wer das nicht realisiert, ist eigentlich böse.
Für Leibniz jedenfalls zu seiner Zeit gilt: Dieses Zusammenwirken von Mensch und Gott trifft auch zu, wenn sich der Mensch für Böses entscheidet. Dann wird diese Entscheidung allein vom Menschen her als einem freiem Wesen begründet. Aber Gott hat diese bösen Entscheidungen auch vorausgesehen, aber nicht vorher bestimmt (also es gibt keine Prädestination, Gott als Gott schafft also nicht bestimmend das Böse!). Aber Gott kann diese menschlichen, der Freiheit entspringenden Taten des Bösen dann in sein göttliches Konzept der Schöpfung einbeziehen. Es herrscht also eine Art Variabilität: Je nach menschlicher Entscheidung entwickelt sich der Lauf der Welt. Aber Gott bleibt der Herr seiner Schöpfung, indem er dann je neu die Welt weiter zu Besseren hin entwickelt, indem etwa andere, bessere menschliche Entscheidungen möglich werden.
Wenn der einzelne Mensch handelt und im Handeln die Welt in gewisser Weise auch steuert und verändert, dann ist dies eine subjektive Freiheitserfahrung. Aber im Hintergrund dieser subjektiven Tat, sozusagen stillschweigend, aber nicht abschaffbar anwesend, ist die göttliche Vernunft: Sie hat als schöpferische Vernunft das gute Ziel dieser Welt insgesamt vor Augen: Gottes Voraussicht sieht also das Tun der Menschen im einzelnen voraus. Die Menschen entscheiden sich also freiwillig für ihr Tun; sie ahnen dabei gar nicht, dass im Hintergrund die göttliche Vernunft in ihnen mitwirkt; Gott verwirklicht also seine göttlichen Ziele durch menschliches Tun hindurch.
Jedoch: Gott greift nie wunderbar in das Geschehen der Welt direkt ein, er übergeht nicht die Naturgesetze durch einzelne Wunder; lässt etwa keinen abgeschlagenen Arm eines Menschen wunderbarerweise wieder nachwachsen. Er straft nie direkt unmittelbar mit einem Blitzschlag oder so den Übeltäter oder er zaubert auch nicht einen guten Helden oder Heiligen plötzlich als Retter aus der Not hervor. Die Welt entwickelt sich selbst unabhängig von direkten göttlichen Eingriffen. Diese Haltung hat weite theologische Konsequenzen: Das individuelle Bittgebet wird dann überflüssig, weil zu egoistisch bestimmt! Als subjektive Poesie hat das Bittgebet ein Recht. Beten ist nur noch Anerkennen, dass die Menschen von Gott „getragen“ und umfangen sind. Ich denke, das Lied von Paul Gerhardt, „Befiehl du deine Wege“ , auch im Umfeld des Dreißigjährigen Krieges entstanden, ist ein Lied, das einige Elemente von Leibnizens Philosophie ausdrückt.
5.Die Welt in diesem Zusammenwirken von Gott und Mensch nennt Leibniz „die beste aller möglichen denkbaren Welten“.
Dahinter steht der Gedanke: Gott als Gott könnte eigentlich viele mögliche Welten erschaffen. Etwa eine, in der die Menschen einander nichts Böses antun, so wie es einige Tier-Familien gibt, die einander nicht fressen usw. Nur: Wenn auf diese Weise das Böse aus der Menschenwelt ausgeschlossen wäre, dann gäbe es auch keine Freiheit. Freiheit aber ist identisch mit Reflexion, mit freiem Entscheiden usw. Also wäre in dieser Welt ohne mögliches Bösestun der Mensch nicht mehr Mensch, sondern ein Tier. Also kann Gott aufgrund der menschlichen Freiheit keine Welt schaffen, in der es nicht auch Bösestun durch Menschen gibt. Wenn Gott den Menschen als geistvollen Menschen, also als freien Menschen, will, dann muss er sozusagen auch das Böse zulassen. Und er muss zulassen, weil diese Welt eben eine geschaffene Welt ist, er muss dass die Natur sich „unkontrolliert“ verhält, Bäume beim Wind umfallen usw. und im Zusammenprall widriger Naturelemente Unglück passierrt. Und Gott muss zulassen, dass die Menschen als geschaffene eben dadurch endliche Geschöpfe bleiben und, weil nicht Götter, sterbliche Wesen sind.
