Wenn der Atheist den Christen liebt. Zu einer aktuellen Novelle von Honoré de Balzac

Wenn der Atheist den frommen Christen liebt:

Zu einer kleinen, aber großen Novelle von Honoré de Balzac

Von Christian Modehn

„La Messe de l athée“ („Die Messe des Atheisten“) ist eine der kürzesten Erzählungen von Honoré de Balzac. Aber der Text, leider eher selten noch beachtet, kann auch heute, 180 Jahre nach seiner Veröffentlichung (1836), viele übliche ideologisch-religiöse Grenzziehungen fragwürdig werden lassen. Es ist ein Text, der die LeserInnen berührt, bewegt… und verunsichert. Etwa hinsichtlich des wohl noch nicht ganz verschwundenen Vorurteils, dass Atheisten nicht in der Lage seien, religiöse Menschen, selbst solche, denen „man“ einen naiven (Köhler-)Glauben zugesteht, zu schätzen, zu achten, zu verehren, ja, auch dies: zu lieben. Natürlich ist ein literarischer Text als solcher ein Kunstwerk, das in sich selbst lebt. Aber Balzacs Romane und Erzählungen sind ja niemals „l art pour l art“, sind niemals schöngeistige Spielerei aus Freude am Nur-Ästhetischen. Von daher die Aktualität des Textes!

Ein Hinweis zum Inhalt: Doktor Desplein ist ein angesehener, berühmter Chirurg im Paris zu Beginn des 19. Jahrhunderts; er ist zudem bekannt für seine radikale atheistische Überzeugung. Eines Tages entdeckt sein junger Kollege, Horace Bianchon, dass Doktor Desplein die Kirche St. Sulpice (im 6. Pariser Arrondissement) morgens um 9, zur Zeit der Messe, von einem Seiteneingang aus betritt. Beobachtungen und Nachforschungen führen den neugierigen Bianchon, zur Gewissheit: Der berühmte atheistische Arzt nimmt regelmäßig, viermal im Jahr, an einer Messe teil; er kniet beim Beten, wie es sich gehört, er gibt Spenden in die Kollekte, er führt sich auf wie ein Frommer. Der Sakristan verrät dem jungen Arzt, dass der berühmte Desplein, „der unerschrockene Spötter“, schon seit 20 Jahren, immer im Rhythmus von drei Monaten, an der Messe teilnimmt. Von Bianchon angesprochen, erklärt der berühmte Atheist: Er selbst habe diese Messen als Totengedenken bestellt, also auch den Messe lesenden Priester bezahlt. Und das alles nur, um einen der wertvollsten Menschen zu ehren, die er je gekannt hab: Den frommen, ja naiv-frommen Wasserträger de Bourgeat. Er stammt vom Land, aus der Auvergne; die beiden haben sich in Paris kennen gelernt, als Desplein in höchster Not war: Als Student konnte er sich kaum noch ernähren, fürs Studium fehlte ihm das Geld. Da hat ihm der arme Fromme de Bourgeat geholfen, das Ersparte dem Studenten gegeben, in der Überzeugung, dass der junge Mann einmal ein berühmter Arzt werde. „Ohne ihn hätte mich das Elend getötet“, gesteht Desplein. Von seinem Gehalt kauft der Arzt dann später dem armen Wasserträger ein Pferd und eine Tonne fürs Wasser; bei schwerer Krankheit kann ihn der junge Arzt (de Desplein) noch retten, wenig später stirbt der Freund, der Wohltäter, der fromme Wasserträger. Um der verstorbenen guten Seele schnell den Zugang in den Himmel zu ermöglichen, bezahlt Desplein alle drei Monate die Toten-Gedenk-Messe. „Er war mein zweiter Vater“, berichtet Desplein dem jungen Arzt Bianchon, „de Bougeat starb in meinen Armen, er hat mir in einem Testament alles hinterlassen, was er besaß. Er liebte die Jungfrau Maria wie er wohl seine Frau geliebt hätte. Aber er fürchtete noch, nicht heilig genug gelebt zu haben. Nach seinem Tod merkte ich, dass er niemand hatte. Aber er hatte eine religiöse Überzeugung. Habe ich das Recht, darüber zu diskutieren?“ Aus tiefer Zuneigung und Dankbarkeit lässt der Atheist die Messe lesen. „Und ich sage in dem guten Glauben des Zweiflers: Mein Gott, wenn es eine Sphäre gibt, wo du nach dem Tod diejenigen bewahrst, die vollkommen gelebt haben, dann denke auch an den guten Bourgeat. Und wenn er noch leiden muss (gemeint ist wohl die Läuterungszeit im Jenseits, CM), dann übergib du mir dessen Leiden, damit er schnell eintreten kann in das, was man Paradies nennt“.

Die Geschichte von Balzac ist alles andere als eine kitschige Erbauungsstory für fromme Gemüter. Sie ist sachlich, kühl geschrieben. Sie kann als Plädoyer verstanden werden, dass sich Atheisten und fromme Christen so fern eigentlich nicht sind, wenn sie sich zuerst als Menschen und nicht zuerst als Mitglieder/Vertreter einer Religion oder Ideologie betrachten. Dann kann der extrem fromme Katholik einem jungen Atheisten helfen; und der Atheist kann an Gottesdiensten und Messfeiern teilnehmen, ja diese sogar bestellen und bezahlen, weil er, gemäß der Glaubenswelt seines Freundes, diesem noch post mortem Gutes tun will.

Diese Vorstellungen im engeren Sinne haben heute sicher keine große Relevanz mehr. Wichtig aber bleibt der Kern der Aussage von Balzac: Menschlichkeit ist wichtiger als Religiosität. Und aus der noch so schlichten Frömmigkeit kann viel Menschlichkeit erweckt werden. Und Atheisten haben keine Grund arrogant zu sein und sich als etwas Besseres zu fühlen.

Man übersetze diese Geschichte ins Heute: Ein katholischer Priester etwa finanziert einem atheistischen Studenten das Studium. Oder ein Atheist unterstützt das spirituelle Wohlergehen eines frommen Christen…Gibt es solche Beispiele, etwa in Deutschland?

„La Messe de l Athée“ ist kürzlich als kleiner separater Druck (zum Preis von 5,10 EURO) in den Editions Manucius, 40, Rue de Montmorency, 75003 Paris, erschienen (im Jahr 2013). Das Heft umfasst 75 Seiten, incl. einer Einleitung und eines Kommentars und Hinweise auf die wenigen Studien zum Text. Wir empfehlen diese preiswerte, gute Ausgabe auch für Schulen und Volkshochschule und kirchliche Akademien…

Wichtig dürfte besonders die Studie von John H. Mahazeri sein: „Un Atheismus particulier: Une lecture de La Messe de l Athée“. In: Essais sur la religiosité d Honoré de Balzac. New York 2008.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Probleme mit der Vernunft: Ein Sonderheft über den Koran des Philosophie-Magazin

Probleme mit der Vernunft:

Das Sonderheft „Der Koran“ des „Philosophie Magazin“.

Von Christian Modehn

Der Koran und die Philosophen/die Philosophien: Anders gesagt: Der Koran und die Bedeutung des kritischen, systematischen Denkens und des menschlichen Verstehens: Ein Thema, das immer schon Bedeutung hatte, umstritten war und jetzt neu entdeckt wird, etwa auch in Veranstaltungen des „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ kürzlich. Das „Philosophie Magazin“ (Berlin/Paris) hat nun ein stattliches, 100 Seiten umfassendes Sonderheft zum Koran publiziert mit ca. 40 verschiedenen Beiträgen. Auf diese „bunte Mischung“ können wir nur partiell, aber wohl Wesentliches treffend, hier eingehen. Catherine Newmark ist die verantwortliche Redakteurin dieser Sonderausgabe. Sie bietet zahlreiche Informationen zum Thema, darunter auch Zitate aus Interpretationen des Korans von prominenten deutschen Philosophen, wie Herder, Lessing, Hegel, Nietzsche… Unter den zahlreichen Interviews ist interessant der Beitrag von Angelika Neuwirth, Professorin für Arabistik an der FU Berlin. Sie deutet das heute weit verbreitete Lektüreverhalten gegenüber dem Koran als „Nachschlagewerk für (aktuelle) Probleme“ als „Missbrauch“. Angelika Neuwirth folgend ist der Koran vielmehr in erster Linie „ein Inventar von Texten, die man im Gottesdienst braucht“ (S. 15.) Die Professorin für Arabistik erinnert auch daran, dass für die Muslime „Gott der alleinige Autor (des Koran) ist“. Kurz darauf schreibt Angelika Neuwirth: “Obwohl man die transzendente Herkunft (des Korans) nicht wissenschaftlich beweisen kann, hat man (!, CM) den muslimischen Geltungsanspruch, den der Koran ja auch selbst transportiert, zu respektieren“. Warum „man“, also auch Literaturwissenschaftler oder Philosophen, diesen von den Vertretern der Religion erhobenen „transzendenten Geltungsanspruch“ respektieren müssen, wird hier leider nur behauptet, aber nicht begründet. Kann „man“ unter Zustimmung zu dieser religiösen Weisung überhaupt Wissenschaft betreiben? ..Deutlich in dieser Sache wird der emeritierte Islamwissenschaftler Stefan Wild (Bonn). Er antwortet auf die Frage nach einer historisch-kritischen Lektüre des Korans, so, wie sich auch seit ca. 150 Jahren die historisch-kritische Bibelforschung durchgesetzt hat: „Generell kann man sagen, dass eine solche Lektüre im traditionellen Islam sehr wenig ausgeprägt ist“ (S. 45). Das wissen wir allmählich. Irritierend ist hingegen die weitere Einschätzung Von Herrn Wild: „Die meisten heutigen islamischen Theologen sehen, was in Mitteleuropa mit den offiziellen Religionen des Katholizismus und Protestantismus passiert ist. Sie sehen, oder glauben zu sehen, dass bestimmte Tendenzen der Exegese – etwa die Entmythologisierung – im Grund den Status dieser Religionen unterminieren. Und sie sagen: Das wollen wir nicht“.

