Toleranz – die Kunst den anderen zu ertragen. Zu einem Interview mit Rainer Forst. Philosophie Magazin

TOLERANZ erkennen und tolerant leben: Ein Interview mit dem Philosophen Rainer Forst im PHILOSOPHIE MAGAZIN

Die Zeitschrift Philosophie Magazin veröffentlicht in ihrem Heft 2, 2015 (Seite 70-75) ein Interview mit dem Frankfurter Philosophen Rainer Forst (50). Er ist u.a. Leibniz Preisträger; Schüler von Habermas und Rawls und Spezialist für Fragen aus dem Zusammenhang von Philosophie und Politik.

In dem Interview plädiert er für ein differenziertes Verstehen dessen, was man so allgemein schnell und oberflächlich „Toleranz“ nennt. Rainer Forst zeigt, dass Philosophie in aktuellen Debatten eine wichtige Rolle spielen kann, genauer zu unterscheiden, kritischer auf das zu achten, was in der Öffentlichkeit verbreitet wird und schnell als „Wahrheit“ Beachtung findet.

Das Philosophie Magazin Heft 2/2015 ist auch wegen des Interviews mit Rainer Forst, das auch in Schulen und Gruppen diskutiert werden sollte, empfehlenswert.

Einige inspirierende Zitate aus dem Interview mit Rainer Forst, die Fragen stellte Nils Markwardt.

„Toleranz wird oft mit Gleichgültigkeit gleichgesetzt. Das ist jedoch falsch. Wenn ich andere Überzeugungen oder Praktiken „toleriere“, setzt das immer voraus, dass ich an ihnen etwas problematisch finde. Toleranz müssen wir nur dort aufbringen, wo uns etwas stört. Diese Form der Ablehnung ist die erste von drei Komponenten, die für den Begriff wichtig sind. Um andere zu tolerieren, braucht es dann vor allem die zweite Komponente, die Akzeptanz. Man findet Gründe, weshalb das, was einen stört, dennoch toleriert werden sollte. Dabei verschwindet die Ablehnung jedoch nicht. Obwohl man weiterhin bedenklich findet, was die anderen denken oder tun, erkennt man, wieso es richtig wäre, dies zu tolerieren. Die dritte Komponente besteht in der Zurückweisung. Denn die Akzeptanz reicht nur bis zu einem gewissen Punkt, an dem die Grenzen der Toleranz erreicht sind. Hier kommen noch einmal negative Gründe ins Spiel, nur gravierender, da damit das Ende der Toleranz gefordert wird, etwabei Verletzungen der Menschenrechte“.

……….

„Wir wollen keine toleranten Rassisten, sondern ein Ende des Rassismus. Wir wollen, dass die entsprechenden Leute ihre rassistischen Vorurteile ablegen“.

……….

„Zu glauben, es könnte irgendwo auf der Welt nicht unmoralisch sein, Menschen ihrer grundlegenden Rechte zu

berauben, ist nicht hinnehmbar“.

……….

Copyright: Philosophie Magazine.

Die empfehlenswerte Zeitschrift ist an vielen großen Kiosken zu haben.

 

 

 

Die Lehren der Philosophie. Eine Buchempfehlung

“Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik”

Zu einem Buch von Michael Hampe

Von Christian Modehn

Dieses Buch wird unseren „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ in diesem Jahr 2015 und darüber hinaus begleiten: Als Inspiration, als Kritik an festgefahrenen Vorstellungen, als Eröffnung neuer Möglichkeiten philosophischen Denkens und philosophischen Lebens. Das gilt, auch wenn das großartige Buch von Michael Hampe (Professor in Zürich) einige Fragen offen lässt, wie sollte es anders sein. Und auch, wenn das uns besonders interessierende Thema, die Möglichkeit Religion/Gott/Göttliches philosophisch zu denken, nicht in der von uns vielleicht ersehnten Ausführlichkeit diskutiert wird.

Es ist naturgemäß unmöglich, das 455 Seiten umfassende Buch auch nur annährend in Kürze zu würdigen. Ich möchte nur aus meiner Sicht auf einige besonders inspirierende Erkenntnisse Michael Hampes hinweisen, die hoffentlich zu weiterer Lektüre und Auseinandersetzung bei den LeserInnen führen. Die Verweise auf die Seiten beziehen sich ausschließlich auf das Buch, das im Suhrkamp Verlag 2014 erschienen ist.

Zentral ist der Vorschlag, Philosophie nicht länger nur als doktrinäre Lehre und behauptende Wissenschaft zu verstehen und zu praktizieren, also nicht länger nur ausgefeilte Systeme, Kantianismus, Hegelianismus, Thomismus usw. für Gestalten akademischer (Universitäts)-Philosophie zu halten. Es gibt daneben eine ganze Welt „anderer Philosophie“, die sich sehr stark an Sokrates orientiert, die mehr das Fragen als das Wissen liebt, mehr die Zweifel als die Gewissheit.

Philosophie ist für Hampe „eine Tätigkeit des Nachdenkens“, „die als nicht doktrinäres, aber auch nicht narratives Reflektieren ein intellektuelles Projekt sui generis darstellt“ (74). Mit anderen Worten: Philosophie ist zuerst Philosophieren als geistige Tätigkeit des einzelnen und auch in kleiner Gruppe, und dies muss nicht zuerst an einer Universität durch verbeamtete Professoren (55) geschehen. In unserer Sicht kann ein philosophischer Salon auch der treffende Ort des „nichtdoktrinären Nachdenkens“ sein. Das Stichwort „philosophischer Salon“ fällt unseres Wissens nicht in dem Buch, die Sache aber wird durchaus von Michael Hampe angezielt. Denn es kommt alles darauf an, Fragen zu stellen, die nicht nur aus dem internen Disput der Fachphilosophen erwachsen, sondern die aus dem Leben der TeilnehmerInnen sich aufdrängen. „Die philosophische Rede führt uns eigene Erfahrungen distanzierend vor Augen. Sie sucht nach den richtigen Begriffen für diese Erfahrungen und fragt, wie diese zu bewerten sind“ (74). Und diese Erfahrungen sind jeweils neu und immer anders, so dass sich Philosophie als ein andauernder Neubeginn verstehen sollte. Sie ist keine Wissenschaft, die Schritt für Schritt allgemein gültige Erkenntnisse niederlegt, Philosophie ist ganz anders, spielt eine Sonderrolle im Gesamt der Wissenschaften und Künste. „Man kann Philosophie nicht lernen wie Physik“, steht auf dem Buchumschlag. Philosophie lernt man vor allem, indem man eine hohe Sensibilität für je individuelle Lebenserfahrungen pflegt, die sich je anderen Texten mit je anderer Sprache ausdrücken. Philosophieren ist darum stets Neubeginnen.

