Immanuel Kant provoziert. Ein Dialog: Omri Boehm und Daniel Kehlmann.

Ein Hinweis auf das Buch: „Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant“.

Von Christian Modehn am 26.2.2024.

1.
Omri Boehm, der Philosophieprofessor in New York und Daniel Kehlmann, der Bestseller – Autor (philosophisch gebildet), sprechen über Kant auf 300 Seiten. Und beide zeigen einander, natürlich auch den LeserInnen, wie sehr sie doch bestens mit Kants Denken vertraut sind und gemeinsam um viele Nuancen ringen im Verstehen seines Werkes auf hohem Niveau. Dabei dominieren (auch quantitativ) durchaus die Beiträge und Argumente Boehms.
Unter diesen anspruchsvollen Voraussetzungen entsteht ein Buch, das zwar „originell” ist, wie der Verlag schreibt, das aber nicht unbedingt „eine sehr zugängliche Annäherung an das Werk des großen Philosophen Kant“ bietet, wie der Verlag – werbend – betont.

2.
Kants Werk selbst ist – abgesehen für Fachphilosophen an den Universitäten – nun wirklich keine „leicht lesbare geistvolle Kost“. Aber das neue Buch mit dem Kant – Zitat als Titel „Der bestirnte Himmel über mir“ erleichtert doch etwas das Verstehen einiger (!) Aspekte der Philosophie Kants, vorausgesetzt: Man nimmt die Anstrengung des Mitdenkens auf sich und plant ausreichend Denk – Zeit beim Lesen ein! Dann gelangt man in weiteres eigenes kritisches Denken, Philosophieren genannt. Dies ist zweifelsfrei die Praxis der Philosophie.

3.
Warum aber Kant gerade jetzt? Nur weil wieder ein „runder Geburtstag“ ansteht? Nein, um diesen feuilletonistischen Rummel geht es wirklich nicht: Denn Kants Philosophie bietet grundlegende Einsichten in die Lebenspraxis der Menschen. Kants Philosophie zu bedenken, ist also kein beliebiges nettes kulturelles Hobby einiger Gebildeter. Sondern: Die alles humane Leben gründenden Strukturen des menschlichen Geistes werden durch Kant freigelegt und als gültig beschrieben. Diese im Geist der Menschen angelegten Strukturen können Orientierung bieten im Verstehen der eigenen ethischen Lebenspraxis, im Verstehen der Erkenntnis der Welt, des Ich, der Religion. Der große Philosoph Pierre Hadot nannte Kants Werk zurecht eine Lehre der Weisheit. Etwas besser weise werden, darum geht es doch, auch mit Kant. LINK.

4.
Das Buch trägt als Titel ein verkürztes Zitat Kants „Der bestirnte Himmel Himmel über mir“ (weiter sagt Kant: „Und das moralische Gesetz in mir erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht“). Das Buch der beiden Autoren geht auf Gespräche zurück, die am 30. und 31.Mai 2023 in Berlin stattfanden: Omri Boehm, der als Kant-Forscher natürlich wohl Deutsch versteht und spricht, redete aber erstaunlicherweise auf Englisch, so dass seine Beiträge ins Deutsche von Michael Adrian übersetzt werden mussten.
Das Buch hat 8 „Teile“, wie es heißt, also Kapitel, die aber ohne inhaltlich bezogene Titel auskommen. So herrscht dann auch der Eindruck vor, dass manche Themen aus früheren „Teilen“ später noch einmal aufgegriffen werden.
Bei dieser Argumentationsstruktur liegt es für eine Rezension nahe, nicht einen „Teil“ nach dem anderen vorzustellen. Vielmehr will ich – auch von eigenen philosophischen Interessen geleitet – einige zentrale Erkenntnisse der beiden Gesprächspartner vorstellen. Dass dabei nicht „alles“ inhaltlich „Wesentliche“ möglicherweise gesagt werden kann, ist klar. Es gibt aber einzelne Aussagen, sozusagen „Leitsätze“ der Gesprächspartner, die Erstaunen hervorrufen und Neugier wecken, wobei die LeserInnen eingeladen sind, sich in den jeweiligen Kontext dieser Sätze zu vertiefen.

