Tödliche Grenzen der EU: Flüchtende verlieren ihr Leben…Und EU-Bürger ihre Seele.

Das Buch „Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft“.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 5.Juli 2023.

1.
Die aktuelle Situation:
Es wird weitere verschärfte Grenzverfahren für Flüchtende an den EU – Außengrenzen geben, das haben die EU AußenministerInnen beschlossen.
Fünfundfünfzig Menschenrechtsorganisationen in Deutschland erklären zu diesem Vorhaben: „ Der Entwurf der Verordnung sieht vor, europäische Vorschriften für Asylverfahren sowie für die Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden weit unter jedes erträgliche Minimum abzusenken. Im Falle einer Instrumentalisierung würde eine Regelung im Schengener Grenzkodex durch die Schließung von Grenzübergängen es fliehenden Menschen nahezu unmöglich machen, an den Außengrenzen einen Asylantrag zu stellen“ (Pressemitteilung von „Pax Christi“ am 5.7.2023.)
2.
Europäer verraten ihre offiziell verkündeten Werte!
Seit Jahren schon verüben Staaten der EU schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte gegenüber Flüchtenden. Nur einige bekannte Beispiele: Polnische „Grenzschützer“ prügelten im Winter Flüchtlinge an der Grenze zu Belarus wieder in diese Diktatur zurück. Die griechische Küstenwache drängt schutzsuchende Menschen auf ihren überfüllten Booten wieder in Richtung Türkei zurück. Die Lebensverhältnisse in griechischen Flüchtlingslagern (wie Lesbos) sind meist katastrophal. Mit Gewalt drängen Kroaten Flüchtende nach Bosnien zurück. In dem ungarischen Container Lager Röszke an der serbischen Grenze werden Flüchtende in einer Weise versorgt, „die an die Fütterung von Tieren im Zoo erinnert“.
Weitere Beispiele bietet die Studie der Politologen Volker M. Heins und Frank Wolff in ihrem sehr empfehlenswerten Buch „Hinter Mauern“, erschienen 2023 im Suhrkamp Verlag. Das Zitat zum ungarischen Lager steht auf Seite 72 des Buches. Es hat den treffenden Untertitel „Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft“.
Bis zum 14.6.2023 sind „seit 2014 mindestens 26.924 Flüchtende im Mittelmeer umgekommen“, mindestens heißt in der offiziellen Mitteilung, es werden viel mehr Menschen umgekommen sein… Quelle. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/892249/umfrage/im-mittelmeer-ertrunkenen-fluechtlinge/