Der sokratische Impuls des Fragens, des Erschütterns, des Offenhaltens, zieht sich für Hampe durch die ganze Geschichte der Philosophie verstanden als nicht-doktrinäre Philosophie. Diese Tradition gilt es neu zu beleben, damit Philosophie wieder „etwas Persönliches“ (54) wird und die „Deplaziertheit lehrbuchartiger Texte“ (ebd.) freigelegt wird. Wer diese auf die Individualität abhebende Philosophie fördert und fordert, will sozusagen den einzelnen retten vor der gängigen Vereinnahmung in Allgemeinbegriffe. Dabei ist sich der Autor durchaus bewusst, dass auch im Ausdruck einer individuellen Einzelerfahrung durchaus allgemeine Begriffe eine Rolle spielen. Die Frage aber ist, wird das Gesicht des einzelnen deutlich oder wird dieses Individuum eher mit der allgemeinen Maske des allgemein Menschlichen versehen. Um die Geltung des Individuums muss die nicht-doktinäre Philosophie ringen. Und sie findet Impulse für diesen Weg durchaus in der Literatur, die ja bekanntermaßen nicht von „dem“ Menschen spricht. Diese Hinweise Hampes verlangen eine weitere ausführliche Diskussion, er selbst verweist auf John M. Coetzees Roman „Elizabeth Costello“. Da wird deutlich, wie “Romanautoren” selbst philosophische “Leistungen” vollziehen.

Es sind oft auch einzelne, kleinere Passagen in Hampes Buch, die zu ausführlicherem Nachdenken und Debattieren einladen. So etwa, wenn er schreibt, das philosophische Experimentieren mit Begriffen aus der Überzeugung geschieht, „dass unser Sprechen und unser Leben so miteinander verbunden sind, dass eine gemeinsame Veränderung in unserem Sprechen auch eine Veränderung in unserem Leben darstellt“ (67). Noch deutlicher: Mit der Liebe zur Weisheit verbindet sich die Hoffnung, dass sich „unser Leben verbessern lässt, wenn wir unsere Sprache verändern“ (68). Die praktische Relevanz des individuellen Philosophierens, also der Pflege der Weisheit, wird so klar formuliert: „Durch Nachdenken zu einem besseren Leben“ zu kommen. Und das Nachdenken sich und anderen sagen, in Worten, die individuell berührend, in die Tiefe gehend sind, und deswegen verändernde Kraft haben können.

Viel Beachtung verdienen auch die Hinweise zu einer aus dem individuellen Leben heraus sprechenden Philosophie, die sich der Grenzen der begrifflichen Sprache bewusst ist: Und dann eher das Schweigen bevorzugt, aber nicht das beliebige Verstummen der Sprachlosen ist gemeint, sondern das wissende Schweigen derer, die ihr gemeinsames Schweigen verstehen und bejahen. Da werden Dimensionen der Mystik berührt oder Heideggers Hinweise zum „Erschweigen“ angesichts der Seinserfahrung. Interessant ist dabei der knappe Hinweis auf das Schweigen Jesu während seines Prozesses (381 f.).

Das Buch verlangt höchste Konzentration, und manchmal wünscht sich der Leser etwa kürzere, d.h. überschaubarere Sätze, um sozusagen nicht den „rationalen Atem“ zu verlieren. Aber der Leser wird von kritischen Hinweisen etwa zur Unkultur des Kapitalismus belohnt: „Indem Menschen sich als strategisch Handelnde in einer Konkurrenz um Ressourcen deuten, werden sie im Laufe der Zeit zu Personen, die vor allem strategisch handeln und denen alles als knappe Ressource erscheint“ (42). So werden Menschen verdinglicht…

Mit besonderem Vergnügen werden wahrscheinlich die Ausführungen über Sokrates gelesen, dem Inbild einer nicht-doktrinären Philosophie, so Hampe. Nicht das Aufstellen von Behauptungen sei für Sokrates zentral, sondern deren Infragestellung. „Er stellt Behauptungen in Frage, ohne sie durch vermeintlich bessere zu ersetzen“ (47).

Die Frage bleibt, ob dieses offene sokratische Infragestellen nicht doch von einem noch unthematischen Wissen her bestimmt ist. Auf die Angewiesenheit auch der nichtdoktrinären Philosophie eben nun doch auf gewisse Überzeugungen (Doktrinen?) wäre noch einmal später zurückzukommen.

Das Buch könnte meiner Meinung eine Art ausführliche Einleitung sein für die Entwicklung einer nicht-doktrinären Philosophie in vielen fogenden Büchern, die thematisch ausführlich behandeln was in dieser bislang eher marginalen Art des Philosophierens zu Themen wie „Mein Leben“, „mein Lieben“, „meine Welt“, „mein Gott“ usw. zu sagen Not tut.

Copyright: Christian Modehn

Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. Suhrkamp Verlag 2014. 455 Seiten. Leider ohne Namens – und Sachregister.

 

Freundschaft – eine Tugend oder eine “Fügung des Himmels” (Montaigne) ?

Freundschaft – eine Tugend oder „eine Fügung des Himmels“ (Montaigne) (1)

Hinweise zu einer Lebensform

Von Christian Modehn

– Diese Überlegungen gehören zur Vorbereitung für einen privaten Gesprächskreis zum Thema Freundschaft im Dezember 2014. –

Es gibt auch heute, so hören wir und lesen wir, offenbar viele Beziehungen, die sich Freundschaft nennen. Wir leben also gar nicht in einer anonymen Gesellschaft der Einsamen, sondern in einer Welt der Freunde? Oder will man glänzen, wenn man eine halbwegs „berühmte“ Person öffentlich seinen Freund, seine Freundin, nennt. Viele eher flüchtige „Bekannte“ werden plötzlich, wenn es denn zu etwas nützt, Freunde genannt. „Amigo“ war und ist ja in gewissen politischen Kreisen, auch in Deutschland, ein gängiger Begriff. Der Amigo ist der Bundesgenosse in einem System wechselseitiger Bereicherung. Sind etwa bestimmte Lobbyisten die neuen Amigos? Also die charmanten und so furchtbar freundlichen versteckten Propagandisten und Betrüger? In der romanischen Sprachwelt wird man auch als Unbekannter schnell als „Cher ami“ angeschrieben. Auch die obersten Mafia-Bosse nennen sich nicht nur Brüder, sondern tatsächlich Freunde. Freunde im gemeinsamen Verbrechen.

