Neues Denken könnte die Welt noch retten. Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2021!

Die Rede von Tsitsi Dangarembga anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 24.10.2021 in Frankfurt/Main.

Die Autorin, Schriftstellerin und Filmemacherin Tsitsi Dangarembga aus Simbabwe hat am 24.10.2021 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten!

Dazu möchten die Initiatoren und Leiter des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin ihren herzlichen Glückwunsch aussprechen und ihre Hochschätzung betonen: Denn Tsitsi Dangarembga ist nicht nur eine wichtige Autorin wegweisender kritischer Romane, sie hat sich in ihrer Rede in Frankfurt erneut explizit als Kritikerin des globalen kapitalistischen und imperialen Weltsystems gezeigt. Darüber hinaus hat Tsitsi Dangarembga in ihrer Rede eine philosophische Kritik vorgestellt, die an die Wurzeln neuzeitlichen europäischen Denkens geht. Die Autorin zeigt, dass das viel besprochene Wort des Philosophen Descartes – fast wie eine Floskel verbreitet : „Ich denke also bin ich“ tatsächlich, ursprünglich viel komplexer verstanden, bedeutet: „Ich zweifele, also bin ich! Gerade weil ich am Zweifeln selbst noch einmal zweifeln kann, ist der Zweifel als Denkform also die „Grundmelodie“ des reflektierenden Daseins“. Aber: Für die westliche Welt des Imperiums war Zweifeln  niemals eine Tugend des Imperiums.

Die ganze Rede von Tsitsi Dangarembga können Sie hier nachlesen: LINK.

Hier einige Hinweise und zentrale Zitate aus der Rede:

Tsitsi Dangarembga spricht zu Beginn von der vielfachen Gewalt des Imperiums, die sich auch in Simbabwe als physische, psychische und metaphysische (also religiöse) Gewalt zeigte und zeigt:

„Diese Arten der Gewalt sind in die Strukturen der globalen Ordnung, in der wir leben, integriert und wurzeln in den Strukturen des westlichen Imperiums, dessen Anfänge sich vor über einem halben Jahrtausend bildeten. Das heißt, dass der Westen mit all seiner Technologie, seinen Überzeugungen und seiner Praxis auf vielfachen weiterhin praktizierten Formen der Gewalt aufgebaut ist, die er in den Rest der Welt exportiert hat und die jetzt in postkolonialen Staaten so eifrig praktiziert werden wie zuvor in imperialen und kolonialen Staaten.“

Etwas später betont die Autorin:

„Ein System, das auf Profit basiert, darauf, mehr zu erhalten, als man gibt, ist ein System der Ausbeutung. Ein System, das einerseits Konzentration und andererseits ein Defizit erzeugt, ist ein System des Ungleichgewichts. So ein System ist notwendigerweise instabil und deshalb auch nicht nachhaltig. Wie ist es möglich, dass wir in ein instabiles, nicht nachhaltiges System investieren, das uns zwangsläufig in den Untergang führt?“

Eine Veränderung dieser imperialen Gewaltstrukturen wäre möglich, durch die Entscheidung, neu zu denken:

„Hier ist eine Antwort, und ich glaube, dass die Antwort einfacher ist, als wir denken. Die gewaltsame Weltordnung, in der wir heute leben, wurde von gewissen hierarchischen Denkweisen etabliert. Die Lösung ist, ethnisch determinierte und andere hierarchische Denkweisen abzuschaffen, die auf demografischen Merkmalen wie sozialem und biologischem Geschlecht, Religion, Nationalität, Klassenzugehörigkeit und jedweden anderen Merkmalen beruhen, die in der gesamten Geschichte und überall auf der Welt die Bausteine des Imperiums waren und noch immer sind.“

Die Ego-Fixierung der typisch europäischen Maxime „Ich denke also bin ich“ haben schon europäische Philosophen zu überwinden versucht, wie Martin Buber oder Emmanuel Lévinas. Der andere Mensch muss von vornherein einbezogen werden, wenn das Ich zu denken beginnt. Tsitsi Dangarembga betont:

Da jemand, der »Ich denke, also bin ich« denkt, sich selbst als Mensch betrachtet, wird jemand anders, der anders denkt, als nicht wie ich oder nicht als Mensch wahrgenommen. Wie wir wissen, hat die Aberkennung des menschlichen Werts anderer Menschen den Effekt, den menschlichen Wert zu erhöhen, den wir uns selbst zuschreiben; und wir wissen auch, dass dieser Mechanismus der differenziellen Zuschreibung von Menschlichkeit für einen Großteil der Gewalt verantwortlich ist, mit der die Menschen einander heimsuchen.“

Es muss ein Paradigmen-Wechsel des Denkens stattfinden, wenn die Welt sich von Umweltkatastrophen, zunehmender Verarmung, zunehmender Etablierung von Unrechtsstrukturen und Ausbeutung befreien will. Tsitsi Dangarembga geht deswegen soweit, eine neue Aufklärung zu fordern, also eine neue Epoche neuen, aufgeklärten Denkens.

Über das »Ich« hinauszuschauen zum »Wir« könnte zu horizonterweiternden Neuformulierungen des Satzes des Franzosen führen, zum Beispiel zu »Wir denken, also sind wir« oder sogar zu »Wir sind, also denken wir« und mit letzterem den Ort der Hochschätzung vom rationalen »denken« zum empirischen »sein« verschieben….Unsere Entscheidung, was und wie wir denken, ist letztlich eine Entscheidung zwischen Gewalt oder Frieden fördernden Inhalten und Narrativen. Das gilt, ob wir diese Inhalte und Narrative in Gedanken nur für uns selbst formulieren oder ob wir sie anderen um uns herum mitteilen. Beides ist fruchtbar.“

Für die Hinweise und die Zusammenstellung verantwortlich: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Nichts tun: Ein neues Buch und eine alte chinesische TAO -Weisheit (Zhunangzi).

Ein Hinweis von Christian Modehn

1. Philosophieren ist nicht an Institutionen oder „Fachleute“ gebunden, die sich explizit philosophisch nennen. Dies ist eine alte Erkenntnis.  Mit anderen Worten: Jeder Mensch philosophiert „immer schon“, selbst wenn er sein Nachdenken nicht als Philosophie bezeichnet…

2. Zweifelsfrei ist deswegen auch, dass Romane und Gedichte, Gemälde und Musik, Architektur sowie selbstverständlich die Natur (bzw. die von Menschen noch nicht ganz zerstörte Natur) oder die Welt der Götter PHILOSOPHISCH zu denken geben, also philosophische Impulse freisetzen. In zahleichen Hinweisen dieser Website wurde das dokumentiert und kommentiert.

3. Der Philosoph und Journalist Gert Scobel erinnert im „Philosophie-Magazin“ (Heft 4/2021) ebenfalls an diesen „weiten Philosophiebegriff“: „Gegenwärtig scheint ein neuer Typ des philosophischen Buches zu entstehen. Es gedeiht zwischen den Genres…“ Und damit bezieht sich Scobel auf ein Buch der US-amerikanischen Künstlerin und Autorin Jenny Odell (Kalifornien). Und Scobel empfiehlt das Buch sehr! Nennt es sogar „brillant“.

4. Der Titel weckt also große Erwartungen: „Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen“. Erschienen 2021 im C.H.Beck Verlag. In den USA ist das Buch „How to do nothing“ seit 2019 ein Bestseller, schließlich hat Barack Obama dieses Werk als eines der wichtigsten Bücher empfohlen. (Quelle: https://www.nytimes.com/2020/01/16/books/review/inside-the-list-jenny-odell.html). In einem Interview mit der New York Times verriet die Autorin: “Ich bin aufrichtig erstaunt darüber, dass irgendjemand die Geduld hatte, dieses gelegentlich beschränkte, oftmals seltsame Buch durchzuackern.”  (Quelle: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-02/nichtstun-jenny-odell-meditation-analog-fomo-rezension/seite-2).

5. Wer also dieses „seltsame und gelegentlich beschränkte“, aber als „brillant“ bewertete Buch liest, muss feststellen:

Die Autorin plädiert für eine grundlegende Neuorientierung des heutigen Lebens der westlichen Menschen bzw. der nicht ganz Armen in den armen Ländern: Die meisten Menschen heute sind fixiert, so die zentrale Analyse, durch eine falsche „Aufmerksamkeitsökonomie“, wie sie sagt. Das heißt, sie betrachten sehr aufmerksam stundenlang ihre Smartphones und Computer, sind mit Facebook und Instagram rund um die Uhr beschäftigt. Die Autorin denkt an eine Alternative: „Für mich bedeutet nichts zu tun, mich von einem Bezugssystem (die Aufmerksamkeitsökonomie) zu lösen. Nicht nur, damit ich Zeit habe nachzudenken, sondern auch um etwas Neues in einem anderen Rahmen zu tun“. (S. 242).

Ob es nun wirklich Menschen gibt, die bei der Computernutzung oder beim Smartphone-Betrieb NICHT nachdenken, sei dahingestellt. Die Autorin ist aber der begründeten Überzeugung: Wir müssen die Unterbrechung im routinierten und oft suchthaften Verhalten beim Gebrauch der sogenannten „sozialen Medien“ einüben. Die nun einmal kapitalistisch beherrschte Ökonomie der sozialen Medien verhindert eher vielfältiges Leben, etwa das Naturerleben, die Kunsterfahrung, die Pflege von Freundschaften etc. Unter Nichtstun versteht Jenny Odell also nicht etwa das lange dauernde Dösen oder das Eremitendasein. Den gelegentlichen Rückzug aus dieser von Ökonomie-Gesetzen beherrschten Welt, das unterstützt sie. Aber im ganzen geht es darum, wieder zur Fülle des menschlichen Erlebens zu finden, mit nur sehr gelegentlichem sinnvollen Gebrauch der Smartphones und Co. Die Autorin empfiehlt die „kleinen Schritte“ zu einem lebendigeren Leben durch die Einübung von meditativer Wahrnehmung oder durch einen noch so bescheidenen Einsatz zugunsten der bedrohten Natur.