Ich finde es als bedauerlich, nein: mangelhaft, dass solche Aussagen eines Professors ohne Widerspruch stehen bleiben und so den Eindruck erwecken, diese Aussagen seien richtig. Entmythologisierung der Bibel hat tatsächlich wie eine Befreiung gewirkt, hat Raum geschaffen für ein Verstehen der Bibel, bei dem der Leser nicht mehr auf seinen Verstand verzichten muss. Hat man denn noch nie gehört, dass Entmythologisierung im Sinne Rudolf Bultmanns nicht Vernichtung des Mythos, sondern dessen VERSTEHEN bedeutet! Vernunft hat im Christentum den Glauben gereinigt von Wahnvorstellungen usw. Vernunft im Christentum ist ein Gewinn! Wann wird man sagen können: Die menschliche Vernunft hat den Islam gereinigt?

Auch mit dem Kölner Islamwissenschaftler Stefan Weidner wird ein Interview geboten. Er erinnert – wie der Literaturwissenschaftler Nivid Kermani „Gott ist schön“, München 1999 – an die Schönheit, Heiligkeit und Unveränderlichkeit des Wortlautes des arabisch geschriebenen Koran. Die Schönheit, so wird immer wieder behauptet, erschließe sich eben nur in der arabischen Sprache….Diese Glaubensüberzeugung führt aber zu Problemen der Koran Übersetzungen in andere Sprachen. Stefan Weidner plädiert für Übersetzungen, weil er den Koran als Buch der allgemeinen Dichtung und Poesie versteht, weil er also den Koran ins „Menschliche“ hineinzieht und gern diesen poetischen Text (aus dem 7./ 8. Jahrhundert) den LeserInnen auch in europäischen Sprachen etwa zugänglich machen will. Stefan Weidner arbeitet selbst an einer „ersten poetischen Übersetzung des Korans seit Friedirch Rückert“, schreibt die Zeitschrift Philosophie Magazin, S. 25).

Der Kauf des Heftes lohnt sich auch wegen des leider knappen Interviews mit Souleymane Bachir Diagne, Professor an der Columbia University of New York (S. 61 f.) Zum Vers der Sure 2: 256 „Kein Zwang ist in der Religion“, sagt er: „Erst wenn (im Islam, CM) alle Zwänge, von den offensichtlichen (körperlichen, gesetzlichen, staatlichen) bis hin zu den hinterlistigsten, dem Konformismus geschuldeten Zwänge aufgehoben sind, wird die Wahl des Gottes (also mein Glaube, CM) ein authentisches Einwilligen in Gott sein“ (S. 62). Souleymane Bachir Diagne (er wurde in Senegal geboren) folgt den Sufis, für die es keine einzelne, absolut wahre Religion gibt: „In der Dichtung der Sufis besagen zahlreiche Verse, dass es zwischen Tempel, Synagoge, Moschee, Kirche und selbst den Götzenbildern letzten Endes keinen Unterschied gibt….“

Sehr lesenswert ist auch das Interview mit dem Journalisten und Islamwissenschaftler Thorsten Schneiders, er äußert sich zum Islamismus, der für ihn „ein politisches, kein religiöses Phänomen“ ist (S. 88 ff).

Ein weiterer Hinweis: In unserer philosophischen Sicht ist es außerordentlich betrüblich, wenn ein islamkritischer muslimischer Denker unter Pseudonym (Ibn Warraq) schreibt: „Das liberale (kritische) arabische Denken ist fragmentiert ..und es werden dessen Argumente nur von einem Bruchteil der arabischen Bevölkerung vernommen“ (S. 93).

Er soll das Schlusswort haben: “Ich glaube wirklich, dass in der islamischen Welt eine Aufklärung (etwa Trennung von Religion und Staat) nur mit einer kritischen Prüfung des Korans zustande kommen kann…“ Ob sich daran auch die muslimischen Islamwissenschaftler an deutschen Universitäten, auf ihren neu eingerichteten wissenschaftlichen Lehrstühlen, halten, wäre eine eigene Überprüfung wert.

Copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Fromm und rechtsextrem in Deutschand: Eine Buchempfehlung

Fromm und rechtsextrem: Eine Herausforderung für Philosophie und Theologie

Eine Buchempfehlung von Christian Modehn

Wer an den Gott der Bibel glaubt, ist gleichsam immun gegen rassistische Hetze und menschenfeindliche Propaganda; denn Brüderlichkeit und Gleichheit aller Menschen gehören zum Kernbestand des Bekenntnisses. Diese Überzeugung wird immer wieder verbreitet, aber hatte auch früher schon, etwa in der Nazi-Zeit, keine umfassende Gültigkeit. Tatsache ist: Auch heute folgen selbst praktizierende Christen rechtsextremen Parolen. Darauf weisen jetzt 21 Soziologen, Politologen und Theologen hin. Sie legen unter dem Titel „Rechtsextremismus – eine Herausforderung für die Theologie“ ein Buch vor, das eindeutig zeigt: Rechtsextreme tummeln sich nicht nur am Rande der Gesellschaft in militanten Gruppen oder in rechtslastigen, populistischen Parteien. Die Feinde von Demokratie und Menschenrechten sind auch in der Mitte der Gesellschaft, auch in Kirchen und Gemeinden zu finden.

Das Wort rechtsextrem beschreibt keineswegs nur die mörderischen Aktivitäten der kleinen Clique der NSU-Verbrecher. Rechtsextremismus ist überall anzutreffen, wo man von Rassen spricht und eine Rasse für minderwertiger als die andere hält und dabei die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Menschen bekämpft. Mit dieser Ideologie soll der demokratische Verfassungsstaat überwunden werden. Diese Propaganda wird auf europäischer Ebene in weiten Kreisen der Partei „Front National“ in Frankreich verbreitet oder in der Freiheitspartei „PVV“ in den Niederlanden. Beide Organisationen rühmen sich, dass praktizierende Katholiken zu den Stammwählern gehören: Bei den französischen Départementswahlen 2015 war etwa jeder fünfte Wähler des Front National ein engagierter Katholik. In Deutschland sind rechtsextreme Tendenzen unter frommen Christen eher in gut vernetzten kirchlichen Vereinigungen zu beobachten: Darauf weisen die 21 Autorinnen und Autoren der Studie zum Rechtsextremismus hin. Die Soziologin Elke Pieck zeigt, dass der evangelikale Dachverband „Deutsche Evangelische Allianz“ immer wieder in seinen Medien Berichte aus äußerst rechtslastigen Medien übernimmt, wie der Wochenzeitung „Junge Freiheit“. Auch mit islamfeindlichen Weblogs arbeitet diese konservativen Christen zusammen. So behauptet die „Deutsche Evangelische Allianz“, Muslime bemühten sich, die staatlichen Organe in Deutschland zu unterwandern. Die Soziologin Elke Pieck kommentiert: Angesichts dieser irrationalen Thesen könnten „Christen ins rechte und rechtsextreme Lager rutschen, das dann als Fortsetzung der eigenen christlichen Bindung erscheint“. Die Deutsche Evangelische Allianz ist in mehr als 1000 Gruppen organisiert und mit 350 Organisationen verbunden.

Für den katholischen Bereich berichtet der Theologie Professor Rainer Bucher aus Graz, dass nicht nur im österreichischen Katholizismus rechtsextremes Denken, etwa in der Partei FPÖ, weit verbreitet ist. Es gebe in ganz Europa einen spezifisch rechten katholischen Sektor, der, so wörtlich, „mit politisch reaktionären bis autoritären Positionen flirtet“. Ausdrücklich wird auf den Dachverband konservativer Gläubiger hingewiesen, der als „Forum Deutscher Katholiken“ immer wieder internationale Konferenzen organisiert. Hauptfocus ist dabei der Kampf gegen die rechtliche Gleichstellung homosexueller Menschen. Eine der Chefideologinnen des konservativen Katholikenforum ist die Soziologin Gabriele Kuby: Sie nimmt an internationalen Konferenzen teil, wie kürzlich in Moskau, wo sich Rechstextreme aller Couleur treffen, um ihren Hass auf die Homoehe gemeinsam zu artikulieren. Weitere extrem rechtslastige Positionen formulieren Christen aller Konfessionen heute mit der Parole „Gegen die Islamisierung des Abendlandes“.

Die Soziologen Oliver Decker und Johannes Kiess betonen, wie der Hass auf „den“ Islam sich machtvoll als eine eigene Form des „Religionsersatzes“ artikuliert.

Die Kirchen, ihre Gemeinden und die Theologen, so das Resumée, müssen sich vermehrt politischer und religionswissenschaftlicher Aufklärung widmen. Sie sollten die Empathie, das Mitfühlen lehren, um den anderen, den fremden und vielleicht auch befremdlichen Menschen schätzen und lieben zu können. Der einstige DDR Bürgerrechtler und heutige Leipziger Pfarrer Stephan Bickhardt betont: „Ich habe Angst vor einem Rechtsruck der Bundesrepublik. Ein Erosionsprozess der Demokratie hat begonnen“.

Mit besonderer Empfehlung weisen wir auf den Beitrag von Yasemin Shooman (Berlin) hin über “Das Zusammenspiel von Kultur, Religion, Ethnizität und Geschlecht im antimuslimischen Rassismus” (Seite 196-222) sowie auf den wichtigen Beitrag: “Homophobie und gruppenbezogener Menschenhass” (S. 223-244), dort wird deutlich, wie fundemantalistische Kirchen (aus den USA) etwa die Menschen in Afrika aufhetzen, “missionierend”, gegen homosexuelle Menschen. Der Hass auf Homosexuelle in etlichen Staaten Ostafrikas ist auch ein Produkt europäisch-amerikanischen Missionierungs-Wahns.