5.
Daniel Kehlmann sagt zu Beginn Wesentliches über den Menschen Immanuel Kant: „Er war kein höflicher Wächter der Sittlichkeit, kein Produzent gewunden trockener Sätze, sondern ein Denker, vor dessen regelrecht anarchistischer Kompromisslosigkeit kein Stein auf dem anderen blieb.“ (Seite 12). Kehlmann bezieht sich dabei auf das Buch „Radikaler Universalismus“ von Omri Boehm, auch eine Kant -Interpretation, der Autor wird wegen des Buches während der Leipziger Buchmesse 2024 geehrt.  LINK
Interessant auch der weitere Hinweis: Kant sei ein „wacher, heiterer, lustiger Mensch“ gewesen. Das berichtet glaubhaft Kants Schüler Johann Gottfried Herder.
Omri Boehm legt von Anfang an allen Wert darauf, Kants kritisches Denken tatsächlich als eine „Revolution“ zu bewerten. Seine großen Werke verfasste Kant bekanntlich im Umfeld und während der Französischen Revolution, von der Kant förmlich hin – und hergerissen war. „Kant war mit seiner (philosophischen) Revolution in gewisser Weise fast völlig allein, in einer inneren Gedankenwelt“, betont Boehm (Seite 24). Und dies ist – kurz gefasst – jene Revolution, die Kant selbstverständlich „nur“ in seinem Denken leistete: Aber nur wenn das Denken sich wandelt, „revolutioniert“, können politische und ökonomische Wandlungen und Revolutionen geschehen…
Es gibt für Kant die Evidenzen: Der Mensch ist kein Tier. Der Mensch sollte sich vernünftigerweise einen Gott innerhalb des menschlichen Geistes suchen. Der Mensch darf auch nicht bei einem so genannten Übermenschen (Nietzsche) Zuflucht suchen. Sondern: Es geht Kant – geradezu grundlegend einfach – um den geistvoll handelnden und denkenden Menschen (vgl. S. 41).

6.
Religionsphilosophisch Interessierte werden schon auf den ersten Seiten des Buches zum „Erhabenen“ geführt. Boehm weist darauf hin, „dass die Erfahrung des kantischen Erhabenen uns für die Unendlichkeit öffne“ (S. 33). Und weiter: „Kant glaubte, dass wir jene wahre Unendlichkeit denken können“ (S. 37). Die wahre Unendlichkeit wird durch die Freiheit erfahren, die wiederum die Grundlage unserer Verpflichtung auf den Kategorischen Imperativ bildet.Das ist schon der „ganze Kant“.

7.
Vom Erhabenen bietet sich der Übergang zur schwierigen Frage nach Gott: Gegen alle tiefsitzenden Vorurteile sagt Omri Boehm: „Kant hat Gott selbstverständlich nicht hingerichtet, er hat vielmehr (nur) die Beweise für die Existenz Gottes sowie die Autorität Gottes komplett widerlegt.“ (S. 43).
Aber eine vernünftige Nähe und Verbindung zu Gott geschieht nicht durch autoritative Belehrung der Kirchen, sondern durch die Erkenntnis der inneren geistigen Verfassung jedes Menschen. Boehm sagt: „Wir glauben an Gott, weil wir in uns die absolute Forderung der Ethik vorfinden“ (S. 44). Und weiter: „Wir sind nicht an moralische Gesetze gebunden, weil Gott diese uns geboten hat, sondern wir glauben an Gott, weil uns das moralische Gesetz den Glauben gebietet“B (DS. 313). Das ist Kant: Das Erleben und Denken der inneren Wirklichkeit des Geistes führt zu Gott! Ein Gedanke, den der große katholische Theologe des 20. Jahrhunderts Karl Rahner in seiner transzendentalen Theologie realisierte. LINK.
Aber: Wenn man Gott dann als „Schöpfer“ auch dieser geistigen Strukturen im Menschen denkt, dann ist es doch letztlich (wieder) der schöpferische Gott, der da in uns wirkt…Dieser Gedanke wird leider in dem Buch von Boehm/Kehlmann nicht angesprochen…

8.
Die Ethik gebietet im Kategorischen Imperativ absolut, sie steht förmlich noch über dem, was die Menschen Gott nennen. Wenn man Gott – populär – mit der Qualität der Freiheit und des freien Handelns beschreibt, dann ist Gott als freies Wesen selbst auch noch den Gesetzen der Freiheit unterlegen. Dies sind Kants Überzeugungen, die er aufgrund seiner eigenen Definition von Erkenntnis eben nicht Erkenntnis und nicht Wissen nennen kann. Es sind für ihn Überzeugungen, immerhin.

