Den heutigen Liberalismus kritisieren und überwinden.

Zu einem neuen Buch des us-amerikanischen Philosophen Raymond Geuss

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Die Kritik am politischen und ökonomischen Liberalismus der sich heute liberal nennenden oder liberal gebenden „bürgerlich – konservativen“ Parteien in Europa wird immer deutlicher und heftiger. Diese Kritik hat aber bis jetzt keine spürbaren politischen Verbesserungen bewirkt. Die einflußreichen Unterstützer – Kreise und Wähler und Lobbyisten verteidigen mit diesen Parteien ihre Privilegien.
2.
Einige Beispiele der aktuellen Liberalismus – bzw. Neoliberalismus – Kritik der letzten Monate:
Der Publizist Heribert Prantl schreibt in der „Süddeutschen Zeitung“ am 8/9. Juli 2023: „Die Lohnsteuerzahler finanzieren den Sozialstaat, die Milliardäre betreiben Reichtumspflege… Die Schuldenbremse (eine Ideologie des FDP Finanzministers, CM) ist keine Bremse, sie ist ein Verbrechen… Eine wirksame Umverteilungspolitik, eine steuerliche Entreicherung der Superreichen ist daher ein Beitrag zur demokratischen Renaissance in Krisenzeiten. Das ist nicht Klassenkampf, das ist Kampf um die Demokratie.“
Und so sieht ein Aspekt der Sozialpolitik der Bundesrepublik im Jahr 2023-2024 aus: Der Mindestlohn soll im kommenden Jahr 2024 um 41 Cent steigen. 20 Prozent aller Jobs in Deutschland sind Mindestlohnjobs…
3.
Beispiele aus der europäischen Nachbarschaft: Die Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics, Lea Opi, schreibt in ihrem Buch „Frei“ (2022): „Ich setze Liberalismus mit gebrochenem Versprechen gleich, mit der Zerstörung von Solidarität, mit dem Anspruch auf vererbte Privilegien und dem bewussten Ausblenden von Ungerechtigkeit“ (S. 329).
4.
In den Niederlanden, einst das hoch gepriesene, so tolerante und so liberale Land hat jetzt mit dem massiven Auftreten sehr rechter, durchaus extrem rechter Parteien zu tun: Wichtig ist die 2019 gegründete Partei „BBB“, auf Niederländisch „BoerBurgerBeweging“, inszeniert von der Ex-Christdemokratin (CDA) Caroline van der Plas. Der „Tagesspiegel“ schreibt am 7.8.2023 LINK TSP: https://www.tagesspiegel.de/internationales/rechtsruck-in-den-niederlanden-gewinnen-die-rechtspopulisten-die-wahl-10249210.html
„Einen wichtigen Grund für den erfolg dieser Partei BBB sieht Geert Mak, Schriftsteller, Publizist und Chronist der niederländischen Gesellschaft, in den Folgen von 13 Jahren neoliberaler Politik unter Mark Rutte, Mak betont:. „Der öffentliche Sektor litt unter dem langjährigen rechts-liberalen (VVD)Ministerpräsident Rutte. 25 Prozent der Schüler haben Leseprobleme, es ist keine Polizei mehr auf der Straße zu sehen, ein Gefühl von Unsicherheit machte sich breit.“ Das sieht der Soziologe Oudenampsen ähnlich und ergänzt: „Der Staat hat seine Aufgaben sträflich vernachlässigt, im Wohnungsbau, in der Raumordnung (das Ministerium wurde aufgelöst), in der Pflege und Jugendfürsorge. Jetzt fühlen sich die Menschen alleingelassen und ahnen so langsam, dass es einen planenden Staat geben muss.“  Bei den Provinzwahlen im Frühjahr 2023 erzielte die Partei BBB tatsächlich gleich 20 Prozent der Stimmen.
5.
Man muss sich an diese aktuellen Tatsachen erinnern, wenn man das neue Buch des in England lebenden, us-amerikanischen Philosophen Raymond Geuss zur Hand nimmt.Das Buch hat den durchaus provozierendenTitel „Nicht wie ein Liberaler denken“ (Suhrkamp Verlag 2023). Raymond Geuss wurde 1946 als Sohn eines Stahlarbeiters in Indiana geboren. Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Philosophie an der University of Cambridge. Geuss hat auch in Deutschland studiert, aber seine Publikationen sind hierzulande eher unbekannt.
Dabei ist sich Geuss durchaus der Problematik des Titels seines neuen Buches bewusst: Denn „liberal“ ist zumal in den USA eine Art Inbegriff für Verteidiger der Demokratie, nicht nur unter den „Demokraten“. Dort muss man wohl gerade im Kampf gegen den Demokratiezerstörer Trump, sehr wohl liberal denken und handeln. Und wenn man – historisch denkend – die universalen, durchaus „liberalen“ Freiheitsrechte eines jeden Menschen mit den Menschenrechten in Verbindung bringt, dann muss man in Polen oder Ungarn sehr wohl für das Liberale kämpfen. Liberalismus und Rechtsstaat gehören historisch gesehen und philosophisch betrachtet eigentlich zusammen. „Eigentlich“…, aber heute gilt das nicht mehr unbedingt, wenn man die politische Ideologie der sich liberal nennenden Parteien in Europa betrachtet.
6.
Darauf weist Raimond Geuss zurecht hin: „Liberal“ ist heute (in Europa vor allem) zu einem äußerst schillernden, vieldeutigen, sehr dehnbaren Begriff geworden, der sich bestens eignet für die Verteidigung der Privilegien der ökonomisch Mächtigen, wenn nicht oft Allmächtigen. „Der Liberalismus ist ohne Frage eine amorphe und wechselnde Sammlung von Dingen mit einer ausgeprägten Fähigkeit, sich zu erneuern, einen Gestaltwandel zu vollziehen und die Formulierung seiner Grundüberzeugungen zu revidieren“ (S. 27)… „Die Anziehungskraft des Liberalismus wurzelt in der Tatsache, dass er auf besonders zufrieden- stellende Weise auf tiefe menschliche Bedürfnisse antwortet und den Eigeninteressen der mächtigen wirtschaftlichen und sozialen Gruppen entgegenkommt“ (S. 28).
7.
Geuss urteilt, dass die Politik der sich liberal nennenden Parteien, ja die heutige Ideologie des Liberalismus bzw. Neoliberalismus „falsch“, „irrelevant und schlimmstenfalls aktiv schädlich ist“, so wörtlich auf Seite 236… „Die Finanzkrise von 2008 war eine direkte Folge liberaler Grundsätze auf das Bankensystem“, so auf S. 237. Eine Erkenntnis, die weithin von kritischen Wissenschaftlern geteilt wird. Ebenso sieht Geuss die Verantwortung für das Desaster der Klima – und Ökopolitik in der liberalen Wirtschaftspolitik. Denn diese Liberalität schätzt und pflegt den individuellen Geschmack und die Interessen des einzelnen (der Reichen) so stark, dass man sagen kann: Der Liberalismus ist dem „Unternehmertum verpflichtet“ (S. 238).
Geuss nennt dann noch einmal seine eigene Überzeugung: „Man kann sich nicht vorstellen, wie die (Öko)-Katastrophe abgewendet werden könnte, ohne dass erhebliche Zwangsmaßnahmen gegen die Akteure und tonangebenden Institutionen unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems ergreifen werden“(S. 238). Über neue, schärfere Gesetze zur Verhinderung weiterer Öko – und Klima – und Armuts – Katastrophen wird allenthalben wissenschaftlich diskutiert… Aber seine offenbar sozialistische Position vertieft Geuss nicht weiter, denn er will in seinem Buch eher „eine Erzählung“ bieten, aber keine argumentative Studie (S. 238). Das Buch ist tatsächlich vor allem eine Erinnerung an seine Schulzeit in einem katholischen Gymnasium mit Internat in der Nähe von Philadelphia, USA. Geleitet wurde es von den Patres des „Schulpriester-Ordens“, sie werden auch Piaristen, zumal in Europa, genannt (S. 40f.). Raymond Geuss hatte dort das Glück, intellektuell sehr gut ausgebildete Lehrer zu haben, vor allem findet höchstes Lob der aus dem kommunistischen Ungarn geflohene Pater Béla Krigler, er war der Religionslehrer von Geuss. Ihm gelang es, gerade im Religionsunterricht den kritischen Geist der Schüler zu wecken und zu fördern. Krigler war auch philosophisch gebildet, in den USA wird seiner noch heute vielfach öffentlich gedacht.
8.
Im umfassenden Sinne ist das Buch also eine Art Autobiographie eines Philosophen, der dabei allerdings Persönliches, Familiäres oder gar Intimes gar nicht oder eher nur sehr am Rande erwähnt. Die autobiographischen Ausführungen sind also eher auch intellektuell inspirierende Erinnerungen an theologische oder philosophische Probleme, die im Laufe der Ausbildung an der katholischen Schule diskutiert wurden.
9.
Dennoch wird natürlich der Titel des Buches „Nicht wie ein Liberaler denken“ oft, allerdings eher kurz, entfaltet.
Der Philosoph Raymond Geuss erwähnt seine Kritik an den großen liberalen Denkern damals, wie Locke und John Stuart Mill. Und der heutigen, vor allem seine Kritik an John Rawl fällt heftig aus. Darin folgt er einem seiner Universitäts – Lehrer, dem Philosophen Robert Paul Wolff, er meinte: „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Rechtfertigung realer Ungleichheit das eigentliche Ergebnis, wenn nicht gar die Intention von Rawls Position sei“ (S. 175). Rawls liberale Philosophie sei bezogen auf eine Bevölkerung, die die reale (ökonomische) Ungleichheit absolut hochschätzt (S. 176).
Die Darstellung seiner philosophischen Lehrer ist also der zweite Hauptteil im Buch vom Geuss, er erwähnt neben Wolff noch Robert Denen Cumming und Sidney Morgenbesser, „mein wichtigster Philosophielehrer an der Universität“ (S. 31) .
Nebenbei: Auch einzelne kritische Anmerkungen bietet Geuss zu Martin Heidegger, sie sind inspirierend, etwa: Heidegger „versuchte, es anderen unmöglich zu machen, seine Vorstellungen von außen zu erfassen oder sich irgendeiner üblichen Form des kritischen Kommentars zu widmen, so dass alles, was man tun konnte, entweder in der Wiederholung dessen bestand, was Heidegger sagte, oder darin, sich rigoros von seinem Werk abzuwenden“ (S. 214). Und weiter schreibt Geuss über die Schwierigkeit der Heidegger – Interpretation: „ Das Dilemma bestand in einem papageienhaften Wiederholen oder in einer Paraphrasierung…“ (ebd).
10.
Es ist nicht gerade üblich, dass Philosophen autobiografisch orientierte Bücher schreiben, also nicht vom „dem“ Ich im allgemeinen sprechen, sondern von dem eigenen, sehr persönlichen Ich einiges mitteilen. Dies zu erleben, verbunden mit philosophischen Einsichten und Provokationen, macht den Wert des neuen Buches von Raymond Geuss aus.
Gründliche Auseinandersetzungen mit dem heutigen politischen Liberalismus bleiben natürlich ein dringendes Projekt, zumal in der Bundesrepublik heute, dort sind sehr viele BürgerInnen hinsichtlich der Sozial- und Verkehrspolitik unter der Dominanz von FDP – Politikern äußerst unzufrieden.

Raymond Geuss, Nicht wie ein Liberaler denken. Aus dem Englischen von Katrin Wördemann. Suhrkamp Verlag 2023, 267 Seiten, 28€.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wenn ein Heiliger einen pädophilen Priester schützt. Ein Hinweis zu einer Studie über den „Piaristenorden“ im 16. Jahrhundert

Wenn ein Heiliger einen pädophilen Priester schützt.

Ein Hinweis zu einer Studie über den „Piaristenorden“ im 17. Jahrhundert.

Siehe auch einen umfassenderen historischen Beitrag zum sexuellen Missbrauch im Klerus, veröffentlicht am 22.7.2023: LINK.

Am Ende dieses Beitrags lesen Sie eine Stellungnahme von Matthias Katsch, Sprecher der Initiative “Eckiger Tisch”.

Der Beitrag von Christian Modehn, veröffentlicht 2013.

1.

Über Pädophilie im Klerus kann es, von der Sache her, eigentlich keine genauen historischen Studien geben. Wenn dieses offiziell „schwerste aller Vergehen“ (so die katholoische Moral) überhaupt dokumentiert wurde: Entweder wurden die Akten später vernichtet oder sie sind unter Verschluss, so dass kein Historiker Zugang hat. Gelegentlich kann doch etwas mehr Licht in die „verdunkelte“ und offiziell verwischte bzw. „geglättete“ Kirchengeschichte gebracht werden. Die Historikerin Karin Liebreich (Cambridge) hat eine Fallstudie aus dem 17. Jahrhundert publiziert. Sie wurde im deutschsprachigen Raum bisher nicht beachtet. Wir bieten einige zentrale Forschungsergebnisse von Karin Liebreich.

2.

Die englische Historikerin hat 2004 ihre Studie über einen prominenten und äußerst einflussreichen pädophilen Priester innerhalb des katholischen Ordens der Schulpriester, auch Piaristen genannt (hergeleitet von schola pia, fromme Schule) veröffentlicht: Das Buch „Fallen Order“ hat den Untertitel „Intrigue, Heresy and Scandal in the Rome of Galielo and Caravaggio“. Das Buch hat 336 Seiten; es ist im Verlag Grove Presse in New York erschienen. Immerhin hatte Karin Liebreich Zugang zu einigen Dokumenten. Die berühmte Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong  lobt das Buch als „ a piece of investigative writing“.

3.

Der Orden der Piaristen zählt heute  ca. 1.500 Mitglieder weltweit, sie arbeiten in Schulen und Pfarrgemeinden. Erst seit einigen Jahren publiziert der Orden selbst über dieses dunkle Kapitel seiner Geschichte, freilich eher in entlegenen Fachpublikationen. Über die Anwesenheit  pädophiler Priester gleich nach der Ordensgründung im 17. Jahrhundert wird in den offiziellen websites der Piaristen geschwiegen.

Es kommt einem auch im 21. Jahrhundert sehr vertraut vor, wenn Karen Liebreich mehrfach betont: Der Ordensgründer José Calasanz wollte mit seinem Schweigen über die Untaten seines öffentlich hoch angesehenen Paters „nur dem öffentlichen Ansehen der Kirche dienen“. Immerhin müssen die pädophilen Verbrechen im Orden so erheblich gewesen sein, dass die Päpste die Piaristen im Jahr 1646 für einige Jahre auflösten, eine äußerst seltene Entscheidung in Rom. Erst 1669 wurde er als Orden wieder zugelassen.

Erstaunlich bleibt, dass der gegenüber Pädophilen Priestern durchaus duldsam – schweigsame Ordensgründer, José Calasanz (1557 – 1648) im Jahre 1767 heilig gesprochen wurde, er kann also als heiliges Vorbild verehrt werden. Etwas irritierend scheint, dass Papst Pius XII., der ja angeblich so hoch gebildet war, nicht sehr viel von diesem eher belasteten Ordensgründer wusste und ihn sogar zum weltweiten Patron aller christlichen Volksschulen ernannte. In der Piaristenkirche in Krems an der Donau wird der Heilige auf einem Gemälde zur Verehrung empfohlen. Dabei hält er ein nacktes Baby in den Händen und schaut zur Jungfrau Maria im Himmel auf. Martin Johann Schmidt hat 1784 das Gemälde geschaffen.

4.

Aus der umfangreichen Studie können wir nur einige zentralen Aussagen erwähnen: Der Piaristenorden hatte im 17. Jahrhundert durchaus den Ruf, moderne Wissenschaftler in seinen Reihen nicht nur zu dulden, sondern zu fördern, etwa Freunde und Mitarbeiter Galileo Galileis.

Aus einer gewissen Angst heraus hatte der Ordensgründer in seinen Ordensregeln verfügt, dass ein einzelner Schul-Priester nicht allein mit Schülern, Knaben, sich aufhalten dürfe. Übergriffe waren, so kann man schließen, offenbar keine Seltenheit…

Aber es ist typisch für die damalige Mentalität, die sich bis heute bekanntermaßen durchgehalten hat: Es muss unter allen Umständen verhindert werden, dass die Kirche oder der Orden als heilige, besonders würdige Institutionen in einen schlechten Ruf kommen. Die öffentliche Geltung ist alles, die Fragen der interessieren nicht direkt! Nur aus diesem Grund, so die Studien der Historikerin Karen Liebreich, hat der Ordensgründer Jose Calasanz die pädophilen Vergehen seines Mitbruders Pater Stefano Cherubini ( 1600 – 1648) nicht gerichtlich verfolgt, sondern stillschweigend geduldet. Er bediente sich dabei der bis heute beliebten Methode: Der betroffene pädophilen Priester wurde einfach an einen anderen Ort versetzt. So war ihm der gute Ruf des Ordens als der Schutz der Kinder. Roland Machatschke (Wien), Journalist und Mitarbeiter der Wiener Piaristen, meint in einem Vortrag: “Ein Teil der Akten, der den so genannten Cherubini-Skandal betrifft, wurde vernichtet. Ebenso weitere Unterlagen, als der damals aufgelöste Orden 1659 seine Archive bereinigte“.

Der betreffende Pater Stefano stammte aus einer berühmten, angesehenen römischen Familie. Zur Zeit seiner Leitung der Piaristenschule in Neapel wurden pädophile Vergehen von ihm in der kirchlichen Öffentlichkeit bekannt. Der Ordensgründer griff ein … und entfernte ihn aus dem direkten Schuldienst: Er ernannte ihn zum Aufseher aller Piaristenschulen in Italien! So konnte Pater Stefano weiter reisen, sich in Schulen aufhalten und seinen „Interessen“ nachgehen. Von einer Entschuldigung wenigstens bei den Opfern keine Spur! Als belastende Informationen über Pater Stefano verbreitet wurden, betonte Pater Calasanz: „Um noch größeren Schaden in der Öffentlichkeit zu verhindern, sagte ich: Pater Stefano sollte nicht belästigt (und verdächtigt) werden“.

Schließlich baute dieser Pater Stefano sein Netzwerk so weit aus, dass er sogar zum Generaloberen des Ordens ernannt wurde; auch dagegen konnte der (heilige) Ordensgründer offenbar nichts unternehmen, so sehr war sein Einfluss gesunken angesichts der Machenschaften im Orden. Aber unter dem neuen Generaloberen Pater Stefano geriet der Orden in eine tiefe Krise; es gab sogar viele Proteste gegen Pater Stefano vonseiten anderer Piaristen, sie waren auch empört darüber, dass „allen Ordensregeln zuwider, Pater Stefano Cherubini und seine Unterstützer im Orden im Luxus lebten“. ( S. 229).