Aber, wo sind die wahren Freunde? Gibt es sie, diese Menschen, denen ich mich vorbehaltlos anvertrauen kann, die mich stützen und die ich stütze, fraglos und selbstverständlich? Gibt es sie, diese Menschen, mit denen man das Leben teilt, die das ethische und spirituelle Wachstum für einander fördern? Menschen, mit denen man das Angenehme gern erlebt, Menschen, auf die man sich freut und die ich kritisiere und die mich kritisieren, allein, damit wir weiterkommen auf dem Weg menschlichen Reifens? Man lese einmal die Bücher 8 und 9 in der „Nikomachischen Ethik“ von Aristoteles (384-322 v.Chr.), also die Kapitel über die „wahren Freundschaft“. Da werden die genannten Aspekte von Freundschaft weiter differenziert entwickelt. Das gemeinsame Leben in der Nähe wird dabei als besonders wichtig beschrieben, in der nahen Verbundenheit mit dem Freund lernt man voneinander, man wird mit einander vertraug, ja: man wird einander ähnlich…

Gibt es heute noch (wahre) Freunde und Freundinnen? Nicht solche Personen, die als Freunde sozusagen aufoktroyiert werden in religiösen Gemeinden, Sekten oder politischen Gruppen, in denen die Führer das Sagen haben und aus allen Individuen mit deren eigenem Profil sozusagen „maßgeschneiderte“, flexibel agierende und gehorchende „Freunde“ (Objekte) machen?

Oder sind die so genannten „Bekannten“, wie wir jene 100 oder oft nur 10 Leute nennen, die wir irgendwie auf der Straße mal wieder- erkennen, deren Namen man vielleicht weiß oder ahnt, mit denen man den langweiligen small talk pflegt, sind diese Bekannten (manche sprechen gar von „befreundeten Bekannten“) gar die neuen Freunde? Wie tief ist das Verständnis von „wahrer“ Freundschaft gesunken, wenn man flüchtige Bekanntschaften nun wie Freunde einschätzt?

Die Beziehung zu Bekannten schließt aber auch die Möglichkeit ein, dass aus guten Bekannten mit viel Geduld und Sympathie auch gute Freunde werden können. Aber eben „können“, wenn der Aufbau einer Freundschaft „gelingt“, ist ein mühsamer Weg erst einmal abgeschlossen und der mühsame Weg gemeinsamer Freundschaft kann beginnen. Voraussetzung aller Freundschaft ist – auch unter Heterosexuellen –stets eine erotische Dimension, eine auch ästhetische Begeisterung für die individuelle Ausstrahlung des /der anderen. Ohne Erotik (Erotik wird hier von Sexualität – in der Liebesbeziehung – unterschieden) keine Freundschaft.

Philosophie und der lebendige Vollzug der Philosophie, also das eigene Philosophieren, enthält in der Selbstbeschreibung und dem Selbstverständnis, wie sonst kaum eine andere kulturelle Praxis, das Wort Philos, Freund. Insofern ist es nahe liegend, dass Philosophie das Thema Freundschaft zu einem Thema, wenn nicht zu einem Schwerpunkt machen sollte. Trotz etlicher, aber eher entlegener philosophischer Studien haben wir den Eindruck, dass Freundschaft heute leider nicht im Mittelpunkt der akademischen Philosophie an der Universität steht. Liegt das daran, dass akademische Philosophie sehr viel Angst hat, möglicherweise als „Lebenshilfe“ zu erscheinen? Aber ist nicht Philosophie als Philosophieren immer elementar Lebenserhellung und damit Lebenshilfe? Die dreibändige „Enzyklopädie Philosophie“, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2010, hat zum Beispiel keinen eigenen lexikalischen Beitrag zum Thema Freundschaft! Auch das von uns immer wieder sehr empfohlene Buch „111 Tugenden, 111 Laster“ von Martin Seel (Fischer Verlag, 2011) enthält leider kein Stichwort zur Tugend Freundschaft, sondern nur den (aber auch sehr lesenwerten Beitrag !) zum Thema „Freundlichkeit“ (S. 18 f.) Wobei die gelebte Freundlichkeit gegenüber oft unbekannten Menschen recht wenig Verbindung hat zu dem, was die klassische Philosophie (etwa Aristoteles) unter Freundschaft verstand. In einer bloß freundlichen Welt muss nicht unbedingt Freundschaft entstehen. Das „Keep Smiling“ ist eine trainierte Haltung des Kommerz, nicht der Innerlichkeit.

Pierre Hadot, der große französische Philosoph, hat in seinem Beitrag „La figure du sage dans L Antiquité gréco-latine“ (2) darauf eindringlich hingewiesen, dass die Freundschaft (Hadot spricht wie Aristoteles auch von amour!) des Philosophen gegenüber der Weisheit (Sophia) immer ein Streben, ein Suchen, ein „Trachten … nach“ ist., niemals aber ein Besitz oder ein Verfügen über die Sophia! (vgl. S. 179, le philosophe, „qui aspire à la sagesse). Den „Zustand der Weisheit” wird auch der Weise niemals ganz erlangen.

Ohne jetzt dieses Thema zu vertiefen: Deutlich wird: Freundschaft, Befreundet sein (auch mit der Sophia) ist ein Prozess, ein Lebensweg, ein ausdauerndes gemeinsames Gehen auf einem gemeinsamen Weg, oft voller Mühe. Freundschaft ist keineswegs (nur) gemeinsames Vergnügen, Lust am Gespräch, an der Freude aneinander. Freundschaft ist mühsam. Auch wenn sie vielleicht weniger anstrengend ist als die natürliche Bindung an Verwandte oder die berufliche Verbindung mit Kollegen….Jedenfalls: Den perfekten Weisen, also den Philo-Sophen, der die ganze Fülle der Weisheit kennt, gibt es, so Pierre Hadot im Anschluss an Seneca, „une fois tous les cinq cents ans“ („nur einmal alle 500 Jahre“) (3). Wird es also jemals den perfekten Freund, die perfekte Freundin geben? Sicher nicht. Das auszuhalten, gemeinsam auszuhalten, ist wohl die „Kunst der Freundschaft“.

Auch Michel de Montaigne (1533-1592) denkt ähnlich (natürlich inspiriert von den griechisch-römischen Philosophen): Seine Freundschaft mit Etienne de la Boethie (Sarlat) (1530-1563) war das Schönste, was er erleben konnte. Diese Freundschaft nennt Montaigne eine „Fügung des Himmels“ (4): „Bei der ersten Begegnung , die zufällig auf einer großen städtischen Feier und Geselligkeit erfolgte, fühlten wir uns so zueinander hingezogen, ja so miteinander bekannt und verbunden, dass wir von Stund an ein Herz und eine Seele waren“. (Nebenbei es wird dringend empfohlen die großartige Schrift de la Boethies zu lesen, „Discours de la servitude volontaire(Vortrag über die freiwillige Knechtschaft) (9).

