„Die Affäre Dreyfus“: “Intrige”. Der neue Film von Roman Polanski und der katholische Antisemitismus.

Ein Hinweis von Christian Modehn zu dem Film von Roman Polanski “J´accuse” (“Ich klage an”).
1.
Der neue Film Roman Polanskis über den „Fall Dreyfus“ bzw. die “Affäre Dreyfus”, hat in Deutschland den Titel „Intrige“.
Um die kriminellen Machenschaften der höchsten Mitglieder des Militärs und unter führenden Politikern geht es ja auch: Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus wird 1894 in Paris des Landesverrates angeklagt, zu Unrecht verurteilt und in die totale Isolation auf die Teufelsinsel in Guyana verbannt.
Die Verurteilung ist einzig und allein Ausdruck des populären Antisemitismus, der weiteste Kreise der französischen Gesellschaft und des Staates zersetzte. Die französische Gesellschaft ist tief gespalten in leidenschaftliche, irrationale ANTI-Dreyfusianer und die eher kleine Gruppe der Vernünftigen. Die Republikaner haben im Unterschied zu den reaktionären Kreisen nicht vergessen, dass durch die Französische Revolution den Juden die Bürgerrechte zugesprochen wurden. Dieses „Dreyfus-Trauma“ wirkt bis heute. Unter (katholischen) Traditionalisten (etwa Anhängern Bischof Lefèbvres) und Rechtsradikalen ist Antisemitismus bis heute eine Realität, auch wenn sie sich heute nach außen hin als Israel-Freunde geben, aus dem einzigen Grund, um ihren Hass auf “den” Islam dadurch abzuschwächen.
2.
Nach der Verurteilung von Dreyfus wird Oberst Marie-Georges Picquart zum Chef der „Gegenspionage“ ernannt: Er entdeckt im Laufe seiner Recherchen, dass Alfred Dreyfus einzig, weil er Jude ist, verurteilt wurde. Picquart ist von der Unschuld von Dreyfus überzeugt. Er wird zu einem entschiedenen Vorkämpfer der Gerechtigkeit in diesem „Fall“. Um ihn, den Oberst, der nicht blind gehorcht, sondern seinem Gewissen folgt, dreht sich der Film.
3.
Der damals allmächtig herrschende Antisemitismus wird in dem Film allerdings nicht weiter analysiert, er wird nur als Faktum dargestellt: Die aufgehetzten grölenden Massen, die Verbrennung der kritischen Zeitung „LAurore“, das Beschmieren jüdischer Geschäfte mit antisemitischen Parolen, die Gerichte, die sich vom Antisemitismus leiten lassen…
Für religionsphilosophisch und theologisch Interessierte ist wichtig: Der Judenhass in Frankreich wird von der katholischen Kirche und ihrer maßgeblichen Presse verbreitet und geradezu leidenschaftlich, unverschämt in den Aussagen, gefördert. Es hätte dem Film gut getan, wenn auf diese klerikalen Wurzeln des Antisemitismus wenigstens hingewiesen worden wäre. Denn Dreyfus ist auch ein Opfer des damals vorherrschenden katholisch befeuerten allgemeinen Antisemitismus.
Das Zentralorgan des katholischen Antisemitismus ist die katholische Tageszeitung LA CROIX (Das Kreuz) in Paris: Sie gehört zum großen Verlagshaus „La bonne presse“, „Die gute Presse“, ein sehr merkwürdiger Titel: Denn „gut“ galt auch das, was antisemitisch war. Antirepublikanisch, gegen die Laicité, die Trennung von Staat und Kirche, war das Verlagshaus allemal. Es gehörte (und gehört) dem französischen Augustinerorden, der sich „Augustiner von der Himmelfahrt (Mariens)“, „Assomption“, nennt.
Über den Antisemitismus, den die Tageszeitung La Croix vor allem seit 1884 verbreitete, sind inzwischen Studien von Historikern erschienen, etwa „La Croix et les juifs“, von Pierre Sorlin, Paris 1967). Aber auch der Orden selbst hat sich – spät – seiner dunklen Geschichte gestellt. Zum Beispiel im Jahr 1998: Da hat der Augustiner und La-Croix Chefredakteur Michel Kubler ausdrücklich die Schuld eingestanden, die Schuld an den jüdischen Mitbürgern. (La Croix, Ausgabe vom 12.1.1998)
4.