6. Derartige Kulturkritik hat man schon oft in den letzten Jahren gelesen und gehört, man denke an Hartmut Rosa. Bernard Stiegler oder Jaron Lanier („Gadget“) usw.

7. Jenny Odell sagt offenbar für die USA Neues, man glaubt das kaum, aber Barack Obama hat das Buch so hoch gelobt! Die Autorin ist eine junge „multidisziplinäre“ Künstlerin und Dozentin für Internetkunst etc.. In ihrem Buch überwiegt meiner Meinung nach die  Beschreibung sehr vieler persönlicher Erlebnisse in ihrer schönen und teuren Heimat, der Bay Area rund um San Francisco. Die weitausschweifenden Schilderungen ihrer alltäglichen Erlebnisse (Kino-Besuche, Spaziergänge etc.) lenken eher ab vom Zentrum ihrer Aussagen: Sie will aber doch, so schreibt sie im Vorwort (S. 9), zu „politischem Widerstand gegen die Aufmerksamkeitsökonomie anleiten“. Aber das Profil dieses von ihr genannten „antikapitalistischen  Widerstandes“ bleibt auf bescheidenem Niveau. Ihre  politischen Hinweise zugunsten  eines „anderen  Lebens des „Nicht-Tuns“  fallen dürftig aus, so lobenswert auch etwa die Erörterungen zum „Bioregionalismus“ auch sein mögen (S.211).

Sie selbst nennt ihr Buch „einen offenen und ausgedehnten Essay“, und auch treffend: „keine abgeschlossene Informationsübermittlung“ (S. 21). Dabei hätte schon der Begriff „Aufmerksamkeitsökonomie“ für viele LeserInnen näher definiert werden müssen.

Das Buch ist im ganzen viel zu sehr auf kalifornische bzw. US-amerikanische LeserInnen bezogen, die den ausführlichen regionalen Orts-, Park- und Wald-Beschreibungen folgen wollen oder sich in die weiterführenden Verweise auf die fast ausschließlich US-amerikanische Literatur vertiefen wollen.

8. Interessant ist für den „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“, dass am Rande auch der Kirchenvater Athanasius und der Eremit Antonius, der aus der ägyptischen Wüste, erwähnt werden. Etwas ausführlicher wird auf den in den USA immer noch sehr bekannten politischen Aktivisten und Mystiker, den Trappistenmönch Thomas Merton (S. 92), hingewiesen. Ansonsten sind spirituelle/religiöse Hinweise bei dem Thema eigentlich nahe liegend, doch sehr spärlich. Für die Autorin ist ihre Liebe zur Natur, besonders zu den Vögeln, offenbar ihre persönliche Spiritualität.

9. Meine Meinung: Hätte sich die Autorin ausführlich argumentierend auf ihr Thema „Nichts tun“ begrenzt ohne weitausgreifende subjektive Erlebnisse zu schildern, hätte sie einen hübschen Aufsatz von 20 Seiten publizieren können. Aber: Vielleicht kam das Buch mit diesem Titel (!) zur richtigen Zeit, als ab Frühjahr 2020 sehr viele Menschen wegen Corona tatsächlich zum Nichts-Tun gezwungen waren.

10. Immerhin beweist diese Publikation, dass moralische Maximen und sanft formulierte ethische Standpunkte heute doch noch respektiert werden. Würden die Kirchen solche Selbstverständlichkeiten wie die in dem Buch verbreiten, würde kaum jemand hinhören…

11. Ich hätte das Buch nie gekauft und nie gelesen (wie gesagt, das Thema ist gar nicht neu), wenn nicht der Philosoph Gert Scobel dieses Opus über alles gelobt und es sogar „brillant“ genannt hätte. Man folge also nur sehr skeptisch “Autoritäten”.

Ich bin also leider der Empfehlung Scobels gefolgt, habe das Buch gekauft und einmal mehr gelernt: Vertraue nicht zu sehr noch so klugen Rezensenten. Das Buch kostet 24 Euro und hat 296 Seiten.

12. Das Buch endet wie üblich mit einer ausführlichen Danksagung. Der letzte Satz dieses Dankes (S. 276) heißt:“ Zu guter Letzt möchte ich Krähe und Krähensohn dafür danken, dass sie weiterhin, Morgen für Morgen, meinen Balkon besuchen und jenem vergleichsweise plumpen Homo sapiens ihre fremdartige Aufmerksamkeit schenken. Mögen wir alle das Glück haben, unsere Musen in unserer eigenen Umgebung zu finden“. Schade, dass nicht noch ein AMEN folgt.

13. Auf einen anderen Autor muss in dem Zusammenhang hingewiesen werden: Jenny Odell nennt ihn kurz selbst – bei ihrem Thema  fast ein „Pflichtprogramm“: Es ist der chinesische Weise und Philosoph Zhuangzi. Zhuangzi (eigentlich Zhuang Zhon) lebte von 365 -290 v.Chr.), er ist an der Seite des bekannteren Laotzi der wichtigste Denker des Taoismus.

Von Zhuangzi wird ein umfassendes Buch, vor allem ein Werk seiner Schüler, verbreitet, es trägt ebenfalls  den Titel „Zhuangi“.

14. Das Buch Zhuangzi ist jetzt in einer kleinen Auswahl durch Viktor Kalinke im Reclam Verlag, 2021, erschienen. Während von Laotse kurze Sprüche und Poesie verbreitet wurden, haben die Schüler Zhuangzis längere Prosastücke gesammelt. Das „Nichts-Tun“ ist die grundlegende Haltung des Abstandnehmens inmitten der Konflikte und endlosen Theorie-Debatten. Und welcher Weg führt daraus? Die Sinologin Anne Cheng spricht in ihrer großen Studie „Historie de la pensée chinoise“ (Paris 1997) von einer „harmonischen Musik“, die im Alltagsleben trotz aller Belastungen vernehmbar wird: Das Dao. Bekanntlich ist das umfassende gründende Dao kaum eindeutig  übersetzbar. Aber interessant ist, dass Zhunagzi die Wahrnehmung einer Art inneren Musik für entscheidend hält, die auch erlebbar wird im Rückzug aus der Welt. Daran lag Zhuangzi über alles. Von dieser inneren sanften und leichten, von der Welt distanzierenden Musik spricht Anne Cheng auf S. 102 und 106.

Zum Rückzug aus der Welt und dem entsprechenden Nichts-Tun gehört für Zhunagzi auch die Kritik an der angeblichen Klarheit der (Alltags)Sprache, die behauptet, alles genau zu wissen und zu definieren. Auszug aus der Welt heißt also auch Auszug aus den Üblichkeiten der Sprache und ihrer fixierenden Logik. Also: Abschied von der Welt des angeblich Eindeutigen.

Bei Laotse erscheint dann das Nichts-tun (=wuwei) sehr häufig in seinem Text „Daodejing“. An Laotse erinnern diese Worte Zhunagzis: “Wer viel weiß, hat Schwierigkeiten; wer wenig weiß, hat Muße. Wer viel redet, entfacht Feuer, wer wenig spricht, hat etwas zu sagen“ (S. 12 im zit. Reclam Band). Interessant die Aussage Zhuangzis: „Des Menschen Leben, es schwankt wie ein Grashalm“ (S. 13), eine fast gleichlautende Formulierung findet sich in der hebräischen Bibel, im Pslam 103, Vers. 15…

Geradezu politisch-kritisch äußert sich Zhuangzi: „Menschen, denen keine Menschlichkeit eigen ist, krempeln die lebendige Natur um in ihrer Gier nach Reichtum und Ruhm … Wer sich für Besitz und Wohlstand aufopfert, der gilt gewöhnlich als Kleinbürger“ ( S.26 /27).

15. Eine intensive Beschäftigung mit Zhunagzi und dem Daoismus hätte der Autorin Jenny Odell sehr gutgetan. Aber das kommt vielleicht noch, denn nach den Gesetzen des ganz auf Profit setzenden Buchmarktes wird sie nach ihrem „Bestseller“ „Nicht tun“ sicher sehr bald das zweite und dritte Buch vorlegen. Vielleicht diesmal mit einer Empfehlung von Jo Biden…

16. Das „Nichts Tun“ bleibt eine große philosophische Herausforderung, ein zentrales Thema philosophischer Lebensgestaltung. Nichts Tun meint eher das Abstandnehmen von dem üblichen,eingefahrenen und nur von der herrschenden (Un)Kultur bestimmten Tun. Zu unterscheiden wäre also wieder Tun und Handeln, diese klassische Unterscheidung verdient heute mehr Beachtung. Und Tun ist auf im weitesten Sinn auf Technik bezogen, Handeln auf das ethisch verantwortliche, auch politische lebendige Agieren.

Heute bestimmen die Maximen des technischen Tuns (Kalkül, materieller Profit, Taktik im Verhalten usw.) das politische Handeln. Korruption hat dort ihren Ursprung. Das Handeln in Deutlichkeit der Abgrenzung vom Tun wieder zu entdecken, auch mit dem immer gelegentlich erforderlichen Nichts-Tun (etwa in der Meditation), bleibt die dringende Aufgabe!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin Berlin

 

Marx, Wagner, Nietzsche!

Über ein neues Buch von Herfried Münkler

Ein Hinweis von Christian Modehn

Herfried Münkler, Professor em. für Politikwissenschaft an der Humboldt Universität in Berlin, legt ein gleichermaßen umfangreiches wie originelles Buch vor: Die drei „Denker“, um diesen etwas pathetischen Oberbegriff für Marx, Wagner und Nietzsche zu gebrauchen, haben mit ihren Werken auf je unterschiedliche Weise den globalen Umbruch im 19. Jahrhundert und darüber hinaus mit-bestimmt. Ihr politischer, künstlerischer und kultureller Einfluss ist bis heute evident, nicht nur in Europa. Die Werke der drei Deutschen sind keineswegs „ausstudiert“. Man hätte sich wohl auch drei maßgebliche europäische, nicht-deutsche „Denker“ aus dem 19. Jahrhundert vorstellen können. Aber die Bedeutung der drei Deutschen ist unumstritten, und dies zu sagen, hat nichts mit Nationalismus zu tun..

