Religion ohne Gott. Hinweise zu dem neuen Buch von Ronald Dworkin

Religion ohne Gott. Ein Salongespräch am 25.7.2014

Hinweise von Christian Modehn

Das neue Buch von Ronald Dworkin „Religion ohne Gott“ ist in meiner Sicht ein kulturelles Ereignis. Man darf wohl einmal etwas vollmundig werden und sagen: Es gehört zusammen mit anderen philosophischen Veröffentlichungen der letzten Jahre zu den Büchern, die eine Korrektur, eine Wende, in den Debatten über Glauben und Nichtglauben, Theismus und Atheismus, signalisieren. Darin drückt sich etwas aus, was Hegel den „objektiven Geist“ (in Staat, Gesellschaft) nannte.

Ich nenne nur das viel zitierte Buch von Herbert Schnädelbach „Religion in der modernen Welt“. Schnädelbach drückt seine persönliche Trauer und den Schmerz aus, als Ungläubiger nicht glauben zu können.

Man denke an das äußerst inspirierende und sehr lebendig geschriebene Buch von Alain de Botton „Religion für Atheisten“, der in London die sehr bemerkenswerte School of life gegründet hat . Oder an Bruno Latour und sein Buch „Jubilieren. Über religiöse Rede“ wäre zu denken. Oder das für diese Thematik sicher bahnbrechende Buch von André Comte Sponville „Woran glaubt ein Atheist?“, französisch 2006.

Zu nennen wären auch die Studien von Thomas Nagel, der auf die geistigen Verbindungen hinweist, die zwischen der objektiven Natur und dem diese Natur erkennenden Menschen bestehen. (Vgl. das Buch Geist und Kosmos 2013) Es gibt also eine Verbindung geistiger Art zwischen Objekt und Subjektwelt. Das heißt, die rein materialistischen Erklärungen haben keine Gültigkeit mehr. Dabei versteht sich Nagel keineswegs als religiöser Metaphysiker. Aber er will das banale Denken des Materialismus und Naturalismus aufbrechen.

Die genannten Autoren bezeugen meines Erachtens eine bemerkenswerte „Synchronität“, es geht um ein tieferes Verstehen der Wirklichkeit in Richtung eines Erstaunlichen, Wunderbaren, vielleicht „Heiligen“.

Wenn man diese Titel und eben auch das Buch von Ronald Dworkin „Religion ohne Gott“ auf einen gemeinsamen Nenner bringen sollte: Da wird deutlich, dass es ausdrücklich Philosophen sind, die bekennen, nicht an eine göttliche Wirklichkeit, an Gott, glauben zu können! Diese Philosophen sind also, wenn man diese schlichte Etikette will, Atheisten; aber sie sind überzeugt: Es gibt eine Haltung im Denken und im Leben, die zwar ohne die Wirklichkeit Gottes auskommt, die aber doch tief spirituell ist, also geistvoll, menschlich im tiefen Sinne des vernünftigen Wesens. Diese Bücher sind sozusagen die andere Seite gegenüber dem polemischen, atheistisch – missionarischen Kampfbuch des Biologen Richard Dawkins, Der Gotteswahn, das 2006 erschien, und millionenfach verkauft wurde, weil die Werbung in den Medien entsprechend enthusiastisch war. Dieses Buch ist unter dem Schock des geistigen Erscheinungsbildes fundamentalistischer Kirchen und wahnhafter Lehren vor allem im amerikanischen Raum entstanden, so dass Dawkins ein aktuelles Interesse bediente. Aber sein Naturalismus ist einfach zu platt, zu grob, eben falsch.

Schnell wurden die Texte des Biologen Dawkins als vulgäratheistische Zeugnisse bewertet, wie der spirituelle Atheist Joachim Kahl sagt. Oder Dawkins wurde in die Gruppe der genannten Krawallatheisten eingereiht, wie der langjährige Leiter der Humanistischen Akademie Horst Groschopp sagte.