Alle diese Strukturen der Welt hält Gott dann doch noch für die beste aller für ihn denkbaren Welten. Diese denkbar beste aller möglichen Welten ist für die Menschen als Geschöpfe nicht die rundum erfreuliche, nicht die so wunderbar-tolle, die absolut immer und für jeden zu jeder Zeit gute Welt. Es gibt subjektiv erfahrenes Elend, Leiden usw. Aber: Diese Erfahrungen mindern für Leibniz nicht die Erkenntnis: Eine bessere Welt mit freien, geistvollen Menschen ist nicht denkbar. Besser konnte Gott keine Welt schaffen. Man kann ja spekulieren: Warum müssen wir eigentlich sterben? Wäre ewiges Leben auf Erden ein Gewinn für uns für unsere Lebensgestaltung? Könnten dann immer noch weitere Menschenwesen geboren werden. Könnte der Mensch weiterhin aus Fleisch und Wasser bestehen? Oder besser aus massivem Holz? Wann wäre diese Welt unsterblicher Menschen wegen Überfüllung geschlossen usw…
Diese Erkenntnis entwickelt Leibniz in seinem sehr umfangreichen und nicht immer leicht lesbaren Buch „Theodizée“, das heißt: Richterspruch über Gott. Man sieht schon bei dem Titel einmal mehr, dass Leibniz auch Jurist ist; Jura war ja sein erstes Studienfach. Leibniz hat als Ziel vor Augen, eine universale Ordnung zu schaffen, die vom Recht bestimmt ist. Leibniz hält nichts von Gewalt, er will alle Verhältnisse nach Recht und Gerechtigkeit gestalten. (Heer, S.15). In der „Theodizee“ geht es um die Anklage: Warum hat Gott die Welt und die Menschen so geschaffen, wie sie offenbar böse und begrenzt nun einmal erlebt wird. Diese „Theodizée“ wurde 1710 veröffentlicht.
Viele Kritiker haben sich nach oberflächlicher Lektüre darauf gestürzt und besserwisserisch gesagt: Was, diese Welt soll die beste sein? Sie haben dabei alle Nuancierungen, die der kluge Leibniz bot zum Thema, übersehen und eben alles als metaphysischen Schwachsinn schlecht gemacht. Bloß zu sagen, „so ist das nun alles mal in dieser blöden Welt, sie hat keinen Gott, es gibt nur Idioten um uns herum“ ist doch für viele nicht befriedigend. Da passiert sozusagen ein Selbstverzicht aufs Nachdenken. Kant hat die Theodizee von Leibniz zurückgewiesen, weil sie seiner Definition von Erkenntnis und damit, bei Kant, der Unmöglichkeit von Erkenntnis Gottes widersprach. Aber im Denken musste dann selbst Kant in seine praktischen Vernunft die Idee Gottes annehmen….