1. Herfried Münkler bietet einen interessanten neuen Ansatz: Er präsentiert und diskutiert Marx, Wagner und Nietzsche NICHT jeweils für sich getrennt, sondern zeigt in allen Kapiteln seines 620 Text-Seiten umfassenden Buches Querverbindungen, Gemeinsamkeiten, Widersprüche. Das macht die Lektüre spannend, aber manchmal auch anstrengend, weil eben von dem einen zum anderen gesprungen wird. Münkler „bringt die Drei miteinander ins Gespräch“, selbst wenn sie, historisch gesehen, kaum Kenntnis voneinander hatten, sieht man einmal von den Beziehungen zwischen dem jungen Nietzsche und Wagner ab. Die drei können sogar, meint Münkler, Begleiter sein im 21. Jahrhundert, aber, und das ist wichtig, „wobei diese Begleitung eher eine der kritischen Infragestellung als eine der selbstsicheren Wegweisung ist“ (616).

Um das besondere Profil jedes der drei im Sinne Münkles anzudeuten: Marx „als Ökonom und Soziologe setzt auf die Revolution der sozioökonomischen Verhältnisse, Wagner auf die kulturelle Regeneration und Nietzsche auf die Schaffung eines neuen Menschen“ (ebd.)

2. Münkler berichtet, dass er sich als Politologe selbstverständlich seit langem mit Marx auseinandergesetzt hat. Neu dürfte für manche die jahrelange Beschäftigung Münklers mit Richard Wagner sein, er kommt lang und breit in dem Buch zu Wort. Nietzsche hingegen ist wohl erst anlässlich der Studien zu diesem Buch für Münkler wichtig geworden (vgl. S. 715).

3. Unter den neun Kapiteln des Buches, die sich auf gemeinsame Sachthemen der drei beziehen, möchte ich vor allem auf das 5. Kapitel „Zwischen Religionskritik und Religionsstiftung“ hinweisen (S. 209 – 289). Das 19. Jahrhundert war nach der Französischen Revolution einerseits vor allem von einer Krise des Katholizismus bestimmt mit den ersten großen Umbrüchen in Richtung Säkularisierung des religiösen Bewusstseins. Andererseits war es aber auch das Jahrhundert vieler Religionsgründungen und Abspaltungen von den großen Konfessionen im Sinne von „Sekten“-Gründungen: Um nur einige zu nennen: Man denke an die Religion des Positivismus gegründet von A. Comte oder an den Altkatholizismus, an neue religiöse Gemeinschaften in den USA, wie die Christian Science oder die Mormonen oder an sehr beliebte esoterische Bewegungen damals wie den Spiritismus. Ich finde es schade, dass Herfried Münkler in seinem Religionskapitel dieses breite und durchaus diffuse religiöse „Aufblühen“ im 19. Jahrhundert in seiner Darstellung der „drei“ nicht berücksichtigt.

4. Marx, Wagner und Nietzsche haben je verschiedene, ganz ungewöhnliche Verbindungen zum Religiösen bzw. konkret zum Christlichen/Kirchlichen. Bei Marx werden die religiösen, d.h. christlichen und jüdischen Lehren „ins Diesseits verlagert“ (211). Im 20. Jahrhundert wird dann „der Kapitalismus als Religion“ thematisiert. Vom Kommunismus als Religion, etwa mit dem Stalin-Kult, spricht Münkler nicht, weil er als Historiker meint, Karl Marx habe mit dem Staats-Kommunismus in der UDSSR nichts direkt zu tun.

Richard Wagner ist bekanntlich als Antisemit auch ein Religionsgründer, er will mit seinen Festspielen eine Art neuer Kunst-Religion etablieren. „Erst in der 1950er Jahren kam ein Prozess der Desakralisierung (von Wagners Opern) in Gang“ (214). Nietzsche benannte und verkündete in seinen Aphorismen und in seinem „Zarathustra“ das faktische geistige und spirituelle Ende des Christentums. Aber Nietzsche hat mit seiner Lehre vom Übermenschen und der Ewigen Wiederkehr des Gleichen neue religiöse Dimensionen für die „wenigen“ „freien Geister“ erschließen wollen.

In dem Religionskapitel zeigt sich Münkler besonders als Kenner der künstlerischen Welt Wagners. Auf vielen Seiten werden die Inhalte des „Ring“ dargestellt… Dabei zeigt sich „Wagners Sorge um die Zukunft der Religion in einer arelgiösen Welt“ (S. 246). „Was Wagners religiöse Vorstellungswelt durchgängig prägt, ist sein Distanz gegenüber allen Formen der Institutionalisierung des Religiösen, also gegenüber der Kirche und einer dogmatischen Theologie“ (279).

Das ist, möchte man meinen, auch ein ganz aktuelles, “heutiges“ Thema im 21. Jahrhundert, wenn Münkler Wagners Lehre referiert: „Der Theologe als Hüter des religiösen wird durch den Künstler ersetzt“. Heute gibt es neben den Künstlern und Musikern viele “Hüter” des Religiösen, nicht des explizit Christlichen, bis hin in die eher profane Welt der “heiligen” richtigen Ernährung und der “absoluten” Gesundheitspflege als Ideal der Reichen in der reichen Welt…

5. Ich möchte das Thema des Buches etwas erweitern: Was bieten die drei Religionsgründer heute an gemeinsamen Impulsen? Zu dieser Frage führt ja die Lektüre dieses Kapitels…

Die Leidenschaft und geistige Energie von Karl Marx zugunsten einer umfassenden Gerechtigkeit auch für Ausgegrenzten und Armgemachten lebt jetzt in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und den Basisgemeinden weiter. Es gibt also heute ein emanzipatorisches Christentum, das vielleicht Marx erfreuen würde. Weil die dogmatische Hierarchie in Rom spürt, dass in dieser Theologie „etwas Marx“ vorhanden ist, hat der Vatikan diese Theologie auch systematisch zu zerstören versucht, etwa im Bündnis von Papst Johannes Paul II. mit Reagan und dem CIA.

Die Vorstellung, Kunst könnte Religion sein, (siehe Wagner), findet sich fragmentarisch in den letzten Aktualisierungen einer „liberalen Theologie“, die sehr treffend und richtig jedem Menschen eine eigene religiöse Kreativität zutraut. Und religiöse Erfahrungen gerade durch und mit Kunst/Musik etc. für möglich hält und dazu die Chance bietet in den Räumen christlicher Kirchengebäude.

Und Nietzsche? Er ist überzeugend, dass „die Kirche zum Grab Gottes“ geworden ist (in der „Fröhlichen Wissenschaft“, bei Münkler S. 220). Das heißt: Die starren Lehren einer letztlich unwandelbaren und damit vor allem nicht mehr lebendigen Kirche wird für viele, die darin noch verweilen, zum Grab Gottes: Sie werden wegen und durch die Kirchen förmlich zu Atheisten… In dogmatisch erstarrten Kirchen und Sekten wird der Glaube an Gott vertrieben…(Siehe etwa die Studien „Religionsverlust durch religiöse Erziehung“, etwa Erwin Ringel und andere)

6. Das neue Buch von Herfried Münkler bietet überraschende Perspektiven, es ist gut geeignet für Menschen, die ihre Kenntnisse von Marx, Wagner und Nietzsche vertiefen wollen. Münkler zeigt, wie unterschiedlich diese drei Denker des 19. Jahrhunderts auf die globale, politische, ökonomische und kulturelle Krise reagieren.

Man hätte sich gewünscht, in welcher gebrochenen Form die Werke dieser drei je unterschiedlich dann im 20. und nun schon im 21. Jahrhundert rezipiert werden. Dass Marx als Sozialkritiker und Ökonom auch jetzt wieder viel gelesen und debattiert wird, deutet Münkler an. Aber es gibt heute wieder explizite Marxisten und Kommunisten, etwa unter Frankreichs Philosophen (Badiou usw.)…

Dass sich Nietzsches Nihilismus und sein Plädoyer fürs Herrenmenschentum im Bewusstsein und der sozialen/politischen Praxis der Reichen in den reichen Ländern durchgesetzt hat, steht außer Frage. Egismus ist die wichtigste Untugend der Gegenwart. Und Wagners Opern stehen unerschüttert auf den Spielplänen der Opernhäuser, Bayreuth bleibt doch ein säkularer Pilgerort, bei dem die Reichen und Schönen und Spitzenpolitiker sich gern zeigen. Ob sie wirklich von diesen germanischen Mythen innerlich bewegt sind, ist hoffentlich eine offene Frage. Das Hören der Bergpredigt in einem christlichen Gottesdienst kann einige Menschen vielleicht noch verändern, auch politisch zu mehr Solidarität bewegen. Ob dies mit den germanischen Mythen (auch à la Wagner) gelingt, wage ich sehr zu bezweifeln. Es gibt selbstverständlich auch hierzulande einen bisher kaum diskutierten Kultur-“Genuss“ aus purer Langeweile („Ich hörte nun zum 5. Mal Lohengrin“  etc.) oder aus politisch gebotener Repräsentationspflicht (Kanzlerin Merkel in Bayreuth etc).

Herfried Münkler,“ Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“. Rowohlt-Verlag Berlin, 2021, 718 Seiten, 34 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Mystiker, Journalist, Aufklärer, Theologe, Romantiker, aber immer: ein „Reisender“: Karl Philipp Moritz.

Über Karl Philipp Moritz, anlässlich seines Geburtstages am 15.9.1756

Hinweise von Christian Modehn.

Ein Motto:

„Moritz ist ein wahres Genie, ein wahrer Sonderling“ (Alexander von Humboldt).

1.

Muss man heute an Karl Philipp Moritz erinnern?

