Grenzgänge – Gespräche mit Menschen, die nach Gott oder dem Göttlichen suchen.

Über ein neues Buch des Theologen Stefan Seidel, Leipzig

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.

„Gott“ ist – auch jetzt – ein missbrauchtes Wort. Die Herren mit höchster politischer Macht, gemeint sind die Diktatoren und Verbrecher, sind so unverschämt, ihre Herrschaft mit „Gott“ zu legitimieren. Die Rede von Gott verkommt zur politischen Ideologie auch bei „prominenten“ Kirchenführern, man denke an Kyrill, den Patriarchen von Moskau, oder an Führer evangelikaler Kirchen in den USA, Brasilien, Südkorea, Uganda, Nigeria usw. Überall fördern diese angeblich Frommen eine gewisse Verdummung der religiösen Menschen mit ihrem Beharren auf ein wortwörtliches Verstehen von Bibelsprüchen. Als könnte Gott ALS Gott höchstpersönlich direkt zu uns sprechen…welch ein Wahn.
Man denke auch an den Papst und katholische Bischöfe, die, angeblich von Gott als Klerus auserwählt, gegen das Selbstbestimmungsrecht und die Gleichheit von Frauen sowie gegen das Recht auf Ehe von Homosexuellen kämpfen. Vom ideologischen Missbrauch Gottes im Islam und in jüdischen Traditionen (siehe die rechtsextremen Politiker im Staat Israel) wäre zu sprechen, vom gewalttätigen Hindu-Nationalismus ebenso, von den Göttern der Konsumwelten und des Kapitalismus, von den Star – Fußball – Helden in Argentinien wäre zu reden, die wie Lionel Messi oder zuvor schon Maradona als Messias, also wie Götter, massenweise verehrt werden.
Kein Mensch bei klarer Vernunft darf heute auf die Frage verzichten: Wie kann ich heute überhaupt von Gott noch sprechen? Oder sollten wir nicht eher verstummen? Angesichts universellen Missbrauchs des Namens Gottes eine viel zu wenig diskutierte Option…

2.

Das ist evident für alle, die noch reflektierte Lebenserfahrungen mit dem Göttliche haben: Sie können das Wort Gott nur noch verwenden, um für eine vernünftige und freie und zugleich spirituelle Gottlosigkeit von allen diesen genannten Götzen und Göttern einzutreten. Nur der von diesen Göttern radikal Befreite ist derjenige, der einen wahren Gott, den unnennbar Ewigen, umschreibend und suchend und fragend und skeptisch benennen kann…

3.

Es gehört also viel Mut dazu, von dem vielfältigen „Gott“ zu sprechen. Die Lösung heißt: Sprechen wir – so der Titel des neuen Buches von Stefan Seidel – von Gottsuchern. Wer Gott sucht, zweifelt heftig an seinem angelernten, geglaubten, angeblich gefundenen Gott, er ist selbstkritisch, will raus aus dem Gefängnis der transzendenten Sicherheiten. Und beginnt, für Gott neue, immer vorläufige, immer irgendwie relative Namen zu suchen. Der (die) Absolute könnte es sein, oder besser der (die) Ewige oder der Sinngrund, oder der Eine und die Einzige, oder „die Liebe über aller Liebe“.

4.

Darauf besteht derAutor Stefan Seidel zurecht und das ist durchaus originell: Wer nach Gott fragt, ist ein Grenzgänger.
Wer aber ist ein Grenzgänger beim Fragen nach Gott? Es ist ein Mensch, der alles Weltliche als Endliches erkennt und zu überschreiten sucht, der sich mit dem nur Irdischen und nur Endlichen niemals zufrieden gibt. Menschen genießen die Kraft des Geistes und der Vernunft, um nicht im bloß Weltlichen festzustecken. Erst wer die Grenze des Endlichen, also sich selbst überschreitet, kann überhaupt wissen, was es bedeutet, das Endliche als Endliche zu erleben. Wirklichkeitserfahrung ist ohne ständige Grenzgänge nicht möglich und undenkbar. Hegel kann uns das lehren: Wir sollten also in dem Sinne immer Grenzgänger sein. Wer aber oft Grenzen überschreitet, bemerkt die Grenzen gar nicht mehr, fühlt sich im neuen, dem überschrittenen „Territorium“ zuhause. Findet eine neue Heimat jenseits der Grenzen.

5.

Die LeserInnen dieses Buches werden hineingeführt in den kritischen Umgang mit dem gleichzeitig Gewissen wie Ungewissen, dem Deutlichen wie dem Dunklen, dem „Gott in uns“ und dem „Gott außerhalb von uns“. Stefan Seidel hat sich Gesprächspartner gesucht, die wissen, wie falsch die Wiederholung der traditionellen Dogmen ist, wie einschränkend die eingeübten Floskeln und Formeln der Kirchen sind: Diese können keine Wegweiser sein „über die Grenze hinaus“ in ein neues, befreites Leben. Vielleicht suchen viele, die diese Kirche als zahlende Mitglieder verlassen, dieses spirituelle Leben jenseits bisheriger Grenzen?

6.