Montaigne ist sicher einer der am meisten zum Thema Freundschaft beachteten Philosophen, wobei seine zeitbezogenen Fehlurteile wohl entschuldbar sind, etwa, wenn er meint, Frauen seien zur Freundschaft nicht in der Lage (5). Interessanter ist: Montaigne hält hat die wahre Freundschaft für wichtiger und menschlicher als die Zweckgemeinschaft Ehe (6), also eine Vereinigung zur Zeugung von Kindern. Die wahre Freundschaft ist für ihn das Verschmelzen zweier Seelen, das Einswerden von zwei Personen, die grundsätzliche Bejahung des Freundes, die Freude darüber, dass er eben „er“ ist und so ist, wie er ist.

Montaigne wehrt sich ausdrücklich, seine tiefe Liebe zu Etienne de la Boethie, sein Einswerden mit ihm, wie er sagt, habe etwas mit Homosexualität zu tun: Montaigne spricht in dem Zusammenhang diskret von unzüchtiger Freundesliebe der Griechen (7). Wie weit diese Aussage eine „Schutzaussage“ ist in einer Zeit, die Homosexualität als Begriff nicht kannte und auch als Lebensform nicht respektierte, bleibt offen. In seinem Bericht über seine Rom-Reise berichtet Montaigne hingegen nicht ohne Sympathie etwa von der Segnung homosexueller Paare dort.

In jedem Fall ist für Montaigne eine tiefe Freundschaft eher eine absolute Seltenheit.

Anders dachten da einige Intellektuelle, Literaten, Künstler, Juristen gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Sie trafen sich in dem Freundschaftstempel des Autors Johann Wilhelm Ludwig Gleim in Halberstadt (er lebte von 1719 bis 1803) (8)

Gleim wollte gegen die Kälte des bloßen Verstandes und gegen die kontrollierende, alles Individuelle vernichtende Macht der Fürsten die Freundschaft unbedingt pflegen. Freundschaft als Rettung in einer feindlichen Welt? Als Zuflucht? Warum nicht. Das ist etwas ganz Besonderes, auch wenn dieser Freundschaftskult in Halberstadt relativ unbekannt ist: es wird berichtet, dass sich die Freunde bei Begrüßung und Abschied sehr herzlich küssten! Und es ist wohl dem Zeitgeist geschuldet, wenn nur Männer im Freundschaftskreis willkommen waren. Gleim hat sogar für die verstorbenen Freunde kleine Gedenkstätten in seinem Garten geschaffen und in seinen Salons prachtvolle Porträts seiner Freunde gesammelt. Er war tief überzeugt, nach dem Tod wieder mit den verstorbenen Freunden vereint zu sein. Die waren alle niemals nur ein Herz und eine Seele, man stritt sich durchaus, man debattierte, suchte nach einer gemeinsamen Wahrheit, aber es kam nie zu einem Bruch. Und man schrieb einander und zwar sehr viel und sehr oft. Allein Gleim hat über 10.000 Briefe verfasst an über 500 verschiedene Korrespondenten. Diese Handschriften sind im Gleimhaus versammelt.

Insgesamt war seine geräumigen Wohnung mit mehreren Etagen für Gleim ein „Tempel der Freundschaft“ und er sah sich selbst als „Küster“ dieses Tempels.

Entscheidend und bleibend aktuell ist die Einsicht Gleims: Vertrauen ist Voraussetzung von gelingender Freundschaft! Über das Vertrauen zu sprechen und im Vertrauen zu leben, ist die Basis von Freundschaft. Die konkrete einzelne Freundschaft wird freilich nur gelingen, wenn die Freunde von einem Grundvertrauen in die Wirklichkeit des Lebens insgesamt geprägt sind.

Aktuell wird Freundschaft heute als eine Lebensform eingeschätzt, die wir herbeisehnen. Und zwar bezogen auf unsere Gesellschaft, in der die Menschen, die Arbeitskollegen, die Nachbarn usw. als Konkurrenten begegnen, als Wesen, die man eher übertreffen, wenn nicht auslöschen muss, will man selbst überleben und sich selbst als der Stärkere behaupten. Frank Schirrmacher, der verstorbene FAZ Redakteur, hat in seinem Buch EGO von einer Gesellschaft egoistischer Nutzenmaximierer gesprochen. Wenn von Beziehungen die Rede ist, dann spricht eher von Netzwerken, von Verbindungen also, die nach dem Gesetz ökonomischen Profits funktionieren. Man gibt etwas, schenkt etwas, berechnet aber, ob es sich lohnt und was man den „Einsatz“ mindestens auch zurückbekommt.

Vertrauen als Basis von Freundschaft meint: Es ist ein Risiko, Freundschaft einzugehen, Freundschaft zu pflegen. Vertrauen beginnt, wenn einer, eine, beginnt sich den anderen zu öffnen. Da ist nicht immer “Erfolg” garantiert. Man kann sich blamieren, man kann Widerstände und NEIN erleben. Freundschaft ist einen Tugend, die Stärke verlangt. Wer hat heute noch diese innnere Stärke?

Die entscheidende Frage könnte sein:  Wo können wir das Vertrauen grundsätzlicher Art finden, das so genannte Urvertrauen? Jenes Vertrauen, das uns leben lässt, immer weiter sinnvoll zum Leben ermuntert, auch wenn unsere (Suche nach)  Freundschaft scheitert?
Dabei kann man auf eine biblische Weisheit verweisen. Vielleicht sollten wir uns angewöhnen, wenn wir von Bibel sprechen, auch von biblischer Weisheit zu sprechen. Nicht alles in der Bibel ist Weisheit, vieles können wir beiseite legen. Aber manches bleibt Inspiration, bleibt Weisheit für alle Menschen. So heißt es etwa im Titus Brief im Neuen Testament: „Erschienen ist uns die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes“.

Noch wichtiger ist eine Aussage aus dem Johannes Evangelium, da werden Jesus von Nazareth, dem menschgewordenen Logos, treffende Worte in den Mund gelegt: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt, denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.” (Joh 15,15).