Sonja Angelika Strube (Hg.), Rechtsextremismus als Herausforderung für die Theologie. Herder Verlag Freiburg, 2014, 317 Seiten, 24,99 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Emil Cioran zum 20. Todestag: Viel Nichts und keine Hoffnung

Viel Nichts und keine Hoffnung: Emil Cioran und die Religionen

Ein Hinweis von Christian Modehn

Gedenktage haben manchmal auch etwas Zwanghaftes. Gelegentlich glaubt man, das Feuilleton und der „Kulturbetrieb“ (Adorno) könnten fast nur noch bestehen angesichts der ständigen 100. oder 75. Geburtstage und Todestage „prominenter“ Leute. Große Jubiläen, wie etwa das Luther-Jahr 2017, werden viele Jahre lang bereits vor-gefeiert, vor-gedacht. Aber wird dann wirklich Neues gedacht? Und führt das Gedenken zu einem neuen Handeln, das über alles historisch „Bedachte“ natürlich hinausführen muss?

Nun erinnern sich vielleicht einige LeserInnen am 20. Juni an den 20. Todestag des Autors, Philosophen und Essaisten EMIL CIORAN (geboren 1911). Wer liest noch seine Texte? Wer diskutiert seine Thesen zum Thema Verzweiflung, Tod, Suizid? Das „Metzler Philosophen Lexikon“ von 2003 enthält keinen Artikel zu Cioran. Auch das Kleine Lexikon der Religionskritik (Herder, 1979) erwähnte ihn schon (zu Lebzeiten!) nicht. Ob sich jetzt auch die Theologen mit Ciorans Texten befassen, mit seinem Werk, das er seit seinem „Exil“ und später der neuen „Heimat“ in Paris (ab 1937, mit gelegentlichen Reisen noch nach Rumänien) fast ganz auf Französisch verfasste? Das voller Provokationen steckt für alle, die meinen zu glauben? Hat man wahrgenommen, dass da im 20. Jahrhundert ein Autor lebte, der sich selbst „Manichäer“ nannte, also einen Denker, der von einem bösen Gott und einer bösen Schöpfung überzeugt war?

Was hat er heute zu sagen, dieser radikale Pessimist, der sich nach dem Nichts und der absoluten Leere sehnte? Ist es vielleicht eine versteckte Form der Mystik, die auch er hoch schätzte und die ihn am Leben hielt? Ist also „Cioran der Mystiker als der Verzweifelte“ neu zu entdecken?

Dass er es seinen Lesern zudem nicht leicht macht in seiner Art, eher aphoristisch zu argumentieren, ist bekannt; zumal bei seinen „Positionswechseln“ und dem „Wiederverwerfen eben erst festgehaltener Gedanken“. Strenge Fixierungen seiner Äußerungen sind oft schwierig, wenn sie denn nicht von Cioran selbst verhindert werden (so Franz Winter in „Emil Cioran und die Religionen“, S. 23, die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch). Und das zentrale Thema Ciorans, mit den Begriffen Pessimismus, Verzweiflung, Nichts und Leere umschrieben, verlangt von den LeserInnen auch eine eigene Art von Anstrengung, wenn nicht Mut.

Denn sein Denken ist außergewöhnlich, einseitig, extrem.

Und auch sein politisches Engagement wirft immer noch gewichtige Fragen auf.

Die meisten seiner Texte liegen auch in deutscher Sprache vor, und die gründliche Cioran-Forschung bringt immer wieder wichtige Impulse. So hat etwa kürzlich der Berliner Philosoph Dr. Jürgen Große eine umfangreiche Studie vorgelegt: „Erlaubte Zweifel, Cioran und die Philosophie“.319 Seiten, Verlag: Duncker & Humblot, 2014.

Wir hoffen, auf diese umfangreiche Arbeit später einmal zurückkommen zu können.

Viele Hinweise speziell zum religionsphilosophischen Denken Ciorans bietet immer noch die oben schon erwähnte Studie des bekannten Wiener Religionswissenschaftlers Franz Winter „Emil Cioran und die Religionen. Eine interkulturelle Perspektive“ (Nordhausen 2007). Franz Winter zeigt genau, welche Bedeutung das Christentums, der Buddhismus und die Gnosis im Denken Ciorans haben. Dabei bietet Franz Winter in großen Linien auch Elemente zu einer Biographie, er zeigt ausführlich, dass Cioran durchaus auch politisch „sehr dunkle“ Seiten hat: Als junger Mensch in Rumänien und später dann bei Aufenthalten u.a. in Berlin (1933-1935) hat er explizit und nicht ohne Enthusiasmus faschistische Ideen hoch geschätzt. Aber, so betont Winter, „fest steht, dass Cioran (seit seinem Buch „Die Lehre vom Zerfall“ , ins Deutsche übersetzt von Paul Celan!, in Paris 1949 erschienen) seinen =Jugendwahn= zutiefst bereute, dass er sich aber davon viel später löste, als immer behauptet wird… Aber die Diskussion (über die faschistischen Verstrickungen Ciorans) sind noch lange nicht beendet“ (S. 57). Auch seine „Cahiers“, seine Tagebücher, sprechen da eine deutliche Sprache (S. 53). Die Skepsis als die alles entscheidende Dimension des späteren, also in der neuen Pariser Heimat einsetzenden Denkens, bewahrte Cioran davor, weiterhin mit Ansprüchen des Totalitarismus zu sympathisieren. Wenn auch die Frage nach einer möglichen „Vergiftung“ seines Denkens (durch den einst hoch gelobten Faschismus) offen bleibt. Ciorans selbst oft von ihm selbst beschriebenes Gefühl der Abscheu vor dem Leben, dem menschlichen Leben, das Angewidertsein vom Anblick der Menschen oder der Liebe: das sind ja bekanntermaßen Haltungen, die im Nazi-Faschismus und bei Mussolini eine zentrale Bedeutung hatten…Und zu fragen wäre, wie der Polytheismus, den Cioran so nachdrücklich verteidigt (etwa in „Die neuen Götter“, in „Die verfehlte Schöpfung“, Frankfurt 1979, S. 21 ff). nicht auch einer zentralen Lehre der faschistischen Ideologie entspringt: Bekanntlich warf Hitler den Juden als Grundübel vor, wegen ihres Monotheismus auch die Menschenrechte zu verteidigen. Faschismus und Polytheismus gehören zweifellos tendenziell zusammen. Geradezu hymnisch und manchmal peinlich wegen historischer Ungenauigkeiten preist Cioran in dem genannten Essay, der 1979 in Paris veröffentlicht wurde, die Liberalität und Großzügigkeit heidnisch- polytheistischer (Kaiser)-Kulte im alten Rom… bis hin zur dem Urteil: „Der einzige Gott macht das Leben unausstehlich“ (S. 27). Oder, eine heute in vielen Varianten wiederholte Formel: „Der Monotheismus enthält alle Formen der Tyrannei im Keim“ (S. 30). So behauptet denn Cioran weiter, das Heidentum sei „an seiner Großmut, an seinem übertrieben großen Verständnis (für das Christentum, CM) zugrunde gegangen…“ (S. 28). Da entsteht dann im Blick auf die Stringenz des Denkens Corans die Frage: Wie kann er dann als ein Feind des Monotheismus immerhin die noch aus dem monotheistischen Christentum stammende Mystik hochschätzen?

Wie also hielt es Cioran unter diesen Umständen – seit seiner Pariser Zeit – mit dem Christentum? Als Sohn eines orthodoxen Priesters kannte er natürlich auch christliche Lehren. Aber Emile Cioran sagt immer wieder klar und deutlich: Nicht glauben zu können…weil er die Gabe des Glaubens nicht besitzt.

Am Christentum stört ihn am meisten die Hochschätzung des Leidens, darin Nietzsche folgend, während er, anders als Nietzsche, sogar Jesus verurteilt: „Hätte er uns bloß in Ruhe gelassen…“(vgl. S. 62)… Andererseits betont Cioran, betont, dass nur im erlebten Leiden überhaupt Kreativität entstehen kann, also ohne Leiden kein geistvolles Dasein möglich ist, so etwa, wenn er seine andauernde leidevolles Schlaflosigkeit als die eigentliche Antriebskraft seines Denkens deutet (S. 33in Winters Buch). Aber das sind eher typische Argumentationsmuster, die bei ihm oft parallel (d.h. unvermittelt) laufen.

Bei aller Ablehnung der christlichen Religion (als Institution) gibt es eine gewisse Sympathie für die christliche Mystik. Da entdeckt Franz Winter „einen der interessantesten Züge des Werkes Ciorans“ (67). Denn die Mystiker (etwa Theresa von Avila) lassen dem eigenen, subjektiven Erleben völlig freien Lauf; sie verachten das System, auch das religiöse System. Sie sprengen die Begrifflichkeiten, treten in ihrem Erleben aus der Zeit heraus, sie wollen dem Denkenmüssen ( das nun einmal den Menschen auszeichnet) entfliehen (75)

Interessant sind die Hinweise, dass Cioran, angesichts der ihm eigenen „Urgewalt des Zweifels“, in der Musik von Johann Sebastian Bach (S. 45) eine religiöse Dimension stark empfinden konnte.

Cioran hat sich häufig auch positiv über „den Buddhismus“ oder das asiatische religiöse Denken geäußert. Er entdeckte in den Grundstrukturen dieses Denkens Parallelen zu eigenen Auffassungen, vor allem in der Hochschätzung des Nichts oder mehr noch der Leere als dem Ziel eines dann doch noch erstrebenswerten Lebens.

Manche Äußerungen Ciorans sind unseres Erachtens philosophisch schwer nachvollziehbar, etwa wenn er meint, die Sinnlosigkeit des Daseins und der Welt mit diesen Hinweisen zu begründen: “Wenn die Welt einen Sinn gehabt hätte, so wäre er offenbar geworden. Und wir hätten ihn längst erfahren“ (in „Auf den Gipfeln der Verzweiflung, ein Buch, das Cioran selbst als das philosophischste seiner Bücher betrachtete, S. 33). Warum soll denn, so wäre zu fragen, der Sinn sich sozusagen knallhart offenbaren? Wie sollte das gehen, als Wunder, als Belehrung? Ist da nicht viel zu objektivistisch vom Sinn gedacht?

Es stört auch eine gewisse Arroganz des leidenden Nihilisten, etwa wenn er den Schriftsteller und Philosophen Albert Camus „an Bildung einen Provinzler“ nennt, der angeblich nur die französische Literatur kennt….bloß weil Camus Ciorans Buch „Die Lehre vom Zerfall“ nicht loben wollte?