Gesprächspartner Seidels sind vor allem SchriftstellerInnen, zwei Musiker, eine Tiefenpsychologin und auch sieben TheologInnen, aber die sind keine strengen Dogmatiker… der Vatikan und die Landeskirchenämter sind weit weg. Diese in sich vielfältige Gemeinschaft der GrenzgängerInnen stammt überwiegend aus Deutschland (wie Daniela Krien, Christian Lehnert, Patrick Roth, Ingrid Riedel…), aber auch eine Norwegerin Hanne Orstavik) kommt zur Wort, ein Tscheche (Tomas Halik) usw… Immer aber sind es Menschen, die mehr die Mystik leben und lieben als die Sprachen und die Denkgewohnheiten der Institution Kirche. Das ist entscheidend: Nur weil die Interview-PartnerInnen Distanz haben zu den üblichen religiösen Bindungen, können sie inspirierend und deswegen weiterführend sprechen. Stefan Seidel schreibt in seinem Vorwort. „Heute braucht es viele einzelne unorthodoxe, kreative Stimmen, die gewissermaßen als Mystikerinnen und Mystiker von heute -die Sicht auf den Horizont der Horizonte wiedereröffnen und uns dabei helfen, in einem tieferen Verbundensein mit allem zu ankern“ (S. 18).
Die neunzehn Gottsucher haben eine gemeinsame Spiritualität: Sie ist mit der Mystik verbunden. Mystik ist dabei alles andere als eine Erfahrung von Wundern und erhebenden Momenten, nicht das Verzückten von Gott und den Heiligen, Mystik ist die nüchterne, reflektierte Form der mehr geahnten, mehr gefühlten Verbundenheit mit dem Unendlichen und Ewigen.

7.

Die 19 Interviews können hier natürlich nicht im einzelnen besprochen werden.
Allen Interviews stellt Stefan Seidel biografische und eher werkgeschichtliche Hinweise voran. Seine Fragen haben eine feste Struktur: Seidel fragt eingangs nach der eigenen Gotteserfahrung und dem „Gottesbegriff“, und es scheint sein Lebensthema zu sein, immer wieder auch nach dem „Sprung in den Glauben“ im Sinne des Philosophen Kierkegaards zu fragen.Und so oft fordert der Autor am Ende eines jeden Gesprächs auf, über die persönliche Bedeutung von Sterben und Tod und der Auferstehung Jesu von Nazareth zu sprechen. So zeigt sich eine gewisse metaphysische Dimension. Denkbar wäre ja auch, immer wieder am Ende der Gespräche nach der Hoffnung zu fragen, die sich im politischen Engagement zugunsten der Millionen arm gemachter Menschen zeigt oder in der Mitarbeit in NGOs zugunsten eines letzten Rettungsversuches von Natur und Klima. Oder im Kampf gegen den Rechtsradikalismus, der sich überall (AFD, FPÖ, Fratelli d Italia, Le Pen Frankreich usw.) ausbreitet.

8.

Auf eine GesprächspartnerIn soll hier etwas ausführlicher hingewiesen werden.
Viele LeserInnen, wie der Autor dieser Rezension, werden sich freuen, ein längeres Interview mit der aus Südkorea stammenden Theologin Tara Hyun Kyung Chung zu lesen. Es ist ein überraschendes Erlebnis der eigenen eurozentrischen Begrenzung sich einzugestehen, dass diese außergewöhnliche Theologin hierzulande kaum bekannt ist: Christliche Gemeinden und ihre TheologInnen kreisen in Deutschland um sich selbst, wissen so wenig, wie viele Inspirationen gerade ChristInnen aus dem Süden dieser Welt bieten. Frau Chung, geboren 1956, lebt und arbeitet seit einigen Jahren in New York, sie hat unter der koreanischen Diktatur Widerstand geleistet und gelitten, hat den Buddhismus nicht nur studiert, sondern ihn als buddhistische Nonne praktiziert. Frau Chung versuchte, das enge eurozentrische und oftmals nationale Denken der europäischen Protestanten zu weiten, als sie auf der 7. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Canberra, Australien, im Jahr 1991, eine neue ökumenische Spiritualität aus Korea nicht nur in Worten beschrieb, sondern ihr leiblichen Ausdruck im Tanz verlieh. Das war damals für viele ein Skandal. Tara Hyun Kyung Chung ist eine außergewöhnliche Grenzgängerin: Theologin, Buddhistin, Therapeutin. Stefan Seidel schreibt: „Das entscheidende Kriterium religiöser Wahrheit ist für Frau Chung, ob diese Wahrheit zur lebensspendenden Kraft wird, mit der wir unser Leben erhalten und befreien können“ (S. 187).

9.

Der bekannte schwedische Dirigent Herbert Blomstedt erläutert, wie beim genauen Hören von Musik eine Spiritualität entstehen kann, „wo man sich von der Gottheit angesprochen fühlt“ (S.288).
Der bekannte Lyriker und Theologe Christian Lehnert beantwortet die Frage Stefan Seidels: „Wie kann heute von Gott gesprochen werden?“ „Vielleicht mit einer Wiederentdeckung der Poesie des Glaubens. Christentum ist kein System von Aussagen. Es geht nicht darum, was man sagen kann, sondern darum, was sich in der Sprache vollzieht, welche Kraft in der Sprache entsteht. Es geht darum, ein Spannungsfeld in der Sprache zu schaffen, das eine Beziehung zu Gott ermöglicht“ (S. 72).

10.

Der bloß angenommene, nur angelernte und übernommene Glaube, so schreibt Seidel im Gespräch mit der norwegischen Schriftstellerin Hanne Ørstavik, ist in der Gefahr, eine „Spielart der Macht und Manipulation und Lenkung“ durch andere zu sein, es gelte, hin zu einem „wahrhaftigen Glauben zu gelangen, und der ist eine „ureigene Rückbindung an das göttliche Ganze“ (S. 83).

11.