Das ist entscheidend: Das Verhältnis des Menschen zu Gott ist das Verhältnis zu einem Freund. Das ist natürlich ein Bild, und alles schlichte Übertragen dieses Bildes vom menschlichen Freund auf das absolute Geheimnis Gottes wäre falsch. Aber es wird eine Richtung des Verstehens gewiesen: Gott ist nicht nur freundlich, sondern ähnlich wie ein „wahrer Freund“. Andere Titelfür die unendliche Wirklichkeit, wie Herrscher, sind dann eher abzulehnen. Da ist meines Erachtens ein  Angebot an Sinn  enthalten: Mensch und Gott sind befreundet. Das heißt: Es gibt eigentlich keinen willkürlichen Herrscher-Gott mehr! Dieser „Herr“-Gott ist durch Jesus entthront, sagt die Gemeinde, die das Johannes Evangelium wichtig findet. Das ist auch die Kernaussage vieler christlicher Mystiker wie Meister Eckart.

Die Basis von Freundschaft wird hier angesprochen: In einem Urvertrauen leben, um anderen vertrauen zu können. Freundschaft lebt ja vom Vertrauen, vom Risiko des Sich- Öffnens, vom Miteinanderlebenauf der gleichen Höhe. Bei Freunden gibt es keine Hierarchie. Das gilt auch für jene, die religiös sich an eine Gotteserfahrung haltenn.

Das war wohl auch so bei den ersten Christengemeinden, die Apostelgeschichte berichtet, wie die ersten Christen „ein Herz und Seele“ waren, wie sie alles teilten, wie sie wahre Freunde waren. Das nannten manche zu Recht eine Form des Urkommunismus. Aber auch der hat nicht lange gelebt, weil der menschliche Egoismus diese schöne Glaubenshaltung erdrückte.

Zum Schluss ein Thema, das hier nur kurz angesprochen wird: Es ist die Freundschaft mit sich selbst! Von ihr spricht bereits Aristoteles. Ohne diese Freundschaft mit sich selbst kann kein Mensch leben, reif leben und authentisch sein. Die Freundschaft mit sich selbst beginnt mit der vorbehaltlosen Annahme und Akzeptanz seiner selbst.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Literaturverweise:

(1) Michel de Montaigne, Essais. Frankfurt M. 1998, übers. von Hans Stillett., Seite 101.

(2) zuerst erschienen 1991, jetzt erneut publiziert in seinem Buch (posthum) „Discours et Mode de vie Philosophique“ (Paris, 2014, S. 177 bis 198)

(3) ebd. S. 190.

(4) Michel de Montaigne, siehe (1), Seite 101.

(5) ebd. S. 100.

(6) ebd. 426

(7) ebd. S. 100.

(8) zum “Freundschaftstempel” in Halberstadt siehe etwa: „Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen“. Wallstein Verlag, 2004.

(9) De la Boethie fragt die Menschen, die sich staatlichen Obereren oder religiösen Herrschern, heute: auch Gurus, so gern unterordnen und im Gehorsam sich ihr individuelles Leben freiwillig rauben lassen: „Diesmal möchte ich nur erklären, wie es geschehen kann, dass so viele Menschen, so viele Dörfer, Städte und Völker manchesmal einen einzigen Tyrannen erdulden, der nicht mehr Macht hat, als sie ihm verleihen, der ihnen nur insoweit zu schaden vermag, als sie es zu dulden bereit sind, der ihnen nichts Übles zufügen könnte, wenn sie es nicht lieber erlitten, als sich ihm zu widersetzen.“ Seine Erklärung der Tyrannenherrschaft kleidet de la Boethie in eine rhetorische Frage: „Wie kommt er zur Macht über euch, wenn nicht durch euch selbst? Wie würde er wagen, euch zu verfolgen, wenn ihr nicht einverstanden wäret?

 

Der Übergang ist möglich: Die Transition-Bewegung führt in eine Gesellschaft jenseits des Wachstums

„Einfach. Jetzt. Machen“

Die ökologische Basis – Bewegung „Transition“

Ein Buchhinweis von Christian Modehn für den NDR, Blickpunkt Diesseits. Juli 2014

Der hier vorliegende Text entspricht weithin dem Sendebeitrag.

„Die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass es immer so weiter geht wie jetzt“. Mit diesen Worten hat der Philosoph Walter Benjamin schon vor mehr als 70 Jahren eine sich weithin ausbreitende Untergangsstimmung beschrieben. Eine Fortsetzung von Üblichkeiten und Gewohnheiten in der Ökologie, dem Klimaschutz, dem Sozialstaat, auf den Finanzmärkten usw. erleben heute viele Menschen als eine schleichende Katastrophe. Sie führt zu einem Punkt, wo „alles umkippt“ und „aus dem Ruder läuft“. Aber noch ist es zu früh, sich ins bloße Klagen und Jammern zu flüchten, meint eine internationale Basisbewegung: Sie nennt sich Transition, Übergang, Wechsel. Den Aufbuch in eine bessere und gerechtere Welt hält sie noch für möglich. Jetzt hat der Initiator von Transition, der Engländer Rob Hopkins, zusammen mit seinem deutschen Mitstreiter Gerd Wessling, ein neues Buch vorgelegt. Christian Modehn berichtet über eine Publikation die Mut macht, sie hat den Titel „Einfach. Jetzt. Machen!“

1. O TON, Gerd Wessling: Es gibt die Aufforderung: Tu was, engagiere dich, finde Lösungen für das, was dich vor Ort beschäftigt; finde die Leute um dich herum.

Gerd Wessling aus Bielefeld musste nicht lange warten, bis sich Menschen fanden, die ein besseres, ein nachhaltiges Leben in ihrer Stadt schaffen wollen: Einige gründen Lokale, in denen in gemütlicher Atmosphäre gratis Fahrräder repariert werden; andere kümmern sich um Verbesserungen im öffentlichen Nahverkehr, wieder andere pflegen Gemeinschaftsgärten. Oder sie lassen sich von den Gratis – Läden begeistern, in denen im Austausch der Waren gebrauchte Kleider, Bücher, Spielzeug verschenkt werden. Diese Bielefelder Gruppen wissen sich mit der Transition – Bewegung verbunden: Sie tritt in 40 Ländern weltweit gegen die Verschwendung von Ressourcen ein. In mehr als 1000 Städten vertreten, haben sich die „Transition Leute“ verpflichtet, nicht nur weniger CO2 Gifte zu erzeugen, sondern insgesamt einen nachhaltigen Lebensstil zu entwickeln. Das Buch „Einfach.Jetzt.Machen!“ beschreibt auch die Mentalität der Menschen, die in diesen Projekten aktiv sind, berichtet Gerd Wessling.

