„Der Sündenfall des Christentums“: Zur Theologie des Friedens. 


Die bahnbrechende Studie des niederländischen Friedenstheologen, des Remonstranten Gerrit Jan Heering zum frühkirchlichen Pazifismus ist als Übersetzung jetzt wieder greifbar.

Ein Gast Beitrag von Peter Bürger, Düsseldorf von der „Edition Pace“ am 22.12.2024.

Zunächst ein Hinweis: Bevor wir im „Regal: Pazifismus der frühen Kirche“ demnächst neue Studien darbieten, wird hier ein weiteres historisches Werk wieder zugänglich gemacht, das trotz des Abstandes von einem Jahrhundert noch immer wichtige Impulse geben kann. Zum editorischen Vorgehen sei bezogen auf die ganze Reihe angemerkt: Wir versehen die Werke aus früheren Zeiten nicht mit einem kritischen Anmerkungsapparat, in dem Abweichungen zu heutigen Sichtweisen und Erkenntnissen jeweils kommentiert werden (Beispiel: Darstellung und Gewichtung der Friedensbotschaft der Hebräischen Bibel), sondern rechnen mit mündigen Leserinnen und Lesern, die die geschichtlichen Kontexte einer Arbeit vor Augen haben.

1.
Der Erste Weltkrieg führte den niederländischen Theologen Gerrit Jan Heering (1879-1955) zu einem radikalen Antikriegsstandpunkt. Im Vorwort zu dem hier neu edierten Werk „Der Sündenfall des Christentums“ (Erstauflage NL 1928, dt. Übersetzung 1930) schreibt er: Ich will „ernsthaft auseinandersetzen, dass Christentum und Krieg – jetzt mehr denn je – unversöhnliche Gegensätze sind. Ich will zwischen die christliche Lehre und die Ideologie des Krieges einen Keil treiben. Beide Systeme sind von der Geschichte zwangsweise zusammengeführt und werden jetzt in künstlicher Weise zusammengehalten. Ich will an das christliche Gewissen und an das von diesem Gewissen gelenkte vernünftige Denken appellieren und fragen, ob es nicht die höchste Zeit ist, dass Kirche und Christen sich prinzipiell gegen das ganze Kriegswesen auflehnen. … Es war eine verhängnisvolle Wendung in der Geistesgeschichte, die während und nach der Zeit von Kaiser Konstantin sich vollzog; durch das enge Bündnis zwischen Staat und Kirche ging das Bewusstsein des Gegensatzes zwischen Christentum und Krieg … verloren …; das schlimmste ist, dass man (seither) … ruhig Böses gut nennt. … Die Art, wie in allen christlichen Ländern die Kirche direkt in das gegenseitige Gemetzel des letzten Krieges [1914-1918] hineingezogen worden ist, nämlich als unentbehrlicher, als inspirierender Faktor, demonstriert jenen Sündenfall in deutlichster und greulichster Weise. Es ist kein größerer Abstand und Gegensatz denkbar, als zwischen Christus und dem modernen Krieg. Wer dies verneint, hat die Realität eines von beiden oder beider nicht klar gesehen. Das militärische Christentum unserer Tage kann nicht schärfer gerichtet werden, als es durch das Christentum Christi geschieht.“

2.
Gerrit Jan Heering – geboren am 15. März 1879 in Pasuruan/Indonesien, gestorben am 18. August 1955 in Oegstgeest – wirkte nach seinem Universitätsstudium lange als Hochschullehrer des Theologischen Seminars der Remonstranten in Leiden (NL). Als junger Pfarrer heiratete er im Jahr 1905 Alida van Bosse; die beiden wurden Eltern von fünf Söhnen. – Heeringʼs Leidenschaft gehörte der Kanzel. Seine Predigten zeichneten sich durch eine starke persönliche Überzeugungskraft aus; verschiedene Predigtsammlungen sind in Buchform veröffentlicht worden (‚Unser Vertrauen‘; ‚Zeugnisse aus dunkler Zeit‘ 1940; ‚Was uns erhält‘). Predigen bedeutete für Heering die durch den Glauben getragene ‚freie prophetische Verkündigung des Evangeliums, im Dienste und zur Ehre des heiligen Gottes‘. – Gerrit Jan Heering entwickelte eine eigene „Dogmatik auf der Grundlage der Evangelien und der Reformation“, schrieb über den „Ort der ‚Sünde‘ in der freisinnigen-christlichen Dogmatik“ (1912) und über „Die Selbstständigkeit der Seele“ (1917).

3.
Der Erste Weltkrieg führte Gerrit Jan Heering zu einem radikalen Antikriegsstandpunkt, beeinflusst von Hilbrandt Boschma (1869-1954), der bereits während der Kriegszeit 1914-1918 an verschiedenen Orten pazifistische Lesungen abhielt: „Kreuz oder Kanone?“ – „Warum kein Krieg? Weil der Krieg die radikalste Sünde gegen Gott ist.“ Heering fasste seine eigenen Studien und Einsichten 1928 in dem Werk „Der Sündenfall des Christentums“ zusammen (s.u.). Er grün­dete mit anderen „Kerk en Vrede“ (Church and Peace), wurde Vorsitzender dieser Vereinigung auf nationaler Ebene und war für viele Jahre auch international eine der leitenden Persönlichkeiten des neuen kirchlichen Friedensnetzes.