Auch zum Buddhismus formuliert Cioran kritische Vorbehalte: Er meint, Leute aus Europa könnten gar nicht Buddha verstehen und buddhistisch hierzulande leben. Interessant und zur weiteren Diskussion geeignet sind die Hinweise von Franz Winter zur „praktischen Unlebbarkeit der skeptischen Methode“, wie sie Cioran selbst sah. „Nichtsdestotrotz fühlt er sich in geradezu masochistischer Weise dieser (skeptischen) Denkform verpflichtet: Er schreibt in den =Syllogismen=: Die Skepsis, die nicht zur Zerrüttung unserer Gesundheit beiträgt, ist nur ein intellektuelles Exerzitium“ (S. 122).

Wie weit entfernt sich eine solche Position von einem Verständnis von Philosophie, die sich auch klassisch als weisheitliche Orientierung (sophia) versteht, (siehe etwa die selbst von Cioran – für ihn wieder einmal widersprüchlich? – gelobte STOA) ?

Emile Cioran hat mit aller Energie trotz aller permanenter und oft behaupteter Schlaflosigkeit versucht, sein eigenes und einzelnes und vielleicht darin einmaliges Dasein auszusprechen. Das macht seine Philosophie interessant, weil sich einmal mehr zeigt, dass Philosophieren auch als Form der Schriftstellerei eine Alternative ist zur akademischen Universitätsphilosophie. In Ciorans Werk sehen wir die Erschütterungen, ja wohl auch Verwirrungen eines leidenden Menschen, der stets erlebt: Alles, was entsteht, muss sterben. Also verschwinden. Und, wie Cioran meint, hoffentlich verschwinden. Denn diese Welt, so glaubt der Manichäer Cioran, ist eine böse Welt, geschaffen von einem bösen Gott. Darüber muss man diskutieren. Warum nicht auch in der Absicht, ob eine solche Position fürs Leben Orientierung oder gar Hilfe bietet, falls man denn überhaupt noch Orientierung und Hilfe von Cioran wünscht. In der tiefen Krise unserer Welt, bei dem Terror, dem Abschlachten aus religiösen wie machtpolitischen Gründen usw. kann dieses Denken wohl keine Auswege zeigen. Aber wollte Cioran Auswege zeigen? Wer diese Frage mit Nein beantwortet, weiß: Cioran bleibt dauerhaft verstörend und störend, und er lässt den Leser hilflos zurück. Wollte das vielleicht gar Cioran? War er vielleicht ein unbescheidener Missionar des nichtigen Nihilismus?

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

Bei der Endlichkeit stehen geblieben. Hinweise zum Philosophen Odo Marquard

Bei der Endlichkeit stehen geblieben. Hinweise zum Philosophen Odo Marquard

Von Christian Modehn

Sein Tod hat die breite Öffentlichkeit kaum berührt. So ist es heute in Deutschland, wenn Philosophen sterben, selbst wenn sie sich in ihren Essais um allgemeine „Erreichbarkeit“ ihrer Argumente bemühten, also durchaus eine gewisse „Öffentlichkeit“ bedienen wollten. Odo Marquard hat die meisten seiner Texte, durchaus bezeichnend für ihn, im (populären) Reclam-Verlag Stuttgart (in den griffigen gelben Heften zu erschwinglichen Preisen) publiziert. Er wollte wohl heraustreten aus dem Elfenbeinturm, in dem sich so viele Philosophieprofessoren in Deutschland heute verstecken und ihre Bücher eher für Fachkollegen als für kulturell Interessierte, Philosophierende, schreiben. Marquard wollte kein philosophisches Getto. So wurde er direkt oder indirekt inspirierend bei der Einrichtung philosophischer Praxen und philosophischer Salons, also jener Orte, in denen das philosophisches Denken, eben das elementare Philosophieren, belebt wird. Es ist sicher bezeichnend, dass Gerd B. Achenbach, der Gründer der ersten philosophischen Praxis in Deutschland (1982 gegründet!), bei Odo Marquard in Gießen promoviert wurde. Und es ist weiter bezeichnend, dass man Marquards zahlreiche Essais („Ende des Schicksals“, „Philosophie des Stattdessen“, „Zukunft und Herkunft“, um nur einige zu nennen) mit der nötigen Konzentriertheit, aber doch eben als bloß Philosophierender noch mühelos lesen konnte, eben weil sie in jede Jackentasche passten, auf Reisen, in Wartesälen, auf Parkbänken…Dabei waren seine Gedanken alles andere als „leichte Kost“, schon gar nicht philosophisches fast food, auch wenn Marquard oft locker und ironisch, manchmal gar an der Grenze des Albernen formulierte: Er war alles andere als ein „Populärphilosoph“, auch wenn er, wie gesagt, nachvollziehbar schreiben konnte und schreiben wollte. Am 9. Mai ist der vielfach ausgezeichnete „Transzendentalbelletrist“, wie er sich selbst nannte, im Alter von 87 Jahren gestorben: Odo Marquards hat immer Wert darauf gelegt, Schüler des Philosophen Joachim Ritter zu sein, tausend mal hat er davon gesprochen, um immer nur klarzumachen, dass er einem konservativen Denken verpflichtet sei und deswegen nichts von den Veränderern, den linken „Revoluzzern“ schon gar nichts, halte. Seine ironisch formulierte Polemik gegen den Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas war heftig (und falsch in unserem Sinne). Marquard selbst publizierte eine „Apologie der Bürgerlichkeit“, das war wohl für ihn eine Variante einer bei ihm konservativ verstandenen Skepsis.

Ich habe etliche Essais von Marquard dann doch gern gelesen, weil sie eben sprachlich hübsch waren und schnell zum Widerspruch reizten: Man denke etwa an seine Warnung vor dem Willen, vieles zu verändern in der Gesellschaft: Die Beweislast, dass die veränderte Situation besser ist als die gegenwärtige, trage der Veränderer, so Marquard, darin durchaus beruhigend fürs Bestehende eintretend und darin eben der skeptischen Tradition verpflichtet. Damit wollte er warnen vor allzu heftiger Gesellschaftskritik, vor der Bindung an Utopien, überhaupt an Hoffnungen, dass „es später doch einmal besser werden muss“. Diese These hat mir nie eingeleuchtet: Weil doch das Leiden so vieler Menschen an dieser Gesellschaft so groß ist, dass diese Unerträglichkeit doch überwunden werden muss! Und die Leidenden schreien ja förmlich danach. Die neue, andere Situation kann nicht noch schlimmer sein als die gegenwärtige, sagten mir Slumbewohner in Santo Domingo. Da zeigt sich ohnehin die strukturelle Begrenztheit des Denkens von Odo Marquard: Er dachte im Horizont des alten Europa, vielleicht des alten Deutschland, der Bundesrepublik: Globalisierung und Elend in der Dritten Welt und Ökologische Katastrophen und Rechtsextremismus und Islam und so weiter und so weiter kamen bei ihm nicht vor. Er war in meiner Sicht doch der biedere Philosoph, irgendwie auch der etwas brillante Schöngeist, der mit seinen Essais durchaus seine klassische philosophische Kompetenz zeigte, aber doch in der bürgerlich-konservativen Welt befangen blieb.

Nebenbei: Meines Wissens hat Odo Marquard bei seinen ständigen Hinweisen und Lobeshymnen auf seinen hoch verehrten Lehrer Joachim Ritter in Münster niemals daran erinnert, dass dieser Ritter (offenbar in der Jugend ein Kommunist) am 11. November 1933 zu den Unterzeichnern des Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat gehörte; und dass Ritter 1937 in die NSDAP, die NS-Studentenkampfhilfe, den NS-Lehrerbund und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt eintrat. Diese „Herkunft“, auch so ein Lieblingswort Marquards, wurde von ihm nicht thematisiert. Marquard war eben dann doch kein konsequenter Aufklärer, denn Aufklärung war ja auch nicht gerade seine Lieblingsphilosophie.

Man hat trotzdem Marquards Essais gern gelesen, weil sie zum Widerspruch aufforderten! Marquard selbst hat ja die von ihm betriebene Skepsis als „Zerstörung von Zustimmungen“ beschrieben (in „Skepsis und Zustimmung, 1994, Seite 10). Und das konnte man bei ihm lernen. Sein Insistieren auf der „endlichen Endlichkeit“ war schon penetrant und in meiner Sicht unphilosophisch-unkritisch, selbst wenn Marquard förmlich als Entschuldigung beteuerte, von Hegels Denken sich abgewandt zu haben: Aber es tut trotzdem gut an Hegel zu erinnern und ist von der Sache her wohl geboten, dass Endlichkeit ALS Endlichkeit eben nur in dem Darüberhinaussein, also im Transzendieren, überhaupt nur sein kann. Wir sind also als Endliche immer schon ins Unendliche einbezogen. Aber davon wollte Marquard partout nichts wissen: Er wollte die ins einer Sicht prinzipielle Endlichkeit unseres Daseins und Denkens dadurch erträglich machen, dass er diese prinzipielle Endlichkeit aufteilte, in viele kleine Endlichkeiten, um so das Leben noch im Alter – kurz vor dem Tode – halbwegs erträglich zu machen: „Endliches zeigt sich als das Menschliche nicht dadurch, dass es aufhört, das Endliche zu sein, sondern dadurch, dass bekräftigt wird, dass es das Endliche ist. Endliches wird humoristisch nicht durch Unendliches, sondern durch anderes Endliches distanziert, in dem man – sozusagen – die Endlichkeit auf die Schultern möglichst vieler Phänomene verteilt: Geteilte Endlichkeit ist lebbare Endlichkeit.“ (IN „Endlichkeitsphilosophisches“. Über das Altern. Hrsg. v. Franz Josef Wetz. Philipp Reclam Verlag, Stuttgart 2013)

Dieser Vorschlag, hübsch formuliert, klingt wie eine verhaltenstherapeutische Weisung, er löst aber nicht das philosophische Problem der in jeder Endlichkeitserfahrung eben mit-gegebenen Unendlichkeitserfahrung: Da war der ebenfalls kürzlich verstorbene große Philosoph Michael Theunissen (Berlin) sehr viel reflektierter und sehr viel gründlicher im Denken als unser „Transzendentalbelletrist“. (Nebenbei: Auch an den großen Michael Theunissen wurde leider kaum erinnert).