2. O TON, Gerd Wessling. Es gibt niemand in der Transitionwelt, der dir sagen wird, wie genau die Lösung auszusehen hat bei dir zu Hause. Also das hat ganz viel Selbstermächtigungsaspekt auch zu tun wieder zu sagen: Ja wir können jetzt alle weiter warten, bis irgendjemand für uns irgendwas entscheidet und uns zwingt oder vorschlägt, das umzusetzen. Oder wir fangen einfach mal an, das selber zu tun.

Die Transition Bewegung hat der britische Umweltaktivist Rob Hopkins gegründet. 1968 geboren, hatte er als Ökologe zahlreiche Lehraufträge an Universitäten inne; seine früheren Bücher fanden weltweit schon viel Beachtung. Nun hat er eine Sammlung von Reportagen vorgelegt, sie berichten, wie in England, Spanien, Argentinien, Japan und Deutschland und anderswo eine Welt im Übergang entsteht, von der Verschwendung zur Nachhaltigkeit, von der Profitgier zum Teilen. Viele tausend Menschen haben in diesen Transition – Projekten wieder Mut zum Leben gefunden, also durchaus eine hilfreiche Spiritualität entdeckt, berichtet Tom Hopkins, der selbst viele Sympathien für den Buddhismus hat.

3. O TON, Rob Hopkins: „Viele Menschen, die bei Transition mitmachen, erleben, wie sie wieder neue Hoffnung finden. Denn sie sehen: Das Wesentliche sind nicht irgendwelche Ideen, sondern man erlebt: Die Welt um uns herum beginnt sich schon zu verändern, weil die Gruppen aktiv sind. Das ist hoffnungsvoll. Man kann etwas verändern, diese Überzeugung hat so viel Kraft!“

Die Lektüre des Buches „Einfach. Jetzt. Machen!“ kann die Leserinnen und Leser tatsächlich begeistern. Denn deutlich wird: Alternativen zur bestehenden Konsumgesellschaft mit ihrer Ressourcenverschwendung und Umweltbelastung sind mehr als ein schöner Traum. Aber es sind nicht etwa nur leistungsorientierte Arbeitsgruppen, die sich für die Transition, den Wandel, einsetzen, sondern vor allem auch Gemeinschaften, in denen das Leben förmlich „Spaß macht“, berichtet Gerd Wessling:

4. O TON, Gerd Wessling: Letztendlich ist der Hauptfocus von Transition, würde ich sagen aus meiner Praxis, tatsächlich Kontakt unter Menschen, guter Kontakt unter Menschen, wertschätzender Kontakt unter Menschen, und auch Kontakt unter Menschen, die sich sonst nicht begegnen würden. Das allein, nach unseren Beobachtungen, löst oft schon mal viele Probleme auf, vermeidet so ein Lagerdenken, lässt Lagerdenken gar nicht entstehen und macht Spaß. Also: In jedem Projekt sollte man eigentlich mindestens ein Viertel bis ein Drittel der Zeit auf das Feiern und Würdigen verwenden des Projektes. Diese Energie versuchen eben auch in die Transitionwelt zu bringen.

Zum Buch: „Einfach. Jetzt. Machen! Wie wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen“. Von Rob Hopkins. Oekom Verlag München 2014. 189 Seiten. 12,95 €.

 

 

Ein Religionsphilosoph als Politiker. Erinnerung an Jean Jaurès

jeanjauresEin Religionsphilosoph als Politiker: Erinnerung an Jean Jaurès

Von Christian Modehn

Selbst deutsche Touristen kennen seinen Namen. In vielen Städten Frankreichs ist mindestens eine Straße oder eine Schule nach ihm benannt: Jean Jaurès. Manche Autoren nennen ihn den am meisten geliebten Politiker Frankreichs. Sarkozy, Chirac, Hollande und die anderen wirken dagegen klein und, Verzeihung, (auch intellektuell) recht begrenzt… Ob sich die französischen Sozialisten umfassend an ihn erinnern? Und von ihm lernen? Man hat nicht den Eindruck.

Die SPD erwähnt 2014 in einem Artikel anlässlich seiner Ermordung am 31. Juli 1914 lediglich mit einem Wort, nebenbei, dass Jaurès Philosoph gewesen sei. Aber die Bedeutung dieses Philosophen wird mit keinem Wort verdeutlicht. Man kann Jean Jaurès nur verstehen kann, wenn man ihn als (Religions-) Philosophen deutet.

Zum 100. Todestag dieses bedeutenden, weil religiös-humanistisch gesinnten sozialistischen französischen Politikers des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wurde weithin vor allem an dessen Leidenschaft für den Frieden erinnert: „Man macht nicht den Krieg, um den Krieg zu vermeiden.“. Jaurès versuchte noch kraft seiner Autorität mit aller Macht der Worte den Ersten Weltkrieg zu verhindern; am 31. Juli 1914 wurde er von einem verwirrten fanatischen Nationalisten ermordet. 1924 wurde sein Sarg ins Pantheon zu Paris aufgenommen.

Uns interessiert der – in Deutschland – bislang wenig beachtete Jaurés, der Philosoph und der „théologien laique“, wie der Spezialist Eric Vinson jetzt schreibt, also der „weltliche Theologe“, der niemals – auch als Sozialist – darauf verzichtete, die göttliche Wirklichkeit zu denken, zu benennen und zu verteidigen. Die göttliche Wirklichkeit war für den Philosophen Jaurès keine Illusion, sondern eine Wirklichkeit des Lebens. Das ist schon vom Ansatz her eine mutige Leistung, wenn man bedenkt, mit welchem Hass damals linke Politiker, Philosophen und Schriftsteller jegliche göttliche Wirklichkeit bekämpften.

Der Historiker Eric Vinson hat zusammen mit Sophie Viguier-Vinson jetzt das wichtige Buch vorgelegt „Jaurés le prophète: Mystique et politique d un combattant républicain“, erschienen 2014 bei Albin Michel, Paris. Dies ist sicher ein Standardwerk zum Thema und es wird helfen, ein umfassendes Bild dieses Sozialisten zu verbreiten.

1859 in einer katholischen, aber republikanisch gesinnten Familie im Tarn, Südfrankreich, geboren, studierte Jaurès in Paris Philosophie mit den entsprechenden akademischen Abschlüssen, er lehrte dieses Fach zuerst als Gymnasiallehrer in Albi, 1886 folgte die Berufung zum Universitätsprofessor in Toulouse. Aber schon 1885 begann die Zeit seines „militanten Kämpfens“ als Politiker, er wurde schließlich zur Stimme der Sozialisten Frankreichs.