9.
Die Gespräche Kehlmanns und Böhms über Kants Auseinandersetzungen mit Descartes, Hume und Spinoza finden wir philosophiehistorisch interessant, sie sind aber in unserer Sicht nicht notwendig, um die Aktualität Kants für heute zu entdecken. Da wäre das Thema „Kant der ewige Friede“ dringender gewesen…
Die Auseinandersetzung „Kant gegen Einstein“ ist für Physiker wahrscheinlich wichtig, in diesem Kapitel ,„Teil“, zeigen die beiden Gesprächspartner nur ihr glänzendes, förmlich ihr universales Wissen…
Im 4. „Teil“ wird noch einmal auf die Gottesfrage zurückgekommen (S.175 ff)…. Und im 5. „Teil“ wird über Kants Lehre von der Schönheit debattiert…

10.
Die Debatten im 8, dem abschließenden Teil sind aktuell wichtig. Das einleitende Wort Kehlmanns weckt im Blick auf die Kapitel zuvor ein gewisses Schmunzeln: „Lass uns etwas weniger abstrakt werden“ (S. 275).
Jetzt erklärt Boehm sozusagen die absolute Bedeutung des Kategorischen Imperativs, er verteidigt ihn entsprechend auch absolut. Auch hinsichtlich des Gehorsams der Bürger gegenüber den Gesetzen des Staates habe der „Kategorische Imperativ“ die höchste Autorität. „Wie schon gesagt, hat der Staat streng genommen überhaupt keine Autorität so wenig wie Gott…“(S. 312)…“Die Quelle der Verpflichtung den (staatlichen) Gesetzen zu folgen ist NIE die Autorität des Staates, die Quelle ist der Kategorische Imperativ, mithin meine eigene Autonomie“ (S. 312).

11.
Mit einer gewissen Bravour verteidigt Boehm Kants Überzeugung, dass absolut und in jedem Fall der Mensch verpflichtet ist, die Wahrheit zu sagen und auf gar keinen Fall zu lügen. Auch dann, wenn ich etwa einen Freund, einen zu unrecht Verfolgten, verstecke, aber die Polizei mich fragt: Haben Sie den versteckt? Boehm sagt selbst, dass er „auf dem Wert von Kants entsprechender Schrift „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ beharrt (S. 297). Boehm will also auch in dem Zusammenhang keine „verwässerten, wohlwollenden Kant – Interpretationen anbieten“ (S. 298). Lügen ist auch für ihn absolut und immer unmoralisch. „Kant könnte in dieser Situation (der angedrohten polizeilichen Suche nach dem Versteckten) GEWALT akzeptieren, aber keine Lüge“, behauptet Boehm. Er betont, „dass es für ihn ein Drahtseil ist, wenn ich auf dem Wert von Kants Schrift – Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe lügen – BEHARRE.“ (S. 297). Zuvor hatte Boehm schon gesagt (S. 289): „Ich bin nicht entsetzt darüber, dass Kant sagt, man sollte dem Mörder an die Tür die Wahrheit sagen“…

Nebenbei: Sehr viel differenzierter und einleuchtender argumentiert der Kant-Spezialist Professor Marcus Willaschek in seinem Buch „Kant – Die Revolution des Denkens“ auf Seite 106 zum absoluten Lügen – Verbot. Willaschek meint: Der befragte Mensch, der jemanden versteckt, könnte ja diese richtige Maxime haben: „Ich will nicht lügen, es sei denn, die Lüge ist das einzige Mittel, um ein großes Unrecht zu verhindern…“ . Diese Maxime hat vor dem Kategorischen Imperativ auch hinsichtlich ihrer „Verallgemeinbarkeit“ Bestand. zu Marcus Willaschek: LINK

12.
Überraschend, dass Boehm ausführlich auf die Verbindung Kants mit dem Denken Platons hinweist: Er meint: „Die Idee der Menschheit ist eine platonische Idee.“ ( S. 58). „Es gibt bei Kant einen durchgängigen Platonismus.“ (Ebd.) „Eine Offenheit für die Menschheit in jedem Menschen ist platonisch (S. 59).