Inspirierend, aber eben zur Kritik inspirierend bleibt auch der Essay Marquards „Lob des Polytheismus“ von 1978, der zweifellos eine gewisse Breitenwirkung hatte. Dort deutet er – durchaus kreativ, das wollte er ja immer sein – die demokratische Gewaltenteilung als „entzauberte Wiederkehr des Polytheismus“ und behauptet, das Individuum als Individuum könnte im Monotheismus gar nicht entstehen (in: „Abschied vom Prinizipiellen“, 1981, Seite 108). Da wird dann die später in rechtsextremen Kreisen (der Neuen Rechten, der nouvelle droite in Frankreich etwa) verbreitete These in Umlauf gebracht: Der Mensch müsse im Monotheismus „dem einzigen Gott nur parieren“, wie es Marquard polemisch ausdrückt. Dass durch die Vorstellung des einen Gottes die Menschen als gleichwertige „Menschheitsfamilie“ gesehen werden, dass also im Einheitsdenken die Menschenwürde eines jeden einzelnen gerettet wird und also im Monotheismus der Ursprung der Menschenrechte liegt, all das kann und will Marquard in seinem „Lob des Polytheismus“ nicht sehen und zugeben. Es mag wie ein (schwerer) faux-pas erscheinen, dass Odo Marquard in dem Beitrag ein paar Zeilen später in Hinweisen zur Mythenrezeption (Seite 109) in einem Atemzug „Roland Barthes und Alfred Baeumler“ einfach so hintereinander nennt: Als wäre Alfred Baeumler ein gleichermaßen kritischer und wichtiger Kopf wie der große Roland Barthes. Es wird nicht mit einem Wort erwähnt, dass der (sachlich wohl unnötigerweise) zitierte Alfred Baeumler der führende und prominente Kopf der Nazi-Philosophen war. Er gehörte zu den wenigen NS Philosophen, die nach 1945 nicht an eine deutsche Hochschule zurückkehrten. Muss Marquard wirklich dann in Fußnote 32 auf eine Arbeit Baeumlers hinweisen? Ohne weiteren Kommentar?

Trotz aller Kritik: Die Essais von Marquard bleiben (manchmal leicht) lesbar, trotz aller Egozentrizität mancher Formulierungen und der gewollt witzigen Bonmots. Marquards Essais, er schrieb ja eigentlich nur Essais, also in gewisser Weise kurze Studien, vielleicht manchmal auch Fragmente, bleiben inspirierend, gerade weil sich an ihnen so schnell der Widerspruch, das Nein, entwickelt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Islamische Philosophie: Der Islam gehört zu Europa. Ein Salonabend

Islamische Philosophie: Der Islam gehört zu Europa

Ein Abend im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 27. 2. 2015

Einige Hinweise von Christian Modehn

Ein Vorwort:

Bei der Diskussion im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin und beim Schreiben dieser Notizen drängt sich eine Frage auf: Warum gestalten heute die großen Kultur-Institutionen, wie etwa das „Haus der Kulturen der Welt“ in Berlin, nicht eine große Ausstellung, mit Debatten, Lesungen, Filmen, über „Philosophie in al andalus“? Wenn es in Berlin ein „Haus der Philosophien“ gäbe, ließe sich eine solche Ausstellung vielleicht schneller realisieren… Eine solche Ausstellung wäre eine heilsame Erkenntnis für alle, die immer noch behaupten: „Der Islam gehört nicht zu Europa“.

„Der Islam“ gehört zu Europa

Wir wollen wahrnehmen, was die Kulturen Westeuropas den Muslimen (etwas pauschal formuliert, aber in einer ersten Bekanntmachung mit dem Thema zu verzeihen) zu verdanken haben. Europa ist durch die islamische Vermittlung von Wissen, Technik, Landwirtschaft, Medizin, Philosophie (falasafia auf Arabisch) usw. tatsächlich muslimisch mit geprägt. Insofern gehört schon faktisch durch diese Kulturleistungen „der“ Islam“ zu Europa.

Einige philosophische Autoren wie Ibn Tufail oder Averroes sind im Gebiet des heutigen Spanien geboren; sie sind in moderner Terminologie also jetzt auch europäische Autoren muslimischen Glaubens. Wir wollen erinnern an den weit reichenden und hilfreichen „Transfer“ von Wissen und Technik, besonders bekannt seit dem 10. bis zum 13. Jahrhundert im muslimisch beherrschten „al andalus“. Dabei geht es dort um die Übermittlung antiker, griechischer Philosophie durch die Übersetzungen von Autoren ins Arabische und von dort dann weiter ins Lateinische.

Kurz zum Hinergrund: Die ausgedehnten Herrschaftsgebiete der Muslime brauchten ein wissenschaftliches know-how, Kenntnisse der Astronomie, der Medizin, der Logik, der Mathematik, der Philosophie, um islamisch in der Welt zu leben. Dabei musste man auf die große Vielfalt griechischer Texte zurückgreifen, die etwa in Bagdad und Aleppo übersetzt wurden, vom Griechischen ins Arabische, daran waren vor allem Christen und Juden beteiligt. Der Philosoph al Farabi (872- 950) z.B. hat einen großen Teil seiner Ausbildung bei einem nestorianischen Christen , Yuhanna ibn Haylān (gest. um 920) erhalten. Nebenbei: Jetzt werden die Nachkommen dieser für Muslime hilfreichen Christen in Syrien und im Irak von IS-Verbrechern abgeschlachtet. (Vgl. Prof. Dietmar W. Winkler, Salzburg, in „Die Zeit“, 26. Februar 2014, Seite 56).

Damals schätzten auch die muslimischen Herrscher die hilfreichen intellektuelle Leistungen der Christen und Juden und Juden für die muslimische Welt. Es gab also Zeiten eines sehr freundlichen Miteinanders, vor allem in al andalus. Allein daran zu erinnern, ist heute eine pädagogische Pflichtaufgabe, Juden und Christen wurden von Christen damals nicht zum Islam zwangsbekehrt, sie galten als „Gläubige des Buches“, also dem Islam nahe stehend. In der Sure 29, 45 heißt es: „Unser und euer Gott ist einer. Ihm sind wir ergeben“. Wenn es auch muslimische Vorbehalte gab und gibt, den dreifaltigen Gott tatsächlich als den einen zu sehen.

Juden und Christen hatten unter islamischer Herrschaft Steuern zu zahlen… Und Christen profitierten von wissenschaftlichen Leistungen der Muslime…

Die Pluralität im Ringen um vernünftiges Verstehen des Koran.

Bereits ca. 200 Jahre nach dem Vorliegen des Textes „Koran“ setzt inmitten der islamischen Gemeinschaft eine plurale und leidenschaftliche philosophische Diskussion ein: Über den Zusammenhang von menschlichem, vernünftigem Denken einerseits und dem Koran bzw. der religiösen Glaubenslehre auf der anderen Seite. Am Anfang seiner Geschichte ist Islam also nicht nur das Ringen um Herrschaft, sondern auch das Ringen um die Begründung dieser Herrschaft und der Gestaltung islamischer Lebensformen und religiöser Praxis. Das ist die Leistung islamischer Philosophen: In den Texten, die sich heilig nennen und von Frommen als Ausdruck göttlichen Willens gedeutet werden, gibt es immer zwei Dimensionen: Den menschlichen Aspekt: D.h. bestimmte Menschen haben die Offenbarung Gottes empfangen, schreiben sie auf usw. Und den göttlichen Aspekt: Gott wird als Ursprung des Textes geglaubt. Ein bloßnaives, fundamentalistisches Nachplappern von religiösen Texten sollte also ausgeschlossen sein. In den Philosophien des Islam bis zum 12. Jahrhundert wurde um diese Spannung gerungen: Wie stark ist das Menschliche und in welchem Gewicht soll das Göttliche gewertet werden, was ist vorrangig ist usw. Letztlich hat dann im 13. Jahrhundert die Überzeugung der orthodoxen, also philosophiefeindlichen Herrscher machtvoll gesiegt: In dem göttlich genannten Text spricht Gott als Gott. Und dieser Text darf also keiner kritischen und historischen (TEXT) Forschung ausgesetzt werden.

Hinweise zu einigen Philosophen:

— Zeitlich gesehen, wohl erste islamische Philosoph: Al Kindi, um 800-873. Ein Universalgelehrter, auch in Astronomie, Musik, Medizin gebildet. Er suchte die Übersetzungen von Aristoteles und von Platon, auch der Neuplatoniker (Plotin). Ihm standen oft nur Paraphrasen dieser Werke vor.Er stellte die Philosophie in den Dienst der religiösen Lehren. Etwa sein Gedanke, die Schöpfung der Welt sei IN der Zeit entstanden, die Welt sei also nicht ewig. „In Konfliktfällen gab er der Religion den Vorrang“. (so Ulrich Rudolph, Islamische Philosophie, Seite 20.)

Ganz anders denkt der Perser al Razi 865- 925. Er ist einer der bislang wenig bekannten aufklärerischen Philosophen der islamischen Welt. Es wird Zeit, dass europäische Philosophen sich mit al Razi befassen! Bei ihm ist allerdings die Quellenlage seiner Schriften schlecht. Als radikaler Philosoph war er doch unbeliebt, seine Werke wurden von den Frommen vernichtet. Trotzdem lässt sich Wesentliches rekonstruieren: Al Razi war – wie viele andere islamische Philosophen auch – Arzt, er beschrieb etwa eine Methode zur Leichenkonservierung, die im Mittelalter auch in Europa bekannt wurde und sich, mit nachträglichen Verbesserungen, bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts halten konnte. Seine Methode beruhte im Wesentlichen auf Entfernung der Eingeweide, Waschen der Körperhöhlen mit Essig und Weingeist sowie Ausfüllen des Leichnams mit aromatischen Pulvern und konservierenden Salzen. Al Razi wehrt sich entschieden gegen die Tendenz, die islamische religiöse Überlieferung als solche vorrangig zu verstehen. Er kennt die Übersetzungen aus dem Griechischen und Syrischen und „tritt ohne Einschränkung für die Autonomie der Philosophie ein“ (Rudolph, S 23). JEDER Mensche kann ALLEIN mit Hilfe des Intellekts, der dem Menschen von Gott gegeben wurde, Erkenntnis gewinnen und sich Gott zuwenden. Allen Menschen hat Gott, der barmherzige und ewige, die Fähigkeit zur Gotteserkenntnis geschenkt. (vgl. Rudolph S.26).

Für al Razi haben Propheten keine Bedeutung, die sich Propheten nennen, sind für ihn Betrüger. Sie täuschen Eingebungen vor, die sie gar nicht erhalten haben.

Dabei will al Razi gar nicht Gott „als solchen“ in Frage stellen. Gott ist der einzige Garant des Heils des Menschen. Aber Gott lebt in der kritischen Vernunft. Al Razi sieht in Sokrates den Idealfall des tugendhaften Menschen.

Deswegen wird er von den orthodoxen Herrschern (Frage: Warum sind eigentlich immer fast alle Herrscher und Machthaber religiös orthodox und konservativ ?) als übler Ketzer behandelt. Er stirbt vereinsamt und verarmt

–al Farabi: (870 – 950), ein auch politischer Philosoph aus der „Türkei“

AL FARABI überblickte den gesamten Corpus der Aristoteles Texte; auch er betont die Ewigkeit der Welt. Das Universum ist für ihn eine ewige Emanation aus dem göttlichen Einen, Vorstellungen, die an Plotin erinnern. „Mit al-Farabis Ideen zieht erstmals so etwas wie eine streng kausale Notwendigkeit in die Welt der Denker des Propheten ein“ (Lerch, 49).

Al Farabi hat auch zur Rolle der Herrscher Stellung genommen: Sein Buch „Der Musterstat“ (S. 51 in Lerch, „Denker des Propheten“).Wie der Kosmos ist auch der Staat hierarchisch aufgebaut. Der Staat muss aber von einer Person geführt werden, die alle anderen an Weisheit und Tugend übertrifft. (so auch Rudolph, S.36.) Am besten wäre die Leitung des Staates durch einen Philosophen. 12 Eigenschaften zeichnen das perfekte Staatsoberhaupt aus: Gerechtigkeit, Einsicht Redegabe, Wahrheitsliebe, Bekämpfung der Gier; Frömmigkeit wird nicht ausdrücklich erwähnt! Im „Ideal Staat“ sind philosophische Tugenden wichtig. Im anderen, dem Torheitsstaat sind sinnliche Genüsse, Erwerb von Reichtum und Erfüllung privater Neigungen wichtig. Von religiösem Gesetz ist bei ihm nicht explizit die Rede. Wenn ein Staat von einem unmoralischen Herrscher gelenkt wird, werden die Untertanen selbst unmoralisch…Was später Averroes vertieft, sagt schon al Farabi: Religion ist für viele „schlichte“ Gläubige ein einfacher Zugang zur Wahrheit, von den Propheten vermittelt. „Propheten verkündigen die Wahrheit all jenen, die zu einer Beweisführung außerstande sind.

–Ibn Tufail:

Über ihn berichtete Atila, ein Freund unseres philosophischen Salons.  Ibn Tufail ist eine besondere Gestalt (er lebte von 1105-1185 auf der iberischen Halbinsel) und ist bekannt geworden durch einen Roman vor allem, von dem offenbar später andere Autoren “zehrten”: Der Titel: “Der Lebende. Sohn des Wachenden”. Die These: Es gibt verschiedene zur Gotteserkenntnis, es gibt auch die individuelle Gotteserkenntnis des einzelnen sozusagen aus der inneren reflektierenden Kraft.

Zu “Al Andalus” im allgemeinen:

711 kamen die Muslime von Nordafrika über Gibraltar nach Spanien. Zuvor waren Damaskus, Jerusalem, Antiochien und Ägypten von muslimischen Herrschern erobert worden.

In Spanien reichte die muslimische Herrschaft bis zu den Pyrenäen; lediglich (das heutige) Asturien blieb unter christlicher Herrschaft; auch Sizilien wurde von Muslims erobert. 1085 eroberte Alfons VI. von Kastilien die Stadt Toledo, womit ein allmählicher Abstieg von al-Andalus einsetzte. Nach dem Fall von Córdoba 1236 war das Emirat von Granada das letzte muslimisch beherrschte Gebiet in „Spanien“. Der letzte Emir Muhammad XII. übergab am 2. Januar 1492 Granada an Ferdinand II. von Aragonien und Isabella von Kastilien. Damit fand die muslimische Herrschaft dort ihr Ende fand

Ein Hinweis zu Cordoba: Um 950 gab es dort eine kulturelle und wissenschaftliche Blüte, man denke an die prächtige Bibliothek des Palastes des Kalifen (al Hakam II.) mit ca. 400.000 Handschriften. Allerdings: Muslimische Fanatiker zerstörten gleich zu Beginn des 11. Jahrhunderts umfassend die Bibliothek. Cordoba war die auch an Bevölkerung (ca. 500.000 Einwohner), reichste Stadt in Europa, noch vor Konstantinopel

Ein Blick nach Rom ins katholische „saeculum obscurum“:

Zu der Zeit der islamischen kulturellen und damit auch philosophischen Blüte herrschte in Rom, am Hof des Papstes, das von Historikern genannte saeculum obscurum, das dunkle Jahrhundert, das wahrlich dunkle Mittelalter. Die römischen Familien besetzten den Papstthron je nach Laune, es gab ständig Gegenpäpste, Päpste vergifteten und verfolgten und ermordeten einander, eine chaotische Situation. Wikipeida zu Papst Johannes VIII: „Nachdem seine Verwandten zunächst versucht hatten, ihn zu vergiften, sollen sie ihn, als das Gift nicht schnell genug wirkte, mit einem Hammer erschlagen haben“. Er ist der erste von insgesamt 8 ermordeten Päpsten im Mittelalter. Die Legende sieht in ihm Päpstin Johanna…

Übersetzungen des Koran ins Lateinische in Spanien:

Die erste Übersetzung aus dem Arabischen ins Lateinische wurde 1142 inszeniert von Petrus Venerabilis, er war Abt von Cluny. Die Übersetzung wurde 1143 fertig gestellt. Dieser lateinische Text gelangte auch zu Bernhard von Clairvaux, er war der große Prediger zugunsten des 2. Kreuzzuges 1146.

Zu dieser Zeit war nur ganz wenig über den Islam in der christlichen Welt bekannt. Viel Verworrenes wurde berichtet, etwa die angebliche sexuelle Freizügigkeit beklagt.

Für den Koran bot Abt Petrus Venerabilis eine Interpretationslinie: Der Koran war für ihn GESETZ, dadurch wollte er den Islam als zu verabscheuende „Gesetzes-Variante“ zum ebenso missachteten Judentum darstellen. Der Abt bezeichnete den Islam als gottlose Religion und Mohammed als boshaften Mensch. Übersetzer waren Robert von Ketton und Hermann von Kärnten, (in Buch: Juden, Christen usw. S 29). Eine 2. Übersetzung wurde von Marcus von Toledo geschaffen, offenbar unabhängig von Petrus Venerabilis entstanden.

Hinweise zu AVERROES: ibn Ruschd, geboren 1126 in CORDOBA, gestorben im Exil in Marokko 1198. Auch er ein Arzt, ein Richter (kadi), ein universal gebildeter Philosoph.

Sein ganzes philosophisches Bemühen galt der Verteidigung der Philosophie. Er wandte sich gegen alle Denker, wie al Ghazali, die den Wert des eigenständigen, logischen Denkens schlecht machten und der religiösen Orthodoxie den Vorzug geben wollten. Philosophie INNERHALB einer religiös geprägten Welt konnte für ihn nur Kritik an den Machtverhältnissen sein, an Herrschern, die sich der Religion bedienten, um so mit angeblich göttlichen Argumenten ihre eigene Macht zu erhalten.

Averroes ist sicher einer der wegweisenden, ganz großen islamischen Philosophen; er ist bester Kenner des Aristoteles vor allem auch dessen umfassender Kommentator. Der katholische, z.T. offizielle päpstliche „Meister-Theologe“ seit dem Mittelalter, Thomas von Aquin, nannte Averroes immer nur DEN Kommentator. Thomas von Aquin hat auf seine Weise versucht, Aristoteles zu rezipieren und in das theologische System einzubauen. Letztlich wurde der hoch gebildete, kritische Averroes aus seiner Heimat-Stadt Cordoba verbannt. Der Philosoph Kurt Flasch: „Die islamische Welt verlor seit der Vertreibung von Averroes den Kontakt mit dem wissenschaftlichen Fortschritt“. ( S. 155).

Zu einigen zentralen Aspekte der Lehre des Averroes:

Er tritt für die Ewigkeit der Welt ein. Es hat für ihn keinen Sinn zu sagen, es habe eine Zeit gegeben, in der die Welt noch bestand. „Nirgendwo steht, dass die Welt in der Zeit entstanden ist“. Die Welt als Schöpfung Gottes ist ewig. Und: Gottes Wissen ist von jeglichem menschlichen Wissen verschieden.

Politisch aktuell und sehr modern ist seine Unterscheidung in der Koran-Lektüre: Es gibt für Averroes drei unterschiedliche Gruppen von Koran-Versen, die je auch unterschiedlich zu verstehen sind:

-Verse, die – damals – von sich her evident sind: Etwa: „Es gibt nur den einen Gott“.

-Sätze, die nur ungebildete Fromme wörtlich verstehen sollten: etwa: „Gott hat sich auf einen Thron gesetzt“, solch ein Satz bedarf der Interpretation.

-Verse, wo es unterschiedliche Meinungen geben muss: „Die Auferstehung des Leibes“. „In diesem Fall beharrt Averroes darauf, dass die Gelehrten unterschiedliche Meinungen vertreten können“. (Rudolph, Islamische Philosophie, Seite 72.

Das Verhältnis von Religion und Philosophie verstand Averroes so: Die höhere und reine Wahrheit erkennt der Philosoph in seiner Philosophie. In der Religion erscheint die Wahrheit in einer bildhaften Einkleidung, sie ist dem schwachen Verständnis der Masse der Gläubigen angepasst.

Die Philosophie des Averroes wurde von der mohammedanischen Orthodoxie verdammt und seine Schriften verbrannt. Er wurde nach Nordafrika verbannt, wo er am 10. Dezember 1198 in Marokko starb. Von der islamischen Orthodoxie werden seine Werke bis heute strikt abgelehnt. Damit wurde auch die Bedeutung der Denkweise des Aristoteles gering geschätzt, also die Vorliebe des Aristoteles für Logik, für die Analyse des Einzelnen, für die kausale Begründung, also die wissenschaftliche Denkweise. All das hatte fortan keinen bedeutenden Platz mehr in der arabischen und muslimischen Welt. Es begann die Zeit der Stagnation, in der sich alles um die Religion, der man vorgab, einzig zu folgen.

Aber Philosophie im Islam spielt doch eine gewisse Rolle in der Moderne. Das Verschwinden des Aristoteles im islamischen Denken seit dem 13. Jahrhundert ist auch ein Thema des bedeutenden zeitgenössischen Philosophen AL JABRI (in Marokko geboren, 1936, gestorben 1936). Sein Hauptwerk ist: „Kritik der arabischen Vernunft“ (Der Anklang an Kants Titel ist wohl bewusst gewollt). Al Jabri sieht den Niedergang der Wissenschaften im islamischen Raum mit der Verachtung von Averroes in einem Zusammenhang. Paradoxerweise haben die Christen in Europa Averroes und damit Aristoteles übernommen, während die islamische Welt beide verloren hat.Dieser Verlust des Aristoteles in der muslimischen Welt ist wohl einer der wichtigsten Schlüssel, um den Niedergang von Wissenschaften und auch das Nichtvorhandensein von Demokratien zu begreifen.

In seiner Metaphysik schreibt Aristoteles diese immer noch aktuellen Sätze: „Es ist klar, dass wir die Wissenschaft nicht um eines anderen Nutzens willen suchen; sondern, wie unserer Meinung nach der ein freier Mensch ist, der um seiner selbst und nicht um eines anderen willen lebt, so ist auch diese Wissenschaft als einzige von allen frei; ist sie doch allein um ihrer selbst willen da“. Die Voraussetzung der Wissenschaft ist also die Freiheit. Sie ist von allen Nutzen und Zwecken abgekoppelt. Ein aktuelles Beispiel aus der Ökonomie: Für Aristoteles ist es ein großes Verbrechen, wenn spekulativ Geld angehäuft wird, wobei die Anhäufung durch den Zins verursacht wird.

Al Jabri arbeitete für die Erneuerung der islamischen Philosophie. Und diese kann sich durchaus der europäischen Philosophie lernend zuwenden, denn arabische Philosophen finden dann dort ohnehin muslimische Philosophie wieder (etwa die Lehren des Averroes).

Abu Zaid (1943 in Ägypten geboren; dann im Exil in Holland; 2010 in Kairo gestorben)

Für ihn ist wichtig: „Der Koran hilft mir nicht bei der Lösung der Tausenden von Problemen, die sich außerhalb der religiösen Sphäre stellen. Ich plädiere dafür, auf die Vernunft zu setzen, wo die Schrift, der Koran, keine Lösungsansätze bieten“.

Abu Zaid hat sich mit einer kritischen und zeitgemäßen Interpretation des Koran auseinandergesetzt: „Es wurden im Koran Passagen zusammengestellt, die zu verschiedenen Kontexten gehörten. Sie wurden in Kapiteln arrangiert, und diese wiederum zu einem Buch, das heute der Koran ist. Heute können wir die Passagen aus der Mekka-Zeit von denen der Medina-Periode unterscheiden“. “ (Interview mit “Herder Korrespondenz“, 2008, Seit 341.)

Tatsächlich wurden nach dem Tod Mohammeds die Verkündigungen zu einem homogenen Text vereinigt und innerhalb weniger Jahrzehnte mit staatlicher Autorisierung veröffentlicht“( Verlag der Religionen, Almanach, S. 159).

Einer unter den zeitgenössischen Islam-Philosophen ist der Autor Rachid Benzine, 1971 in Marokko geboren; er lehrte u.a. als Islamwissenschaftler an der Universität in Aix en Provence: „Unsere islamischen Dogmen wurden in der Geschichte erarbeitet, sie sind die Ergebnisse der Geschichte, sie sind an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden. Es besteht eine enge Verbindung zwischen dem universalen Gedanken des Korans und seiner historischen Sprache. Es muss ein neues Verständnis des Korans entstehen, einen neuen Horizont, in dem sich sein Sinn zeigt, eine neue Hoffnung gerade für Leute, die heute an ihm verzweifeln. Denn im Namen unumstößlicher Wahrheiten hat man Menschen ermordet, die nicht die gleiche Glaubenswahrheit teilen. Wir müssen heute verstehen, dass es keine Religion gibt, die vollständig wahr oder vollständig falsch ist. Wir müssen die Relativität der Glaubenssysteme erkennen“.

Der Salonabend am 27. 2. 2015 war (mit 22 TeilnehmerInnen) unglaublich angenehm lebendig und kontrovers; es geht um Provokationen, also „Heraus-Rufungen“ aus festen Meinungen, um Heraus-Forderungen. Um das „Heraus“ also geht es in der Philosophie, um das Verlassen des bisher Gewussten und dem sich skeptischen Vortasten zu neuen, aber wieder vorläufigen Gewissheiten…

Dabei ist es bedauerlich für diesen Abend, dass die enge Verbindung zu jüdischen Philosophen in dieser muslimisch geprägten Kultur diesmal noch nicht eigens herausgearbeitet werden konnte.

Debattiert wurde die Frage nach der allzu hohen Einschätzung des Koran (Textes) in islamischen Religionsgemeinschaften. Wann wird der Koran in islamischen Kreisen als ein literarisches Zeugnis (unter anderen) eben auch historisch und kritisch gelesen? Wie konstruktiv bzw. hinderlich ist die starke Bindung an die Koran-Lektüre und an das idealisierte Auswendiglernen des Koran in der (alt-) arabischen Sprache. Gäbe es für Kinder und Jugendlich nicht Dringenderes? Etwa die weitere Bildung in den Menschenrechten, die sorgsame Pflege von Psychologie und humaner Pädagogik? Das führte zu der provozierenden Frage: Sollten (die strukturell(liturgisch) ewig-selbem Gottesdienste – auch der Christen – nicht viel mehr je neue und aktuelle „Menschen-Dienste“ werden, im Sinne eines tiefen menschlichen Austausches, einer Schule der Empathie usw. möglicherweise im Angesicht des Ewigen, den man aber bitte nicht ständig aus seinen eigenen angeblichen Büchern zitieren muss. Der Ewige spricht sich auch in säkularen Texten aus, wenn man das Bild will, nämlich etwa der “Deklaration der Menschenrechte”.

Copyright: Christian Modehn

 

 

 

Die große Irre – oder: Wie Heidegger sich philosophisch für schuldlos erklärt. Zur „Irrnis-Fuge“ von Peter Trawny

Die große Irre – oder: Wie Heidegger sich philosophisch für schuldlos erklärt

Zur Broschüre „Irrnis-Fuge“ von Peter Trawny

Von Christian Modehn

In den „berühmten“ „Schwarzen Heften“ dokumentiert Martin Heidegger seit den neunzehnhundertdreißiger Jahren selbst ganz offen seinen Antisemitismus. Der Philosoph Peter Trawny, Professor an der UNI-Wuppertal und Leiter des dortigen, von Martin Heideggers Erben mit-finanzierten (siehe Fußnote 1)) „Martin-Heidegger-Instituts“, ist der Herausgeber dieser erst vor einem Jahr publizierten sehr umfangreichen und ausführlichen Notizen Heideggers. In seinem Buch „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ (Klostermann Verlag, 2014) nennt Trawny die „Schwarzen Hefte“ den „wahrscheinlich intimsten Text Heideggers“ (S. 98). Von der Shoa ist in den Heften keine Rede, betont der Kenner der Schwarzen Hefte, Peter Trawny. In seinen Bremer Vorträgen (1949) deutet Heidegger an, dass er selbst sich „schmerzlos“ fühlt angesichts des maßlosen Leidens der Shoa. „Schuld“ an dieser Unbetroffenheit und Unberührtheit sei aber nicht er selbst, seine Person also, sondern schuld seien die objektiven Zusammenhänge der Seinsgeschichte, vor allem in der Macht der modernen Technik, die wiederum nur „objektiv“, also nur seinsgeschichtlich, zu verstehen sei.

Heidegger zieht sich also, umgangssprachlich formuliert, „aus der Affäre“. Er möchte, von seiner eigenen Philosophie geschützt und freigesprochen, sozusagen ungerührt die ermordeten 6 Millionen Juden und die anderen von Nazis ermordeten Menschen bloß zur Kenntnis nehmen.

In dem Buch „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ spricht Trawny klar und nachvollziehbar davon, „dass nicht wenige Dimensionen Heideggers Denken kontaminiert erscheinen“ (S. 99). Er geht sogar, richtig und treffend in unserer Sicht, so weit zu behaupten, dass eine institutionelle Krise von Heideggers Denken bevorsteht“ (100)! Mit anderen Worten: Dass das Studium der Schriften Heideggers ab sofort unter ganz neuen und ganz anderen Voraussetzungen stattfinden muss. Was das heißt, haben Trawny und andere Heidegger-Deuter bisher nicht weiter vertieft, von einem neuen hermeneutischen Ansatz „nach den Schwarzen Heften“ nichts zu spüren, geschweige denn, dass die große Heidegger Gemeinde in irgendeine Form der Selbstkritik und des Abstandnehmens gerät. Günter Figal, Freiburg, ist da wohl die Ausnahme.