Einige Stichworte zu seinem kurzen Leben,  aber sehr umfangreichen vielfältigen Werk: Aus bescheidenen, aber extrem  frommen pietistischen Verhältnissen stammend, vielseitig begabt; Journalist; Theologiestudent und Prediger; als Reisender rastlos unterwegs, Autor des hoch geschätzten Romans (als Autobiografie) „Anton Reiser“; ein Pädagoge der ungewöhnlichen Art („Phantasie ist wichtiger als Wissen“); ein Freund Goethes, beliebt in den Berliner Salons; Autor und Gründer der ersten Zeitschrift mit „psychoanalytischem Interesse“ (das „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“); schließlich Professor an der Akademie der Wissenschaften…

„Ein Aufstieg, der in der deutschen Geistesgeschichte ohne weiteres Beispiel ist“ (Willi Winkler, „Karl Philipp Moritz“, Rowohlt Monographie“, S.115). Aber doch mit der Einschränkung: „Man wusste nicht recht, wo man ihn einordnen könnte“ (Horst Günther im Nachwort zu „Anton Reiser, Insel-Taschenbuch, 2013, S. 529).

Muss man Menschen „einordnen“? Natürlich NICHT! Trotzdem: Moritz war nicht Philosoph im „klassischen“ Sinn, schon gar nicht Psychoanalytiker `avant la lettre`, er war auch kein Philologe alter Sprachen trotz seiner Studien zur antiken Mythologie… Aber: „Vielleicht liegt im Scheitern an den üblichen Gattungen seine Modernität“ (Horst Günther, ebd.)

2.

Über die Stationen und Daten seines kurzen Lebens kann man sich etwa bei wikipedia oder in der schönen Rowohlt-Monographie von Willi Winkler informieren. Geboren wurde Moritz am 15. 9.1756 in Hameln; gestorben ist er im Alter von knapp 37 Jahren am 26.6.1793 in Berlin.

3.

„Alles, was Moritz je geschrieben hat, gehört zueinander. Und alles ist angelegt in seiner Kindheit und Jugend“, betont Horst Günther (ebd., S. 530). Wenn das so ist, dann müsste die Prägung durch den extrem konfusen und unterdrückerischen Pietismus zuhause wie während seiner Ausbildung im Mittelpunkt der Forschung stehen. Die These sollte sein: Moritz, ein Mann, der durch frommen, sich mystisch nennenden Wahn verdorben wurde. Solches gibt es bis heute, nicht nur im Christentum…

Karl Philipp Moritz wird zu Hause nicht geliebt, aber mit der Ideologie einer christlichen Mystik abstruser Art konfrontiert, was ihn auch zur Selbstverachtung führt… Auch wenn Moritz später die Philosophie der Aufklärung schätzt: Die innere Bindung an Mystik und Quietismus (und damit verbunden auch an Aberglauben) wurde er nicht los. „Ganz kann sich Moritz nie von der Mystik befreien, die ihn von der Wiege auf unterdrückt hat“ (Willi Winkler, a.a.O., S. 120).

4.

Erstaunlich ist, dass in den protestantischen Kreisen von Hameln (wo er geboren wurde) sowie in Hannover und Braunschweig, wo er als 12-Jähriger bei einem von Mystik verwirrten Hutmacher lebte, die Lehren der französischen katholischen Mystikerin Madame de Guyon (1648-1717) (präziser: Jeanne-Marie Bouvier de La Motte Guyon)

verbreitet waren. Diese seltsame katholisch-protestantische Ökumene seit dem 18. Jahrhundert sollte weiter untersucht werden. Die einflussreichen Pietisten damals, wie August Hermann Francke, Gerhard Tersteegen, Zinzendorf usw. waren von den Ideen und Visionen Madame de Guyons geprägt… Diese fromme Adlige wurde wegen ihrer extremen spirituellen Lehren aber sogar von der offiziellen katholischen Kirche verfolgt, von anderen Katholiken wiederum wurde sie wie eine Heilige geschätzt: Sie glaubte z.B., mit Jesus verheiratet zu sein. Das Ziel ihrer mystischen Bemühungen war die Auflösung des menschlichen Selbst in Gott hinein, es ging tatsächlich um Vernichtung des Selbst. Das vernichtete Selbst wird dann in eine Art geistige Wüste und der Dürre geführt, wo „sich auch kein Fünklein der Selbstliebe mehr mischen darf“. Wie gesagt, diese abstrusen Wahngebilde fanden Zuspruch im protestantischen Deutschland, manche ließen sich wohl von ihrer „tiefgründigen“ Sprache verführen, wie das Umfeld des jungen Karl Philipp Moritz. Er  spricht noch von ihr in seinem autobiographischen Roman „Anton Reiser“, er zeigt, wie sich der junge Reiser (Moritz) sogar noch tröstete in den eleganten verworrenen Worten der Madame… Aber insgesamt hat diese eher menschenverachtende Mystik der Madame de Guyon dem jungen Moritz das Leben verdorben. Später distanzierte er sich ironisch-witzig von dieser Person, die die Trockenheit des Geistes lobte: “Als man nach ihrem Tode ihren Kopf öffnete, fand man ihr Gehirn fast wie ausgetrocknet“ (zit. in Willi Winkler, a.a.O. S. 17). Willi Winkler versucht eine Gesamteinschätzung: „Ob Moritz die Schwärmerei, den religiösen Aberglauben, den die Aufklärung so heftig bekämpfte, selber überwunden hat, ist zumindest zweifelhaft“. (Rowohlts Monographien, S.78).

5.

Als Journalist wagt sich Moritz auf ein ganz neues Feld der Forschung: Es geht um die Erkundung der Tiefen der Seele. Moritz geht in der von ihm begründeten und herausgegebenen Zeitschrift (1783-1793) von den konkreten Lebenserfahrungen des einzelnen Menschen aus, auch von den eigenen. „In einer Fülle von Fallgeschichten berichtete diese als Viermonatsschrift konzipierte Zeitschrift über Mörder und Selbstmörder, religiöse Schwärmer und Hypochonder. Versuche mit Taubstummen und Charakteranalysen von Adoleszenten wurden neben Fällen von Kleptomanie und sexuellem Missbrauch mitgeteilt. Ein anhaltendes, fast schon systematisches Interesse richtete sich auf die Form und den Inhalt frühester Kindheitserinnerungen, und die Vielzahl eingesandter Traumerfahrungen forderte Moritz und seine beiden ihn zeitweise vertretenden Mitherausgeber Carl Friedrich Pockels (1757-1814) und Salomon Maimon (1753-1800) zu ersten Ansätzen einer »Theorie der Träume« heraus“…. „Mit der Darstellung von Zwangshandlungen, Traumphänomenen und Kindheitserinnerungen, mit Mendelssohns Erörterung eines topischen Modells der Seele und den wegweisenden sprachpsychologischen Überlegungen von Moritz zu den unpersönlichen Zeitwörtern (»es donnert«), stand es am Beginn einer Entwicklung, die bis hin zu Sigmund Freud führen sollte, der dieselben rätselhaften psychologischen Phänomene mit einer neuen systematischen Theorie erschliessen konnte.

(siehe: http://telota.bbaw.de/mze/)

6..

Moritz interessiert sich für die philosophische Aufklärung. Auch den Kindern will er die Idee der Gleichheit erklären: in seinem „A.B.C.Buch“ von 1790. Die Menschen sind nicht ungleich, betont er: »Die armen und niedrigen Menschen sind ebenso gebildet [geschaffen] wie die Reichen und Vornehmen. Ein jeder Mensch ist der Hilfe bedürftig. Wenn die armen und niedrigen Menschen schwach und krank sind, so bedürfen sie der Hilfe. Und wenn die Reichen und Vornehmen schwach und krank sind, so bedürfen sie auch der Hilfe. Kein Mensch muss den andern gering schätzen. Denn es ist die höchste Würde, ein Mensch zu sein.«  (ZEIT 7. 9. 2006, Benedikt Erens).

7.

Karl Philipp Moritz ist und bleibt der bis heute hoch geschätzte Dichter seines autobiographischen Romans Anton Reiser (1790), inzwischen wurde diese „Bekenntnisschrift“ in viele Sprachen übersetzt. Es ist die Geschichte eines Versuchs, sich selbst mit vielen Mühen aus der Unmündigkeit zu befreien. Den Pietismus des Elternhauses verlässt Reiser, aber eine geistige, spirituelle Heimat findet er nicht. In dieser Wahrhaftigkeit stellt sich Reiser/Moritz dar. Reiser erhöht sich und degradiert sich, leidet unter Ängsten und hat doch den Willen, dem Leben einen höheren Sinn abzugewinnen, auch wenn es schwerfällt. Aber der Eindruck bleibt: Der Mensch wird im Laufe seines jungen Lebens zerstückelt. Der Schriftsteller Arno Schmidt sagt: „Anton Reiser, ein Buch wie es kein anderes Volk der Erde besitzt“ (zit. in Willi Winkler,a.a.O., S. 144).

8.

Die Macht der seelischen Zerstörung durch frommen Wahn (Madame Guyon usw.) war also alles andere als total. Moritz, der so oft gelitten hat, konnte seinen Schmerz sinnvoll in seinen vielfältigen Werken überwinden. Seine Homosexualität konnte er nicht in Freiheit leben und gestalten, so sehr er auch in seinen Freund Karl Friedrich Klischnig (1788 – 1811) verliebt war…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Atheismus im Christentum: Das heißt: Atheismus inmitten des Glaubens.

Wer ist ein religiöser Mensch? Jemand, der auch Atheist ist.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Das Buch „Atheismus im Christentum“ von Ernst Bloch, 1968 veröffentlicht, sollten religiöse Menschen, Christen, Muslime, Juden wie auch Atheisten neu entdecken, auch Atheisten, die bekanntlich auch „nur“ glauben können, nämlich: Dass es Gott nicht gibt.

1.