13.
Boehm und Kehlmann äußern durchaus Kritik an einigen wenigen Erkenntnissen Kants, so würde Kant etwa in seiner Schrift“ Was ist Aufklärung“ Denken und Wissen vermengen. Auch die jetzt in den Vordergrund dringende Erkenntnis: Kant habe durchaus rassistische Positionen und einen Antisemitismus vertreten, wird von den Autoren besprochen: „Warum soll Kant als Privatperson nicht auch großen Unsinn reden?“, fragt Daniel Kehlmann (S. 67).
Oder: „Die kantische Lehre vom radikal Bösen hat noch niemand wirklich verstanden.“ (S.74). Denn „sie ist ziemlich undurchsichtig.“ (S.74.)

14.
Es irritiert, dass oft einzelne Sätze – etwa von Boehm – nicht zu Ende geführt werden und durch ein paar … ins Ungefähre entlassen werden. Wurde da gekürzt? Oder wurde der Gedanke abgebrochen, etwa wenn Boehm vom Gehorsam gegenüber den Gesetzen des Staates spricht: „Wenn man zu dem Schluss kommt, dass Rechtsstaatlichkeit die Freiheit nicht mehr gewährleistet, ist man nicht mehr durch den Kategorischen Imperativ daran gebunden, dem Gesetz zu folgen, ja man kann sogar die Pflicht haben …und dann folgen die drei Punkte, die wohl sagen: Dann soll man ungehorsam sein. (Seite 305).
An anderer Stelle aber die Verdeutlichung. „ Wenn man das Gesetz in die eigenen Hände nimmt, um die Freiheit zu verteidigen, muss das nicht gleich mit Terrrorismus gleichgesetzt werden.“ (S. 307). Boehm geht soweit, diese seine – wohl auch auf die gegenwärtige Politik im Staat Israel bezogene Aussage – mit Kant selbst zu verbinden: „In einem anderen Sinne ist Kant, weißt du was, fast schon ein Anarchist“ (304).

15.
Es irritiert auch, dass Boehm manchmal – jedenfalls in der deutschen Übersetzung seiner im Englischen vorgetragenen Erläuterungen – etwas oberlehrerhaft mit Kehlmann spricht, durch das häufige „schau mal“ oder „Weißt du was?“

16.
Nur zwei der Fragen, die ich gern Omri Boehm gestellt hätte:
– Warum wird in dem Buch nicht über Kants „Friedensschrift“ gesprochen? Ist sie etwa nicht aktuell?
– Und philosophisch gefragt: Die Wahrnehmung der geistigen Strukturen, die das begreifende und erkennende Welt – Verhältnis der Menschen konstituieren, bezieht sich zweifellos auf geistige Strukturen, etwa auf ein Apriori: Diese aber werden dann benannt und begrifflich erfasst: Ist dieses Wahrnehmen des “Nicht sachlich -Objekthaften“ aber eine Erkenntnis, gar ein Wissen, das der (doch sehr engen) Erkenntnis – und Wissens – Definition von Kant standhält?

17.
Gibt es ein Fazit? In wenigen Worten ist dies schwer zu sagen. Nur das so viel:Es geht Kant in seinem „revolutionären Denken“ um nichts anderes als um die Verteidigung der Freiheit des Menschen. Sie ist das Wesentliche, sie bestimmt alle Lebenspraxis, die als Lebenspraxis ethisch sein kann. Der Mensch ist ein freies und vernünftiges Wesen, der Mensch hat Anteil an der geistvollen „allgemeinen, also allen gemeinsamen Menschheit“. Er hat im Kategorischen Imperativ einen formalen Maßstab, um sein Leben ethisch und religiös – vernünftig zu gestalten. Menschen als kluge Tiere zu definieren, entfällt also völlig für Kant. Auch der heutige üblich gewordene philosophische Naturalismus wird von Kant zurückgewiesen.
Insofern ist und bleibt Kant ein Lehrer der umfassend humanen Weisheit, auch wenn einige seiner Thesen und Erkenntnisse, wie gezeigt, heute korrigiert werden und nicht mehr gültig sind. (Rassismus, Antisemitismus…)

Omri Boehm und Daniel Kehlmann, „Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant“. Propyläen Verlag, Berlin, 2024, 352 Seiten, 26 €.

Viel beachtet wird unser Beitrag über Kants Vorschlag für eine vernünftige christliche Religion, LINK

Copyright: Christian Modehn, www.Religionshilosophischer-Salon.de

 

 

Philosophie und der Rassismus: Perspektiven zum akuellen Aufstand für die Würde aller Menschen!

