Über ein Foto aus Kyjiw (Kiew), Ende November 2022.
Ein Hinweis von Christian Modehn.
1. Das Foto
Es ist eines von drei Fotos aus Kyjiw (Kiew) Ende November 2022, veröffentlicht in „Die Zeit“ am 1. Dezember 2022 auf Seite 8.
Der Titel des Beitrags auf einer ganzen Seite: „Eine Stadt macht weiter“. Der Artikel enthält zehn Zeugnisse von Menschen inmitten der Bombardements der russischen Verbrecher. Ein Zitat: „Egal, wie Russland eskaliert, die Bereitschaft, sich zu ergeben, liegt bei null“, sagt Anastasia Radina, Abgeordnete der Selensky Partei Sluha naradu.
„Sich nicht ergeben“ und „Weitermachen“: Man muss nur auf der Seite etwas nach links schauen, um in der Mitte ein Foto zu entdecken mit dem Titel „Kerzenschein im 16. Stock. Ein Journalist und seine Mutter beten gemeinsam in ihrer Wohnung“. Die beiden sitzen in der Stube bei einem Licht aus drei bescheidenen Kerzen. Die Stimmung verführt, an die friedlichen Gemälde Rembrandts zu denken, wegen der auch dort vorherrschenden ins Feierliche führenden Farbe Hellbraun. Aber auf historische Beziehungen soll es hier nicht ankommen. Man sollte dieses aktuelle, politische Foto betrachten und bedenken. Ich will versuchen, etwas von der Atmosphäre in Worte zu übersetzen.
2. Zwei Menschen beten.
Dies ist eine Provokation für das säkularisierte Westeuropa: Zwei Menschen beten bei Kerzenlicht. Das praktizieren spirituelle Menschen öfter. Hier aber beten Menschen in größter Not, wegen der Angriffe der Russen fällt die Versorgung mit Elektrizität aus. Die beiden sitzen am Tisch. Gesammelt, man möchte sagen ruhig und beruhigt. Die Mutter hört zu, wie der Sohn aus einem Buch, einem Gebetbuch, einer Bibel vielleicht, laut vorliest. Inmitten der Wohnung gibt es eine Art bescheidenen Hausaltar, mit einer Ikone an der Wand. Der Sohn ist ganz ins Buch vertieft, in die Botschaft, die Gebete, die die Mutter still, mit verschränkten Armen, in einer meditativen Haltung, vernimmt. Wieder eine Erinnerung an den Rembrandt friedlichen Zeiten: Es gibt ein Rembrandt Gemälde aus dem Jahre 1641, darin erklärt der Mennonitenprediger Cornelis Claes seiner Frau Aalte die Bibel. Förmlich eine Idylle dieses Bild.
An die Bibel denken, sie lesen oder gemeinsam beten: Das führt in eine andere Welt. Keine illusorische Welt, sondern eine Welt, die über die alltägliche hinausweist. Die von der Bindung an die gegenwärtige Welt befreit. Die Fenster in der Wohnung von Kyjiw sind mit Vorhängen verdeckt, der kleine Raum wirkt wie eine Krypta. Dass es die 16. Etage ist, spielt keine Rolle: Krypten als Orte der Zuflucht kann es auch in großer Höhe geben. Sie sind Schutzräume eigener Art. Sie schützen nicht materiell, nicht körperlich, sondern geistig. Sie führen ins Weite, ins Andere, das Friedliche wenigstens für ein paar Minuten.
3. Beten inmitten der Zerstörung.
Vielleicht wird ihr Haus bald von den Russen attackiert. Vielleicht werden sie von den Russen weggebombt. Die beiden harren aus in ihrer Krypta in der 16. Etage. Sie sind nicht naiv, auch nicht selbstmörderisch aufs Sterben fixiert. Sie harren aus, weil sie eine andere Sicherheit spüren, weil sie einen Grund im Leben kennen, einen Grund, der trägt, im Leben wie im Sterben. Christen nennen diesen Grund Gott. Und an ihn wenden sich die beiden inmitten der Dunkelheit. Das bedeutet ja Beten: Die eigene Lebenserfahrung im Angesicht des Unendlichen und des Ewigen zur Sprache bringen. Nicht verstummen, sondern die Tiefe des eigenen Lebens, die Angst und die Verzweiflung, aussagen: Das ist Beten. Vielleicht auch Schreien. Vielleicht nur noch Schweigen, auch das ist Beten. Dies tun Mutter und Sohn, nicht weil sie sich in Illusionen flüchten, sondern weil sie selbst in den Katastrophen des Krieges nicht im Alltäglichen aufgehen wollen.
4. Ein Foto, das den Advent zum Vorschein bringt.
Mutter und Sohn leisten sich im Gebet die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Sie verzweifeln nicht, selbst wenn ihr Haus von Bomben bedroht ist. Sie wollen sich sich behütet wissen, trotz allem. Klammern sich im Gebet an den Frieden, der alsbald oder irgendwann beginnen wird. Vielleicht denken sie an Helfer, nah und fern. An Deutsche vielleicht, die noch in relatuv warmen Stuben wohlgenährt sitzen, die in ihrer naiven Russland-Politik vor wenigen Jahren (Merkel usw.) das ganze Unheil des Putin-Krieges irgendwie (?) zugelassen haben.
Sehnsucht ist die Haltung von Menschen, die Advent spirituell und christlich verstehen: Advent ist ein Name für den Wunsch: Möge sie doch kommen, die freundliche Herrschaft des menschlichen, des friedfertigen Gottes! Übersetzt für jene, die das Wort Gott schon nicht mehr hören können: Möge sie doch kommen, die umfassende Friedens-Welt eines sinnvollen Lebens, der Brüderlichkeit, der gleichberechtigten Geschwisterlichkeit im Frieden
Die beiden, Mutter und Sohn, im Halbdunkel vor der Ikone, sammeln sich, sie konzentrieren ihren Geist auf das Kommende hin, das sie ersehnen, das aber heute und morgen nicht Realität sein wird: Ihre Lebenspoesie, das heißt: ihr gemeinsames Beten, ist ein Ausgriff auf diese Zukunft, auf die bessere, die friedliche Zukunft, in der der Feind vertrieben ist, damit dann eine neue Gemeinschaft der Versöhnten entstehen kann. Manche mögen beim Betrachten dieses Fotos (es ist mehr, es erscheint als ein Gemälde) selber beten: „Mögen die beiden, Mutter und Sinn, in ihrer Stube, vor ihrem Hausaltar, doch behütet bleiben. Wie auch immer.”
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.
Das genannte Foto wie auch zwei weitere Fotos wurden realisiert von Johanna Maria Fritz, Agentur Ostkreuz.
Der Text des Artikels in der „ZEIT“ wurde verfasst von Alice Bota, Simone Brunner, Olivia Koras und Michael Thumann.