Aber die Kritik zeigte letztlich doch gewisse Wirkungen beim Papst: Es durften schließlich keine Novizen mehr aufgenommen werden, den Piaristen – Patres wurde es freigestellt, den Orden zu verlassen (S. 232). Die Schulpriester hatten keine zentrale Leitung mehr, der Orden zerfiel. Auch die berühmte Familie di Stefani konnte ihr Familienmitglied nicht länger verteidigen, als der Skandal sich immer mehr herumsprach. „Aber seine Connections schützten Pater Stefano vor Gerichtsverfahren und Gefängnisstrafen“ (S. 248).

5.

Von 1646 an existierte der durch die pädophilen Vergehen  belastete Orden der Piaristen nicht mehr, er war de facto päpstlich „verboten“. Erst 1669 wurde er wieder errichtet. Karen Liebreich fasst ihre Studien zusammen: „In jeder Hinsicht war es die oberste Priorität von dem Ordensgründer Calasanz,  für den guten Ruf des Ordens nach außen zu sorgen … und den des betroffenen Paters (Stefano)“.

Später erlebte der Orden wieder eine gewisse Blüte, die „Belastungen“ von einst schienen vergessen: „Berühmte Männer“ zählten zu den Piaristenschülern: Goya, Haydn, Mozart, Anton Bruckner, Franz Schubert , später Antonio Gaudí und sogar der Gründer des Opus Dei, José Maria Escriva. Auch er stellte den guten Ruf der Kirche nach außen hin in der Gesellschaft über alles!

copyright: Religionsphilosophischer Salon.

Matthias Katsch schreibt zu diesem Text: (Matthias Katsch ist Sprecher der Initiative „Eckiger Tisch“, in der sich Opfer des sexuellen Missbrauchs vor allem an Jesuiten – Einrichtungen zu Wort melden)

„Vielen Dank für den interessanten Hinweis. Tatsächlich wundert uns dieser Beleg für eine historische Tradition keineswegs. Der Priesterstand ist geradezu prädestiniert dafür, Menschen mit pädophilen Neigungen anzuziehen.

Allerdings hat sich seit dem 17. Jahrhundert gesellschaftlich einiges geändert. Damals bot der Priesterberuf auch eine Versorgung für die jüngeren Brüder der erbberechtigten Erstgeborenen. Damit entsprach der Anteil heterosexueller Männer im Priesterstand wohl der Verteilung in der Allgemeinbevölkerung – was sich mit der reichen Spottliteratur über Priester und ihre amourösen Abenteuer mit Frauen belegen lässt. Seit dem diese profanen  Gründe für eine „Berufung“ weggefallen sind, steigt der Anteil der homosexuellen Priester dementsprechend an. Denn für diese Gruppe von Männern hatte dieser Beruf eine Anziehungskraft bis in die jüngste Zeit bewahrt. Seit der Emanzipation der 70er Jahre ist dies nun auch weggefallen. Entsprechend klein ist die Zahl der Berufungen geworden und umso genauer muss man auch hingucken, wie es mit der psychischen Reife der Kandidaten aussieht.

Wir haben jedenfalls beobachtet, und die Leyengraf-Studie bestätigt dies, dass es sich in der Regel bei „unseren“ Tätern  aus den 60er, 70er und 80er Jahren nicht um Pädophile im klassischen Sinn handelte, sondern eher um sexuell unreife Menschen mit einem Hang zum Machtmissbrauch, vielleicht zum Zwecke der Kompensation.

Aber die Analogie des  Pater Stefano Cherubini zu Marcial Maciel oder Ludger Stüper SJ, der das Bonner Aloisiuskolleg über 40 Jahre beherrschte, ist schon frappierend. P. Riedel und W. Statt am Canisius Kolleg waren demgegenüber kleine Lichter, die aber immer noch dreistellige Opferzahlen produziert haben. Die Verbindung von fehlgeleiteter Sexualität und Macht ist jedenfalls auch hier klar gegeben“.

copyright: Matthias Katsch