3.
Die Verrohung der Seele und des Geistes in Europa.
In ihrem Buch „Hinter Mauern“ machen die Autoren auf einen bislang vernachlässigten Aspekt der Dialektik „Flüchtende und Abweisende der Flüchtenden“ aufmerksam. Sie sprechen von einem bis jetzt eher selten angesprochenen Verderben, das die EU Flüchtlingspolitik für die Menschen innerhalb der EU anrichtet: Es ist seelische, geistige Ignoranz, oft die Verrohung, die bis zur Unterstützung rechtsextremer Parteien führt: Die Wahlsiege rechtsextremer Partei in fast allen Ländern Europas, auch in Deutschland, sind seit Monaten bekannt.
Faktenreich und eindringlich zeigt das Buch „Hinter Mauern“ also, was mit Geist und Seele der Europäer„geschieht“, wenn sie weiterhin hohe Mauern und Stacheldrahtzäune bauen, um Flüchtende abzuwehren. Die Südgrenzen Europas im Mittelmeer „sind zwar zur tödlichsten Grenze der Welt geworden“ (S. 43). Aber man muss immer wieder betonen: Tödlich in einem anderem Sinne sind die immer weiter ausgebauten, immer perfekter mit Milliarden-Euro-Einsatz gestalteten Grenzen auch für Menschen hinter den Grenzen: „Die Gewalt an der europäischen Grenze – etwa im Umgang mit Flüchtenden im Mittelmeer-Raum – greift nach Innen, korrumpiert also die europäische Gesellschaft, indem sie zum einen die Institutionen des Rechtsstaates und der Demokratie beschädigt. Zum anderen fördert sie eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral durch die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und Rechtsbrüche“ (S.12). Die Autoren beziehen sich nicht nur auf die immer strengeren Grenz-Regimes in Europa, sondern auch auf die z.T. noch brutaleren Umgangsformen mit Flüchtenden aus Lateinamerika in den USA.
4.
Rassismus
Rassismus als herrschende Ideologie, oft noch versteckt und diplomatisch verhüllt, der weißen Herrschenden ist längst eine Tatsache. Dieser etwa auch in der Stadt-Planung versteinerte Rassismus zeigt sich erneut in der Abdrängung bestimmter Menschen, vor allem Schwarzer, Ausländer, Armer in die so genannten Banlieues in Frankreich, in Vorstädte, die kulturell und sozial und verkehrspolitisch abgekoppelt sind vom „urbanen Leben“ der Stadtzentren von Paris, Lyon, Marseille, Toulouse usw. Und bei jungen Menschen werden entsprechend Wut und Hass erzeugt über diese etablierte und seit Jahren kaum korrigierte Degradierung. „Die Nachfahren der Migranten (Post-Migranten) in Frankreich leben in einem ihnen feindlich gesinnten Staat. Und sie werden ihn wohl so wahrnehmen. In einem rassistischen Staat, der sich immer ich als Grande Nation sieht, damit aber nur die weißen Franzosen meint“ ,so der Autor Behzad Karim Khan in der Süddeutschen Zeitung“, 5. Juli 2023, Seite 9).
5.
Eine „soziale Theodizee“: Ein Thema der politischen Philosophie!
Der Religionsphilosophische Salon Berlin ist höchst erfreut über eine weitreichende, durchaus neue und durchaus kreative philosophische und ethische Aussage der Autoren Volker M. Heins und Frank Wolff:
„In der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie gibt es die so genannte Theodizee: Da wird gefragt, wie Gott es zulassen kann, dass unschuldige Menschen leiden, obwohl Gott durchaus gut ist und die Macht hätte, das Leid zu verhindern. Philosophen nennen dies das Problem der Theodizee“ (S. 99).
Und dann folgt gleich die sehr sinnvolle und richtige Aktualisierung dieses uralten philosophischen Themas: „ABER ES GIBT AUCH EINE SOZIALE THEODIZEE, die danach fragt, warum Gesellschaften, die in ihrem Selbstbild auch human und demokratisch sind, sinnloses Leid zulassen, obwohl sie über die Macht verfügen , solches Leid zu verhindern oder erheblich zu reduzieren“ (S. 99).

6.

Warum verhindern wir EU -Bürger und deren Politiker nicht das Leiden der “anderen”, der Flüchtenden?

Diese Frage kann nicht nur politologisch, nicht nur soziologisch oder nur historisch beantwortet werden. Sie führt in die Psyche der Angst, der Angst vor dem „Fremden“, der Angst vor dem Verlust des hoch-heiligen Eigentums durch die Anwesenheit der Fremden, es ist die Angst vor den „Schwarzen“, den „Farbigen“, die nun das starke Selbstbild des „Weißen“ ins Wanken bringen. Es ist letztlich die Angst, Solidarität zu leben, die Angst davor, als Mensch mit anderen zu teilen.
Es ist leider die gewisse Bedeutungs-Schwäche der humanen Organisationen und humanistischen NGOs, wenn sie kaum wirksam ihre vernünftigen Erkenntnisse der großen Masse der Bevölkerung zu Gehör bringen können – angesichts der Übermacht populistischer, rechter und rechtsextremer Presse. Deren Rederei hat sich förmlich eingebürgert, etwa wenn Flüchtende „Sozialtouristen“ genannt werden – parallel zu den „einheimischen Sozialbetrügern“, ein genauso pauschal – rassistischer Begriff gegenüber Ausgegrenzten und arm Gemachten(S. 127).

Es ist auch die Schwäche der philosophisch Arbeitenden, denen es nicht gelingt, den absoluten Vorrang der universal geltenden Menschenrechte deutlich zu machen und als politische Dynamik zu mobilisieren. Es ist auch die Schwäche der sich christlich nennenden Kirchen in Europa, auch in Deutschland, die die kritische politische Analyse, wie etwa jetzt zur Verschärfung der Grenzregimes und der Asylrechte, kleineren kirchlichen Organisationen überlassen, wie Pax Christi oder Brot für die Welt. Die katholischen Bischöfe, auch als gemeinsame Bischofskonferenz in Deutschland, sprechen lieber über den Zölibat oder den synodalen Prozess als deutlich die demokratischen Politiker zu kritisieren. Diese haben Angst, Wähler zu verlieren, wenn sie eine Politik der universal geltenden Menschenrechte tatsächlich praktizierten. Und die Bischöfe wollen nur Teil des offiziellen Systems bleiben, von dem sie – bis jetzt noch – finanziell sehr profitieren. Kardinal Woelki, Köln, erhält vom Staat ein Monatsgehalt von ca. 13.000 Euro. Man kann fast verstehen, dass er darauf – wie seine lieben Mitbrüder in München, Regensburg, usw. – nicht verzichten will.