Vielleicht noch ein Hinweis zur Person des us – amerikanischen Philosophen ronald Dworkin: Geboren 1931, gestorben 2013. Er ist weltbekannt als Rechtsphilosoph und politischer Philosoph. Als solcher wehrte er sich gegen eine positivistische Rechtsphilosophie und trat ein für eine in der Menschenwürde und den Menschenrechten begründeten Rechtsordnung. Dworkin war ein Verteidiger der Gleichheit der Menschen, er kämpfte entschieden gegen alle Formen von Zensur, er verteidigte absolut die Meinungsfreiheit, trat für die religiöse Neutralität des demokratischen, liberalen Rechtsstaates ein.

Zum Buch „Religion ohne Gott“. Dabei muss man wohl von vornherein sehen: Dworkin hat den deutlichen Willen, praktisch zu wirken, er will als Philosoph sozusagen Mauern einreißen, ideologische Trennwände aufbrechen, ein unvermitteltes Gegeneinander von gläubig und atheistisch überwinden. Er will einen gemeinsamen philosophischen und spirituellen Boden bereiten, auf dem Gläubige und Atheisten gemeinsam friedlich und konstruktiv leben können. Das Buch will praktisch etwas bewegen.

Im Jahr 2011 hat Dworkin zu dem Thema an der Universität Bern Vorträge gehalten, sie sind in dem Buch Religion ohne Gott? Versammelt. Dworkin konnte die Vorträge nicht mehr bearbeiten, er ist am 14. Februar 2013 gestorben.

Für Dworkin ist“ Religion etwas Tieferes als Gott“ (S. 11). Gott ist sozusagen eine zweitrangige Vertiefung in der allen Menschen gemeinsamen religiösen Dimension.

Das Religiöse ist eine „grundlegende und umfassende Weltsicht, dass nämlich ein inhärenter, objektiver Wert alles durchdringt; dass das Universum und seine Geschöpfe Ehrfurcht gebieten; dass das menschliche Leben einen Sinn und das Universum eine Ordnung hat“ (S.11)

Es geht Dworkin um die absolute Hochachtung von Werten oder Idealen, die den Gläubigen wie den Atheisten gemeinsam sind. Sie sind verbunden in der Wertschätzung, ein (ethisch) gutes Leben zu gestalten, und zwar für sich selbst wie auch in Verantwortung für andere. Sie wollen fundamentale menschliche Entscheidungen für humane Werte in den Mittelpunkt stellen.

Dabei ist ausdrücklich die Frage nach Gott zurückgestellt. Nicht die Frage, ob ein Gott existiert, ist nach Dworkin zentral, sondern das Leben nach einem gemeinsamen humanen Ethos. Wer so lebt, kann „Religiöses“ erleben.

Dadurch, so Dworkin, könne die ideologische Zerrissenheit heutiger Gesellschaften ein Stückweit überwunden, wenn nicht geheilt werden. Man stelle sich ja tatsächlich einmal vor, die sich heute im Irak und anderswo totschlagenden Gott-Gläubigen würden auf den Begriff Gott/Allah verzichten, sie würden sich also Gottes und Allahs nicht mehr bedienen für die Begründung ihres Mordens: Sie würden vielmehr sich selbst „nur“ als spirituelle Menschen, also bloß als Menschen betrachten: Negative Power wäre damit sicher überwunden. „Wenn es gelingen sollte, Religion und Gott auseinanderzudividieren, könnten wir jenen Scharmützeln etwas von der Hitzigkeit nehmen, indem wir zwischen wissenschaftlichen Fragen und Wertfragen (an die alle Menschen gebunden sind CM) unterscheiden“ (S. 18).

Dworkin will zeigen: Es gilt, diese Einsicht unter allen Menschen zu pflegen, dass das Leben in der Welt nicht darauf verzichten kann, das grundlegende Geheimnis des Lebens wahrzunehmen.

Es gibt Lebenserfahrungen, die niemals angemessen mit der Begrifflichkeit der Naturwissenschaften erklärt und durchleuchtet werden können.

Das Buch von Dworkin „Religion ohne Gott“ wurde auch in Deutschland mit großem Interesse aufgenommen, d.h. es wurde in den Medien oft erwähnt. Dabei darf nicht verschwiegen werden, dass das Buch manchmal für Nichtphilosophen nicht gerade eine „leichte Lektüre“ ist. Explizit wird der Titel des Buches auch vor allem (nur) im ersten Kapitel des Buches behandelt. Das dritte Kapitel etwa behandelt Fragen rund um die Religionsfreiheit, dabei spürt man, dass Dworkin ursprünglich ein sehr starkes Interesse an Rechtsphilosophie hat und als solcher vor allem auch international geschätzt wird!