Unbeachtet ist bis heute, dass für Jaurès das politische Handeln unmittelbar aus der philosophischen Konzeption der göttlichen Wirklichkeit entspringt. „Gott ist gleichzeitig immanent und transzendent“, „Gott ist das Ich in allen andern Ich“. Jaurès hat die Überzeugung, dass alles Weltliche, also auch jeglicher Mensch, in der göttlichen Wirklichkeit aufgehoben ist und von Gott nicht getrennt ist. Die Menschen sind absolut wertvoll, weil sie von der göttlichen Wirklichkeit nicht getrennt sind. Aber diese Überzeugung hat Jaurès niemals als Leitlinie gesehen für sein politisches Handeln auch als Gesetzgeber; er hat niemals eine klerikale, kirchenfreundliche und hierarchie-ergebene Gesetzgebung betrieben; seine ethische Haltung war gewiss von seiner religiösen Bindung geprägt, aber sie war sozusagen seine innere Gestaltungskraft (Spiritualität). Jaurès hat die Trennung von Kirchen und Staat entschieden unterstützt (siehe den Hinweis weiter unten).

Seine Philosophie ist nicht an die Dogmen der Kirche gebunden, sie ist ein freies religiöses Konzept, eine Haltung, die unter Intellektuellen Frankreichs damals, im 19. Jahrhundert, üblich war. In seiner Überzeugung, dass die getrennte und verfeindete Menschheit doch eins werden kann in einer universalen Brüderlichkeit, hat sich Jaurès die Kämpfe der Arbeiter unterstützt, er hat die Todesstrafe verurteilt, ist für die Rechte des schuldlos verurteilten Hauptmanns Alfred Dreyfus eingetreten. Dabei hatte sich Jaurès, der freie religiöse Denker, oft gegen die Herren der Kirchen zu wenden, wenn sie etwa die Todesstrafe verteidigten und kirchliche Weisungen im Staat durchsetzen wollten.

Wie oben angedeutet: Jaurès setzte sich für die Trennung der Kirchen vom Staat ein, was dann 1905 gesetzlich geregelt wurde. Der Staat ist weltlich, da haben die Kirchen nicht reinzureden, und die Kirchen sind religiöse Organisationen, die unabhängig von staatlichen Einflüssen existieren. Diese „laicité“, die nichts mit Laizismus zu tun hat, wie man in Deutschland oft behauptet, war die wichtigste Überzeugung des überzeugten Demokraten Jean Jaurès. Ohne diese laicité war Demokratie, war Republik, für ihn nicht denkbar.

Es ist kein Wunder, dass katholische Kreise, bis 1960 eigentlich in breiten Kreisen immer noch gegen die Republik und die laicité, diesen Religions-Philosophen und Politiker Jean Jaurès eher verdrängten und verachteten.

Léon Blum hat später bei Jaurès dessen Reinheit des Gedankens, die Lauterkeit gepriesen, ja auch dies: in gewisser Weise seine „weltliche Heiligkeit“. Auch Vinson nennt Jaurès einen „Archetypen“ einer „weltlichen Heiligkeit“: Integer, gütig, intelligent.

Man hat den Eindruck, die Auseinandersetzung über diesen Politiker, der als Religionsphilosoph lebte, hat erst richtig begonnen. Einen Politiker mit diesem geistigen Format kann im Europa von heute sehr lange suchen. Ob man ihn findet? Vaclav Havel ist schon etliche Jahre tot….

Vgl. auch: Jean Jaurès, Ecrits et discours théologico-politiques, Editions Vent Terral, 440 pages, 35€. Herausgegeben von Jordi Blanc.

Jenseits des Wachstums. Barbara Muraca bietet Perspektiven für ein „gutes Leben“. Eine Buchempfehlung

Jenseits des Wachstums. Barbara Muraca bietet grundlegende Informationen und Perspektiven für ein „gutes Leben“

Hinweise auf ein wichtiges Buch von Christian Modehn

Es geht um die Befreiung von einer krankhaften Abhängigkeit und lebensfeindlichen Bindung: „Wie bei einer Sucht, die tief in unsere kollektive Vorstellungswelt eingedrungen ist und alle Aspekte des Lebens durchdringt, müssen wir von der durchdringenden Wachstumslogik mühsam befreien“.

Mit diesen Worten beschreibt sehr treffend die Philosophin Barbara Muraca (Universität Jena, ab 2015 Oregon State University) in ihrem neuen Buch „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“ (Wagenbach Verlag 2014) die große Herausforderung von heute und für die nächsten Jahre. Der von der kapitalistischen „Ordnung“ heftig verbreitete Glaube an das ständig fortschreitende und immer währende ökonomische Wachstum der Wirtschaft ist ein Wahn. Das “Immer mehr haben wollen“ erreicht nur eine Minderheit der Weltbevölkerung, der große Rest bleibt im Elend, die Natur wird total zerstört. Wer es noch nicht wahrhaben will: Klar ist und evident: Der Glaube an das Wachstum hat katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt, auf die Menschen; auch die Seele leidet unter dieser von den Herren dieser Wirtschaft heilig gesprochenen Gier; es leiden die Gesellschaften, es leidet das friedliche Miteinander in der einen Welt der einen Menschheit. Wachstum in Permanenz erzeugt Krieg. Das wussten schon die weisen Lehrer des Zen-Buddhismus.

Debatten über „Wege aus dem Wachstumswahn“ werden etwa bei den verschiedenen internationalen „Degrowth-Konferenzen“ ausgetauscht, die sich der Überwindung der Wachstumsideologie widmen, wie jetzt im September 2014 in Leipzig. Diese Tagung mit mehr als 2000 TeilnehmerInnen hat Barbara Muraca mit-organisiert.

Das neue Buch von Barbara Muraca bietet eine konzentrierte und klare Übersicht zum Thema. Neue Informationen und neue Literaturhinweise werden den „Aktivisten“ in den verschiedenen wachstumskritischen Bewegungen geboten; vor allem aber sind die Informationen bestens geeignet, sehr viele Menschen für die Überwindung der Wachstumsgesellschaft „wach zu machen“. Insofern gehört das Buch in weiteste Kreise! Es gilt, sich von einem „stillschweigenden Grundkonsens“ unserer Gesellschaften zu befreien, der sich in den Köpfen festsetzen will als unumgängliche „Alternativlosigkeit“.