Es lohnt sich aber, einige Details dieses damals üblichen, stark katholisch geprägten Antisemitismus zu nennen:
Seit 1884 wird die Feindschaft gegenüber den Juden in La Croix immer größer, dies zeigt die Studie von Pierre Sorlin. Die offizielle päpstliche Verurteilung der „Freimauerei“ im Jahr 1884 hat den Antisemitismus noch einmal befeuert, weil „man“ glaubte: Die als böse geltende Freimaurerei sei wesentlich mit dem Judentum verbunden. Ab 1889 wurde der katholische Antisemitismus noch heftiger, weil die Wirtschafts- und Finanzkrise in dem Jahr einen „Sündenbock“ brauchte und üble pauschale Verdächtigungen verbreitet wurden, so etwa: Die ganze Presse befinde sich in den Händen der Juden. La Croix rühmt sich ganz unverschämt: „Diese Zeitung ist die am meisten antijüdische Zeitung Frankreichs“, so in der Ausgabe vom 30.9.1890. Wie richtig diese Selbsteinschätzung leider ist: Die Karikaturen allein sind eine Schande! Das Verlagshaus „Bonne Presse“, „Gute Presse“, erreicht in der Zeit mindestens 500.000 Leser, das sind viele mehr, als der Erzantisemit Edouard Drumont mit seiner Zeitung „Libre Parole“ erreichte.
5.
“La Croix” hat die heftige antisemitische Hetze seit etwa 1930 aufgegeben. Und „La Croix“ gilt seit 1960 für weite Kreise als seriöse, und gar nicht so klerikale Tageszeitung, wenn auch die Bindung an die offizielle katholische Lehre eine Rolle spielt. Ausdruck für eine gewisse allgemeine Wertschätzung auch außerhalb der Kirchenkreise ist z.B. die Jahre lange regelmäßige Mitarbeit des bekannten Politologen Alfred Grosser, Paris. Pater Michel Kubler, „La Croix“ Chef-Redakteur, bittet in seinem genannten Beitrag um Verzeihung für den antisemitischen Wahn, den die Zeitung seines Ordens verbreitet hat – vornehmlich im Falle Dreyfus: „Keine Person und auch keine christliche Gemeinschaft hat Zukunft, solange sie das jüdische Volk zurückweist, aus dem ja die Christenheit geboren wurde“.
6.
Oberst Marie-Georges Picquart (1854-1914) entstammte einer streng katholisch orientierten Familie aus Strasbourg. Er selbst hat schon als junger Erwachsener die Bindung an die Kirche aufgegeben. Als Oberst sagt er – im Film von Roman Polansky- zu dem bedrängten Hauptmann Dreyfus sinngemäß: „Ich bin zwar kein Freund der Juden. Aber ich will, dass man sie gerecht behandelt“. Eine zwiespältige Haltung gewiss, aber immerhin konnte er in dieser Einstellung die große Intrige aufdecken. Und Dreyfus -spät zwar – aber “immerhin” retten und rehabilitieren.
Aber Respekt und Anerkennung sind die menschlichen Haltungen, die den Antisemitismus einschränken und hoffentlich überwinden.
Auch die große Bedeutung, die der Schriftsteller Emile Zola für die Rehabilitieung von Dreyfus spielt, angesprochen, vielleich zu kurz. “J´ accuse” ist der Titel seines leidenschaftlichen Protestes gegen das Urteil in der Tageszeitung “L Aurore” (am 13. Januar 1898). Zola wird verurteilt, er kann nach England fliehen.