Mit um so größerem Interesse wendet man sich der offenbar zeitlich nach „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ verfassten kleinen Studie Peter Trawnys zu, sie hat den sehr heideggerianischen, d.h. dem Insider verpflichteten Titel „Irrnisfuge. Heideggers An-archie“, erschienen 2014 bei Matthes und Seitz. Da rutscht Trawny in die von ihm früher schon einmal kritisierte esoterische Sprache zurück. Er schreibt, das deutet schon der Titel an, für den kleinen Kreis der „Eingeweihten“. Mit einer solchen Engführung ist aber angesichts der Probleme rund um die „Schwarzen Hefte“ fast keinem gedient, vielleicht der Familie Heidegger und dem Kreis um Friedrich Wilhelm von Herrmann, die jegliche kritische ( !) Edition der Heidegger Werke bekanntlich unterbinden!

Esoterischen Nebel zu verbreiten verbietet sich für jede ernstzunehmende Philosophie.

Diese Broschüre ist in unserer Sicht eine große Enttäuschung. Man muss bereits Heidegger vorwärts und rückwärts gelesen haben, um die Äußerungen Trawnys zum Thema zu verstehen. Es geht ja, noch einmal, grundsätzlich um die Frage, wie in der eigenen Philosophie Heideggers, besonders in seiner Interpretation von Wahrheit und Irrtum, selbst die Wurzel liegen kann für sein völliges DES-Interesse an der Auslöschung des Judentums bzw. noch vorausliegend für sein bis 1945 ausdauerndes Gebundensein an die NSDAP.

Unserer Meinung werden Irrnis und Fuge etwa, schon der Titel, nicht in allgemein nachvollziehbarer, also in NICHT-esoterischer Sprach erklärt. Es geht bei den Begriffen um das eigenartige Verständnis von Wahrheit bei Heidegger, das nichts mit Richtigkeit im logischen Sinn gemeinsam hat. Vielmehr meint Heidegger dem Logischen vorausliegend Wahrheit als Unverborgenheit verstehen zu können. Wenn etwas aber un-verborgen ist, dann, so folgert er dann doch irgendwie noch logisch, muss es auch Verborgenes geben. Wahrheit spielt sich also in einem Gegeneinander von Verborgenem und Unverborgenen ab. Mit dem Respekt vor dem Verborgenen muss dann aber eingestanden werden: Es gibt ein „Gegenwesen,“ sagt Heidegger, also eine Art lebendige (Irrtums) Macht gegenüber der Wahrheit. Das heißt noch einmal: Dieses Gegenwesen ist der Irrtum, die Irre, wie der Schwarzwälder Meister sagt, daraus folgert er dann: „Der Mensch ist der Irre unterworfen“, so heißt es kurz und bündig im „Heidegger Handbuch“ (Hg. von Dieter Thomä u.a., Stuttgart 2005, Seite 131). In dieser gar nicht esoterischen Sprache, sondern in deutlicher Sprache haben wir eine Art nachvollziehbare Definition der Irre bei Trawny nicht gefunden.

Trawny bietet fast nur den großen Meister immer wieder repetierende Sätze, also in einer Sprache, die so dicht unmittelbar Heidegger, dem Meister, folgt, dass weite Strecken des Trawny Textes wie eine zusammenfassende Paraphrase erscheinen. Wem ist damit gedient?

Die Broschüre Trawnys kennt keine Kapitelgliederung, was unangenehm auffällt, denn Kapitelgliederungen sollten doch einem ca. 80 Seiten umfassenden Texte üblich sein.

Aber, noch einmal, am schwersten wiegt die – eben Heidegger repetierend – verschleiernde Sprache. So schreibt Trawny auf Seite 45 über das auch Heidegger bekannte Buch „Der Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler: „Der Untergang ist in der Geschichte des Seyns (sic) nie ein Ende, sondern der Beginn. Das aber könne nur dort sein, wo das Aufgehen, ereignishaft entsprungen, in die Huld der Wahr-heit (sic) des Seyns (sic) reiche“. Man kann doch nicht im Ernst Heidegger nicht mit Heideggers Worten erklären, das gilt wohl allgemein für alle Interpretationen. Die enge sprachliche (und damit im Denken gegebene) Verbundenheit mit Heidegger wird auch deutlich, wenn Trawny schreibt: „Die Orientierung an der Dichtung, natürlich zuerst an Hölderlin, hat Heidegger soweit getrieben, dass ihm nur die Wenigsten gefolgt sind und folgen werden“. Darauf folgt der entscheidende Satz Trawnys: „Doch sie bleiben weit zurück“. Also: Diese Leute sind, Verzeihung, also eigentlich die Blöden. (S 61).

Wichtig bleibt hingegen der Hinweis Trawny, dass Heidegger als Philosoph offenbar alles Empirische, Historische für sich als „Denker“ irrelevant fand. Trawny schreibt: „Will Heidegger etwas über Russland erfahren, liest er keine statistischen Erhebungen über Stadt und Land, sondern Dostojewski. Dasselbe gilt natürlich auch für Deutschland: Was deutsch ist, dichtet Hölderin. (S. 44). Man könnte also in diesem Sinne weiter fortfahren: Was Demokratie ist, sagt uns Platon. Was Mathematik ist, sagt uns Euklid…. So viel Abweisung alles auch aktuell Empirisch-Faktischen blamiert wohl eher einen Denker, der sich für groß hielt. Wer so Philosophie betreibt, schadet der Sache der Philosophie! Hätte sich Heidegger auch ethisch, auch politisch, mit den Fakten rund um die NSDAP auseinandergesetzt, anstatt, mitten im 2. Weltkrieg, als die Öfen in Auschwitz nie ausgingen, etwa permament mit dem Dichter Hölderlin oder den Vorsokratikern, vielleicht wären die Schwarzen Hefte weniger schwarz, d.h. katastrophal für ihn als Menschen ausgefallen. Im Rahmen der Irrnis bzw der Irre hat Heidegger auch den Untergang gedacht: Er hielt es für möglich in der technischen Welt, wenn sich die Erde selbst in die Luft sprengt und dass das jetzige Menschentum verschwinde. Aber das sind ja weithin geteilte Überzeugungen. Heidegger hingegen sagt ergänzend: „Das sei kein Unglück, sondern die Reinigung des Seins durch die Vormacht des Seienden“. Kommentar von Trawny: „Eine Sintflut muss kommen, um den Dreck der Geschichte wegzuspülen“. Aber diese Auslassungen Heideggers findet selbst Trawny „philosophisch nicht der Rede wert“ (47). Er will seinen Meister überhaupt aus dem Bereich der Philosophie befreien und eher in der Dichtung ansiedeln, offenbar, weil dort ungeschützter vieles einfach so gesehen, so erfahren, geahnt und behauptet werden kann…Der esoterische Poet (Heidegger) entzieht sich einfach der in seiner Sicht banalen, logischen Kritik. Er ist ja der Große, „der groß denkt“ und deswegen, so Heidegger, „auch groß irren muss“ und wohl auch irren darf. Dem Poeten verzeihen wir alles, vermutet wohl der Schwarzwälder Dichter-Denker…

Aber der entscheidende Trick Heideggers muss wohl als solcher benannt werden: Er baut sich selbst eine Philosophie, die ihn rundherum schuldlos erscheinen lässt. Heidegger hat sich seit 1930 bis zum Lebensende eine Philosophie erdacht, darf man sagen, zusammengebaut, in der er selbst als der selbst ernannte „Hüter des Seins /Seyns/“ in der Unverborgenheit die Wahrheit spürt, dabei aber auch die Irrnis, also den Fehler, die Unwahrheit erlebt und ihr ausgesetzt ist: Das Irren gehört dann entschuldbar, weil schicksalhaft und abwerfbar gegeben, wesentlich zum Philosophieren. Heidegger entkommt der Irre nicht, er muss förmlich irren.

Der arme Heidegger konnte also nichts dafür, dass er Antisemit werden musste, es war doch ein Seins/Seyns Geschick. Da hilft doch keine Logik und schon gar keine Ethik. Denn die Ethik ist doch auch durch die Irre verdorben… Heidegger entzieht sich mit seiner Philosophie der Verantwortung. Er tritt förmlich aus der allgemeinen Geschichte der (meisten) Menschen heraus. Er ist ein „Sonderfall“.

Ab Seite 65 folgen bei Trawny einige wenige weiter inspirierende und sicher wichtige Sätze, die sich alle immer noch verbliebenen absoluten Heidegger Fans hinter die Ohren schreiben werden: „Heidegger hat an keiner Stelle (der Schwarzen Hefte) signalisiert, er habe sich in jenen antisemitischen Passagen getäuscht“…“ Heidegger hat sich ohne Gewissensbisse zur unveränderten Veröffentlichung entschieden“: (67)

Merkwürdig hingegen wieder die daran anschließende Äußerung Trawnys: „Der Irrende ist ohne Schuld. Der Gedanke, Heidegger hätte sich irgendwie für sein Denken entschuldigen könne, ist schwach“ (68). Warum ist dieser Gedanke schwach? Hatte denn Heidegger denn kein Gewissen? Hatte er denn kein Denken und Erkennen, das nicht einbezogen war in sein Seins-Denken? Gab es für ihn wirklich absolut und nirgendwo keine allgemeine Logik mehr? Oder hat er Logik und Ethik nur an den Stellen ausgesetzt, wo es ihm in seinen (politischen) Kram passte?

Diese neue Broschüre von Trawny „Irrnis Fuge. Heideggers Anarchie“ ist, von einigen exoterisch nachvollziehbaren Sätzen abgesehen, kein Buch, das Aufklärung, also Licht, bringt in die verworrene Situation der Philosophie Heideggers seit der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte.

Peter Trawny, Irrnisfuge. Heideggers An-archie“. Matthes und Seitz-Verlag, Berlin, 2014, 90 Seiten.

Zu Fußnote 1: WZ am 20. Jan. 2013 und Solinger Tageblatt 26.9.2014.

Copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin. Christian Modehn