Der Titel des Buches ist Programm. Man könnte ihn verwandeln in „Atheismus im persönlichen Glauben“. Oder: „Atheismus in meiner, in unserer Spiritualität“. Impulse werden freigesetzt für einen Glauben, der heutige Lebenserfahrungen respektiert, also auch den Inhalt des Glaubens neu gestaltet. Denn bekanntlich ist religiöser Glaube etwas Lebendiges, d.h. Wandelbares, und entgegen vielerlei rigider Praxis der Kirchen und Religionen nichts Versteinertes, nicht auf ewig Dogmatisches.

2.

Ernst Bloch will ein Gottesbild überwinden, um jetzt nur beim Christentum, den Kirchen zu bleiben, das dort bestimmend wurde: Gott wird als Himmels-Herrscher verehrt oder als „Rachegott“ gefürchtet. Dieser Gott bremst die Freiheit aktiver Lebensgestaltung, behindert den Elan, für die universale Gerechtigkeit unter den Menschen auf dieser Erde einzutreten. Bloch wehrt sich aber auch gegen eine andere Gestalt banalen Glaubens, den banalen Atheismus, etwa in „Gespräche mit Ernst Bloch“, 1975, Seite 170. Dieser Atheismus begrenzt sich schlicht darauf, die Materie für „alles“ zu halten und diese zu verehren und … Gott zu bekämpfen. „Mir geht es hingegen um revolutionären Atheismus in Religionen selber, insbesondere dem Christentum, wie man weiß“ (S. 170).

3.

Bloch zeigt, dass Menschen wesentlich von der geistigen Kraft des Transzendierens bestimmt sind. Das heißt: Sie haben die innere, die geistige Energie, über jeden vorfindlichen Zustand hinauszustreben, das erinnert deutlich an Hegel. Bloch denkt entschieden an politische und ökonomische Verhältnisse, die die Menschenwürde aller bekämpfen und ausschließen. Diese Energie für ein „Transzendierens nach vorne, in die bessere Zukunft der Menschheit und der Welt zu entwickeln, ist die wahre spirituelle Leistung der Menschen, vor allem derer, die sich Christen nennen.

4.

Damit wird die Dimension des „Atheismus in meinem, in unserem Glauben“, erreicht:

Wer den Herrscher – Gott im Himmel, den Rächer und wundertätigen Willkürgott, der mal hier, mal dort Wunder für diesen oder mal für jenen tut, wer also diesen Willkür-Gott ablehnt und vernünftig und emotional überwindet, gerät in eine Art Zwischenraum, in eine Leere. Die ist bestimmt von der Erfahrung des Verlustes des alten Gottes UND dem Nicht-Dasein einer neuen zentralen Lebensmitte, sagen wir eines „neuen Göttlichen“, das man in Erwartungshaltung vielleicht den neuen gründenden Sinn, das Heilige, nennen könnte. Aber eben nicht mehr den angelernten Gott aus Kindeszeiten.

Im leeren Zwischenraum ist die Stimmung des Abschieds bestimmend, auch der Angst, etwas Wesentliches und Altvertrautes verloren oder aufgegeben zu haben. Aber doch setzt sich die Einsicht und die Gewissheit durch: Das „alte, überkommene, angelernte, Gottesbild“ stört unsere gegenwärtige Lebenserfahrung und die vernünftige Einsicht. Denn das überwundene, alte Gottesbild ruhte also wie ein „erratischer Block“ in unserem Leben. Damit deutet sich schon an, dass die Leere, der Zwischenraum, um der geistigen Gesundheit willen verlassen werden sollte. Eine neue, humanere Vorstellung von dem Göttlichen oder dem Sinn-Gründenden deutet sich an.

5.

Man könnte bei Bloch also lernen: Wer als Christ diese Situation der Leere, des Übergangs, erfährt und begrifflich denkt, erlebt für sich selbst und in sich selbst den „Atheismus im Christentum“: Der religiöse Mensch, der Christ, ist also Gott „los“ geworden, d.h. gottlos geworden, befreit von einem Gott, der das Leben behindert und die Unreife der Menschen fördert. Bloch weist sehr treffend darauf hin, dass der Philosoph und Mystiker Meister Eckart im 14. Jahrhundert seinen dringenden Wunsch formulierte, er möge „Gottes quitt“ sein, also gott-los werden. Dies sagte er nicht aus einer unreflektierten Zustimmung zu einem vulgären Atheismus. Vielmehr wusste er: Das dingliche und greifbare und verfügbare allgemeine christliche Gottesbild verfälscht den „göttlichen Gott“. Und die Bindung an ihn macht den Menschen unfrei, kettet ihn an Phantome, die Angst erzeugen und verwirren.

6.

Bloch hat also einen Vorschlag, diese Phasen der Leere und des Atheismus als Phasen der Gesundung, der Reifung, des geistigen und politischen Wachstums zu verstehen. So können diese Momente und Zeiten des Übergangs, der Leere, des Atheismus, gelebt werden. Sie sind immer wieder neu sich einstellende Momente einer spirituellen Lebendigkeit. Man könnte also sagen: Wer als Christ nicht oft auch Atheist gewesen ist, hat nicht in einem lebendigen Leben, in einer lebendigen Spiritualität, gelebt. Und diese Lebendigkeit ist wesentlich das dauernde Transzendieren als das Überwinden jeglicher Fixierung. Und gerade dieses dauernde Transzendieren ist das eigentlich Feste und Bleibende im Leben.

7.

Darauf kommt es entschieden an: Religiöse Menschen, also noch einmal Christen, Juden, Muslime, Atheisten sollten diese ihre geistige Struktur, das Transzendieren, als ihren religiösen Mittelpunkt erkennen. Transzendieren ist im Sinne Blochs das  sehr weltliche und politische Transzendieren in eine bessere Zukunft für die Menschheit! Das Ziel des Transzendierens ist für Bloch nicht der vertikal zu denkende göttliche Herr des Himmels und der himmlischen Heere, sondern das umfassend humane Reich der Zukunft. Bloch sprich in dem Zusammenhang von „Transzendieren ohne Transzendenz“, also ohne göttlichen „Himmel“. Es wäre jedoch zu fragen, ob dieses Transzendieren in eine umfassend humane Zukunft („vorwärts“, wie Bloch sagt) nicht bereits schon das Göttliche im Menschen ist. Ich würde den Gedanken unterstützen. Bloch lehnt ihn ab, weil er mit der Voraussetzung einer mit der „Schöpfung“ gegebenen, sozusagen an gelegten geistigen Kraft des Transzendierens rechnet.

8.

Der Atheismus Blochs ist etwas sehr Spezielles. Für Bloch ist die Gestalt Jesu von Nazareth zentral, den er – wie viele andere auch – als „Menschensohn“ versteht, im Anschluss an das Neue Testament. Jesus als der „Menschensohn“ ist die herausragende Gestalt unter den Menschen mit einer radikalen humanen Botschaft. Bloch schreibt: „Jesu Wort: Was Ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan ist entscheidend: Plötzlich erscheint keine Obrigkeit mehr…hier also ist der Gott, der von oben herrscht, vollkommen weg. Und eine Rückwendung auf den Menschen ist da, und zwar zu den Armen, Erniedrigten…Man kann das schon Atheismus nennen, da der theos, der Gott (in seiner Macht) gestürzt wird“ („Gespräche mit Ernst Bloch, S. 171). Jesus wird also gerade als Zeuge einer Humanität zugunsten der Armen und Ausgegrenzten zu einer Art erlösendem, befreienden Vorbild.

9.

Wer sich von den Einsichten Blochs anregen lässt, wird auf eine philosophische und theologische Entdeckungsfahrt geschickt: Ohne Atheismus als Erfahrung inmitten des Lebens gibt es keine Spiritualität. Diese Aussage steht etwa gegen die Kirchen, die immer als Ideal predigen, nur den reinen Glauben allzeit zu leben sei Ausdruck der Heiligkeit und Vollkommenheit. Nur das Gute, nur das Fromme allein zu leben ist in der Sicht Blochs naiv: Glauben ohne in atheistische Phasen zu gelangen, ist etwas Stagnierendes. Der reflektierte Atheismus findet immer wieder zu einer neuen Glaubenshaltung. So entsteht eine geistvolle Dialektik inmitten des Lebens.

10.

Noch einmal: Auch der Atheist ist von einer Glaubenshaltung bestimmt , von der Überzeugung, dass kein Gott ist. Atheisten als Glaubende: Das wäre auch ein Aspekt, der sich aus Blochs „Atheismus im Christentum“ ergeben könnte. „Atheismus ist auch Glauben“ wäre dann der weiterführende Titel. Dieser Atheist kann sich aber von „christlichen Atheisten“ belehren lassen: „Den Gott, den ihr Atheisten ablehnt, den lehne ich als Glaubender genauso ab. Insofern sind wir, Atheisten wie Glaubende, in der Dialektik des Lebens immer in ganz neuer Weise Atheisten. Wir beide, Christen und Atheisten, sind gottlos, nämlich in unserer Ablehnung des banalen Gottesbildes.

11.

Das Nachdenken müsste natürlich Konsequenzen haben in der religiösen oder auch in atheistischen Bildung. Bleiben wir bei der religiösen, der christlichen Bildung etwa der Kinder. Kindgemäße Hinweise auf die göttliche Wirklichkeit lassen sich bestimmt nicht durch das Auswendiglernen von Sprüchen und Gebeten oder durch Kindergottesdienste mit viel kindlichem Tralala erreichen. Wichtiger wäre eine kindgemäße Einführung in das, was man die Tiefe und das Geheimnis des Lebens und der Welt nennt. Dann ist von dem unmittelbar eingreifenden wundertätigen Gott keine Rede mehr, Lehren, die so viel Verwirrung stiften bis ins hohe Lebensalter:  Da wird dann mit einem naiven kindlichen Glauben noch im reflektierten, reifen Alter behauptet: „Wenn Gott dies und das zulässt und nicht als Gott direkt eingreift, dann glaube ich nicht an ihn“.

12.