Grenzgänger sind die wahren spirituellen und theologischen LehrerInnen…Wer nicht religiöser Grenzgänger ist, bleibt ein Gefangener in seiner kleinen endlichen Welt. Grenzgänger können auch Friedensstifter, vielleicht Vermittler des Friedens sein. Denn sie sind in mindestens zwei verschiedenen Welten zu Hause.
Stefan Seidel: Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen. Claudius-Verlag München 2022. 26,00 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Ein Humanist als Reformator: Philipp Melanchthon

Über Philipp Melanchthon.

Ein Vorwort: Am Sonntag, den 18. April 2010, sendete das Kulturradio des RBB einen Beitrag von mir anläßlich des 450. Todestages von Philipp Melanchthon (am 19. April 2010). Hier das ursprüngliche Manuskript der Radio Sendung, also das ausführliche Manuskript vor der Kürzung, die bedingt ist durch die nun einmal zur Verfügung stehende Sendezeit von 26 Minuten.

Ein weiteres Vorwort am 26.4. 2017: Im Laufe der Zeit, im Abstand von 7 Jahren, und weiteren Studien, bin ich heute zurückhaltender, Melanchthon “Humanist” zu nennen. Melanchthon ist dies nur im Vergleich mit Luther, dem Anti-Philosophen. Einen umfassend humanistisch-christlichen Glauben hat Melanchthon meines Wissens nicht intendiert. Dazu war auch er zu sehr an die alleinige Macht der Bibel gebunden… CM.

Theologie soll dem Leben dienen
Philipp Melanchthon, Humanist und Reformator
Von Christian Modehn

1. Musikal. Zusp.

1. O TON, Hansen.
Philipp Melanchthon hatte die humanistische Überzeugung, dass Bildung und Wissenschaft den Menschen zivilisieren und ihn instand setzen, sich friedlich zu verhalten.

1. Musik

2. O TON, Dorgerlohn
Von Melanchthon gibt es ein wunderbares Wort, das heißt: Wir sind zum wechselseitigen Gespräch geboren. Also Melanchthon war jemand, der den Dialog geradezu suchte.

1. Musikzusp.,

3. O TON, Kuropka
Er war kein Gelehrter im Elfenbeinturm, sondern er war ein Gelehrter, der Theologie immer im konkreten Kontext der gesellschaftspolitischen Ereignisse gemacht hat.

1. Musikzusp.

TITELSPRECHERIN:
Theologie soll dem Leben dienen
Philipp Melanchthon, Humanist und Reformator
Eine Sendung von Christian Modehn

4. O TON, Treu
Wenn man sich anschaut: Wer hat das heute noch gültige Bekenntnis aller lutherischen Kirchen auf der Welt geschrieben? Melanchthon. Wer hat die erste evangelische Kirchen – und Schulordnung verfasst? Melanchthon. Wer hat das erste Lehrbuch der lutherischen Theologie verfasst? Melanchthon. Fragt sich natürlich, warum heißt es dann lutherische Kirche, zumal Luther ja selber ausdrücklich gesagt hat, dass er nicht will, dass sich die Kinder Christi nach seinem heillosen Namen nennen. Die Antwort ist ganz einfach: „Melanchthonische Kirche“ kann kein Mensch aussprechen.

1.SPR.:
…immerhin klinge „melanchthonische Kirche“ besser als „schwarzerdtische Kirche“, meint der Historiker und Theologe Martin Treu von der Stiftung Luthergedenkstätten in Wittenberg. Er kann die Bedeutung Philipp Melanchthons nicht hoch genug einschätzen, der ursprünglich als Philipp Schwarzerdt geboren wurde. Als hochbegabtem Studenten wurde ihm die Ehre zuteil, seinen deutschen Namen in einen griechischen umzuwandeln. Aus Schwarz – erdt wurde Melan – chthon. Damit gelang dem gerade mal 12jährigen der Eintritt in die Welt der intellektuellen Elite: Zu Beginn des 16. Jahrhunderts pflegten die Akademiker die klassischen Tugenden der „allseitigen Bildung“ und nannten sich „Humanisten“, also Freunde der Menschheit und Förderer der Menschlichkeit. Als derart „weltlich Gebildeter“ sollte Philipp Melanchthon an der Seite Luthers die Kirche erneuern. Ein Meter fünfzig klein, von zarter Statur und oft sehr kränklich, hatte der „kleine Grieche“, wie er liebevoll genannt wurde, jedoch keinen Ehrgeiz, sich neben dem schon an Körperfülle überragenden Reformator Martin Luther als ebenbürtig zu profilieren. Heute, 450 Jahre nach seinem Tod, ist Melanchthon gleichberechtigt neben Luther anerkannt: Beide sind die Reformatoren Deutschlands.

2. musikal. Zusp., latein. Gesang

1. SPR.:
Latein war im 16. Jahrhundert die gängige Sprache der Gebildeten in ganz Europa. Vorlesungen wurden selbstverständlich auf Latein gehalten. Bei wichtigen Diskussionen und Disputen bediente man sich der Sprache der „alten Römer“. Und auch in der Freizeit, beim Musizieren zu Haus, wollte Melanchthon nicht auf lateinische Lieder verzichten.

2. musikal. Zusp.,

1. SPR.:
Mit diesen Klängen ist Philipp Melanchthon aufgewachsen. 1497 in Bretten, nahe Karlsruhe, geboren, erlebte er die römische Kirche mit ihrer überschwänglichen Heiligenverehrung, dem Ablasshandel und der Macht des Klerus. Schon als Jugendlicher kritisierte er den Luxus der Bischöfe mit scharfen Worten:

2. SPR..
Ein Theologe mit einem dicken Ring ist entweder ein Narr oder ein Prälat. Noch weniger sind goldene Ketten eine Zierde für Theologen, man sollte sie daran aufhängen.

