Ein Hinweis auf den polnischen Schriftsteller Andrzej Stasiuk
Von Christian Modehn
1.
Etwa sechzehn Bücher von Andrzej Stasiuk, eines der bekanntesten polnischen Autoren der Gegenwart, liegen auf Deutsch vor. Eine umfassende Würdigung des international beachteten und mit etlichen Ehrungen, Preisen ausgezeichneten Schriftstellers und Verlegers liegt meines Wissens in deutscher Sprache nicht vor. Sie kann hier nicht geleistet werden. Dieser Hinweis will nur eine mögliche Linie der Interpretation aufzeigen, sie bezieht sich vor allem auf die Bücher „Unterwegs nach Babadag“ (2004, auf Deutsch 2005) und „Beskiden-Chronik, Nachrichten aus Polen und der Welt“ (2018, auf Deutsch 2020). Beide Bücher sind bei Suhrkamp erschienen und wurden von Renate Schmidgall aus dem Polnischen übertragen. Stasiuk, 1960 geboren, lebt seit vielen Jahren der Einsamkeit der Beskiden, nahe der slowakischen Grenze.
2.
Wer einige Bücher Stasiuks gelesen hat, fühlt sich manchmal irritiert von der inhaltlichen Kontinuität seiner ausführlichen Reise – Impressionen. Sie sind keine journalistischen Recherchen, sie führen in sehr subjektiver Sicht zumeist in entlegene bzw. – zumal für Westeuropäer – entlegenste und dem Namen nach unbekannte Regionen mit ihren Städtchen und Dörfern Polens, Ungarns, der Slowakei, Rumäniens, der Türkei, der Ukraine, Kasachthans, Albaniens, Moldawiens usw. Tausende von Ortsnamen begegnen dem Leser, Orte, die Stasiuk, auch mit Freunden und Verwandten, besucht hat. In manchen ist er sozusagen als „Vielfahrer“ mit seinem Auto nur kurz durchgefahren, in etlichen hat er sich länger aufgehalten: Vor allem um die Natur dort zu erleben, um Menschen zu beobachten und gelegentlich auch mit ihnen zu sprechen oder um kurze Beschreibungen „prominenter“ Orte zu bieten, wie etwa am Beispiel des rumänischen Dorfe Rasinari, wo der Philosoph Emil Cioran geboren wurde. Dabei erlebt er dort auch das Fortleben der politischen Nostalgie, in der „Sehnsucht nach dem Diktator Ceausescu“ (S. 23), wobei Stasiuk die Differenz erlebt zwischen seiner Freiheit und seinem Wohlstand als Autor und der Armut der in den Dörfern verbliebenen Alten: “Ich spürte, dass meine Freiheit, hierher zu kommen und wieder wegzufahren, hier nichts bedeutete und einen Scheißdreck wert war“ (ebd). An gelegentliche drastische Formulierungen werden sich Stasiuk – LeserInnen gewöhnen wie auch an seine manchmal nicht so deutlich erkennbare politische Meinung (siehe dazu Nr. 6)
3.
Leider wird auch in beiden genannten Büchern kein Datum der jeweiligen Aufenthalte in der ständigen Reiselust genannt. Aber das entspricht vielleicht auch dem literarischen Anspruch Stasiuks, sozusagen die trennenden Grenzen und damit die Daten der osteuropäischen Länder aufzubrechen zugunsten einer ihnen gemeinsamen Naturerfahrung, die sich dort „im Osten“ überall für ihn ereignet. Es geht ihm – als spirituellen Menschen, sicher auch vom Katholizismus geprägt, wie er bekennt – um die Wahrnehmung von „Gottes Schöpfung“ , um das Erstaunen darüber, dass die Welt überhaupt existiert…
4.