Es wird also die These zur Diskussion gestellt: „Religion ist etwas Tieferes als Gott“. Offenbar ist gemeint: Gott meint immer historisch gewordenen Gottesbilder, während Religion sich auf absolut geltende Werte bezieht.

Wichtiger noch ist die philosophische Kritik, dass Dworkin in seiner Konzeption die Werte in einer sehr objektivistischen Weise versteht. So, als würden die Werte aus dem Umfeld eines moralisch guten Lebens uns wie feste Bilder vor Augen stehen, also objektiv und immer „vor uns“ gegeben sein. Wir müssen diese objektiven Werte nur betrachten und ihnen dann bitte schön folgen.

Mit anderen Worten: Wir haben den Eindruck, dass Dworkin einer allzu objektivistischen (alten) Wertelehre folgt. Dabei hat er unseres Erachtens kein Gespür dafür, dass „die Werte“ spätestens seit Nietzsche auch ein Werk des schöpferischen Subjekts sind. Von Werten kann nur noch gesprochen werden, wenn man allen Nachdruck auf den Werte erlebenden Menschen, „das Subjekt“, setzt. Und auch auf die schöpferische Kraft der Menschen, Werte zu setzen. Diese können ja auch unbedingte Geltung haben, selbst wenn sie in einer bestimmten Kultur entstanden sind. Arnim Regenbogen schreibt in dem Lexikonbeitrag „Wert/Werte“ in dem dreibändigen Lexikon „Enzyklopädie Philosophie“ Band 3, Seite 2974: “Werthaftigkeit ist keine objektive Eigenschaft von Dingen, sondern muss als Beziehung bewertender Subjekte auf Gegenstände betrachtet werden. Durch eine Wertung wird ein Gegenstand menschlichen Handelns selbst zum Wert“.

Religionsphilosophisch gesehen ist es fraglich, ob ein religiöser Mensch beim Erleben des Erhabenen sozusagen aufhört, weiter zu fragen und sich etwa bloß an diese weltliche Erfahrung eines (angeblich) wunderbaren Kosmos hält und damit „begnügt“. Die Fragebewegung geht weiter, nicht in dem Sinne, dass klassisch metaphysisch nach der „ersten Ursache“ in Form eines alten Gottesbeweises gefragt wird. Aber in der Reflexion auf die Fähigkeit des menschlichen Geistes, Erhabenes und Wunderbares in dieser Welt zu erleben, wird die (vom Menschen unabwerfbare, „gegebene“) Kraft des menschlichen Geistes in neuem Licht erscheinen, als eine ständige, ruhelose Fragebewegung. Mit dieser Erfahrung und der ihr entsprechenden Aussage erlebt sich der Mensch neu, als hineingestellt in eine ständige geistige Bewegtheit ohne Ende (und unbekannter Herkunft). Dabei wird sozusagen dann „das Wesen des Menschen“ (um diesen klassischen begriff einmal zu verwenden) ganz neu gesehen. Nämlich: Der Mensch kann sich nie ganz umfassen und begrifflich durchsichtig machen. Er ist sich selbst der Unbekannte, das Geheimnis, das etwas Gegebenes ist, manche sagen eine „Gabe“. Von daher tasten sich dann einige Philosophen doch weiter zu Frage: Wie kann eine umfassende Anwesenheit eines unabwerfbar „Gebenden“ in der Gabe (also dem Menschen!) gedacht werden?

Mit anderen Worten: Die Thesen von Dworkin sind insofern inspirierend, als sie auf ein dringendes Thema aufmerksam machen und so im Denken über seinen Text hinausführen – in eine größere Weite. Es gibt dann ein Denken, in dem Gott in der Schwebe sozusagen bleibt, zwischen personal und a-personal gedacht. Eine Überzeugung, für die der protestantische Theologe Paul Tillich eingetreten ist, auf ihn weist Dworkin ausdrücklich hin (Seite 41). „Vielleicht sollte man davon ausgehen, dass Tillich beides war, ein religiöser Theist und ein religiöser Atheist, der glaubte, dass die ´numinose` Beschaffenheit der religiösen Erfahrung den Unterschied zwischen beiden (Theisten und Atheisten) zum Verschwinden bringt“: (ebd.). Diese Einschätzung wird von Dworkin leider nicht weiter vertieft. Daran aber sollte man weiter „arbeiten“.