1. SPR.:
Melanchthon war leidenschaftlich an religiösen Fragen interessiert. Sein Schwerpunkt aber war die Erforschung der alten Sprachen, nebenbei beschäftigte er sich noch mit medizinischen Fragen, philosophischen Themen, mathematischen Problemen, mit Musik und Astronomie. Der vielseitige junge Wissenschaftler wurde 1518 als Professor für Altgriechisch an die Universität Wittenberg gerufen. Martin Luther hörte seine Antrittsvorlesung und war begeistert. Wenige Monate zuvor hatte er seine berühmten 95 Thesen zur Kirchenreform öffentlich gemacht. Melanchthon machte Luthers Ideen zur Erneuerung des christlichen Glaubens auch zu seiner Sache und betonte:

2. SPR.:
Ich habe erst durch Luther das Evangelium entdeckt.

1. SPR.:
An der Universität Wittenberg arbeitete Melanchthon bis zu seinem Tod im Jahr 1560. Vor allem als Sprachwissenschaftler wurde er für Martin Luther ein wichtiger Partner:

14. O TON, Treu
Der Einfluss Melanchthons bei der Bibelübersetzung muss erheblich gewesen sein. Luther selber berichtet auf der Wartburg, dass ihn überhaupt erst Melanchthon zu dem Unternehmen aufgefordert habe. Er kommt im März 1522 mit dem Manuskript zurück, das allerdings erst im August 1522 unter die Druckerpresse geht, d.h. in diesem Zeitraum muss erheblich überarbeitet worden sein. Und da war der Griechisch Kenner Melanchthon sicherlich mehr zu Hause als Luther, dessen Griechisch Kenntnisse mäßig waren.

1. SPR.:
Jede ernstzunehmende Übersetzung des Neuen Testaments muss sich auf die „Quelle“, den ursprünglichen, den griechischen Text, beziehen. Für den Humanisten Melanchthon war das eine Selbstverständlichkeit: Wer nur die lateinischen Texte respektiert, könne nur oberflächliches Gerede voller Fehler produzieren. Ein hoher wissenschaftlicher Anspruch machte für Melanchthon den typischen Geist der Reformation aus. Christliche Gemeinden sollten nicht bloß „fromm“ sein oder nur feierliche Gottesdienste abhalten. Darum seine Forderung:

2. SPR.:
Auch die Pfarrer müssen Altgriechisch und Hebräisch beherrschen und die Christen gut ausbilden.

1. SPR.:
Melanchthon war ein Vorbild des wissenschaftlichen Eifers: Er selbst hat die Bibel so intensiv studiert, dass er bestens mit allen Grundfragen des Glaubens vertraut war. Deswegen konnte er an der Universität auch Vorlesungen zur Theologie und zu einzelnen Texten des Neuen Testaments halten. Pfarrer wollte er jedoch nie werden, im Gottesdienst zu predigen lehnte er ab. Als Humanist lag es Melanchthon fern, in seinen Büchern und Vorträgen „ewige“, vermeintlich zeitlose Wahrheiten zu verbreiten. Vielmehr wollte er stets aktuelle Orientierung und Lebenshilfe bieten, betont die Theologin und Melanchthon Spezialistin Nicole Kuropka:

15. O TON,
Ich mach das mal an seinen Römerbrief – Kommentaren deutlich. Der Römerbrief ist ja das zentrale biblische Dokument der Reformation geworden. Und Melanchthon hat den Römerbrief nicht nur einmal ausgelegt, sondern wir haben insgesamt 5 oder 6 komplette Auslegungen des Römerbriefes von Melanchthon. Diese Kommentare sind keine überarbeiteten Versionen. Es sind komplette Neuauflagen, die absolut voneinander verschieden sind. Wenn man sie liest, dann sieht man auch wie sehr er diese Auslegungen schreibt mit Blick auf die aktuellen Streitigkeiten, die gerade im Raum sind. Die Theologie oder auch das Studium der Heiligen Schrift dient unserem Leben, es ist keine abstrakte Wahrheit, die man in ein Bücherregal stellen kann. Schriftstudium gibt Weisung für das Leben, und zwar für das ganz konkrete Leben.

1. SPR.:
Schon Jesus hatte ausdrücklich davor gewarnt, den Menschen „Steine statt Brot“ zu reichen. Auch Melanchthon ging es um gut bekömmliche geistliche Nahrung

2. SPR.:
Ich bin mir bewusst, aus keinem anderen Grund jemals Theologie getrieben zu haben, als um das Leben zu verbessern. Eine wirksame „Verbesserung des Lebens“ kann nur gelingen, wenn die Menschen die grundlegenden Wahrheiten des Glaubens richtig verstehen.

1. SPR.:
Glaube hatte also für ihn mit dem Verstand zu tun, mit Nachdenken, nicht etwa mit Gefühlen oder Emotionen. Darum setzte Melanchthon auch seine ganze Energie ein, um die Menschen von übertriebener Heiligenverehrung und allzu naiven Gottesbildern zu befreien. Aber als Humanist wusste er auch: Religiöse Wahrheit lässt sich nicht verordnen oder gar mit Gewalt durchsetzen. Nicole Kuropka:

16. O TON, Kuropka
Er war enorm dialogbereit. Und dialogbereit heißt, dass er nicht nur seine Meinung vertreten hat, sondern dass er sich angehört hat, was auch von gegnerischer Seite an Meinung vertreten worden ist. Und diese Fragen für sich auch mitgenommen hat. Den Papst hätte er als Organisationsstruktur anerkannt, nicht mit der Autorität, die dahinter steht. Er war immer wieder bereit, sich mit den gegnerischen Parteien an einen Tisch zu setzen. Das hat er über 4, 5 Jahrzehnte sehr ausdauernd gemacht.