„Den Osten“ Europas zu sehen, zu spüren, zu atmen, sich einzuprägen: Dies ist sozusagen die absolute Leidenschaft Stasiuks, so sehr er durchaus auch den Westen Europas etwas schätzt, wobei ihn die großen Städte nicht nur in West-Europa eher stören und belästigen in seiner Suche nach der „Berührung mit dem namenlosen Raum“ (Babadag, S. 11), also der „materiellen Welt der Natur und des Kosmos“, was Stasiuk gerade in der Einsamkeit der genannten östlichen Regionen intensiv erleben möchte und wohl auch erlebt. Sonst würde er nicht Jahre lang die entlegensten Ecken dort, oft mit Mühe und großer Anstrengung, reisend, fahrend, suchend erkunden, manchmal auch mit der Bahn oder mit Bussen oder als Tramper…“Es könnte sein, dass es mir einfach um die menschenleere Landschaft geht, um meine eigene Einsamkeit“ (S. 273).
5.
Dies ist die Provokation für westliche Leser: „Das Herz meines Europa schlägt in Sokolów Podlaski und in Husi. Und kein bißchen in Wien und auch nicht in Budapest… Sokolów und Susi ahmen nichts nach, sie erschöpfen sich in ihrer eigenen Bestimmung“ (S. 265). Beide Namen verweise auf kleine Städtchen. In der Einsamkeit und Öde, in dieser Landschaft sammelt er seine Erinnerungen, um sie später, zu Hause, in der Einsamkeit der polnischen Beskiden, zu vergegenwärtigen, im Geist präsent zu haben. „Ich kann mich an tausend Fragmente der Welt erinnern“(S. 272).
6.
Stasiuk gibt offen zu: Er liebt diese Gegenden und Dörfer im Osten Europas und schon in Asien, „wo nichts los ist“ (S. 276), also die langweiligen Orte, wo die Zeit dröge dahinfließt bzw. stille steht, die Bewohner oft nur rumsitzen, ohne noch auf etwas zu warten. „An diesen Orten (gemeint ist rund um Constanta, Rumänien) gibt es nichts. Es sind einfach Dörfer, in der Steppe entlang der A3 oder abseits verstreut“ (S. 257). Und weil dort nichts los, die Zeit (und damit die Entwicklung, der „Fortschritt“) erstarrt ist, findet Stasiuk diese Reisen dorthin für sich selbst sinnvoll. Er will förmlich das Leiden an der Sinnlosigkeit des Lebens im Aufenthalt an Orten des erstarrten Lebens erträglich finden.
7.
Viel beachtet wurde Stasiuks “Roman” “Die Welt hinter Dukla“, in Polen 1997 erschienen, auf Deutsch seit 2002 in mehreren Auflagen. Dukla ist eine kleine Stadt im Karpatenvorland, dicht an der slowakischen Grenze und … in der Nähe von Stasiuks Haus. Und dieses Städchen besucht Stasiuk immer wieder, er will das unterschiedliche Licht erleben bei unterschiedlichen Tageszeiten und eigentlich auch den Stillstand des Lebens in der Stadt, das Gewöhnliche sozusagen. “Ein merkwürdiges Städtchen, von dem aus es nirgendwo mehr hingeht. Danach kommt nur noch die Slokwakei… aber unterwegs wiederholt der Teufel wie eine Litanei sein Gute-Nacht und nichts Wichtiges passiert, nur hinfällige Häuser kauern am Straßenrand…” (S. 67). “Dukla, die Ouvertüre zum leeren Raum” (S. 68). Es ist diese Leidenschaft Stasiks fürs Unbedeutende, Verlassene, Aufgegebene, Einsame, die sich auch in dem “Roman” ausdrückt, eigentlich kein Roman, sondern eher eine Sammlung von Beschreibungen “Duklas” und Umgebung. Literarisch wertvoll erscheint mir die Passage, die mit “Also Dukla als Memento, als mentales Loch in der Seele” beginnt (S. 100 f.) “Ich könnte bis zum Dösigwerden auf der Westseite des Marktes sitzen…” (S. 101).
8.
Das Buch „Beskiden – Chronik“ versammelt kurze Essays, die Stasiuk offenbar vor allem für die liberal-katholische Wochenzeitung Tygodnik Powszechny (Krakau) geschrieben hat, weil jegliches Datum fehlt offenbar seit 2007 bis 2017 verfasst. Darin äußert sich Stasiuk deutlich im Sinne des ungarischen Populisten Viktor Orban und er sieht wie der ungarische Populist – angesichts der vielen Flüchtlinge nach Europa „eine große Völkerwanderung“ .Und Stasiuk schreibt sogar: „Viktor Orban hat recht: Das ist keine Emigration, das ist eine neue Völkerwanderung“ (S. 128, Beskiden). Verstörend auch die Worte: „Wir haben ihnen (den Flüchtlingen) den Weg bereitet, indem wir die Welt zu einem gemeinsamen Raum machten“ (S. 129). Und noch einmal S. 130: “Viktor Orban hat recht“ … Das lässt Stasiuk unkommentiert 2020 in Deutschland veröffentlichen.