Deutlich ist jedenfalls: Wir stehen in einem tief greifenden religiösen Wandel, der theologisch und religionsphilosophisch von aufmerksamen Denkern Ausdruck findet.

Zu diskutieren wäre etwa das häufige und immer wieder kehrende Eingeständnis von Literaten, Künstlern und Philosophen, sie könnten nicht glauben. Das wird oft mit dem Ton des Bedauerns gesagt. Etwa auch von Herbert Schnädelbach, er könne sich vorstellen, was Glauben wäre, aber er kann nicht glauben (In: Religion in der modernen Welt, S. 85). Auch von dem spirituell sehr sensiblen, christlich interessierten Dichter Antoine de Saint Exupéry (am 31. Juli 1944 als Pilot im 2. Weltkrieg abgestürzt) wird berichtet: Er habe in einem Brief ein Jahr vor seinem Tod geschrieben: „Hätte ich den Glauben, stünde es fest, dass ich, sobald dieser Job (des Fliegers) vorüber ist, nur noch das Kloster Solesmes (und die dortigen gregorianischen Gesänge) ertragen könnte. …Man kann nicht mehr leben ohne Poesie, ohne Farbe, ohne Liebe“ .

Die Frage ist also: Ist die Sehnsucht nach dem Glauben, die Suche nach ihm, das Auslangen nach ihm, das Verzweifeln an ihm, kurz: das Leiden darunter, nicht glauben zu können, nicht bereits die entscheidende Form des Glaubens? Ist denn der „eigentliche Glaube“ die totale Sicherheit, das Eingeschlossensein in eine fixe Glaubenswelt? Wer solcher Defionition folgt, entspricht der Lehre der Herren der Kirche, die bestimmen und verfügen wollen und eigenmächtig definieren, was glauben ist und was nicht. Die Definition wird hingegen von allen, auch den Suchenden, Fragenden, usw. festgelegt.

Also: Glauben ist immer nur als Sehnsucht (nach Erfüllung, Frieden, dem Göttlichen) möglich, selbst, dann wenn man meint zu glauben, “hat” man doch Gott oder den Glauben niemals. Sind dann also diese Suchenden und Fragen nicht bereits wesentlich Glaubende? Und wenn man es theologisch will: Sind diese Menschen, die nicht glauben können, nicht bereits schon Teilnehmer der Gemeinde, auch wenn sie das selbst nicht so sehen oder auch gar nicht wünschen. Aber aus dem theologischen „Innenblick“ sind sie Glaubende.

Wenn sich das jene eingestehen würden, die meinen, „sicher“ und „zweifelsfrei“ zu glauben, wäre die Teilname all der anderen, der Fragenden, Zweifelnden usw. eine große „Bereicherung“ für das Miteinander derer, die nach dem Sinn des Lebens suchen, also versuchen, Gemeinde zu sein. Wir brauchen also eine philosophische Debatte darüber, was Nicht-Glauben (Können) eigentlich bedeutet!

Ronald Dworkin, Religion ohne Gott. Suhrkamp, 2014, 146 Seiten, 19.95€.

 

 

 

 

Mit Kant heute philosophieren

In der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM erschien am 21. 9. 2012 ein Beitrag zur Aktualität Immanuel Kants, der Artikel ist ein Versuch, mit erzählerischen, fiktiven Formen das Interesse an seiner Philosophie zu beleben. Von der Form her ähnliche Beiträge habe ich zu Montaigne, Hegel, Schleiermacher und Heidegger verfasst.

Die Zitate der genannten Gäste im Haus Kants sind selbstverständlich authentisch. Christian Modehn

„Lass dich nicht bevormunden“

Tischgespräche im Hause Immanuel Kant

Von Christian Modehn

Fast ein Idyll, das Haus Immanuel Kants in Königsberg, am Prinzessinplatz, mitten in der Stadt, gelegen und doch von Gärten umgeben. Die Gäste erwarten den Hausherrn im „Besucherzimmer“. Immanuel Kant betritt den Raum, klein von Gestalt und wie immer fein gekleidet. Trotz seiner 70 Jahre ist er gesundheitlich auf der Höhe. Er begrüßt die Gäste seiner heutigen Tischrunde: die Philosophen Michael Bongardt, Jean Greisch und Herbert Schnädelbach. Mehrmals in der Woche nimmt sich Kant drei Stunden Zeit, mit einer kleinen Gesellschaft zu speisen und geistvoll zu plaudern. „Ist meine Philosophie aktuell?“, mit der Frage hatte Kant die Gäste eingeladen – zu einer Art Denk -Essen, „aber bitte, wie immer gemächlich, ich bin ein Anhänger der slow –food- Bewegung“.

„Es lohnt sich, ein Vergnügen zu kultivieren, das täglich genossen werden kann“. Mit diesen Worten bittet nun Kant seine Gäste in den Speiseraum im ersten Stock Es gibt sein Lieblingsgericht, Kabeljau in Senfsauce. Wie alle anderen Räume ist auch der Speisesaal von schlichter Einfachheit, ein großer Spiegel ist die einzige Zierde. Die Wände sind weiß gestrichen; nüchterne Klarheit schätzt Kant über alles. „Natürlich ist das Essen auch eine Pflicht. Aber auch unsere Lust der Sinne wird beim Essen angesprochen. Ich interessiere mich immer für neue Rezepte. Meinen geliebten Senf rühre ich ja bekanntlich selbst an. Mein Freund Theodor von Hippel hat kürzlich vorgeschlagen, ich sollte eine =Kritik der Koch -Kunst= schreiben, aber dazu fehlt mir die Zeit. Wichtiger ist: Philosophie kann niemals Rezepte verteilen. Sie bietet Orientierung, sie zeigt, wie mit der Anstrengung von Verstand und Vernunft ethisch wertvolles Leben möglich ist“.

Aber Philosophieren sollte nicht in Stress ausarten, entgegnet Jean Greisch, er ist eigens vom „Institut Catholique“ aus Paris angereist: „Für mich ist das Denken keine Arbeit. Es ist auch eine Lust zu denken, mehr noch: Philosophie kann Lebenslust sein“. Jean Greisch ist ein katholischer Philosoph, während ein anderer Gast, der Philosoph Herbert Schnädelbach, dem Atheismus zuneigt. Er führt den Gedanken gleich weiter: „Ich verstehe die Philosophie immer als eine Kultur der Nachdenklichkeit. Das bedeutet: Seinen Gedanken noch einmal nachzudenken, zu reflektieren. Und das können alle Menschen bei Kant wirklich lernen“.

Der Gastgeber hebt sein Glas, eine Aufforderung, den Sylvaner zu probieren. Der alt bewährte Diener Lampe, stets im Hintergrund, reicht das Gemüse. Seit vielen Jahren kümmert sich der ehemalige Soldat Martin Lampe um das Wohlbefinden des berühmten Königsberger Professors. Er weckt ihn morgens um 5 immer energisch, denn die Vorlesungen beginnen immer schon um 7 Uhr früh. Bei bester Laune kommt jetzt Kant ins Plaudern. Auf eine oft gestellte Frage will er lieber gleich selbst eingehen: „Warum bin ich Junggeselle geblieben? Als ich eine Frau habe brauchen können, habe ich als junger Mann keine Frau ernähren können. Und als ich sie später ernähren konnte, da habe ich keine Frau mehr gebraucht“. Mit leichtem Witz kann Kant über seine eigenen Begrenztheiten sprechen. Ihn habe halt die Liebe zur Philosophie völlig in Anspruch genommen, denken die Gäste und schmunzeln. Und gleich ist Kant wieder bei seiner Sache: „Ein Mensch ist erst dann erwachsen, wenn er einer Maxime, einer Art Regel fürs Leben, folgt“, sagt er, während die Gäste den Kabeljau probieren. „Diese Maxime heißt: Bemühe dich, jederzeit selbständig zu denken. Das ist der Sinn philosophischer Aufklärung. Luther und die Reformatoren haben das Selber – Lesen der Bibel propagiert. Ich sehe im Selber – Denken die Voraussetzung für menschliches Leben. Das Kriterium für gut und böse liegt in unserer Vernunft selbst. Was wahr und falsch ist, darf uns niemand einreden“.

Die Gäste haben es schon geahnt: Das gemeinsame Essen wird tatsächlich zu einer Art Arbeitssitzung. Oft verbietet sich ja Kant allerdings das Philosophieren bei Tisch, dann hört er sich lieber von Weltenbummlern die Berichte aus fernen Ländern an, will wissen, wie Menschen etwa in London oder Rom leben. Schließlich hat er ja seine Heimatstadt nie verlassen. Durch ausführliche Korrespondenz ist er bestens auf dem Laufenden, leidenschaftlich verteidigt er die Französische Revolution, Willkürherrschaft in Staat und Kirche ist ihm ein Graus. Er denkt demokratisch.

Aus einem Regal holt sich Kant sein Buch „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“. „Nur eine Zeile möchte ich vorlesen: Es soll nicht sein, dass Menschen ihre Ziele nach eigener Laune auf Kosten anderer durchsetzen. Ethische Imperative sollen unbedingt für alle Menschen gelten“.

Michael Bongardt, Professor für Ethik an der Freien Universität Berlin, findet dieses Thema gerade in der multikulturellen Gesellschaft sehr wichtig: „Im Sinne Kants kann man nicht behaupten: Diese moralische Regel hat Gott gesetzt. Denn ein göttliches Gebot können wir Menschen ohnehin nicht „als göttlich“ erkennen. Wer kann uns mit Sicherheit sagen, dass ein Gebot von Gott kommt und nicht von Menschen erfunden wurde, die dann nur behaupten: Es stamme von Gott. Aber Kant lehrt sehr selbstbewusst: Auch wenn es ein göttliches Gebot wäre, so wären wir doch immer verpflichtet, nur das zu tun, was wir selber kraft eigener Vernunft für gut halten“. Kant blickt in die Runde, seine Augen strahlen: „Treffender hätte ich es auch nicht sagen können. Jeder einzelne kann in sich selbst entdecken, was gut ist und was es bedeutet, frei zu handeln. Dabei bleibt es“.

Die Gäste gönnen sich ein Schluck Weißwein. Aus dem fernen Frankreich lässt sich Kant den Wein liefern, Königsberg liegt zwar am Rande, ist aber doch eine kleine Metropole.

Nach einer Pause sagt Herbert Schnädelbach: „Aber wie gehen Menschen mit ihrer Freiheit um? Haben sie in ihrer Vernunft selbst ein Kriterium für das, was gut oder böse ist? Ich will an die wohl berühmteste Formulierung Kants erinnern, den „Kategorischen Imperativ“, der ja in mehreren Formulierungen vorliegt. „Handle so, dass die Maxime deines Willens, also dein persönlicher Lebensentwurf, jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Das bedeutet auch: Niemals darf ein anderer Mensch für mich bloß ein Mittel, bloß ein Gegenstand meiner Interessen sein. Jeder Mensch ist absolut wertvoll. Er ist „Selbstzweck“. Kant fällt ihm ins Wort: „Jeder Mensch hat also immer ein Kriterium zur Verfügung, um die ethische Qualität seiner Handlungen beurteilen zu können. Kein Mensch darf wie eine Sache behandelt werden, Menschen als eine Ware zu betrachten, hat keinerlei ethische Rechtfertigung. Welche Wirtschaftsordnung ist dann noch gerechtfertigt? In meiner Philosophie steckt kritisches Potential“, betont Kant.

Dann wird der Gastgeber beinahe wütend: Die ethische Ausbildung in den Schulen sollte an erster Stelle stehen, erst dann kommt alles andere, auch die Religion. Aber wer der Vernunft in seinem Denken und Handeln folgt, muss sich auch auf rigoros erscheinende Einsichten einlassen. Er muss z.B. anerkennen: Niemals darf ein Mensch getötet werden. “Denn vernünftige Wesen wünschen sich immer, dass ihre Vernunft lebendig und aktiv ist. Wer sich und andere tötet, tötet die Vernunft. Zudem darf ich nicht über andere verfügen und sie töten. Jedes Vernunftwesen hat ein Recht darauf, zu leben“. Schwieriger ist eine andere Frage: Kann es ethisch erlaubt sein, gelegentlich zu lügen? „Ich denke: Wenn das so wäre, dann zerstört man letztlich die menschliche Gesellschaft“, sagt Kant sehr bestimmt, „niemand weiß dann noch, was grundsätzlich für alle gilt. Die Lüge vergiftet das Miteinander. Darum bin ich für das absolute Verbot zu lügen“.

„Aber kann dieses Verbot immer und überall gelten?“, wirft Herbert Schnädelbach in die Runde. „Man stelle sich die Situation vor: Ich verstecke jemanden in einer Diktatur vor der Geheimpolizei und ich werde gefragt: Ist der bei dir? Dann darf ich nach Kant nicht lügen. Sage ich die Wahrheit, gefährde ich das Leben des Oppositionellen und mein eigenes. Also es bleibt gar nichts übrig, dass ich in diesem Dilemma die Urteilskraft brauche. Ich muss dann fragen: Was ist der höhere Wert, was ist die größere Schuld. Das muss man abwägen. Und dafür gibt es keine Regeln“. Gelegentlich sollte man sich doch zugunsten des kleineren Übels entscheiden, Kant muss stillschweigend hier eine Grenze seines Denkens anerkennen.

Der Diener Lampe unterbricht die Debatte, die Gäste sollten doch bitte den nächsten Wein, einen Riesling, nicht vergessen. Aber die kleine Pause dauert nicht lange: „Liebe Gäste“, sagt nun Kant, „vergessen sie nicht: Der kategorische Imperativ hat auch eine politische Bedeutung: Meine Freiheit darf die Freiheit des anderen also nicht beschädigen, ich muss denjenigen Menschen in seiner Freiheit behindern, wenn er seine eigene Freiheit nur dazu benutzt, die Freiheit anderer einzuschränken“.

Kant hat sich erhoben. Er greift zu einem Buch, auf das er besonders stolz ist, es heißt: „Zum ewigen Frieden“. „Darin schreibe ich: In unserer politischen Arbeit sollen wir den universalen Frieden, den Weltfrieden, als Projekt anstreben. Denn was nützt es, wenn nur ein friedlicher Staat von lauter Kriegstreibern umgeben ist. Es ist ein langer Weg zum Weltfrieden, aber er ist ethisch geboten. Ich kritisiere die räuberische Außenpolitik, früher sprach man von Kolonialpolitik. Es gibt Staaten, die herrschsüchtig und für den Frieden verderblich sind. Es darf kein stehendes Heer mehr geben, denn das führt nur zum Wettrüsten“. Ob man Kant einen Friedensaktivisten nennen könne, fragen die Gäste. Kant antwortet lapidar: „Na klar“! „ Diese Vorstellung, Frieden für alle zu schaffen, wird übrigens auch von der Bibel unterstützt“, meint Michael Bongardt.

Die Gäste lassen sich gleich von dem Stichwort inspirieren und wollen ausführlicher über die Bedeutung der Religionen sprechen. Kant ist als Philosoph ein entschiedener Kirchenkritiker. Wie viele Feindseligkeiten der Rechtgläubigen musste er schon deswegen ertragen. „Aber es ist einfach falsch, wenn so viele Dummköpfe behaupten, ich sei ein „Zerstörer des Glaubens“, meint er. „Ich finde es von meiner Moralphilosophie her sogar notwendig, im Denken das Dasein Gottes anzunehmen. Gottes Existenz können wir aber nicht wissenschaftlich demonstrieren, weil ja Gott nicht als ein greifbarer Gegenstand erfahren werden kann“.

Jean Greisch will diese Aussage noch vertiefen: „Gott ist für Kant kein Erfahrungsgegenstand. Aber das bedeutet keinesfalls, dass der Gottesbegriff selbst sinnlos wäre. Man kann sagen: Das Unbedingte ist unbegreiflich. Wenn du Gott begreifen könntest, dann kannst du sicher sein, das kann nicht Gott sein, das sagt doch auch der heilige Augustinus“.

Die Runde ist von einer Stimmung erfasst, die man im Hause Kants manchmal „philosophische Begeisterung“ genannt hat. Der Gastgeber ruft dazwischen: „Wer sagt, dass Gott sicher existiere, der sagt mehr, als er wirklich weiß. Und wer das Gegenteil sagt, Gott existiere sicher nicht, der sagt ebenso mehr als er weiß. Niemand weiß genau und exakt, ob Gott existiert. Wir erreichen nur das göttliche Geheimnis“.

Herbert Schnädelbach greift diese Erkenntnis noch einmal auf: „Was die gelebte Religion betrifft, da hat Kant ja in seiner Religionsschrift gezeigt: Alles, was wir tun können, um gottgefällig zu sein, ist nur eines: Moralisch zu leben. Alles andere ist Abgötterei und Aberglaube“.

„Ist meine Überzeugung nicht modern, hilfreich im Kampf gegen den Fundamentalismus?“, fragt Kant durchaus rhetorisch. „Religiöse Praxis bedeutet für den einzelnen nichts anderes als die Anerkennung vernünftiger moralischer Pflichten. Nur dies will Gott von uns. So werden dogmatische Ansprüche begrenzt. Darum habe ich kein Verständnis für Konfessionen und Kirchen, wenn sie die Menschenrechte nicht respektieren und nur halbherzig die Demokratie unterstützen…“

Jean Greisch findet Kants Verständnis von Religion doch zu eng: „Religion ist nicht nur ethisch gutes Handeln, sie hat auch noch andere Komponenten, wie das Fest, die Feier, den Kult. Ich meine: Religion ist eine eigenständige Provinz im menschlichen Gemüt“. Dennoch bleibe Kants Religionskritik auch für Katholiken wertvoll, meint der Professor aus Paris. „Aberglaube, Fanatismus, Wundergläubigkeit: Die muss man tatsächlich unter Kontrolle halten. Ich glaube, da hat er recht. Und ich glaube, in dieser Beziehung müssen wir auch als Philosophen einen kritischen Blick für die institutionellen Organisationsformen der einzelnen Religionsgemeinschaften haben“.

Kant freut sich, dass die Grundidee seiner Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie immer noch respektiert wird. Und mit einem Seufzer fügt er hinzu: Genauso wichtig sei noch etwas ganz anderes: „Das Reich Gottes auf Erden ist die letzte Bestimmung des Menschen. Christus hat das Reich Gottes verkündet. Aber man hat ihn nicht verstanden und statt dessen das Reich der Priester und der Kirche errichtet und nicht das Reich Gottes, das in uns selbst, in Seele und Vernunft, zu finden ist“.

Von Ferne sind Stimmen zu hören, Studenten eilen zur Universität. Hier hat Kant viele Jahre bis zu 20 Vorlesungen wöchentlich gehalten, meist am Vormittag. Auch noch mit 70 Jahren, gönnt er sich täglich pünktlich um 4 Uhr seinen Spaziergang. Die Leute in Königsberg warten förmlich darauf, dass er seine „Runden zieht“.

Die Gäste müssen also aufbrechen. Herbert Schnädelbach wendet sich an Kant: „Ihre Philosophie ist ein inständiges Nachforschen mit dem Versuch, alle möglichen Argumente, die da mit im Spiel sind, zu berücksichtigen. Das ist irgendwie doch faszinierend, muss ich sagen“.

Der Gastgeber will noch ein gutes Wort mit auf den Weg geben: „Was mir am wichtigsten ist: Pflegen wir einen gesunden Verstand, bewahren wir uns ein fröhliches Herz und einen freien, selbst bestimmten Willen“. Und mit einem leichten Seufzer fügt er hinzu: „Nur mit kleinen Schritten folgt die Menschheit den Weisungen der Vernunft. Schließlich leben wir noch nicht in einer vernünftigen Welt, es gibt noch viel zu kritisieren und vernünftiger zu machen…“

…..Ganz kurz zur Person:

Immanuel Kant wurde 1724 in Königsberg geboren. Seine Hauptschriften sind „Kritik der reinen Vernunft“, Kritik der praktischen Vernunft“ und „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen vernunft“. In seinem Haus trafen sich regelmäßig Menschen aus ganz Europa. Der Meisterdenker hat seine Heimatstadt bis zu seinem Tod 1804 nur einmal – für einen kleinen Ausflug – verlassen. Darüber gibt es keine Zweifel: Kant lebt (mit seinem Denken) weiter. Die Geschichte der Philosophie lässt sich in „vor Kant“ und „nach Kant einteilen.

copyright: Christian Modehn