1. SPR.:
So hat er sich z. B. für katholische Nonnen in Nürnberg eingesetzt. Radikale Protestanten wollten sie aus der Stadt vertreiben, so wütend war man auf „das verlogene Klosterwesen“. Dank seiner Intervention konnten die Nonnen in der evangelisch gewordenen Stadt weiter ihr Ordensleben führen. Melanchthon plädierte für Toleranz. Sein Motto war:

2. SPR.:
Bei gutem Willen können sich unterschiedliche Christen als gleichwertig respektieren.

1.SPR.:
Beim Reichstag in Augsburg im Jahr 1530 hatte er ein Glaubensbekenntnis formuliert, das die Basis aller Christen hervorhebt: das gemeinsame Evangelium und das Angewiesensein aller auf die Gnade Gottes. Melanchthon fand in seinem Bekenntnis eine Sprache, die den römischen Kirchenführern sehr entgegen kam. Aber sie lehnten einen ökumenischen Kompromiss ab. Melanchthon war zutiefst enttäuscht, berichtet der Theologe Martin Treu:

17. O TON, Treu
Für mich ganz interessant sind seine immer wiederkehrenden Hinweise bei solchen Kontroversen: Dass jeder sich doch gleich zu Anfang sorgfältig prüfen möge, welche Motive ihn denn umtreiben. Ob es wirklich die reine Suche nach der Wahrheit ist oder auch Profilierungssucht, Lust am Streiten oder ähnliches. Und das hat er natürlich strikt abgelehnt.

1. SPR.:
Angesichts dogmatischer Erstarrung und sturer Unvernunft riss aber auch dem Reformator mitunter der Geduldsfaden:

2. SPR.:
Man wird sich noch lange streiten, bis es den Heiden ein Greuel ist. Da disputieren sie über das Abendmahl, gleich als ob sie in den Himmel gesehen und Jesus gefragt hätten, wie er denn die Worte: „Das ist mein Leib“ verstanden habe. Diese Theologen werden es hier auf Erden nicht klären. Es gehört sich wohl nicht für uns schwache Menschen, alles ergrübeln und erforschen zu wollen. Genug ist zu wissen und zu glauben, was zu unserem Heil nötig ist. Das übrige macht nur Zank. Woran Jesus gewiss keinen Gefallen hat.

1. SPR.:
Als Humanist nahm sich Melanchthon die Freiheit, seine Kritik an den uneinsichtigen Gegner auch voller Sarkasmus zu formulieren.

2. SPR.:
„Der Titel Bischof heißt nicht =bi de schoof=, also bei den Schafen, wie der Prediger Johann von Kaysersberg einst behauptete. Die heutigen Bischöfe lassen sich durch keine Etymologie und Wortspielereien bewegen, da muss man etwas anderes beibringen. Bischof heisst also sarkastisch gesagt: =Bies de Schof=, =Beiße die Schafe=. Denn das passt besser auf die gegenwärtigen Bischöfe, weil sie weder die wahren Aufseher über ihre Gemeinden sind noch Hirten oder gar Hüter ihrer Schafe. Sie beißen eher ihre Schafe“.

1. SPR.:
Kummer machten ihm auch seine Freunde in der Lutherischen Kirche. Sie warfen ihm vor, zu „versöhnlerisch“ zu sein und die eigene Lehre nicht ernst zu nehmen. Einmal mehr musste Melanchthon klagen:

2. SPR.:
Jetzt ist ein eisernes Zeitalter angebrochen. Da bekämpfen sich Menschen, die eigentlich in der Verbundenheit derselben Religion die engsten Verbündeten sein müssten. Meine Krankheit tut mir nicht so weh wie der große Jammer um das Elend der heiligen christlichen Kirchen. Das Elend entsteht aus der unnötigen Trennung, aus der Bosheit und dem Mutwillen der Menschen, die sich aus unmenschlichem Neid und Hass abgesondert haben.

3. Musik. Zusp., „Aus tiefer Not“…

1. SPR.:
Voller Sorge beobachtete Melanchthon ein Gruppe von Christen, die sich „Schwärmer“ nannten. Sie meinten, unmittelbar von Gott berufen zu sein, auch einen Krieg gegen die Obrigkeit anzuzettelten. Die unterdrückten Bauern waren von blindem Enthusiasmus erfasst und glaubten im Ernst, durch einen Krieg eine gerechtere Gesellschaft herbeizuführen. Nicole Kuropka:

18. O TON, Kuropka
Melanchthon war sehr obrigkeitstreu. Und Widerstand war bei ihm nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Und in seinen Augen haben die Bauern die Bibel genommen und mit der Bibel ihre weltlichen, irdischen Anliegen versucht durchzusetzen und haben dann versucht mit dem Schwert gegen die Obrigkeit durchzudringen. Und dagegen war Melanchthon grundsätzlich, weil er sehr viel Angst vor Durcheinander, Chaos und Krieg hatte.