7.
Das Selbstbild der EU – eine Lüge?

Die Europäische Union lobt sich gern selbst in höchsten humanistischen Tönen. Und belügt die Menschheit. Der ehemalige französische Außenminister und Europaminister Jean-Yves Le Drian z.B. behauptete: Die EU sei eine „echte humanitäre Macht , mehr noch, das hoffnungsvolle Projekt eines neuen Humanismus“.
Die Autoren des empfehlenswerten Buches „Geschlossene Grenzen“ schreiben realistischer: „ Europa ist hin – und hergerissen zwischen dem Streben nach globaler Attraktivität und der Angst vor globalen Einwanderungsbewegungen, die doch eine Folge seiner Attraktivität sind“ (S. 19f.). Darum stellt sich jetzt Europa – abwehrbereit – gegenüber den Flüchtenden und denen, die bereit sind, Afrika zu verlassen, auch mal als unattraktiv und gefährlich für Flüchtende dar.
Politiker der EU wollen aus ökonomischen Interessen vor allem die schon gut Gebildeten und die Fachleute unter den Flüchtenden nach Europa lassen: Nur sie sind in Europa willkommen, aber: sie fehlen dann in ihren Herkunftsländern. „Aus dieser Spannung zwischen einem offiziellen Sinnbild von Hoffnung und der Vergeblichkeit der Hoffnung (für die meisten Flüchtenden) ergibt sich ein Widerspruch, in dem sich die EU bewegt. (S. 20).
Es sieht so aus, dass die EU an dem traurigen Bild der Hoffnungslosigkeit festhält und die Abschottung weiter durchsetzt, so dass für alle Flüchtenden die Hoffnung auf ein Leben in Europa vergeblich ist. So wird letztlich Europa (oder auch die USA) wie eine Insel gedacht, mit Mauern und Stacheldraht, eine Insel, die aber alles andere ist als ein „Insel der Seligen“.
8.

Alternativen?

Über Alternativen zum bisherigen Flüchtlingsregime wird zwar viel gesprochen, aber bestimmte Alternativen werden nicht wirksam gestaltet: Nämlich: den arm gemachten Menschen im globalen Süden endlich so wirksam zu helfen, dass diese genauso ein menschenwürdiges Leben haben wie die Menschen im globalen, reichen Norden. Das Zulassen von Hunger und Elend im globalen Süden, der Ausschluss der meisten Menschen dort von Bildung und Gesundheit ist nichts anderes als eine Form des Rassismus, nämlich die Haltung: „Es sind ja bloß die Armen, die wissen vielleicht mit Hunger umzugehen, wir helfen nur in größter Not mit Spenden“. Wer die Dörfer der Elenden und die Slums der Ausgeschlossenen im globalen Süden anschaut un erlebt hat, muss an die Bedingungen des Überlebens in KZs denken.
Aber: die EU verhandelt eher mit den Diktatoren dieser Länder des globalen Südens, dass sie doch ihren Landsleuten die Idee der Flucht nach Europa nicht nur ausreden, sondern dass die Diktatoren, von der der EU unterstützt, jegliche Flucht auch verhindern.
Bisher ist die Politik der Abschreckung nicht wirksam, d.h. es fliehen immer mehr Menschen nach Europa. Und so wird das rechtsextreme Denken und die werden die rechtsextremen Parteien in der EU immer stärker. Das gegenwärtige Grenzregime der EU ist vom humanen Gesichtspunkt der Menschenrechte vergiftet, und es hat auch die Mentalitäten vieler BürgerInnen in der EU vergiftet.
Das ist die Erkenntnis des wichtigen Buches „Hinter Mauern“. Werden es die Politiker lesen? Die Schülerinnen, die Teilnehmer an Volkshochschulen, die Basisgruppen der Parteien, die kirchlichen Gemeindekreise, wird es Eingang finden in die Predigten, werden sich Philosophen mit der „sozialen Theodizee“ (siehe Nr. 5) befassen? Man kann es nur hoffen. Wahrscheinlich ist das nicht.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Siehe auch den ausführlichen Hinweis von Christian Modehn auf das Buch (2022)  “Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende”  LINK:

Über das Buch „Hinter Mauern“ hat auch das Kulturmagazin TTT der ARD (Das Erste) am 2. Juli 2023 berichtet: LINK: