Mehr als ein großer Theologe: Der Peruaner Gustavo Gutiérrez ist verstorben.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 23.10.2024

1.
Gustavo Gutiérrez hat die Theologie, nicht nur die katholische, grundsätzlich aus den engen Bindungen an die kapitalistische (Un-) Ordnung befreien wollen: Die Armen, Ausgebeuteten, Hungernden und Verhungernden Millionen Menschen sollten nicht länger Caritas – Objekte der Betreuung und der milden Spenden sein: Die Armen sollten selbst für Gerechtigkeit kämpfen – mit Unterstützung eben der Theologen, der Befreiungstheologen. Eigentlich skandalös dies sagen: Die Armen sind wertvolle Personen, die ihre Lebenserfahrungen kulturell ausdrücken sollten, auch in kritischer religiöser Sprache. Es gibt keine Herrenmenschen! Die Armen sind also auch theologisch schöpferisch, sie haben vieles Neue zu sagen, und zwar allen Menschen, auch denen im reichen Teil der Welt mit ihren reichen Kirchen. Aber das sind Projekte.

In den Basisgemeinden haben die Armen ihre Stimme entdeckt und gefunden, sehr zum Leidwesen des Vatikans. Denn die Laien der Basisgemeinden wollten berechtigterweise auch ihre Eucharistie selbst feiern. Schrecklich in den Augen der Klerus – Kirche.

2.
Am 22. Oktober 2024 ist der „Gründer“, d.h. der Inspirator und Begleiter der Befreiungstheologien gestorben. Er erreichte das hohe Alter von 96 Jahren! Der Religionsphilosophische Salon Berlin hat mehrfach auf Gustavo Gutiérrez hingewiesen, besonders auf sein grundlegendes Buch„teologia de la liberacion“, 1971 veröffentlicht, in vielen Sprachen übersetzt, auf Deutsch „Theologie der Befreiung“. LINK

Dass dieses grundlegende Buch (1971!) auch Mängel hat, ist klar: Es fehlt da etwa die Auseinandersetzung mit der Volksreligion, es fehlen ausführliche Reflexionen über die Rechte der Frauen in Kirche, Staat und Gesellschaft. Aber das Buch “Theologie der Befreiung” war ein Durchbruch. Ich will das Wort “Zeitenwende” eher nicht verwenden.

3.
Gustavo Gutiérrez gehörte mit seinem ersten Buch „Theologie der Befreiung“ und den folgenden Publikationen zu einer Art kritischen Bewegung innerhalb der lateinamerikanischen katholischen Kirche, zu denen auch Bischöfe gehörten, wie Dom Helder Camara in Recife LINK , Brasilien; Bischof Pedro Casaldaliga in Brasilien LINK ; Bischof Leonidas Proano in Ecuador, Erzbischof Oscar Romero in El Salvador LINK usw… Aber diese Bischöfe, die sich auch politisch auf die Seite der Unterdrückten stellten, waren letztlich innerhalb des katholischen Kirchen – Systems marginalisiert. Reaktionäre Bischöfe, wie der höchst einflußreiche Kolumbianer Lopez Trujillo vom Opus Dei LINK (Lopez Trujillo war ein Freund des polnischen Papstes) sorgten für die Marginalisierung und Verfolgung der Befreiungstheologen und Befreiungsbischöfen. Auch der deutsche Kardinal Franz Hengsbach (Essen) war nachgewiesen ein expliziter Feind der Befreiungstheologie: Diese Zusammenhänge werden von ADVENIAT, dem Hilfswerk der deutschen Katholiken für Lateinamerika, bis jetzt nicht öffentlich aufgearbeitet. LINK Zur Zeit geht es im Bistum Essen um anderes: Der so fromme Opus – Dei Freund Erzbischof und Kardinal (auch er ein Liebling des polnischen Papstes!) Franz Hengsbach war auch Täter des sexuellen Missbrauchs…Diese Verbrechen sollen in einigen Monaten freigelegt worden.

4.
Jetzt gilt es zunächst, des Lebens Gustavo Gutierrez dankbar zu gedenken und vor allem seine Bücher zu lesen, die bekanntlich nicht dazu führten, dass sich etwa die deutsche katholische Kirche auf die Seite der Armen stellte und entsprechend Strukturen, Sprache, Gottesdienste usw. änderte. Gustavo Gutierrez hat Wegweisendes geschrieben, aber … in den reichen Kirchen hat sich in seinem Sinne fast nichts verändert, d.h. verbessert. Eigentlich eine Schande bei dem persönlichen Engagements Gutiérrez. Der Umgang mit den Armen Lateinamerikas erschöpft sich in Europa nach wie vor weithin aufs Spenden…

5.
Über das aktuelle Gedenken der Trauer bleiben Fragen, die in nächster Zeit hoffentlich zu mehr Klarheit führen:
Gustavo Gutiérrez ist als Priester des Erzbistums Lima, Peru, spät (2001) in den Dominikanerorden eingetreten. Man sollte diesen Schritt interpretieren: Es war eine Flucht in eine sich oft progressiv verhaltende katholische Ordensgemeinschaft, also eine Flucht vor den Belästigungen durch Bischöfe. Der Kardinal von Lima, Juan Luis Cipriani (Erbischof dort 1999–2019) war ja ein bekanntes reaktionäres Opus Dei Mitglied und eben ein heftiger Feind der Befreiungstheologie und seines Priesters Gustavo Gutierrez. Er hatte in Lima sein Studienzentrum.

6.
Es wird in dem Zusammenhang endlich genau zu untersuchen sein, welchen Einfluß das Opus Dei in der Diskreditierung und Verfolgung von Befreiungstheologen (und Befreiungsbischöfen) gespielt hat und noch heute spielt. Das wären doch einmal wichtige Untersuchungen an katholisch – theologischen Fakultäten. Leonardo Boff in Brasilien lebt noch, er hat schon vieles berichtet vom Umgang Kardinal Ratzingers mit ihm als Befreiungstheologen… Vielleicht hat er noch neue, bislang unbekannte Dokumente?

7.
Nicht nur das Opus die hat die Befreiungstheologen zu zerstören versucht, auch die hierzulande wenig bekannte reaktionär katholische Organisation Sodalicium muss erwähnt werden: Deren Priester und Laien haben vor allem im Süden Perus alle Ansätze eines authentisch katholisch-indigenen Glaubens der Aymara und Quetchua zerstört. Eine wahre Leidensgeschichte. Jetzt wurden führende Leute dieser katholisch – reaktionären (aber politisch einflußreichen) Organisation des sexuellen Missbrauchs angeklagt… Das ist der Skandal: Jahre lang hat der Vatikan zugesehen, wie diese Leute des Sodalicium kirchliches Leben in Südperu stören und zerstören; jetzt erst merken die Herren in Rom, was das für ein Club ist! Der jetzige Erzbischof von Lima schlägt sogar ein Verbot dieses Sodalicium vor. Dabei ist diese Organisation aus Laien und Priestern nur eine von vielen neuen, sich oft charismatisch nennenden reaktionär- katholischen Gemeinschaften in Lateinamerika. Wer wird darüber investigativ arbeiten, wir sind gespannt. Zu den aktuellen Entwicklungen von Sodalicium: LINK

8.
Genauso gespannt sind wir, wann wirklich einmal die von Kardinal Gerhard Ludwig Müller so viel und so oft beschworene Freundschaft mit Gustavo Gutiérrez analysiert wird. Für viele ist es geradezu unvorstellbar, dass der Befreiungstheologe Gutiérrez mit einem doch immer schon sehr konservativen Kardinal befreundet sein könnte. LINK und LINK. Aber vielleicht hat Kardinal Müller seinen „Freund“ Gustavo Gutiérrez – aus welchen Gründen auch immer – vor schlimmer vatikanischer Verfolgung bewahrt? Wir sind gespannt, ob da jemals mehr Klarheit möglich ist und diese dann auch publiziert wird.

Ergänzung am 25. Oktober 2024:

8 a.
Kardinal Gerhard Ludwig Müller hat nach dem Tod von Gustavo Gutiérrez noch einmal am 24.10.2024 in einem Interview mit KNA zur Befreiungstheologie Stellung genommen: Dabei fällt auf, dass er die Befreiungstheologie von Gutiérrez „als eigentliche Befreiungstheologie“ hervorhebt und abhebt von anderen, die er als „marxistisch angehaucht im Sinne des ideologischen Progressismus“ deutet. Konkrete Namen nennt er nicht, es ist der übliche diffuse Vorwurf…

8 b.
Und Kardinal Müller ist „treuherzig” genug zu erklären, dass er „die“
Befreiungstheologie – also die in seiner Sicht vom Marxismus noch unbefleckte Befreiungstheologie von Gutiérrez – schätzt, weil er selbst die ziemlich alte katholische Soziallehre so liebt. Und weil diese alte Soziallehre der Befreiungstheologie von Gutiérrez offenbar entspricht…“Mich persönlich, der ich in der großen Tradition der europäischen Theologie gebildet bin, hat die Theologie der Befreiung Gustavos angesprochen, da ich als Mainzer von Jugend an auch mit Bischof Ketteler, dem Mitbegründer der katholischen Soziallehre, vertraut gewesen bin“ (KNA).
Der von Kardinal Müller, dem stolzen Mainzer, bewunderte Bischof Ketterer lebte von 1811 – 1877, er fiel durch antisemitische Äußerungen auf. Und auch durch die explizite Ablehnung von Sozialismus und sogar Liberalismus.

8 c.
Kardinal Müller hofft also, dass die aus Europa stammende katholische Soziallehre in Lateinamerika eine Hilfe sein könnte zur Überwindung der Armut, Ausbeutung und Unterdrückung der Massen.…
Befreiungstheologen hingegen gilt die alte katholische europäische Soziallehre als „ein abstraktes Lehrgebäude“, „das die wechselnden historischen Umstände nicht in ausreichender Weise berücksichtigt“, wie es der Jesuit Prof. Scannone (Argentinien) formulierte.
Die Katholische Soziallehre soll imSinne Müllers gelten, gerade weil sie nicht revolutionär ist, gerade weil sie nicht an einen Umsturz des Kapitalismus denkt, sie will nur das bestehende System korrigieren und für einen gewissen „Ausgleich“ sorgen.Diese katholische Soziallehre ist sozusagen grundsätzlich frei von den zentralen Vorschlägen von Karl Marx. Und dies glaubt Müller bei Gutiérrez zu finden.

8 d.
Es ist der alte Vorwurf, der auch vom „Arbeitskreis Kirche und Befreiung“ schon vor 50 Jahren formuliert wurde: Diese Gruppe von 20 Theologen und Soziologen traf sich zum ersten Mal am 12. und 13. Oktober 1973 in der katholischen Akademie Wolfsburg in Mülheim auf Initiative von Essens Bischof Franz Hengsbach als Chef des Hilfswerkes Adveniat und dem schon erwähnten reaktionären Feind der Befreiungstheologie Bischof Alfonso Lopez Trujillo, damals noch vor seiner päpstlich geförderten Karriere als Weihbischof von Bogota, Kolumbien. Diese Tagung in Mülheim fand 5 Monate nach der Tagung „Theologie der Befreiung“ in der Hochschule SVD St. Augustin bei Bonn statt, die ich entscheidend organisiert hatte und die viel Respekt und Sympathie für die lateinamerikanische Befreiungstheologie zeigte. (Siehe Nr. 9).

8 e.
Im Vorwort des ersten Tagungsberichtes des Studienkreises „Kirche und Befreiung“ schreiben die beiden genannten Initiatoren: „Solche Theologie der Befreiung gerät leicht in die Gefahr, aus dem eigentlichen Kirchlichen herauszufallen ….“ (S. 8). Der Hintergrund ist: Es gibt für diese Herren der Kirche eine authentische, d.h echte und im Sinne des Papstes ungefährliche katholische Befreiungstheologie. Kardinal Müller glaubt auch offenbar daran. Aber er hat wohl nicht die heftige Kritik des höchst einflußreichen kolumbianischen Bischofs (und späterem Kardinals in Rom) Lopez Trujillo gelesen. Dieser hat nämlich in seiner Abrechnung mit den von ihm so titulierten „marxistischen Befreiungstheologen“ (Girardi, Comblin, Blanquart…) eben auch Gustavo Gutierrez angegriffen, und zwar schon 1975, als das Buch „Kirche und Befreiung“ erschien. Auf Seite 69 heißt es von Bischof/Kardinal Lopez Trujillo: „Verschiedene Kapitel des bedeutenden Werkes von Gustavo Gutiérrez (er meint das wichtige Buch „teologia de la liberacion“ von 1971) sind völlig durchdrungen vom Einfluß der Marxisten Girardi und Blanquart. Diese Kapitel stimmen genau mit ihren diskutiertesten und problematischsten Ausführungen überein, was Gutiérrez auch gar nicht verhehlen will.“ Auch an anderen Stellen wird Bischof/Kardinal Lopez Trujillo zum heftigen Kritiker von Gutierrez (etwa S. 10), dort findet er diese Worte von Gustavo Gutiérrez geradezu unerträglich: „ Sich in die Perspektive des Reiches Gottes stellen, heißt, am Kampf um die Befreiung der von anderen Menschen Unterdrückten teilzunehmen. Dies haben viele Christen zu leben begonnen als sie sich in dem lateinamerikanischen Revolutionsprozess engagierten“.

8 f.
Mit anderen Worten: Kardinal Müller ignoriert offenbar die Gutiérrez` kritischen Äußerungen seines „Mitbruders“ Kardinal Lopez Trujillo.
Oder ist Müller dann doch ein Verteidiger zumindest der ganzen (!) Befreiungstheologie im Sinne von Gustavo Gutiérrez. Unwahrscheinlich ist dies. Wir meinen: Es handelt sich bei Müller um eine Irreführung der Öffentlichkeit, um die Aufgeschlossenheit des heftigen Dogmatikers Kardinal Müller plausibel zu machen. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis, die große konservativ treu – katholische Freundin Müllers , wird es ihm glauben. Wir glauben diese Müller Reden nicht.
Denn Müller möge bitte sagen und genau zeigen, welche Vorlesungen vom Inhalt her (!) er in den Priesterseminaren Perus einst gehalten hat: Hat er Kapitalismus – kritische, vielleicht gar Marx – freundliche Texte von Gutiérrez verwendet oder doch die uralte deutsche Dogmatik. Diese Frage zu klären ist mühsam, wenn nicht angesichts der Machtverhältnisse unmöglich. Gutiérrez schweigt jetzt. Eine Chance für Müller, sich als Gutiérrez – Freund weiter zu schmücken. Wer wird diese Anmaßung ein Problem, wenn nicht einen Skandal nennen? Gibt es noch Journalisten und katholische Theologen, die dies in einer investigativer Recherche noch beweisen können und noch wollen und noch dürfen???

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

9.

Nur nebenbei:

Zusammen mit einigen Mitstreitern hatte ich im Frühjahr 1973 in der Phil.Theol. Hochschule St. Augustin SVD (bei Bonn) die erste Tagung in Deutschland zur Befreiungstheologie organisiert: Über die Tagung hatte ich in der theologischen Zeitschrift ORIENTIERUNG in Zürich im Juni 1973 berichtet: Orientierung, Nr. 12 30. Juni 1973, LINK

Im Juli 1975 veröffentlichte ich dann meinen Vortrag zu Grundlegendem der Befreiungstheologie als Broschüre: “Der Gott, der befreit”. Kyrios – Verlag, Freising.

Und 1977 habe ich zusammen mit Karl Rahner SJ und Hans Zwiefelhofer SJ den Sammel -Band “Befreiende Theologie” bei Kohlhammer herausgegeben…usw…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer-Salon.de

 

 

 

 

Theologie der Befreiung: Neue Erkenntnisse zur Option für die Armen, zur Rolle des Hilfswerkes ADVENIAT usw. .

Neues zur lateinamerikanischen Theologie der Befreiung

Hinweise von Christian Modehn am 9.5.2016 anlässlich eines Buches von Kardinal Aloisio Lorscheider, Brasilien.

Theologen und Bischöfe, vor allem aus der katholischen Kirche, neigen bekanntermaßen dazu, ehrlich und ungeschützt erst dann bestimmte Wahrheiten auszusprechen, wenn sie pensioniert sind und im Ruhestand leben, zurückgezogen von allen offiziellen Ämtern. Also außerhalb der Schusslinie der römischen Glaubenskongregation leben…

Kardinal Aloisio Lorscheider aus dem Franziskaner-Orden hatte höchste amtliche Funktionen inne: Er nahm am 2. Vatikanischen Konzil teil, war Generalsekretär und Vorsitzender der bedeutenden brasilianischen Bischofskonferenz (bis 1978) und Vorsitzender der gesamt-lateinamerikanischen Bischofskonferenz CELAM von 1976 bis 1979; er führte 1979 den Vorsitz der Generalversammlung in Puebla, Mexiko, und nahm auch an der späteren CELAM- Konferenz in Santo Domingo teil. Er war Theologiedozent in Rom, seit 1973 Erzbischof von Fortaleza, danach in Aparecida. 2004 wurde sein altersbedingter Rücktritt vom Papst angenommen. Er ist sozusagen ein Top-Kenner der kirchlichen Verhältnisse in Lateinamerika. Er ist schon und gerade als Bischof immer ein Freund der Befreiungstheologie gewesen, er lobte und unterstützte die Basisgemeinden. Einen solchen aufrechten, immer selbstkritischen, bescheiden lebenden lateinamerikanischen Bischof findet man nicht so oft…

Kurz vor seinem Tod im Jahr 2007 (geboren wurde Aloisio Lorscheider 1924 in Südbrasilien) gab der pensionierte Erzbischof noch 2006 ein längeres Interview für eine Gruppe von Christen in Fortaleza. Dieses wichtige theologische Zeugnis ist jetzt, 9 Jahre nach der brasilianischen Veröffentlichung, auch auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Lasst euer Licht leuchten“. Der Untertitel ist schon treffender bzw. provozierender und weniger lyrisch: „Rückblicke in die Zukunft der Kirche“. Erschienen in der edition ITP-Kompasse, Münster. Das Buch hat 184 Seiten, es wurde von Conrad Berning übersetzt. Es enthält auch wichtige kurze Stellungnahmen kompetenter Befreiungstheologen und Freunde des Kardinals.

Das Interview selbst ist in meiner Sicht sehr inspirierend, weiterführend, weil da von einem Insider in aller Deutlichkeit druchaus neue Fakten zur Theologie der Befreiung genannt werden, die sicher das weitere Interpretieren dieser nach wie vor lebendigen Theologie (obwohl von Rom oft genug kaputt geredet) bestimmen sollte.

Ich nenne in aller Kürze nur einige Tatsachen, die Kardinal Lorscheider in dem Buch mitteilt:

Zu seinem Umgang mit Basisgemeinden in Fortaleza, Nordostbrasilien: „Ich höre dort einfach nur hin. So gestaltet sich heute der Weg der Kirche. Dieses Miteinander ist uns abhanden gekommen“ (S. 28).

„Bischöfe und Priester müssten sich in der historisch-kritischen Methode der Bibelinterpretation weiterbilden. Dies geschieht in der Tat jedoch nicht“. (S. 42).

Rom will keine Diskussion zum Zölibat:
„Als ich als einer der Präsidenten des CELAM nach Puebla zur Generalversammlung der Bischöfe fuhr, erhielten wir die Order, nicht über den Zölibat zu diskutieren und über die Frage, ob die Theologie mehr spekulativen oder mehr einen praktischen Charakter besäße. Trotzdem sprach Bischof Hypólito aus Nova Iguacu das Problem des Zölibates in Puebla an“ (S. 46).

„Tatsache ist, dass wir 20 Jahrhunderte lang keine Frauen im Priesteramt hatten. Aber auch wenn es das in zwanzig Jahrhunderten nicht gab, ist es kein Grund, dass es heute nicht anders werden könnte“ (S. 49).

Zur Wahl des polnischen Kardinals Wojtyla zum Papst 1978: „Die Deutschen (Kardinäle) hatten dabei großen Einfluss. Auch wegen der damaligen Sorge um den Marxismus. Innerhalb Europas galt Karol Wojtyla als eine der Koryphäen im Kampf gegen den Marxismus….Es gab im Konklave eine gewisse fundamentalistische Tendenz. Man wollte Sicherheiten… Der Vorgänger, Papst Paul VI., wurde von einigen als ambivalent gesehen, weil er nicht genau wisse, was er wolle“ (S. 57). Überhaupt müsste man weiter untersuchen, wie die panische Angst des Klerus vor “dem” Sozialismus seit Pius XII. allbestimmend wurde, bis hin zur Rücksichtnahme gegenüber dem Faschismus (als dem angeblich gerungeren Übel). Diese panische Angst vor dem (angeblich atheistischen) Sozialismus bestimmte den Umgang mit Befreiungstheologen, diese Haltung war sicher auch von den Mächtigen in den USA erwünscht, siehe die Beziehungen Reagan-Papst Johannes Paul II. Leider wird das Thema in dem Buch nicht vertieft.

Der Beitrag des belgischen, in Brasilien lebenden Theologen José Comblin unterbricht das Interview mit Lorscheider. Comblin schreibt, dass Kardinal Lorscheider als Celam Chef den reaktionären kolumbianischen Generalsekretär des CELAM Bischof Lopez Trujillo „ertragen“ musste. „Lorscheider allein weiß, wie viele Demütigungen er von Trujillo hinnehmen musste und zu ertragen hatte“ (S. 59). Auch das gehört dazu: Lorscheider spricht in dem Buch davon, dass er seit langer Zeit schon schwer herzkrank ist: „Ich habe vier Bypässe und einen Herzschrittmacher“ (S. 31). Darf man vermuten, dass u.a. der Umgang mit reaktionären Kirchenfürsten wie Lopez Trujillo krank machen kann?

Ich meine: Lopez Trujillo, dem Opus Dei sehr nahe stehend und in etliche nie geklärte Finanzgeschäfte mit dem CIA und den Drogenbossen verwickelt, wurde durch römische Protektion dann sogar Chef des CELAM (1979-1983) und später Chef der obersten päpstlichen Familienbehörde im Vatikan. Dort verbreitete er viel Merkwürdig-Dummes, etwa, dass Kondome Löcher enthielten, deswegen kämen Kondome als Schutz gegen AIDS überhaupt nicht in Frage. Solch ein Mann war Chef des päpstlichen „Familienministeriums…“   Sein schädlicher Einfluss kann kaum überschätzt werden, dazu sollten endlich religionswissenschaftlich-politologische Studien über Herrn Lopez Trujillo verfasst werden, Theologen sind für diese Studien zu befangen und eben kirchen-abhängig….

Zurück zum Interview mit Kardinal Lorscheider: „Wir Bischöfe müssen auch Ankläger ungerechter Strukturen sein, nicht nur Verkünder der frohen Botschaft“ (S. 66).

Besonders wichtig sind die Hinweise Lorscheiders zur viel besprochenen Option für die Armen, die sozusagen ein Motto ist in weiten Kreisen der lateinamerikanischen Kirche: Die Frage wird gestellt: „Sie meinen also, diese Option sei weniger pastoral und evangeliengemäß als vielmehr strategisch-politisch motiviert?“ Die Antwort von Kardinal Lorscheider: „Ja, das glaube ich. Diese Option war mehr strategisch-politisch innerhalb des damaligen politischen Kontextes“ (S. 68). Zuvor weist Lorscheider auf die in kirchlichen Kreisen starke Angst vor dem Kommunismus und dem Marxismus hin. Mit der kirchlichen Option für die Armen wollte die Kirche also Marxismus und Kommunismus schwächen. Dass in den Evangelien die Armen selig gepriesen werden, war den Bischöfen also aus strategischen Gründen erst mal nicht so wichtig.