Solche religiös-kindliche Dummheit kann aber überwunden werden, wenn Kinder und Jugendliche anstelle des üblichen religiösen Tralala eben Meditationen, Achtsamkeit, sowie im Spiel das Nachgestalten bestimmter Parabeln Jesu lernen und üben. Das Verstehen der Religionen darf nie auf einer kindlichen, ich möchte sagen, infantilen Stufe stehen bleiben. Insofern ist mancher „Atheismus“ im Christentum auch oft nichts anderes als die Ablehnung des infantilen Glaubens im Christentum. Der Wiener Psychoanalytiker Erwin Ringel hat dieses Phänomen schon vor einigen Jahren auf den Begriff gebracht: „Religionsverlust durch religiöse Erziehung“, heißt sein Buch, 1985 erschienen. Oder den Titel variierend: „Atheismus durch das Sich Klammern an infantile Gottesbilder“. Dieser „Atheismus“ sollte unbedingt überwunden werden. Aber diese authentische, „sachgemäße“ religiöse Bildung kann kaum noch vermittelt werden, weil sich so viele von der Religion längst abgewandt haben. Sie meinen, es gäbe Religion, es gäbe Christentum, nur in dieser dummen, naiven, infantilen Gestalt. Die freilich die Kirchen aus Mangel an spiritueller Lebendigkeit und , dogmatischer Sturheit fortsetzen, bis zu ihrem eigenen Ende, dem Absterben des Christentums. Nietzsche hat treffend gefragt: Wird die Kirche zum Grab Gottes? (Siehe Friedrich Nietzsches, Die fröhliche Wissenschaft, 1887, III. Buch, Nr. 12).  LINK.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Jean-Luc Nancy: „Das Christentum hat sich von mir abgewandt. Aber die wahre Mystik blieb mir“

Der Philosoph Jean-Luc Nancy ist gestorben

Ein Hinweis von Christian Modehn

Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy ist am 23.8.2021 im Alter von 81 Jahren gestorben, er war viele Jahre Professor in Straßburg, er ist einer der wichtigsten Philosophen unserer Gegenwart.  Sein philosophisches und literarisches Werk ist äußerst lebendig und umfangreich, mehr als 100, zum Teil viel beachtete Bücher hat Nancy publiziert. Er war auch mehrfach in Berlin zu Vorträgen und Debatten. Etliche längere Interviews auf Deutsch sind in der sehr empfehlenswerten Zeitschrift „Lettre International“ erschienen….

Dieser Hinweis ist natürlich keine „Gesamtwürdigung“ seines Werkes.  Es ist sehr komplex und zudem für „schnelle Lektüre“ ungeeignet…Das sollte aber niemanden hindern, Nancy zu studieren. Hier werden nur einige Stellungnahmen Nancys genannt werden, die in der Pariser Tageszeitung „La Croix“ kürzlich veröffentlicht wurden. Die ausgewählten Stellungnahmen beziehen sich vor allem auf das immer deutliche religiöse bzw. auch religionsphilosophische Interesse von Jean-Luc Nancy. Und das passt gut in den Schwerpunkt unseres philosophischen Salons.

1. Zur christlichen Biographie Nancys:

Im Alter von etwa 28 Jahren trennt sich Nancy vom christlichen Glauben und der katholischen Kirche, er war in der Gemeinschaft J.E.C., „Jeunesse Etudiante Chrétienne“, in der „Christlichen studierenden Jugend“, einer Organisation der katholischen Kirche, aktiv engagiert und interessiert“. (Zur J.E.C. gehörten viele Intellektuelle und Politiker, wie Francois Mitterrand, René Rémond, Georges Montaron und andere. Die J.E.C. besteht bis heute, als progressive, linke katholische Organisation). Jean-Luc Nancy: „Die Zugehörigkeit zum Christentum war für mich absolut untrennbar mit einer politischen und sozialen Vision. Wir waren in der JEC sehr engagiert zugunsten der Demokratisierung des Unterrichts und der Ausbildung. Ich war Christ, ganz und gar. Aber ich muss sagen: Das Christentum hat sich von mir abgewandt, wie von einer ganzen Generation. Denn im Jahr 1957 kritisierten die französischen Bischöfe die progressive Haltung der J.E.C. Das war für mich wie ein Donnerschlag und so befreite ich mich von der Kirche, die mir als eine Gestalt des Konservativen und der Macht erschien. Diese Loslösung von der Kirche war möglich, weil ich die Philosophen Hegel, Heidegger und Derrida entdeckte. Diese Philosophen sagten mir nicht: Ich bringe dir das Heil. Aber sie ließen mich lebendig sein“.

Aber es bleibt für Nancy nach dem Abschied vom Christentum: „Etwa die Interpretation der Bibel. Ich sah, dass man förmlich bis ins Unendliche den Sinn eines Textes entdecken kann“.

2. Das andere Herz

Nancy hat oft davon gesprochen, dass ihm 1992 ein Herz transplantiert wurde, darüber hat er 2000 ein Buch geschrieben mit dem Titel „L Intrus“, „Der Eindringling“. Er wendet sich an den Menschen, der, ohne es zu wissen, ihm sein zweites Herz gegeben hat.

3. Gemeinschaft leben und Gemeinschaft denken

Ein Mittelpunkt der Philosophie Nancys steht sicher die Reflexion über die Gemeinschaft der Menschen, auch die Gleichheit der Menschen, sowie ihre Krankheiten, aktuell von ihm reflektiert das Corona-Virus. Dazu das Buch „Un trop humain virus“ 2020, erschienen in den Editions Bayard Paris. In dem Interview mit „La Croix“ spricht er über das Gesundsein heute.  „Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Gesundheit ein wesentliches Gut ist, aber auch ein Recht. Jeder kann es fordern. Trotzdem: Die Gesundheit ist nicht die Wahrheit der Existenz…Heute ist die Gesundheit zu einer Art Selbstzweck geworden. Wozu  sollen wir denn bei guter Gesundheit sein? Für welche Ziele leben wir? Das ist nicht mehr klar.“

4. Der kulturelle Bruch

„Seit der Verkündigung des Todes Gottes durch Nietzsche sind wir in eine Epoche der Unsicherheit eingetreten. Ich denke oft an den Satz von Jean-Christophe Bailly, einem überzeugten Atheisten, der in seinem Buch „Adieu“ geschrieben hat: Der Atheismus war nicht imstande, seine eigene Wüste zu bewässern. Ich glaube, diese Diagnose ist völlig korrekt. Die moderne Zivilisation hat nichts vorgeschlagen, um die Gestalt des Gottes zu ersetzen, die ausgelöscht wurde. Ich habe die Gewissheit, dass es eine neue spirituelle Revolution geben wird, dass die Zeit dafür gekommen ist, aber das kann vielleicht noch 300 Jahre dauern.“

5. „Wir sind Kinder Gottes“?

Nancy fragt sich, was denn letztlich die Gleichheit der Menschen heute legitimieren und beweisen könnte. „Man muss anerkennen, dass wir es nicht wissen… Im Laufe unserer Geschichte wurde das Christentum wichtig…Man sagte: Man ist ein Kind Gottes, das legitimierte die Gleichheit. Aber außerhalb der Religion, wie kann man die Gleichheit denken“?

6. “Wir tappen im Dunkeln

„Aber was die Zukunft angeht, kann ich nichts voraussagen und vorschlagen. Ich tappe im Dunkeln. Trotzdem: Wenn man sich im Dunkeln befindet, ist man niemals gänzlich in der totalen Finsternis. Im „Schwarzen“ lebend, sieht man auf andere Weise, nicht durch die Augen, sondern durch andere Sinne, das hören, das tasten…

7. Was bleibt?

„Ich habe in der Philosophie Hegels so etwas wie die Wahrheit des Christentums gefunden!  Hegel ist jemand, der in der wahren Bewegung des Geistes bleibt, eines Geistes, der die Grenzen überschreitet. Wichtig ist für mich auch der Philosoph Meister Eckart. Er sagte: „Bitten wir Gott, dass er uns in der Freiheit erhält und dass wir von Gott frei werden“.  Bei der Mystik heute muss ich eine gewisse Erschöpfung feststellen, heute sind die großen Debatten über die Mystik förmlich banalisiert. Ein sehr großer Teil der Menschheit heute verlangt nach Religion, aber die Menschen begnügen sich mit groben und dummen Sprüchen, die ihnen vorgesetzt werden. Unerträglich, was man so an Predigten der Evangelikalen hört…

8. Was ist Philosophie?

“Die Philosophie ist die Arbeit des Denkens. Philosophie gehört nicht zur Ordnung eines Wissens. Sondern eher: Dazu kommen, Worte für das zu geben , was man lebt. Die Aufgabe des Denkens ist die (Wiederer)-Öffnung, das Erwachen, das Aufgreifen der dringenden Bitte um Sinn. Philosophieren beginnt da, wo der Sinn unterbrochen ist. Aber der Sinn ist nicht eine Art Lager an Bedeutungen, kein Lager der Antworten und der Erklärungen der Welt, die irgendwo niedergelegt sind und die man teilen sollte”. Nein! Das Teilen, das ist der Sinn.  (Philosophie Magazine, Paris, August 2021).

9. Und die Freude?

Die Philosophie von Nancy ist geprägt von der Freude, der Anwesenheit der Lebensfreude. „Aber Freude ist nicht Zufriedenheit. Sie ist ein Affekt des Geistes, man weiß sich über jede Zweckbestimmung Begrenzung und jede Ganzheit hinausgetragen. Was die Freude für einen Grund hat, vermag ich nicht zu sagen…in jedem Fall: Die Freude kommt immer von einem „anderswoher“ (d`ailleurs). Von anderen, nicht von mir. Von den großen Gedanken der Philosophen, der Worte der Poeten, der warmen Zuneigung der Personen, der Schönheit der Kunst und der Körper. Natürlich, diese Erfahrung der Freude ist nicht immer da. Aber wenn sie kommt, dann berührt das, dann ist das ergreifend“.

Copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin

“Eigentum ist Diebstahl“ (Proudhon, 1809 – 1865)

Über den Philosophen Pierre-Joseph Proudhon
Von Christian Modehn, im August 2021.

Ein Motto eines Kirchenlehrers, des Hl. Johannes Chrysostomos: “Den Armen nicht einen Teil der eigenen Güter zu geben bedeutet: Von den Armen zu stehlen. Es bedeutet: Sie ihres Leben zu berauben. Und: Was wir besitzen, gehört nicht uns,  sondern ihnen”.

Das Zitat findet sich auch im Schreiben (“Enzyklika”) von Papst  Franziskus “Fratelli Tutti” (aus dem Jahr 2020), mit dem Titel: “Über die Geschwiserlichkeit und die die soziale Freundschaft”. (Dort die Nr. 119, zu Johannes Chrysostomos: De Lazaro Concio, II, 6: PG 48, 992D.) Wegen seines radikalen Eintretens für die Rechte der Armen wurde Bischof Johannes Chrysostomos (344-407) von den reichen Christen gehasst und verfolgt…

Das aktuelle Thema:
Das Thema „Eigentum ist Diebstahl“ hat, wie alle wissen, eine aktuelle Bedeutung. Es geht z.B. um das Monopol einiger Pharmakonzerne, etwa der Corona-Impfstoff-Hersteller Pfizer und Moderna. Deren Jahresumsatz 2021 wird auf 50 Milliarden Dollar geschätzt. Die Konzerne haben den Preis trotz aller Gewinne für eine Dosis erhöht, Moderna von 19 Euro auf 21,60 Euro, Pfizer von 15,50 auf 19,50 Euro. Die demokratischen Regierungen der reichen Länder nehmen das gelassen hin. Die armen Länder gehen leer aus, so verbreitet sich dort das Virus – auch mit neuen Varianten, die dann auch die reichen Länder der Reichen erreichen…
Jetzt sind wir beim Thema: “Eigentum ist Diebstahl“. Die Hersteller der Impfstoffe beharren absolut auf den Patenten ihrer Impfstoffe, sie wollen deswegen unerhörten Gewinn weiterhin machen, schützen also ihr so genanntes geistiges Eigentum. Dabei ist die Impfstoff-Forschung auch von der Allgemeinheit, auch von Steuergeldern, bezahlt worden.
Aber das Eigentum, den Profit, maßen sich die Aktionäre an, es allein genießen zu dürfen. Denn in der kapitalistischen „Ordnung“ ist Eigentum, auch so genanntes geistiges Eigentum, absolut heilig. Sogar die Regierung eines ultra-kapitalistischen Landes, die USA, plädieren nun für die Freigabe dieses so genannten geistigen Eigentums „Impfstoff“. Die US-Regierung wünscht, dass die Armen in den armen Ländern doch ein bisschen mehr Impfstoff abbekommen. Anlagen für die Produktion von Impfstoffen könnten – wie schon in Deutschland, siehe Biontech in Marburg – auch in armen Ländern in kurzer Zeit gebaut werden.

Zu Pierre-Joseph Proudhon:

Interessant ist in dem Zusammenhang das Studium des äußerst umfangreichen Werkes Pierre – Joseph Proudhons (geboren 1809 in Besancon, gestorben 1865 in Paris), es ist inspirierend aus politischen, ökonomischen und religionskritischen Gründen. Neben Babeuf ist Proudhon wohl der einzige Begründer eines Sozialismus, der als Autodidakt handwerklichen und bäuerlichen Kreisen entstammt.
Wichtiger aber ist: Proudhon ist einer der ersten Denker des 19. Jahrhunderts, der die absolute Gültigkeit des Privateigentums (etwa vertreten durch John Locke im Jahrhundert) kritisiert hat und ablehnt und Alternativen zeigt, die in die Richtung der heute diskutierten COMMONS gehen.

1.
Der französische Philosoph und Ökonom Pierre-Joseph Proudhon (1809 – 1865) ist meist nur wegen seiner These „Eigentum ist Diebstahl“ bekannt. Diese von ihm inhaltlich begründete Erkenntnis wird wie ein Slogan benutzt und nicht in den Kontext des Denkens von Proudhon gestellt. So wird diese Erkenntnis wie eine Waffe gegen ihn verwendet von fanatischen (meist religiösen, meist chriostlichen) Verteidigern „des“ „heiligen“ Eigentums.
Das Zitat „Eigentum ist Diebstahl“ wurde in Proudhons Schrift „Was ist Eigentum?“ im Jahr 1840 veröffentlicht.

2.
Dass die Auseinandersetzung mit der These „Eigentum ist Diebstahl“ aktuell ist, muss nicht erklärt werden.

Auch heute ist die Vorstellung von der Unantastbarkeit, wenn nicht der „Heiligkeit“ des Privateigentums in der kapitalistischen Welt allgemeines Dogma: Weil alles der Logik des Marktes unterworfen werden darf, ist alles für Privatleute wie für international agierende „Firmen“ käuflich und damit in Privat – Eigentum verwandelbar: Gesundheit, Arbeit, Wohnen, Wasser, Wald, also auch die der Menschheit als Menschheit gegebene Natur im ganzen.

Einige tausend Menschen wurden und werden bei dieser totalen Käuflichkeit von allem zu erfolgreichen Eigentümern und zu Dollar Milliardären. Diese auf die Weltbevölkerung bezogen verschwindend kleine Minderheit (abgesehen von den hunderttausenden von Dollar Millionären) verfügt in vielen Ländern schon weit über die Hälfte des gesamten Einkommens. Das hat „Financial Times“ berichtet, die ZEIT zitiert: „So ist die Anzahl der Superreichen im Pandemiejahr von 2.000 auf 2.700 weltweit gestiegen. Eines der schillerndsten Beispiele ist der Tesla-Gründer Elon Musk, der 2020 sein persönliches Vermögen von 25 Milliarden auf 150 Milliarden Dollar gesteigert hat. Aber er ist keine Ausnahme. Es gibt mit Amancio Ortega in Spanien (Inditex-Modekonzern), Carlos Slim in Mexiko (Telekommunikation) oder Bernard Arnault in Frankreich (Luxusmode) sogar einzelne Personen, deren individuelle Vermögen mehr als fünf Prozent der Wirtschaftsleistung ihres eigenen Landes ausmachen. Und in Deutschland: So zeigen die Berechnungen der Financial Times, dass die Zahl der Milliardärinnen und Milliardäre hierzulande um 29 auf 136 Personen gestiegen ist. Deren Vermögen sind im Jahr 2020 um mehr als 100 Milliarden Euro oder drei Prozent der Wirtschaftsleistung Deutschlands angewachsen. (Die Zeit, 20.5.2021). Nebenbei: Der mexikanische Milliardär Slim ist ein enger Freund des katholischen Ordens der “Legionäre Christi”, der seinerseits über viele Millionen Dollar Eigentum verfügt…und einen nun auch päpstlich anerkannten Verbrecher als Ordensgründer hat, den Sexualverbrecher Pater Marcial Maciel.

3.
In einer Welt, die die universal geltenden Menschenrechte wenigstens noch verbal in einigen Staaten anerkennt und faktisch wohl auch manchmal noch durchsetzen möchte, muss die ungleiche Verteilung des Eigentums debattiert und, im Falle von monströs großem Eigentum,  auch aufgehoben werden. Heilig ist nicht das Milliardeneigentum einzelner, sondern einzig das voll entfaltete Leben aller Menschen. Diese Erkenntnis ist ethisch korrekt und wahr, sie wird leider eher selten ausgesprochen und debattiert, etwa in Zeiten des Wahlkampfes 2021 gar nicht. Selbst sich noch links nennende Parteien haben Angst vor politisch wirksamer „Milliardärs-Kritik“.

4.
Diese Angst hatte der Philosoph Proudhon nicht. Eigentum, begrenzt für den persönlichen Gebrauch in der Gestaltung des eigenen Alltags, ist für Proudhon selbstverständlich legitim, zur Entfaltung der einzelnen Menschen kann darauf gar nicht verzichtet werden. Eigentum an Produktionsmitteln ist etwas anderes als Besitz von Dingen des täglichen Bedarfs. Jeder Mensch braucht zum Leben Besitz, Dinge, die den Alltag und die Lebensgestaltung ermöglichen.
Aber dann fährt Proudhon fort: Maßlos ist das Eigentum einzelner Millionäre, es kann nur zustande gekommen sein als „Diebstahl“, wie Proudhon ausführt, also durch Ausbeutung vieler anderer.

Es geht darum: Aus dem Eigentum an Produktionsmitteln maßlosen Profit zu machen, aktuell: ohne für diesen Gewinn bestenfalls nur einen Finger am Computer-Bildschirm krumm zu machen, also ohne persönlich zu arbeiten… dies ist für Proudhon aus ethischen und politischen Gründen verwerflich und zu überwinden. Werte und Eigentum werden nur durch Arbeit geschaffen. Das gilt für alle Menschen: „Dieses Eigentum ist unmöglich, weil es die Verneinung der Gleichheit ist“, betont Proudhon. Der gierige „homo oeconomicus“ (also der ganz aufs Ökonomische und den Profit fixierte Mensch) ist ein „Zerrbild der Menschlichkeit, ebenso wie eine Eigentumsmarktgesellschaft, deren öffentliche Räume zerfallen“ (so der Philosoph Helmut Rittstieg, Artikel „Eigentum“, in: Enzylopädie Philosophie, Band I, S.453).

Man könnte von einem Einkommen ohne Arbeit, also einem „arbeitslosen Einkommen“, sprechen. “Der Eigentümer erntet, ohne zu säen”, betont Proudhon. Und dieser Geld-Gewinn ist nur möglich, weil andere Menschen von dem Eigentümer ausgebeutet werden.