Barbara Muraca betont, dass die Suche nach einer politischen und ökonomischen Gestaltung ohne Wachstum durchaus mit dem Begriff Utopie zu denken ist. Dabei versteht sie Utopie als „Öffnung von Denk- und Handlungsräumen“, die aus der technokratischen Welt des „immer mehr Habens“ herausführen. „Das Reale ist kein unveränderlicher Block von immer gleichen vorgegebenen Strukturen, sondern offen und in stetigem Wandel“ (S. 16). Utopie ist also alles andere als ein traumhafter, illusorischer Begriff; er enthält die Kraft, das Gespür für das „Real – Mögliche“ zu entwickeln. Und „real möglich“ ist eine Gesellschaft ohne (tödliches) Wachstum. „Utopie bedeutet, dass Wandel durch menschliches Tun hervorgebracht werden kann“ (S. 21).

Für viele Leser in Deutschland wird es hoch interessant sein zu erfahren, dass die ersten Impulse für eine Welt – Gesellschaft ohne Wachstums, im Sinne der Abnahme oder Reduzierung von Wachstum, in Frankreich zu finden sind, in der „Dé-Croissance-Bewegung“, seit 1973 durch André Amar zur Diskussion gestellt. Dazu bietet das Buch hilfreiche Informationen, auch zu dem wegweisenden Philosophen Serge Latouche. Das Thema ist klar: Es geht um eine „gut durchdachte Schrumpfung (Décroissance) in den westlichen Industrieländern“. Inzwischen wird über dieses Konzept mit unterschiedlichen politischen Zielvorstellungen debattiert. Die äußerst rechtslastige Nouvelle Droite in Frankreich hat sich – etwa über ihren Meisterdenker Alain de Benoist – formal dieser Begrifflichkeit bemächtigt, sie preist nun die klassischen Werte des Verzichts, der Bescheidenheit, der altvertrauten Familie, der Bodenständigkeit, der nationalen Kultur, der westlichen Welt im Anschluß an eine Kritik der (globalen) Wachstumgesellschaft. So kann eine demokratische Bewegung auch noch missbraucht werden.  Auch die Kritik an der Wachstumsideologie durch den konservativen Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel (etwa sein Buch „Exit“) wird von Barbara Muraca einer Kritik unterzogen. Miegel setzt eindeutig nur auf Wertewandel „statt auf Umverteilung und gesellschaftlicher Transformation“ (S. 61).

Die demokratische und politische Bewegung gegen das Dogma des permanenten ökonomischen Wachstums ist inzwischen in Spanien, Italien und vielen anderen Ländern in vielen Basisinitiativen lebendig. Wichtig ist auch, dass die indianischen Völker etwa Ecuadors das (uralte) Konzept des Buen Vivir (gutes Leben) in den Mittelpunkt stellen und sogar für eine Verankerung dieses Konzepts in der Verfassung sorgen konnten (s.S. 46ff). Leider hat sich die ökonomische Macht des Nordens (USA, Europa) als stärker erwiesen: Ecuador hat jetzt große Flächen des Regenwaldes für Erdölbohrungen freigegeben. „Buen vivir“ ist in Lateinamerika leider noch mehr Projekt als Realität.

In Deutschland, so Muraca, hat vor allem der Ökonom Nico Paech „dafür georgt, dass der Begriff Postwachstum breit bekannt wurde“ (S. 35). Auch über sein Konzept wird in dem Buch debattiert.

Das Buch zeigt eindringlich: Die Suche nach einer praktischen Überwindung der Wachstumsgesellschaft ist nicht eine aktuelle Aufgabe neben vielen anderen. Die Überwindung des „Götzen Wachstum“ (S. 51) geht ins Grundlegende, „sie fordert eine radikale Veränderung der Machtstrukturen und wird nicht ohne heftige Auseinandersetzungen zu realisieren sein“ (s. 87). Das andere Leben ist bereits unter uns, wie es die Occupy – Bewegung, die „Indignados“ in Spanien und anderswo zeigen: Es gibt überall die Kooperativen, Tauschbörsen, Reparaturwerkstätten, gemeinsam verwaltete (Stadt-) Gärten usw.. „Solche Experimente sind Laboratorien für gesellschaftliche Veränderungen, durch die viele Menschen motiviert werden, für Demokratie zu kämpfen“ (S. 89).

Zum “Welttag der Philosophie” am 20. November 2014 wird Barbara Muraca über “Gut leben” im Kulturzentrum “Afrika-Haus” in Berlin, Bochumer Str. 25 sprechen. Beginn um 19 Uhr. Eine Veranstaltung zusammen mit dem Wagenbach Verlag. Weitere Hinweise folgen.In jedem Fall schon jetzt: Dazu herzliche Einladung!

Barbara Muraca, „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“. Wagenbach Verlag Berlin, August 2014, 94 Seiten. 9.90 Euro.

Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”. Ein Buchhinweis in PUBLIK-Forum

Kürzlich veröffentlichte die christliche und ökumenische Zeitschrift PUBLIK FORUM (Heft 13/2014, Seite 55) eine kurze Besprechung des wichtigen Buches von Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”. Wir bieten hier den Text noch einmal für jene, die PUBLIK FORUM nicht lesen.

Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”.

Shlomo Sand, weltweit bekannter und geschätzter Professor für Geschichte in Tel Aviv, bietet mehr als ein persönliches Bekenntnis. Er kann aus objektiven Gründen nicht länger Jude sein, weil er den heutigen Staat Israel ablehnt. Dabei gibt es für ihn keinen Zweifel, als polnischer Jude, 1942 in Österreich geboren, für das Existenzrecht Israels einzutreten. In dem „jüdischen Staat“ lebt er seit 1949. Aber gerade diese Definition findet er unerträglich. Denn Israel bevorzugt die Bewohner, die dem jüdischen Volk zugehören. Dabei ist es ein Mythos, so wörtlich, über die jüdische Rasse den Staat Israel zu definieren. Die „Rasse“ der Hebräer gibt es nicht. Jude, meint Sand, sei man einzig durch sein religiöses Bekenntnis. Als Atheist möchte er aufhören, als Jude zu gelten, kann es aber nicht, weil er vom Staat unaufhebbar dem „Volk“ zugerechnet wird. In dieser „Volksideologie“ sieht Sand zudem die Wurzel der verhängnisvollen Besatzungspolitik. Er plädiert für eine „republikanische Identität“ Israels mit dem absoluten Respekt der Menschenrechte und einer Zweistaatenlösung mit Palästina. Das wichtige Buch verdient intensive Diskussionen.

Shlomo Sand: Warum ich aufhöre, Jude zu sein.  Propyläen Verlag, 2013. 156 Seiten. 18 €

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

PS: „Shlomo Sand hat Intelligenz und Humor. Er schreibt, wie Professoren meist nicht schreiben können“, schreibt der Publizist Rupert Neudeck in Kölner-Stadt-Anzeiger, am 06.12.2013.