1. SPR.:
Angesichts der ständigen konfessionellen Grabenkämpfe suchte Melanchthon Zuflucht in der Astrologie. Dass sich ein rational denkender Mensch der geheimen Botschaft der Sterne zuwendet, ist heute schwer nachvollziehbar. Es passt aber gut zur damaligen Mentalität, meint Martin Treu:

19. O TON, Treu
Sein eignes Horoskop hatte ihm gesagt, er würde über dem Wasser sterben. Und deswegen war er sehr besorgt bei jeder Form von Schiffsreisen. Astrologie ist die fortschrittliche Modewissenschaft des 16. Jahrhunderts. Melanchthon hat natürlich es ein bisschen schwierig gehabt, weil Astrologie und christliche Grundwerte sich nicht ganz vertragen. Aber Luther hat ihn machen lassen. Melanchthon glaubte an Horoskope, er glaubte an Träume, er glaubte Vorzeichen. Allerdings war er so viel christlicher Theologe war er dann doch, dass dies nicht mit zwangsläufiger Notwendigkeit eintreten würde, sondern eher eine Warnung sei, sich den christlichen Grundtugenden zuzuwenden.
4. musikal. Zuspielung,

1. SPR.:
Der Theologe Melanchthon blieb stets auch Pädagoge – Reformation und kulturelle Entwicklung sollten Hand in Hand gehen, sagt der evangelische Prälat Stephan Dorgerloh in Wittenberg:

12. O TON, Dorgerloh
Der Bildungsimpuls der Reformation speist sich daraus, dass Glaube und Bildung zusammengehören. Also den Reformatoren ging es darum, gebildete Christen zu bekommen, dass sie selber auch in der Lage sind, diesen Glauben im Alltag zu leben. Also Glaube und Vernunft, eine Sache, die bei den Reformatoren zusammengehört.

5. O TON, KUROPKA
Das Sensationelle an Melanchthon ist, dass er wirklich für eine Bildung für jedermann war, jeder sollte gebildet sein, es sind auch Mädchenschulen gegründet worden. Er hat Lehrpläne geschrieben. Und vor allen Dingen er hat eine Unmenge an Lehrbüchern geschrieben, da war er ein sehr begnadeter Lehrer. Melanchthon hat kurze kompakte Lehrbücher geschrieben, in denen er seinen Schülern auch immer wieder erklärt hat, warum sie das lernen müssen.

1.SPR.:
…weil das Leben seiner Ansicht nach nur Freude macht, wenn man die Welt versteht und begreift, was der Mensch von seinem Wesen her ist. Melanchthon war von einem leidenschaftlichen Elan getrieben, die Menschen zu bilden, er kümmerte sich um Schulen auf dem Land wie in den Städten. „Praeceptor Germaniae“, Lehrer Deutschlands, wurde er genannt.
Ihm kam es darauf an, Bildung als gemeinschaftliche Erfahrung einzuüben. In seinem eigenen Haus in Wittenberg gab er dafür ein anschauliches Beispiel: der Professor und seine Familie lebten mit einigen Studenten zusammen, damals wie heute eine originelle Idee, betont Martin Treu:

13. O TON, Treu.
Es war eine viel gesuchte Ehre bei dem „Lehrer Deutschland“ in Kost und Logie zu sein. Ein Vergnügen kann es nicht immer gewesen sein, weil Melanchthon keine Freistunden kannte, sondern seine Schüler waren eigentlich immer im Unterricht.

1.SPR.:
Als oberster Schulmeister bleibt er aktuell, meint der Studienleiter der Evangelischen Akademie in Wittenberg, Christian Lehnert:

6. O Ton, Lehnert
Melanchthon hatte versucht, so etwas wie einen Bildungskanon zu formulieren. Was braucht der Mensch unbedingt um eine sinnhafte Existenz zu führen. Ihm lag vor allem den klassischen griechischen Autoren, dann lag ihm an der Bibel, ihm lag an Sprachkenntnissen, vor allem des Lateinischen, ihm lag sehr an Sprachkompetenz, was heute man als kreatives Schreiben bezeichnen würde, spielte eine ganz große Rolle für Melanchthon, Musik, Mathematik.

1. SPR.:
Umfassende Bildung – das bedeutete mehr als die Kenntnis einzelner Sachgebiete:

7. O TON, Lehnert
Es geht ja darum, Räume zu schaffen und Fähigkeiten zu entwickeln,
in denen dieser Mensch sich selbst entfalten kann; ihm gewissermaßen eine Handwerkzeug an die Hand zu legen, mit der er seine eigenen Fähigkeiten entfalten kann.

1. SPR.:
Zu den grundlegenden „Fähigkeiten“ gehörten für Melanchthon auch die religiöse Orientierung und die Kenntnis der Bibel. Ein Gedanke, der bis heute gilt, selbst wenn Glaube und Kirche für viele Menschen kaum noch eine Rolle spielen, meint Christian Lehnert. Denn die christlichen Traditionen haben Europa entscheidend geprägt.

31. O TON, Lehnert
Auch ein Mensch, der nicht glaubt, braucht eine gewisse Kompetenz im Umgang mit religiösen Formen, sonst fehlen ihm wesentliche Zusammenhänge. Es braucht eine gewisse Sensibilität für religiöse Fragen. Man muss auf der religiösen Tastatur spielen können, zumindest ein klein wenig. So wie Kinder in der Grundschule auf der Blockflöte spielen. So muss man auch mit biblischen Geschichten umgehen können. Sonst läuft man da ins Leere.

1. SPR.:
Melanchthon verteidigte ausdrücklich eine „Philosophie der Bildung“, die auf einen langsamen, aber spürbaren Fortschritt der Menschheit vertraute. Der Berliner Historiker Professor Reimer Hansen:

8. O TON; Hansen
Melanchthon hatte eine Lehre aus der klassischen Antike zum Ausgangspunkt genommen, dass die Entwicklung der Menschheit sich über Wildheit und Barbarei zur Zivilisation vollzieht. Hat man Stand der Zivilisation erreicht, dann kann man ihn nur halten, indem man ihn durch unablässige Bildung verfestigt. Unterlässt man es, dann tritt Unwissenheit ein und Unwissenheit ist nach Melanchthons Auffassung die Ursache dafür, dass Menschen sich wieder unvernünftig verhalten und zurückfallen.

1. SPR.:
Wie so viele andere Humanisten ließ sich Melanchthon von einem optimistischen Menschenbild leiten. Der Mensch, so glaubte er, sei grundsätzlich in der Lage, ein gutes, ein ethisches wertvolles Leben zu führen, vorausgesetzt, er ist ausreichend gebildet.

9. O TON, Hansen
Wir sind heute auch skeptischer geworden. Nicht allein die Bemühung um Wissenschaft garantiert den Frieden, sondern eine Wissenschaft, die sich selbst auf den Frieden verpflichtet, ist nötig. Wir haben ja erlebt, dass Wissenschaft auch den Krieg fördern kann. Wir haben ja erlebt, dass Atomforscher kritisch über das nachgedacht haben, nachdem die ersten Atombomben gefallen sind. Das ist eine Erfahrung unseres Jahrhunderts, insofern war der Optimismus Melanchthons mit der Realität weniger zu vereinbaren. Man kann den Menschen nicht so erziehen, dass er die Aggression durch Erziehung überwindet.

1. SPR.:
Auch Melanchthon konnte es nicht einfach ignorieren, dass auch in seinem Umfeld so viele Menschen zu kriegerischen Auseinandersetzungen bereit waren. In Deutschland hatten sich im Jahr 1546 die Fronten zwischen den verfeindeten Konfessionen so sehr verhärtet, dass sogar er eine prinzipiell pazifistische Haltung zurückweisen musste.

11. O TON, Hansen
Der Schmalkaldische Krieg ist von Melanchthon gerechtfertigt worden als ein gerechter Krieg. Er hat den Kaiser verantwortlich dafür gemacht. Karl V. hatte die Reformation durch Krieg rückgängig zu machen versucht. Das warf er ihm vor. Und deshalb hatten die Protestanten nach Melanchthons Auffassung das Naturrecht der Verteidigung, der Notwehr, in Anspruch zu nehmen und insofern hat er den Schmalkaldischen Krieg gerechtfertigt
6. musikal. Zusp.,

1. SPR.:
Der Humanist Melanchthon konnte seine Vorstellungen vom menschenwürdigen Leben nur als eine ferne Zielvorstellung, als ein Ideal, pflegen und bewahren. Darauf zu verzichten, hätte bedeutet, alle Wertmaßstäbe zu relativieren, nicht mehr zwischen gut und böse zu unterscheiden. Darum schärfte Melanchthon seinen Zeitgenossen ein:

2. SPR.:
Wir dürfen das vernünftige Nachdenken, wir dürfen die Philosophie, niemals aufgeben.

1.SPR.:
Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, war in der Frühzeit der lutherischen Reformation eher eine Provokation, waren doch die meisten Theologen fest überzeugt: Der Mensch sei durch die Allmacht der Sünde von Grund auf verdorben, deswegen habe auch der Verstand seine gestaltende Kraft gänzlich verloren. Melanchthon konnte sich dieser Meinung nicht anschließen, betont Nicole Kuropka:

20. O TON, Kuropka
Melanchthon kannte die antiken Philosophen sehr sehr gut, und er schätzte vor allem Aristoteles, den griechischen Philosophen. Den konnte Luther nun gar nicht leiden, weil er eben im Mittelalter Einzug in die Theologie gezogen hat. Und Luther den Eindruck hat, Theologen reden häufiger von Aristoteles und von Aristoteles Weltverständnis als von dem biblischen Verständnis. Da war Luther ganz empfindlich. Der Heiligen Schrift ist absolut Vorrang zu geben vor Aristoteles. Trotzdem bleibt Melanchthon ein Befürworter der Philosophie. Und die Vernunft ist ein Geschenk Gottes, deshalb sollen Christen die Vernunft verwenden.

1. SPR.:
Aber Melanchthon traute der Vernunft noch viel mehr zu:

21. O TON, Kuropka,
Es ist durchaus möglich als denkender Mensch zu der Erkenntnis zu kommen, dass Gott existiert. Das ist möglich. Nur die Frage: Wer Gott ist, daran wird der Verstand dann scheitern. Das Geschehen von Kreuz und Auferstehung ist der menschlichen Logik nicht erschließbar. Das ist dem Glauben vorbehalten.

1. SPR.:
Die Vernunft kann also den Menschen in eine transzendente, in eine göttliche Dimension führen. Welchen „konkreten“ Gott dann aber ein Mensch tatsächlich verehrt, ist entweder Geschenk der Gnade oder Ausdruck der freien Wahl des einzelnen.

Musikal. Zusp.

1. SPR.:
Philipp Melanchthon, der Humanist als Reformator, der Aufgeschlossene und Tolerante – Er war unter den Reformatoren eher die Ausnahme. Martin Treu betont:

22. O TON, Treu
Er war aufgrund der begrifflichen Klarheit seines Denkens in der Lage zu unterscheiden zwischen den Dingen, die eineindeutig feststehen, und wo es auch kein Wackeln geben kann und den Dingen, über die man sich unterhalten kann.