Geradezu komisch wirkt der Einwurf, die Theodizee –Kritik von Odo Marquard: „Wenn die bestmögliche Schöpfung nur die bestmögliche ist und unvermeidlich Übel einschließt, warum hat Gott das Schaffen (der Welt) dann nicht bleiben lassen ? “ (In: Odo Marquard, Entlastungen, in Apologie des Zufälligen, Reclam 1986, Seite 17). Nun aber gibt es diese Welt und darauf muss man philosophisch reagieren. Die Welt als nicht existent bei einem Gott im Himmel für sich allein zu denken, ist gelinde gesagt nur komisch. Oder eben eine der vielen „netten“ Marquardschen Formulierungen, die das Publikum so toll (komisch) fand…
Eine andere Frage ist, wie die Abgründigkeit des Bösen, etwa der Holocaust oder jetzt der Krieg in Syrien und die Sklaverei, mit dem Leibniz Konzept der besten aller möglichen Welten zusammen gedacht werden kamnn.. Gerade, wenn der subjektive Schmerz der Betroffenen einzelnen im Leiden immens ist. Dennoch ist es philosophisch gesehen die Frage: So sehr das Leiden der einzelnen furchtbar ist, so muss doch gesehen werden: Der Holocaust, der Krieg in Syrien, die Sklaverei usw. sind im letzten Ausdruck freier menschlicher Entscheidungen in der Politik. Sie sind keine unergründlichen (vielleicht nur für den Klerus zu klärenden) Mysterien, sie sind keine blinden Schicksalsschläge, sie sind vielmehr Ausdruck der politisch gewollten Stilllegung der Vernunft bei so vielen, auch den vielen Mitläufern usw. Das heißt: Dieses Grauen ist Ausdruck der Freiheit vieler Menschen, also der freien Willen. Da wäre mit Vernunft vieles zu verändern und zu verbessern (gewesen). Der Holocaust usw. hätte nicht sein müssen bei einer vernünftigen Gesellschaft in Deutschland! Aber wie wurde die Weimarer Republik schlecht gemacht…Leibniz würde wohl sagen, ohne zynisch zu werden: Auch all das Schlimme ist Ausdruck dieser Welt freier Menschen, einer Welt, die also solche dann aber immer noch die beste aller denkbaren ist. „Gott musste das Übel zulassen, um in Freiheit die beste der möglichen Welten zu schaffen“ (Hans Poser, S. 260).
Es ist für den einzelnen Leidenden im Augenblick des Leidens wohl schwierig, sich dieser Erkenntnis anzuschließen, er muss diese Gedanken schon vorher in Ruhe gedacht haben, um sie als Trost wahrzunehmen.
Aber was sind die Auswege? Voltaire hat in seinem Anti-Leibniz Roman Candide (von 1759, nach dem verheerenden Erdbeben in Lissabon) gezeigt, wie die Irrfahrten des leidenden Candide dann enden: Letztlich können seine beiden philosophischen Begleiter angesichts nur beruhigende Sprüche aus der Verhaltenstherapie weiter geben: Der Weise Martin empfiehlt: „Lasst uns arbeiten ohne nachzudenken, das ist das einzige Mittel, das Leben erträglich zu machen“. Und der Philosoph Pangloss, der nach wie vor einen ungetrübten Optimismus predigt, wird von Candide im letzten Satz der Novelle mit der Erkenntnis beschieden: „Gut gesagt, aber unser Garten muss bestellt werden“. Die Arbeit soll also von allen Fragen nach dem Sinn von Leiden befreien. Das ist eine Art resignatives Denkverbot, bis heute leider üblich. Voltaire hat förmlich die Üblichkeit eingeleitet, den Leibnizschen metaphysischen Gedanken schlecht zu machen und zu diffamieren. Trost spenden kann Voltaire mit seiner Verhaltenstherapie (Arbeiten, den Garten pflegen) gar nicht.
6.Auf die hoch komplexe Leibnizsche Lehre von den Monaden kann hier nur ganz kurz verwiesen werden: Gott ist die Ursubstanz, die alle anderen Substanzen der Welt und der Menschen belebt. Eine Monade nennt Leibniz die kleinste unteilbare Einheit, die in allem lebt und unzerstörbar ist. Die menschliche Seele ist unteilbar, damit nicht materiell, sondern geistig. Gottes Reich, zu dem jeder Mensch gehört, verliert keine Person, d.h Menschen sind als Seelen ewig. Gott wird hier als der gerechteste und gütigste Monarch, so wörtlich, gedacht. Er will das Glück der Menschen, er will nur, „dass man ihn liebt“ (S. 163 Metaphysische Abhandlung). Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand und gegen alle Umwälzungen des Weltalls beschirmt; da nichts auf sie einwirken kann als Gott allein“ (S. 165 in Metaphysische Abhandlung, Suhrkamp). Dieser Text wurde 1686 geschrieben, aber erst 1846 gedruckt.
7.Für die Versöhnung der Religionen und der getrennten Kirchen arbeiten.