Erst am 12. Juli 1906 wird Alfred Dreyfus offiziell rehabilitiert, er wird zum “Ritter der Ehrenlegion” ernannt und als Major wieder in das Heer aufgenommen. Und Picquart wird 1906 von Ministerpräsident Clemenceau zum Kriegsminister ernannt…

7. PS.: Die katholische Tageszeitung „La Croix“ lobt ausdrücklich den Film von Roman Polanski „J accuse“ („Intrige“) in ihrer Ausgabe vom 12.11.2019. Die Zeitung La Croix hat heute eine Auflage von 95.000 Exemplaren. Die Tageszeitung Libération: 92.000, die Tageszeitung Le Monde 316.000.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Zur religiösen Praxis der Muslime in Frankreich

Fast jeder zweite Muslim in Frankreich ist „gläubig und praktizierend“

Anlässlich des Ramadan in diesem Jahr, der vom 1. bis zum 30. August dauert, hat die Tageszeitung LA CROIX, Paris, in ihrer Ausgabe vom 1. August, in einem ausführlichen Dossier die Ergebnisse einer Studie über die religiöse Praxis der Muslime in Frankreich veröffentlicht. Weil wir in unserem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon seit vielen Jahren regen Anteil nehmen an der religiösen Situation und der Geschichte der Religionen und Philosophien in Frankreich (nicht zuletzt dokumentiert durch die ca. 60 Halb – Stunden -Sendungen „Gott in Frankreich“ von Christian Modehn im Saarländischen Rundfunk von 1989 bis 2006), wollen wir einige zentrale Aspekte festhalten:
Weil es in Frankreich aufgrund der Trennung von Staat und Religionen keine exakten Religionsstatistiken gibt, nennen die wissenschaftlich glaubwürdigen Schätzungen 2,1 Millionen Muslime im Alter zwischen 18 und 50 Jahren. Das Forschungsinstitut IFOP nennt 3,5 Millionen Muslime insgesamt (d.h. ca. 5,8 % der Gesamtbevölkerung). In einigen Départements wie Val – de- Marne oder Val – de – Oise liegt deren Anteil bei ca. 10 %.
Das Institut IFOP hat für LA CROIX festgestellt, dass 71 % der Muslime während des ganzen Monats die Fastengebote einhalten wollen. Im Jahr 1989 hatte man die letzte entsprechende Umfrage vorgenommen, so wird jetzt deutlich: Die religiöse Praxis unter den Muslims hat heute zugenommen. 41 % der Befragten nennen sich heute „praktizierende und gläubige Muslims“, 1989 waren es 34 %. Während 1989 nur 16 % die Moschee am Freitag besuchten, sind es heute 25 %. Heute gibt es etwa 2000 Moscheen und „Kult – Orte“ (oft eher sehr bescheidene ehemalige Garagen z.B.). Allerdings, so schreibt der Soziologe Franck Frégosi in seinem Buch „L Islam dans la laicité“, Ed. Pluriel. „Heute ist man dabei, mit dem Islam in den Kellergewölben aufzuhören“. So wird etwa in Strasbourg jetzt eine neue große und würdige Moschee eingeweiht. La Croix berichtet: „Die Zunahme im Besuch der Moschee ist besonders bemerkenswert bei den jungen Leuten. Es sind fast ausschließlich Männer, die freitags an den Gottesdiensten dort teilnehmen“.
Auch die berufliche Qualifizierung der Muslime wurde untersucht. 33 % der Befragten sind Arbeiter. Leitende Angestellte und Freiberufler nur 6,7 %.
Interessant ist auch das parteipolitische Interesse: Nur bei 21 % der Muslime ist Nicolas Sarkozy der politische Favorit, während es unter den praktizierenden Katholiken immerhin 55 % sind, bei den nicht praktizierenden Katholiken dann noch einmal 44 Prozent. Daran sieht man, wie beliebt Sarkozy noch immer bei Katholiken ist. 23 % der Nichtglaubenden und Atheisten stimmen für Sarkozy.
Wir möchten noch darauf hinweisen, dass die eigentlich eher finanziell arme katholische Kirche Frankreichs sich ein eigenes für das ganze Land bestimmte „Sekretariat für die Beziehungen zum Islam“ leistet. Von dort aus werden z. B. Gespräche und Tagungen organisiert über “Islam und Christentum”. So etwas gibt es in Deutschland bei einer Kirche mit einem Etat von vielen tausend Millionen Euro nicht. In Frankreich ist im Augenblick der Buchautor Pater Christophe Roucou der Leiter dieser Arbeitsstelle; er gehört zur theologisch progressiven Gemeinschaft „Mission de France“, einer Gemeinschaft von „Arbeiterpriestern“. Er hat als Leiter seines Sekretariates erklärt: „ En France, comme citoyens et comme catholiques, nous avons la responsabilité de permettre que les musulmans puissent vivre leur foi dans le contexte républicain et laïque. Et comme chrétiens, il nous faut toujours faire le premier pas.“ “In Frankreich haben wir als Bürger und als Katholiken die Verantwortung, den Muslims zu erlauben, ihren Glauben im republikanischen und im „laique“ (schwer zu übersetzen: also auf Trennung von Kirche und Staat bedachten Status) Kontext zu leben. Und als Christen müssen wir immer den ersten Schritt tun“.
copyright: christian modehn berlin.