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Der Mord an George Floyd durch den (weißen) Polizisten Derek Chauvin (und seine Kollegen beobachten) bewegt Menschen weltweit, versetzt sie in Trauer und Wut. Auch viele Weiße demonstrieren gegen den weit verbreiteten Rassismus und damit gegen Rassisten. Wer protestiert, fühlt sich mit den seit Jahrhunderten verachteten und unterdrückten Schwarzen in den USA (und nicht nur dort) verbunden.
Präsident Trump zeigt keine Empathie für die Familie des Opfers und wohl auch für die Schwarzen insgesamt. Sie werden von vielen Weißen, vor allem in der Polizei, immer noch a priori eher als potentielle Verbrecher, als „Minderwertige“, verdächtigt und so behandelt. Sie geraten eher in den „Würgegriff“ der Polizisten, die sich dabei wie die „Herrenmenschen“ benehmen … und von Richtern (auch sie „Herrenmenschen“?) trotz aller Untaten freigesprochen werden… Diese Tatsachen sind seit Jahren bekannt und sie werden nun ausführlich in der kritischen Presse dokumentiert. Wird die us-amerikanische Gesellschaft, werden der Staat, die Gerichte, nun „Rassismus – frei“? Das hängt auch davon ab, ob Mister Trump Ende des Jahres in Pension geschickt wird.

2.
Welchen Sinn haben philosophische Überlegungen in dieser Zeit eines immer noch aktiven Rassismus und einer neuen anti-rassistischen Bewegung?
Philosophische Überlegungen sind gegenüber der Faktenfülle anderer Wissenschaften an allgemeinen Erkenntnissen interessiert. Diese sind alles andere als überflüssig oder bloßer Luxus, weil Menschen immer auch als einzelne sich allgemeine Erkenntnisse zunutzemachen. Weil eben jeder einzelne “Teil” eines Allgemeinen, eines allgemein- menschlichen Zusammenhangs ist, eben des allgemeinen Geistes, um eine Erkenntnis von Hegel zu variieren…
Die anti-rassistische Bewegung jetzt und früher zielt auf strengen Respekt für die universal geltenden Menschenrechte; auf scharfe Kontrollen, z.B. welche Leute überhaupt in den Polizeidienst eintreten dürfen; zielt auf bessere Bildung in den Schulen über die Wurzeln des Rassismus,; vor allem auf Begegnungen von Menschen unterschiedlicher Herkunft. Die – auch ökonomische – Spaltung der Gesellschaft in Weiße und Schwarze, in Weiße, Asiaten und Latinos, etwa in den USA aber auch weltweit, ist eine Schande der Menschheit im 21. Jahrhundert. Dieses Nebeneinander ist de facto von der herrschenden weißen Führung gewollt, das Nebeneinander ist längst zu einem – internationalen – sozialen, menschlichen Gegeneinander geworden.

3.
Und wenn man auch an die Religionen und Kirchen, etwa in den USA denkt: Da ist es doch sehr problematisch, dass es explizit Kirchen für Schwarze (etwa Baptisten in den Südstaaten) und Weiße (vor allem bei Lutheranern, Evangelikalen etc) gibt bzw. wegen der immer noch tiefsitzenden “Rassentrennung” geben muss. Indem die Kirchen ihrerseits in gewisser Weise die Rassentrennung noch heute praktizieren, zeigen sie mindestens indirekt, dass diese Trennung sozusagen auch unabwendbar, „gottgewollt“ ist. Man wird wohl sagen müssen, dass in den USA am ehesten die katholischen Gemeinden Orte „rassenübergreifenden“ Glaubens sind. Dabei sollte man nicht vergessen, wie tief in die Religions- bzw. Kirchengeschichte die Wurzeln des Rassismus reichen. Man denke an die Verteufelung von Juden und Muslims in Spanien, aber auch an die Degradierung von Christen in muslimischen Ländern. Man denke an den Teufelsglauben und damit an Menschen, vom Teufel besessen, ein Wahn, der heute noch praktiziert wird. Man denke an die vielen Teufelspredigten von Papst Franziskus; an die ständigen Kurse für Exorzisten an päpstlichen Universitäten, etwa durch den Orden der Legionäre Christi usw.): Der Teufel ist jenes Wesen, das Feinde definiert, die am besten ausgelöscht werden sollten…etwa Hexen, Häretiker, Juden…