Es wird sehr oft vergessen, dass Leibniz leidenschaftlich und klug die Einheit der vielen getrennten Kirchen förderte und zahlreiche Gespräche und Korrespondenzen zu dem Thema hatte. Das war zu den Zeiten sensationell. Er meinte: Nur die vereinten Kirchen können den Fortschritt der Menschheit befördern. Man stelle sich vor, heute in diesen Kriegszeiten, würden die großen Kirchen einander als gleichwertig anerkennen und versöhnt mit einander in Vielfalt leben, was wäre dies für ein Symbol. Was wäre das für ein Zeichen in der zerrissenen Welt. Vielleicht ein „Vorbild“.Für Leibniz ist entscheidend, dass auch die Kirchenlehren nur unter der Kritik der Vernunft bestehen können. Das heißt, die philosophische Vernunft ist letztlich wichtiger als die Aussagen der Offenbarung und der Kirchenlehre.
Wenn die Kirchenlehren also relativ sind und die Erkenntnisse über Gott durch die Philosophie entscheidend sind: Dann kann alles daran gesetzt werden, dass die getrennten Kirchen ihre dann immer relativen und zweitrangigen Lehren zurückstellen und sich auf eine Kirchengemeinschaft mit einer einfachen gemeinsamen Lehre/gemeinsamen Dogmen einigen.
Dieser Einsatz von Leibniz für die Ökumene ist kaum bekannt, kaum erforscht und nach meinen Kenntnissen nicht nur Kirchenkreisen unbekannt oder der Leibniz Beitrag dazu wird unterdrückt. Dabei ist die Anerkennung der Relativität der Kirchen-Dogmen heute schon eine verbreitete Erkenntnis, es fehlt nur weithin die Anerkennung der Vorrangigkeit der Vernunft, wie Leibniz sie sah… Nebenbei: Es gab 2009 in Berlin eine Tagung zu Leibniz und die Ökumene. Die Vorträge sind veröffentlicht in den „Studia Leibnitiana“ von Hans Poser.
8.Für den Dialog und den Austausch mit China: Ein zentrales Thema von Leibniz
Auch dies ist ein weithin unbekanntes Thema, und es fehlt meines Erachtens in vielen journalistisch-oberflächlichen Leibniz Darstellungen in Filmen und Zeitschriften im Leibniz-Jubiläum 2016, selbst in einem Film, der für ARTE 2016 gemacht wurde. Da wird Leibniz sozusagen als Vorläufer der modernen Computer-Welt interpretiert.
Der interkulturelle Dialog ist genauso wichtig: Tatsache ist: „Denken ist für Leibniz Mitdenken, auch Zustimmen zu Fremden, weil die Vernunft die Kunst des Verknüpfens ist von allen Wahrheiten und Wirklichkeiten“. (S 20, Heer)
Die Rezeption des chinesischen Philosophen Konfuzius und Menzius durch Leibniz sowie seinen Schülers Christian Wolff ist ein Beispiel dafür, dass schon die Frühaufklärung von außereuropäischen Einflüssen geprägt ist. Es ist also falsch, die Aufklärung nur als auf europäisches Denken begrenzte Philosophie zu verstehen. China war für die Europäer etwas absolut Neues, für Europäer, die sonst in der Begegnung mit anderen, fremden Kulturen sehr imperialistisch waren. In Amerika, so meinten sie, hätten die Europäer ungebildete Wilde „entdeckt“; in Afrika stand den Kolonisten ein Markt von Sklaven bereit, also von „Untermenschen“. In China hingegen begegneten die Europäer einer großen uralten Kultur, die sie einfach als wichtig und „entwickelt“ anerkennen mussten.
Leibniz schrieb einen Essay über die chinesische Weisheit/ Philosophie. Er korrespondierte mit zahlreichen Wissenschaftlern aus dem Jesuitenorden. Sie stammten aus Frankreich und Italien vor allem, die in China seit etwa 1550 – lebten und in Peking lehrten und durch ihre Übersetzungen chinesischer Werke überhaupt China in Europa bekannt machten.
Tatsache ist: Mit dem grundlegenden chinesischen Philosophen Konfuzius hat sich Leibniz viele Jahre befasst, das war ein absolutes Novum damals! Natürlich standen Leibniz nur einige erste chinesische Werke in lateinischer Übersetzung zur Verfügung! Seit Leibniz 1689 in Rom den Jesuitenpater Grimaldi kennen lernte, gibt es sein ausgeprägte Interesse an China. Grimaldi berichtete von seinen Aufenthalten in China. Da entwickelte Leibniz bereits die Vorstellung eines Kulturaustausches. Nicht nur der Handel, der Austausch der Ideen sollte Europa wie auch China bestimmen. Nicht nur Handel mit Gewürzen, sondern Austausch der Kulturen. Noch auf dem Sterbebett schrieb Leibniz einen Essay über die chinesische Philosophie – sie war das Herzensanliegen eines Mannes, der schon 1698 dem Kaiser Kangxi nach Peking einen ausführlichen
Brief geschrieben hatte, in dem er die Gründung zweier Akademien – einer in Hannover, einer in Peking – vorschlug. Sie sollten beide Kulturen vergleichend studieren und herausfinden, wie beide voneinander lernen und sich befruchten können. Vgl. hier die weiterführenden Hinweise von Henrik Jäger:
http://www.ev-akademie-boll.de/fileadmin/res/otg/doku/201208_Jaeger.pdf
Zahlreiche Briefe offenbaren den Dialog des Lutheraners Leibniz mit Jesuiten. Er schätzte die Leistungen der Jesuiten in Peking als Mathematiker, Astronomen, Übersetzer sehr! Und fand bei diesen aufgeschlossenen Katholiken den Geist der Vernunft, also den Geist, mit wissenschaftlichen Erklärungen den Chinesen vieles deutlich zu machen. Aber die Päpste und andere in Europa waren so begrenzt und dumm, dass sie diesen Dialog der Jesuiten in China nicht mehr zuließen. Die Jesuiten meinten: Wenn ein Chinese Katholik werden will, und das wollten doch einige tausend, dann können sie als Chinesen auch ihrem Ahnen – Kult und anderen uralte Riten treu bleiben. Diese Offenheit lehnte Rom mit seiner strengen Dogmatik ab. So scheiterte 1704 das Experiment der Jesuitenmission in China, was Leibniz sehr bedauerte. Sein Briefaustausch mit den Jesuiten dort kam 1703 kam an ein Ende. Diese Jesuitenpräsenz in China ist sicher eines der spannenden Themen der Religionsgeschichte. Philosophisch ist wichtig zu sehen: Dieses Experiment eines „chinesischen Katholizismus“ konnte ja nur deswegen scheitern, weil die Jesuiten dort im letzten doch glaubten, die Chinesen sollten Katholiken werden. Hätte man auf diesen Missionsgedanken verzichtet, also die völlige Gleichwertigkeit chinesischer Religionen und chinesischer Philosophen mit dem Christentum anerkannt, dann wäre es bei einem fruchtbaren Kulturaustausch geblieben und vielleicht hätte man viel später, wie von selbst gefragt: Was verbindet uns Chinesen und uns Jesuiten/Katholiken eigentlich. Mit anderen Worten: Der Gedanke der Mission als Auftrag zur Bekehrung anderer (Chinesen) hat auch das große Kulturexperiment zunichte gemacht.
Hinzu kam, dass auch in Europa eine tiefe Verunsicherung durch die Kenntnis der chinesischen Kultur bestand: Denn die christlichen Europäer merkten plötzlich, dass sich die Bibel, so wie sie verstanden, offenbar geirrt hatte; denn die Christen errechneten die Daten der Schöpfung und der Sintflut aus dem Alten Testament. Und merkten: Die Chinesen waren von der Sintflut (zwischen ca. 2 500 und 2344 vor Christus, dies errechnen einige christliche Fundamentalisten noch heute) gar nicht betroffen. Die biblischen Erzählungen enthalten also gar nicht universale Wahrheiten! Und im uralten und maßgeblichen „Buch der Wandlungen“ aus dem 3. Jahrtausend vor Chr. wurde behauptet: Die Welt hat weder einen Anfang noch ein Ende. Das aber widersprach angeblich der christlichen Dogmatik… Dabei hat doch Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt die Welt geschaffen, dachte man… Deswegen wollte man die chinesischen Texte als atheistische Texte in Europa verbieten.
Leibniz hingegen dachte viel konstruktiver: Er fordert Missionare aus China für die Europäer, so in einem Brief von April 1709, (S. 20 in Heer) „Europa muss von Missionaren der Menschlichkeit missioniert werden, von Menschen, deren Denken Menschenliebe ausdrückt“. Europa muss also umfassende Moral von konfuzianischen Weisheiten empfangen. Heute lernen einige Europäer in Zen-Klöstern die Zen-Philosophie und Zen—Meditation. Aber hat sich Europa deswegen schon geöffnet für einen umfassenden Dialog mit anderen Kulturen? Sicher (noch) nicht. Was wissen wir von afrikanischer Philosophie, was von den indigenen Weisen in Peru oder Mexiko? Leibniz könnte den bornierten Europäern helfen, sich für die Mitte der Welt zu empfinden.
Leibniz hatte aber auch durchaus eine gewisse Skepsis vor einem zu großzügigen Informieren der Chinesen durch Europa: Er hielt die Chinesen für technisch so hoch begabt, dass sie technische Leistungen der Europäer egoistischer Weise einfach übernehmen, also „klauen“. Das Thema „Industriespionage durch China“ ist ja in Europa und anderswo eine viel besprochene Tatsache jetzt. Genau so wie die Tatsache, dass mit dem Philosophen Konfuzius durch die chinesische KP Führung insofern Missbrauch getrieben wird: Die staatlichen, also KP abhängigen chinesischen Kulturinstitute haben den Titel „Konfuzius-Institute“, vertreten in mehr als 100 Ländern!, selbst in Benin !, auch Spionage und „Wirtschaftsrecherche“ soll dort betrieben werden, berichten deutsche Fernsehreportagen.
Also: Was schätzte Leibniz an Konfuzius? Die Ethik des Konfuzius ist eine freie philosophische Ethik ohne Bindung an Religionen. Der Mensch kann selbst und von sich aus sein Leben in die eigenen Hände nehmen. Diese Ethik hat universale Züge. Dass sie dabei auch sehr „Herrscher-freundlich“ schon war, sah Leibniz offenbar nicht.
8.Christian Wolff führt den Dialog mit China weiter
Eigentlich müsste jetzt auch an den grossen – leider weithin unbekannten – Christian Wolff erinnert werden, der mit Leibniz korrespondierte. Er sah in seiner philosophischen Ethik eine vollkommene Übereinstimmung mit Konfuzius. Wolff musste deswegen die Universität Halle „binnen 2 Tagen verlassen“, so groß war die Angst des preußischen Königs vor diesem „Zerstörer der Kirchenlehren“…Wolff meinte: Vernunft ist größer als der Glaube. Der Mensch kann sich frei ethisch weiter entwickeln und verbessern auch ohne die Kirchen. Religion wird zwar nicht überflüssig, aber sie wird relativiert.
Wolff fand in Marburg Zuflucht. Er hatte dort tausende von Hörern auch aus Asien. Er hat es zu Weltruhm gebracht. Auch der junge Kant im Austausch mit Wolff.
Wichtig ist vor allem: Christian Wolff hatte auch die Philosophie des Konfuzianers Menzius entdeckt: Menzius (372 bis 289 v.Chr.) lehrte die grundsätzlich gute Natur des Menschen, er war also ein chinesischer Weiser, der in Europa als Gegner christlichen „Erbsünde“ wahrgenommen wird. Bei einer Reise nach Halle sollte man das schöne „Christian Wolff Haus“ unbedingt besuchen, in Deutschland eines der wenigen wirklichen Museen, bezogen auf einen Philosophen! Und nebenbei die Franckesche Stiftung, den einstigen Hort des sehr frommen Pietismus…
Dringend ist für uns im Religionsphilosophischen Salon: Mit Menzius sollten wir uns bald befassen, vielleicht das große und schöne Buch von Henrik Jäger lesen, „Den Menschen gerecht“. Ein Menzius Lesebuch, Ammann Verlag. Wenn wir uns darin vertiefen , haben wir auf anderer Ebene immer noch mit LEINBIZ zu tun!
Neben der genannten Literatur und den Interpretationen möchte ich ausdrücklich die umfangreiche Biographie und Werk-Einführung von Eike Christian HIRSCH empfehlen, “Der berühmte Herr Leibniz”. Die überarbeitete 3. Neuauflage erschien 2016 im C.H.Beck Verlag, das Buch hat 659 Seiten und ein Register!
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