Er spricht direkt seine polnischen Landsleute an in dem Essay „Auf der Halbinsel“ (gemeint ist Europa), ein Beitrag, verfasst nach der Aufnahme Polens in den „Schengen-Raum“: „Ich denke wir (Polen) sind müde…Wir sind müde, weil die Zukunft uns nicht betrifft. Wir werden in diesem Wettlauf immer zurückbleiben, dazu verurteilt, ewig fremden Spuren zu folgen. Die einzige Chance für uns ist der Zerfall Europas, denn dann hört der Wettlauf auf“ (S. 165, Beskiden). Die PIS-Partei verfolgt jetzt dieses Ziel, den „Zerfall Europas“ als der E.U.
9.
Stasiuk ist für mich ein zwiespältiger Autor, zumal viele seiner Texte von einer gewissen Langatmigkeit und inneren „Ungegliedertheit“ bestimmt sind, offenbar viel zu schnell dahin geschrieben. Die LeserInnen werden erkennen, mit welcher Wahrhaftigkeit er in seinen Reiseberichten hin und her „im Osten“ auch von seinem Alkoholkonsum und der Zigarettensucht spricht. Vielleicht will er die allgemein menschliche existentielle Langeweile geradezu – sozusagen dialektisch – in langweiligen Gegenden und Dörfern heilen.
„Dass ich auf dem Land lebe, hat auch pragmatische Gründe: Man findet hier ideale Arbeitsbedingungen, es gibt diese dörfliche Langeweile, die man mit etwas ausfüllen muss, und das tue ich eben mit dem Schreiben. Der intellektuelle Austausch findet in meinem Kopf statt, beim Lesen“, so in einem Interview mit der Zeitschrift “Literaturen”, Oktober 2000.
10.
Stasiuk hat sich auch in den wenigen in deutscher Sprache publizierten Interview zu Religion und Mystik geäußert:
Die Zeitschrift LITERATUREN: Was verstehen Sie unter Mystik? (2010):
„Es ist eine postreligiöse Mystik: Im 20. oder 21. Jahrhundert kann man nicht mehr selbstverständlich von der Existenz einer metaphysischen Wirklichkeit ausgehen. Doch gleichzeitig besteht im Menschen zweifellos ein großes Bedürfnis nach Religion. Wenn man keinen verkehrten Weg einschlagen und sich irgendeiner Utopie verschreiben möchte, muss man, um mit diesem Gegensatz umgehen zu können, die Wahrnehmung der materiellen Wirklichkeit, der mit den Sinnen erfahrbaren Welt, deren Existenz man nicht beweisen muss, auf religiöse Weise vertiefen“.
In der Wiener Zeitung:29.7.2016:
„Ich habe diesen Glauben daran, dass es etwas gibt, das größer ist als wir selbst, aus meinem Elternhaus mitgenommen. Da bin ich katholisch geprägt. Zugleich bin ich wirklich sehr, sehr weit entfernt von der katholischen Orthodoxie.Aber ich gebe zu: Ich sehe die Welt in religiösen Kategorien. Das ist ja auch viel interessanter, es macht unsere doch oft enge materielle Existenz spannender. Und dass hinter der Welt, wie sie ist, ein Gott steckt, jetzt nicht unbedingt ein Gott mit einem langen weißen Bart, dieser Gedanke ist mir nahe. Wobei die Intensität dieses Gefühls sehr variiert. Manchmal bin ich fast zur Gänze davon überzeugt, dass es Ihn gibt, und manchmal bin ich zerrissen. Aber das ist jetzt kein Thema, das man so einfach in einem InInterview abhandeln kann“.
Interessante politische Perspektiven, auch zu Russland, spricht Stasiuk in dem Interview von 2009 mit Ireneusz Danko an. LINK
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