4.
Hier geht es um eine, wie für Philosophien übliche, grundsätzliche Frage: Was ist eigentlich im menschlichen Geist, also im „Innersten“ des Menschen selbst, die „Basis“ für ein Verhalten, das sich auch rassistisch äußert:
Philosophisch ist zunächst klar: Geistige Orientierungen drücken sich in Gesetzen aus, in Wirtschaftsformen usw. So sehr ökonomische Bedingungen das Zusammenleben auch prägen, so sehr muss elementar anerkannt werden: Diese ökonomischen Bedingungen in ihrer Konkretheit sind Werk und Ausdruck menschlichen Geistes, menschlicher Vernunft bzw. sehr oft der Unvernunft. Insofern sollte die geistige Orientierung in ihrer Notwendigkeit, diese sichtbar, „materiell“, gesellschaftlich auszudrücken, sehr hoch eingeschätzt werden. Die kapitalistische Gesellschaft ist also wie jede Gesellschaft, wie jedes gesellschaftliche “Produkt”, Ausdruck und „Resultat“ geistiger Prozesse. Das scheint mir philosophisch evident zu sein. Das gilt auch, um den Rassismus zu verstehen.

5.
Rassismus sollte als ein Oberbegriff für vielfältiges Verhalten wahrgenommen werden: Rassismus zeigt sich nicht nur als Degradierung der Schwarzen; sondern auch als Antisemitismus, als Homophobie und als Anti-Islam-Haltung, Anti-Sinti/Roma-Haltung, als gewollten Ausschluss der Armen und Obdachlosen aus der Gesellschaft und so weiter.
Mit anderen Worten: Es muss also angesichts der Fülle dieser ANTI-Haltungen gefragt werden: Warum ist unter Menschen die Bereitschaft so stark, andere Menschen auf die Ebene des Feindes, des “Unmenschen”, herabzusetzen, anstatt den anderen und die anderen als gleichberechtigte Partner zu sehen und zu respektieren.
Warum wird der andere nicht als Teil des Eigenen gesehen, warum wird so selten gesagt und entsprechend gelebt: Der andere, er, sie, gehören zu mir, in gewisser Hinsicht: Sie sind wie ich. Warum werden „andere“ aus der eigenen Welt ausgeschlossen, verachtet, diskriminiert, getötet. Warum fühlen sich einige Menschen als Herrenmenschen und machen aus den anderen noch immer nicht nur die „Untergebenen“, sondern die Sklaven, selbst wenn dieser Begriff nicht mehr verwendet wird, der Sache nach aber gilt…

Hegel hat darauf eine Antwort, den Hinweis eines Auswegs, einer Befreiung vom Rassismus: Wir Menschen alle sind in gewisser Hinsicht (ich betone mit Hegel: in gewisser Hinsicht !) identisch. Wir sind insofern „alle“ untereinander und mit einander verbunden und darin identisch, weil wir alle mit dem Geist, der Vernunft „ausgestattet“ sind. Das macht den „unendlichen Wert“ des Menschen als Menschen aus. Diese allen gemeinsame Vernunft kann uns in kritischer Reflexion, auch in selbstkritischer Reflexion, orientieren und gerechte Gesetze hervorbringen.

6.
Unser Thema betrifft natürlich auch die psychologische und die soziologische Forschung.
Aber eben auch die Philosophie. Da könnte man ausführlich rassistische Vorurteile bei „berühmten“ Philosophen besprechen, bei Kant oder bei Hegel, bei Nietzsche oder Heidegger. Das ist eine wichtige Arbeit, die z.T. bereits geleistet wird. Etwa wenn an John Locke erinnert wird, der sagte: „Der Mensch ist eine weißes, rationales Lebewesen“(zit. in „Enzyklopädie Philosophie“, III, S. 2194). Kant meinte gar, „die Weißen seien die einzigen, die immer in Vollkommenheit fortschreiten“ (ebd., S. 2196). Wird wegen dieser kulturell begrenzten falschen Aussage aber Kants Erkenntnis zum „Kategorischen Imperativ“ hinfällig? Ich denke: Ganz und gar nicht. Irgendwo muss die Begrenzung eines Lebens in der Welt Königsbergs im 18. Jahrhundert (!) deutlich werden. Nietzsche betrachtete „die Neger als Repräsentanten des vorgeschichtlichen Menschen“ (ebd. 2198). Inwieweit dieses Zitat in Nietzsches Lehre vom „Übermenschen“ passt, kann hier nicht weiter diskutiert werden.