Interessant sind die Hinweise von Kardinal Lorscheider zum katholischen Hilfswerk ADVENIAT (auf Seite 69).

Es wurde ja immer von Adveniat heftig und polemisch bestritten, dass unter dem damaligen ADVENIAT Chef, Bischof bzw. dann Kardinal Franz Hengsbach aus Essen, (zudem dem Opus Dei nahe stehend, Ehrendoktor der Opus die Uni Navarrra in Pamplona, er erhielt auch einen Preis von Diktator Banzer in Bolivien usw.) eine entschiedene und finanzstarke Institution GEGEN die Befreiungstheologie gearbeitet hat. Also aus Spendengeldern der braven deutschen Katholiken finanziert. P.S.: Ich selbst habe als Journalist, Mitarbeiter im WDR Fernsehen,  die Wut von ADVENIAT Leuten zu spüren bekommen, als ich in einem Bericht dies nachwies (durch ein Interview mit dem damaligen Weihbischof und Opus Dei Mann Karl Josef Romer, Rio de Janeiro). Solche berufsschädigenden Attacken von Adveniat wurden selbstverständlich nie zurückgenommen, niemand hat sich für diese blödsinnige Kritik, durch KNA obendrein treu verbreitet, bei mir entschuldigt…

Nun also sagt einer, der es wissen muss, nämlich Kardinal Lorscheider: „Wir wussten, dass von Deutschland aus, vor allem von ADVENIAT, Druck gegen die Befreiungstheologie aufgebaut wurde. Das ging sogar so weit, dass der Erzbischof und spätere Kardinal Hengsbach aus Essen, dem Sitz Adveniats, eine ganze Studienreihe mit diversen Büchern und Publikationen gegen die Befreiungstheologie organisierte. Einige Bischöfe Lateinamerikas standen auf seiner Seite. Es gab dann in Deutschland eine REGELRECHTE VERSCHWÖRUNGSWELLE, ausgehend von der Gruppe um Hengsbach. Sie verfügten über viel Geld…“ Eines der anti-befreiungstheologischen Büchern von Hengsbach trägt den Titel: “Utopie der Befreiung”, Mitherausgeber ist der oben genannte Bischof Lopez Trujillo…

Die 4. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischof 1992 in Santo Domingo nennt Erzbischof Lorscheider – als Teilnehmer dort – „einen Reinfall“, “weil Rom begann, massiv zu dominieren“ (S. 69). „Reinfall“ auch noch einmal auf Seite 71. „Ich habe mich dort (in Santo Domingo) geschämt, ich sehe noch einen Theologen in unserer Gruppe, der wusste gar nichts. So waren auch die anderen, alle waren sehr schwach“ (71).

Was will Rom, d.h. der Vatikan eigentlich in der gesamten Kirche und der Welt erreichen? „Das Hauptinteresse Roms ist immer, die Kirche zu verteidigen“ (S. 70)

Welche Gruppen und Klassen spricht die Kirche heute noch an? „Es gibt viele in der Kirche, die fühlen sich am wohlsten in der High Society. Unsere Kirchgänger sind nicht die Armen“ (s. 72).

Kardinal Ratzinger hat in seinem zähen Kampf gegen die Befreiungstheologie immer den Begriff Heil (umfassend) gegen die Befreiung (nur politisch, wie er meint) ausgespielt. Dagegen betont Kardinal Lorscheider: „Aber wir wollen eine Befreiung, die zugleich Heil bedeutet, d.h. den Blick auf den Körper und die Seele richten. Wir wollen, dass es dem Menschen materiell gut geht und spirituell auch….Gnade zusammen mit menschlicher Leistung“ (S. 76).

Zur Theologie heute insgesamt: „Zur Zeit befinden wir uns theologisch in einem Stillstand. Unsere Theologen sind nicht müde, aber ziemlich verzweifelt und verängstigt“ (S. 78).

Mit einer philosophischen Weisheit sollen diese Hinweise beendet werden. Lorscheider sagt im Blick auf die Kirche und den Vatikan: „Das Sich-Hinterfragen ist eine der Voraussetzungen, um sich entwickeln zu können“ (S. 99).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.