1. SPR.:
Melanchthons Überzeugung wurde ein halbes Jahrhundert später von einem holländischen Theologen und Reformator aufgegriffen, von Jacobus Arminius. Auch er war ein Humanist. In diesen Wochen wird in den Niederlanden seiner Reformation vor 400 Jahren gedacht. Sie führte zur Gründung der Remonstranten Kirche. Ihr Name verweist auf die remonstrance, die Zurückweisung enger dogmatischer Vorstellungen. Die zwei humanistischen Reformatoren, die 2010 gefeiert werden, verbindet die Erkenntnis, dass der christliche Glaube auf die Kraft kritischen Nachdenkens niemals verzichten kann. Der niederländische Theologe Marius van Leeuwen:

24. O TON;
Ich denke, dass eine Art von humanistischem Christentum sehr wichtig ist, dass nicht Gott und Mensch als Konkurrenten gesehen werden. Aber: Wie Arminius das sagt: Gott ist allmächtig und gnädig, aber er braucht Menschen, um Ja zu sagen zu seinem Angebot. Ich glaube, dass das aktuell ist, dass die Sachen des Glaubens sehr menschliche Sachen sind.

1. SPR.:
Sowohl Melanchthon als auch Arminius wollten mündige, selbstbewusste Menschen für die Gemeinden ausbilden:

26. O TON,
Einer der wichtigen Punkte bei Arminius war, dass er Fragen hatte, auch wenn es ja gefährlich war sozusagen für was die Kirche an Wahrheit und Doktrin hatte. Eine Art von intellektueller Redlichkeit, das war sehr wichtig für ihn. Eigentlich, kann man sagen, eine Art Frommheit des Fragens war wichtig für ihn.

1. SPR.:
In Melanchthons Geburtsort Bretten und in seiner zweiten Heimat, in Wittenberg, wird das ganze Jahr über dieses eigenwilligen Reformators gedacht. Auch in Berlin wird sein 450. Todestag am 19. April feierlich begangen: In der „Evangelischen Melanchthon Gemeinde“ in Kreuzberg gibt es z.B. einen festlichen Abend zu Ehren des Namenspatrons, berichten Andreas Günter und Dörte Rothenburg vom Gemeindekirchenrat:

29. O TON, Dörte Rothenburg. Andreas Günther,
Der Grundgedanke ist der: Melanchthon hatte ein offenes Haus. Melanchthon war gastfreundlich und diesen Gedanken wollen wir so ein bisschen aufgreifen. Und vielleicht so ein Anspiel machen mit Musik… Und wir haben auch eine Ausstellung, die wir zeigen wollen. Wir wollen uns auch ein bisschen in diese Zeit vor 450 Jahren zurückversetzen lassen. Es wird ein typisches Essen aus dieser Zeit geben z.B,. Wir werden Getränke dazu haben. Wir wollen was herstellen, so dass sozusagen mit allen Sinn auch nachgespürt werden kann.

1. SPR.:
Die Melanchthon Gemeinde hat dem Geist Melanchthons schon seit längerer Zeit vor allem theologisch „nachgespürt“, und dabei immer wieder die große Leidenschaft des Reformators für die Einheit der zerstrittenen Christen entdeckt. Demgegenüber müssen heute viele ökumenische Initiativen an der Basis eher zaghaft und verängstigt erscheinen. Pfarrer Jürgen Bergerhoff von der Melanchthon Gemeinde

28. O TON, Jürgen Bergerhoff
Einmal im Jahr veranstalten wir einen gemeinsamen Gottesdienst am Himmelfahrtstag. Das hat schon Tradition seit glaube ich 16 Jahren.
Der Gottesdienst wird gemeinsam gestaltet, vorbereitet, und wir treffen uns anschließend beim Kaffeetrinken, aber es ist kein gemeinsames Abendmahl. Nein. Ich denke schon, dass doch an der Stelle die Katholische Kirche das noch zu verhindern versucht. Die evangelische Kirche scheint mir da viel aufgeschlossener zu sein.

1. SPR.:
Aber die „Aufgeschlossenheit“ der Protestanten geht dann doch nicht soweit, Christen anderer Konfessionen ausdrücklich zum gemeinsamen Abendmahl einzuladen. So viel Werben für die eigene Sache widerspreche dem Geist heutiger Ökumene, meint der evangelische Prälat Stephan Dorgerloh:

27. O TON, Dorgerloh
Ich bin mir nicht sicher, ob das von der anderen Seite auch als warmherzige Einladung verstanden würde oder nicht vielleicht als ein Angriff. Man könnte es kurz auf den Nenner bringen und sagen: Müsste man nicht eine Reformation in der katholischen Kirche anzetteln. Das ist ja auch etwas, was Leute immer fordern. Man muss schauen, wie sich die Dinge weiter entwickeln. Konfrontation wird uns nicht weiterbringen, sondern das wirkliche gemeinsame Bohren des dicken Brettes, ohne die Unterschiede dabei unter den Tisch fallen zu lassen.

1. SPR.:
Seit hundert Jahren wird schon an diesem offenbar granitharten und äußerst kompakten „dicken Brett“ der Ökumene gebohrt, ohne dass es zu einem Erfolg, zu einer sichtbaren Einheit gekommen ist – was für ein Unterschied zu der Vision Philipp Melanchtons. Der Berliner Historiker Reimer Hansen:

30. O TON, Hansen
Melanchthon hat die anglikanische Kirche, die katholische Kirche, die reformierte Kirche und die griechisch orthodoxe Kirche in ihrem Kern als übereinstimmend christlich betrachtet und von daher die Einheit der Christenheit für möglich gehalten. Er hat diesen gemeinsamen Kern aller Konfessionen für so stark erachtet, dass sie zu einer pluralistischen Einheit zusammen finden können.

1. SPR.:
Der vollständigen Anerkennung aller christlichen Kirchen in Gleichwertigkeit verweigert sich die katholische Kirche bis heute. Angesichts des bevorstehenden ökumenischen Kirchentages in München eine eher betrübliche Perspektive für die Einheit der Christen..