7.
Philosophen haben also in ihrer Zeit zu unserem Thema viel Unsinn gesagt. Soll man sie entschuldigen, dass sie eben zu sehr in ihre Zeit, in ihre herrschende Kultur, eingebunden waren? Aber es gab doch einige Denker, die den imperialen, tötenden Wahn der Rassisten erkannten, anklagten und z.T. überwanden: Wie der Theologe Bartolomé de las Casas, der sich für Menschenwürde der indigenen Völker einsetzte. Das heißt, die rassitische Welt war damals schon (im 16. Jahrhundert) “gebrochen”, keineswegs selbstverständlich. Wer wollte, und bereit war, seine Karriere in dieser Welt zu beschädigen, konnte mutig ein Anti-Rassist sein. Es gab einige, die befreiten sich langsam vom Rassismus, selbst wenn etwa Las Casas den Fehler machte, Schwarze aus Afrika auf die amerikanischen Planatagen zu bringen. Ein Fehler, den er später ausdrücklich bedauerte…

8.
Mir scheint ein anderes, grundlegenderes philosophisches Thema noch wichtiger. Die Beziehung eines Menschen zum anderen Menschen, zum „Anderen“, ist die Basis, von der aus das weite Feld des sich sehr vielfältig äußernden Rassismus zu verstehen ist?
Der Mensch ist immer schon und vornherein Beziehung und damit auch Kooperation. Nur in der Beziehung und ALS Beziehung entwickelt sich das Individuum. An die “Genese” des einzelnen Menschen müsste jetzt erinnert werden: Er entstammt immer einer Beziehung von zwei Personen, selbst der anonyme Samenspender ist als anonymer Vater immer noch Ausdruck für eine minimale Beziehung. Von der Beziehung zur Mutter, zu den Eltern, den Verwandten wäre zu sprechen, von der Schule als einem Ort beziehungsreicher Bildung usw. Ein total isolierter Mensch ohne irgendeine Verbundenheit mit anderen Menschen ist absolut unmöglich. Der Mensch als Beziehung: Das wäre, wenn man so will, eine Definition „des“ Menschen…Und weil jeder Mensch nur in Beziehung lebt, ist es tödlich für Geist und Seele des Menschen, diese Beziehung als Herrschaftsform mit “Herrenmenschen” zu pervertieren. Rassismus ist insofern eine Art Suizid der Herren: Sie töten die “anderen” und zerstören sich selbst. Der Rassist tötet sich selbst, tötet seine Seele, sein Menschsein.

9.
Da können kluge Kritiker nichts mehr einwenden, wenn sie auch in dem Fall den alt bekannten, viel zitierten Spruch sagen: „Aus einem Faktum (also: Bindung des einzelnen an die anderen von vornherein) folgt kein Sollen, also kein ethischer Impuls”.
ABER: Dieses beschriebene unverzichtbare Hineingestelltsein jedes einzelnen in ein notwendiges (auch biologisches) Beziehungsgeschehen ist tatsächlich zunächst als Faktum weder gut noch böse. Es ist der neutrale, faktische Ausgangspunkt jeglichen individuellen Lebens: Wir sind automatisch und unausweichlich in die Beziehung zu anderen hineingestellt. Aber wir müssen diese Beziehung im Laufe des Lebens gestalten. Und dann beginnen die Fragen: Ist diese Gestaltung der Beziehung zu anderen gut oder böse? Diese normativen Fragen können gar nicht ausbleiben. Sie haben ihren zentralen Platz, ganz aktuell, in der Erkenntnis, dass die meisten Menschen die Ermordung (etwa von George Floyd) als ein abscheuliches Verbrechen betrachten.
Wer diesen normativen Aspekt nicht einsieht, dem empfehle ich den kategorischen Imperativ von Kant anzuwenden und dann beispielsweise konkret zu behaupten: „Meine Maxime im Leben ist, dass Menschen im Würgegriff ermordet werden dürfen: Also auch ich darf im Würgegriff ermordet werden von der Polizei, auch der Polizist Chauvin darf auf diese Weise ermordet werden. Dass aus dieser meiner Lebens-Maxime als Haltung ein permanenter Bürgerkrieg entsteht, nehme ich in Kauf“.
Wer will im Ernst eine solche Maxime unterstützen, die aus der Reflexion auf die normative Ablehnung des Mordes an George Floyd folgt… Rassisten leben selbst-widersprüchlich. Sie sind insofern geistig verwirrt. Und krank.
Man sieht: Die Abwehr gegen das Töten von George Floyd ist vernünftig und allgemeingültig für eine Menschheit, die sich noch als human betrachtet. Antirassismus ist vernünftig und ein evidentes Gut der Menschheit. Antirassismus ist also alles andere als eine Laune bestimmter Kreise. Antirassismus ist gut.