5.
Proudhon lässt sich in seiner Kritik am Eigentum von der grundlegenden Idee der universalen Gerechtigkeit leiten, Gerechtigkeit steht im Mittelpunkt seiner Argumente ! Sogar der katholische Theologe Henri de Lubac hat sich in seiner Studie „Proudhon et le christianisme“ (Paris 1945) mit dieser zentralsten Idee Proudhons befasst: „Er war nicht weit davon entfernt, die Gerechtigkeit wie ein sakrales Erlebnis zu deuten und die Gerechtigkeit zu lieben wie eine Person“. Proudhon sagt: „Wir, die wir eine dem Menschen eingegebene, „immanente“ Moral zusprechen, wir, die wir wollen, dass Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen, wir sind überhaupt keine Atheisten. Wir setzen die Gottheit nur um“ (Carnets, II, 178). D. h.: Wir setzen also an die Stelle des kirchlichen Gottes die Gerechtigkeit.

Und schon in seiner Schrift „Was ist Eigentum“, betont er: “Gerechtigkeit als „Gott“, nichts als Gerechtigkeit, das ist das Resumé meines Vortrags“. Dabei spielt die religiöse Überzeugung eine entscheidende Rolle: Proudhon kannte die katholische Kirche und die Theologie seiner Zeit sehr genau. Aufgrund seiner Tätigkeit, schon als Schriftsetzer las er Theologen wie Boussuet, Calmet, Fenelon und andere. Die Bibel in lateinischer Sprache hat er stets bei sich gehabt. Auch das Wörterbuch von Bergier („Dictionnaire théologique de Bergier“) wurde von ihm gelesen. Aber den kirchlichen Glauben an Gott im Jenseits hat Proudhon entschieden abgelehnt, die Kirche erschien als ideologische Stütze der bourgeoisen Eigentums-Fixierung. Aber er lobt die Gestalt Jesu, ist angetan von Jesu Geist der Revolte gegen allen Dogmatismus. Darin eröffnet er eine Tradition religionskritischer Denker, die Jesus von Nazareth aus dem dogmatischen Korsett der Kirche befreien und als ein Vorbild preisen, wie auch später Nietzsche, Agamben usw.
Proudhon betont: “Religion ist für den Menschen, nicht aber der Mensch für die Religion (Kirche) geschaffen“. Sein bedeutendstes Werk heißt “De la Justice dans la Révolution et dans l’Eglise” (1858; „Die Gerechtigkeit in der Revolution und in der Kirche“). Es wurde von den reaktionären, herrschenden Kreisen als antiklerikales Buch wahrgenommen, Proudhon musste nach Belgien fliehen.

6.
Ob man Proudhon „Atheist“ nennen sollte, ist fraglich, eher würde das Stichwort „radikaler Agnostiker“ und“ Kirchen-Feind“ passen. Denn vom Phänomen des Religiösen kommt er bei aller Fraglichkeit nicht los. Er meine sogar, jede Kirche könnte ein Fragment der einen universalen Religion enthalten. Es ist nicht erstaunlich, dass Proudhon sich in einer Freimaurer Loge wohlfühlen wollte, 1847 wurde er in der Loge der „Sincérité, Parfaite Union et Constante Amitié, Orient de Besançon“ aufgenommen.

7.
Wenn Eigentum unter dem Maßstab universaler Gerechtigkeit steht, muss also das Eigentum verteilt werden. Das Eigentum an Grund und Boden muss in der Verfügung der staatlichen Gemeinden bleiben, die den Grund und Boden befristet den Pächtern übergeben.
Proudhon hat als Ziel seiner Kritik alles andere als den Kommunismus (marxistischer Prägung) vor Augen: Wenn im Kapitalismus die wenigen Starken mit ihrem Eigentum die vielen Schwachen ausbeuten, so dreht sich im Kommunismus das Ganze bloß um: „Der Kommunismus ist die Ausbeutung der wenigen Starken (Enteignungen) durch die vielen Schwachen (unter Führung einer zentralistischen Partei)“. Deswegen kam es auch 1847 nach ersten Anzeichen von Sympathie von Karl Marx für Proudhon zu einem Zerwürfnis zwischen beiden. Proudhon wird also eher der „anarchistischen“ Tradition zugerechnet. Im Russland des 19. Jahrhunderts spielte er eine inspirierende Rolle, etwa bei Tolstoi oder Dostojewski (siehe Fußnote 1) Bakunin war den Ideen Proudhons eng verbunden. Proudhon wird zurecht der „anarchistischen Bewegung“ zugerechnet, weil er die staatliche Herrschaft und Macht durch ein vertraglich festgelegtes Netzwerk gesellschaftlicher Organisationen ersetzen wollte.

8.
Proudhon setzt im Unterschied zu den Marxisten-Kommunisten auf radikale Reformen, und dabei suchte er nach alternativen Konzepten. Der die Produktionsmittel Besitzende soll dann nur über so viel verfügen dürfen, wie er selbst für sich bzw. seine Familie braucht. Viele dieser nur noch besitzenden Produzenten sollen dann im Austausch miteinander arbeiten; sie sind nicht einander Konkurrenten oder gar Feinde. Der Gedanke der wechselseitigen, gegenseitigen Hilfe („Mutuellisme“) ohne eine allmächtige Zentralregierung war für Proudhon zentral. Von der Diktatur einer Klasse, etwa der Proletarier, hielt er gar nichts. Er wollte das System, in dem sich der Eigentümer von der Arbeit fremder Arbeiter bereichert, unterbrechen und abbrechen. 1849 gründete Proudhon eine „Banque Populaire“, also eine „Volksbank“, sie sollte zinslose Kredite an Arbeiter gewähren. 1848 wurde Proudhon als Sozialist in die Nationalversammlung gewählt. Als Kritiker Napoléon Bonapartes musste Proudhon viele Jahre im Gefängnis verbringen.

9.
Proudhon hat also in der politischen Debatte und der Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus eine gewisse Rolle gespielt. Für religionsphilosophisch Interessierte lohnt sich die Auseinandersetzung mit seiner Beziehung zur katholischen Kirche seit der Kindheit, und vor allem zu seiner religiös geprägten Vorstellung von Gerechtigkeit und Gleichheit.

Zu diesen und anderen zentralen Ideen Proudhons hat die „Société P.-J.Proudhon“ in F- 72320 Courgenard hervorragende Studien als PDF-Dateien gratis zur Verfügung gestellt. (https://www.proudhon.net/)

10.
Es wäre eine weitere Arbeit zu zeigen, wie die von Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten angestoßenen Debatten über das Privateigentum auch gewisse sanfte lehramtliche Veränderungen in der katholischen Kirche bewirkt haben. Da wird gelegentlich das Gemeinwohl über das Recht auf Privateigentum gestellt, so im § 2403 des offiziellen katholischen Katechismus von 1993. Im § 2406 heißt es noch sehr allgemein und vorsichtig: „Die staatliche Gewalt hat das Recht und die Pflicht, zugunsten des Gemeinwohls die rechtmäßige Ausübung des Eigentumsrechtes zu regeln“… Wohlgemerkt: Es geht um rechtmäßige Ausübung, nicht um gerechte Ausübung des Eigentumsrechtes!

Man bedenke, dass in dem noch bis ca. 1960 üblichen Handbuch katholische Moraltheologie“ von Heribert Jone (15. Auflage 1953) unter Verweis auf das Naturrecht der „gemeinsame (!) Besitz der irdischen Glücksgüter viele Unzuträglichkeiten“ nach sich ziehen würde (S. 204). Und weiter heißt es dann: „Demnach sind die Lehren …der Sozialisten und Kommunisten falsch“. Aber immerhin: „Nur in äußerster Not darf sich jedermann etwas von den Gütern des anderen aneignen“! (ebd.). Dies gilt nur in „äußerster Not“, nicht etwa allgemein schon in schwerer Not“, wie in § 331 betont wird….Jedoch: “Güter von geringem Wert aber dürfe sich ein Armer aneignen, wenn er sich so leicht aus schwerer Not erretten könnte und auf Bitten nichts erhalten würde“. Wenn aber sehr viele Arme sich Güter aneignen, dann könnte ja vielleicht eine kleine Revolution passieren oder? Daran denkt der Autor, der Kapuzinerpater Jone, nicht…
Es gibt darüber hinaus noch reaktionäre katholische Kreise, die sich unter dem Titel der internationalen „Bewegung für Tradition, Familie, Privateigentum“ zusammenfinden. Diese Bewegung wurde von dem Brasilianer Plinio Correa de Oliveira begründet, sie hat in Deutschland ihre Zentrale in Bad Homburg (Leitung: Martin von Gersdorff). LINK in dem Beitrag „Das reaktionäre Christentum der AFD… dort das 5. Kapitel.

Von anderer Seite kann man sich dem Thema Eigentum nähern: Über die Bedeutung des Verzichtens als Tugend, LINK

Fußnote 1:
Zur Beziehung Tolstois zu Proudhon:
Schon 1857 las Tolstoi Werke Proudhons, wahrscheinlich “Was ist Eigentum”. Die Notizen Tolstois aus der damaligen Zeit beweisen einen Einfluß Proudhons auf Tolstoi.

„Anfang 1862 wich Tolstoi auf einer Reise nach Westeuropa von seiner geplanten Route ab, um in Brüssel Proudhon zu besuchen. Sie sprachen über Erziehung – womit er sich damals sehr beschäftigte -, und Tolstoi erinnerte sich später, dass Proudhon “der einzige Mensch war, der in unserer Zeit die Bedeutung des öffentlichen Erziehungswesens und der Presse verstand”. Sie unterhielten sich auch über Proudhons Buch „La guerre et la paix“ , „Der Krieg und der Frieden“, das bei Tolstois Besuch kurz vor der Vollendung stand; es besteht wenig Zweifel, dass Tolstoi wesentlich mehr als nur den Titel seines größten Romans von dieser Abhandlung übernahm, in der argumentiert wird, dass die Entstehung und die Entwicklung des Krieges eher in der Psyche der Gesellschaft zu suchen seien als in den Entscheidungen politischer und militärischer Führer“.
Quelle: https://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/leo-tolstoi/8124-george-woodcock-leo-tolstoi-ein-gewaltfreier-anarchist

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