10.
Philosophisch genauso wichtig ist die Erkenntnis: Jeder Mensch wird in eine bestimmte Sprache hinein geboren. Dabei zeigt sich auch die Grenze der viel besprochenen Autonomie: Ich werde – ohne meine Entscheidung – in die deutsche Sprachwelt hineingeboren, auch wenn ich möglicherweise parallel – z.B. durch einen französischen Vater – zugleich noch Französisch lernen kann: Mit dem notwendigen und gar nicht mehr abzuwerfenden Hineingestelltsein in eine Sprache werde ich sozusagen automatisch mit der Welt der anderen verbunden. Wir teilen uns diese gemeinsame Sprache, leben in den gleichen Begriffen, die ja auch von einem gemeinsamen „Inhalt“ bestimmt sind.
Diese „von uns“ geteilte Sprachwelt kann aber missbraucht werden, wenn bestimmte Leute beanspruchen, nur sie allein können die Inhalte der gemeinsamen Sprachwelt und der mit ihr vermittelten Werte definieren und als Werte durchsetzen. Das gelingt um so eher, als diese Leute ihren ökonomischen Vorteil ausnützen, wenn sie sich besser und umfassender bilden können als andere. Und dann diese „ungebildeten“ Anderen zu den “Untergebenen”, “Zweitklassigen” machen.
Das heißt: Rassismus wird nur in einer Gesellschaft überwunden werden, die keine tiefen Spaltungen von ökonomischen Klassen kennt. Die Debatte über ökonomische Gerechtigkeit und Gleichheit aller Menschen ist die notwendige Konsequenz aller antirassistischen Demonstrationen. Und diese Debatten werden mehr Mühe kosten als das Demonstrieren jetzt.

11.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass die reichen Länder des Nordens schon durch ihre Wirtschaftspolitik und „Entwicklungspolitik“ arme Länder im Süden auch heute eher als zweitklassig, wenn nicht als minderwertig betrachten. Man denke nur daran, welche Milliarden Euro deutsche Firmen etc. vom Staat erhalten. Einer internationalen, menschlichen Gemeinschaft hätte es gut angestanden, auch einige Milliarden den Ärmsten in Afrika zur Verfügung zu stellen…
Man denkt in Europa immer noch: Im Süden leben Menschen, die eigentlich eine gerechte humane Situation, wie die Menschen im Norden sie erleben, gar nicht „brauchen“. Sie seien mit so wenigem zufrieden, brauchen keine gründliche Bildung, keine würdigen Wohnungen, kein sauberes Wasser und so weiter. Die Armen im Süden seien schon mit einer Schale Reis pro Tag zufrieden. Mit diesem Bild haben Solidaritätsbewegungen auch der Kirchen jahrelang Spenden sammeln wollen. Dieses herablassende Denken und Handeln gegenüber den Armen im Süden kann durchaus auch rassistisch genannt werden. So wie früher viele Westdeutsche den Ostdeutschen, den Verwandten „drüben“, oft nur Minderwertiges in ihre Pakete aus dem Westen steckten: Nach dem Motto: „Na ja, für die da drüben ist das noch gut genug“.
An diesen stillen Rassismus auch im Verhalten des reichen Nordens gegenüber dem meist armen Süden haben sich so viele in dieser verrückten Welt-Un-Ordnung gewöhnt; er verdient genauso viel Aufmerksamkeit wie der spektakuläre mörderische Rassismus jetzt wieder in den USA.

12.
So verbirgt sich Rassismus in unterschiedlichen, z.T. verdeckten Formen im Umgang der Menschen untereinander. Erst wenn sich bestimmte herrschende Individuen von der Ideologie befreien bzw. sich befreien lassen und von anderen befreit werden, sie seien „die Herrenmenschen“, kann eine humane Welt mit weniger Rassismus entstehen.
Wer denkt übrigens daran, bestimmten Männern, die sich Politiker nennen, wie Trump, Bolsonaro usw. eine Psychotherapie dringend zu empfehlen? Solange sie an ihr teilnehmen, sind sie von ihren Ämtern befreit.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.