4.
Die Friedensbewegung in den Niederlanden zeigte sich schon vor dem Ersten Weltkrieg gut organisiert, vielgestaltig (‚Tolstojaner‘, Anarchisten, sozialistische Antimilitaristen …) und übernational vernetzt. Mit Gerrit Jan Heering und Persönlichkeiten, die ihm nahestanden, wurde sie durch eine neue Strömung mit ökumenisch-friedenskirchlicher bzw. friedenstheologischer Programmatik bereichert. Wie bedeutsam die 1928 vorgelegte Untersuchung des gelehrten Remonstranten zum ‚konstantinischen Sündenfall‘ und dessen mögliche Überwindung über die Landesgrenzen hinaus war, führen uns gleich vier Übersetzungen in andere europäische Sprachen vor Augen. 1933 ist der Verfasser sogar für den Friedens-Nobelpreis vorgeschlagen worden.

5.
Der bekannte Dominikaner und Friedenstheologe vor allem in der Weimarer Republik, P. Franziskus Maria Stratmann (1883-1971), schrieb bald nach Erscheinen der deutschen Ausgabe von Heerings Werk „De zondeval van het Christendom“ in einer Rezension (Der Friedenskämpfer. Organ der Katholischen Friedensbewegung 5. Jg. / 1931, S. 69-76):
„Einem Christen tut es weh, vom ‚Sündenfall des Christentums‘ reden zu hören. Je stärker er seine Religion liebt, um mehr schmerzt ihn jede Anklage. Aber gerade die starke Liebe muß hellsichtig sein, damit Krankes geheilt, Schwaches gestärkt werden kann. Die Christen, die die Geschichte des Christentums mit Einschluß der Kriegsgeschichte ganz in der Ordnung finden, sind sicher nicht die besten und erweisen ihm einen schlechten Dienst…“

6.
In seinem Geleitwort zur deutschen Ausgabe des Werkes von 1930 hatte der evangelische Theologe Martin Rade (1857-1940) ge­schrieben: „Wenn der nächste Krieg kommt, werden die Kirchen nicht mehr geschlossen zu den Armeen stehn. Es wird dann nicht ohne schwere innere Konflikte gehen. Wie sie sich abspielen, wie sie sich lösen werden, weiß kein Mensch. Je länger die gegenwärtige Atempause dauert, desto besser mag es sein.“ (Neuausgabe, S. 10). Doch die ‚Atempause‘ bis zum nächsten Menschenschlachten im Zweiten Weltkrieg dauerte nur kurz. Die amtlichen Leitungen der beiden deutschen Großkirchen leisteten ab 1939 für den ‚Hitlerkrieg‘ (!) doch wieder – ziemlich ‚geschlossen‘ – kriegstheologischen Beistand in großem Umfang und riefen – mit durchschlagendem Erfolg – die Getauften zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit im NS-Staat auf (Dokumentation: https://kircheundweltkrieg.wordpress.com/). Nach 1945 haben die i. d. R. vom Staat besoldeten Kirchenhistoriker wunderliche Verteidigungstexte zu diesem abgründigen Komplex verfasst – und nicht wenige ‚weltliche Vertreter‘ der Geschichtswissenschaften haben ihnen dabei unter dem Vorzeichen sogenannter „Historisierung“ assistiert.

7.
Heerings Anliegen wird gegenwärtig verstanden, wenn etwa der Bischof von Rom bezeugt, es könne im Licht des Evangeliums keine ‚gerechten Kriege‘ geben und Christen müssten schon Herstellung oder Besitz atomarer Massenvernichtungswaffen als verwerflich brandmarken.

8.
Jedoch der vom niederländischen Seelsorger und Theologieprofessor nach dem Ersten Weltkrieg ersehnte radikale Bruch mit dem konstantinischen Staatskirchenparadigma hat in den privilegierten nationalen Kirchengebilden, zumal im Militärkirchenwesen, nie stattgefunden. Die völlig irrationale militärische Heilslehre stößt in diesem Zusammenhang heute nirgendwo auf eine Fundamentalkritik, während der Militarismus unentwegt Felder des öffentlichen Lebens für sich ‚zurückerobert‘. Leider gibt es viele Gründe, das ehedem bahnbrechende Werk „Der Sündenfall des Christentums. Eine Untersuchung über Christentum, Staat und Krieg“ gerade jetzt wieder allgemein zugänglich zu machen. Möge es vielen zur Erschütterung und zu einem klaren Denken in der Kriegsfrage verhelfen.

Copyright: Peter Bürger Düsseldorf, Dezember 2024 ǀ  

Die Digitale Erstauflage der Neuedition
 ist beim Lebenshaus Schwäbische Alb e.V. abrufbar:
Gerrit Jan Heering: Der Sündenfall des Christentums. – Eine Untersuchung über Christentum, Staat und Krieg. Aus dem Holländischen übersetzt durch Octavia Müller-Hofstede de Groot, 1930. Neu ediert von Peter Bürger in Kooperation mit: Lebenshaus Schwäbische Alb, Ökumenisches Institut für Friedenstheologie, Portal Friedenstheologie. (= edition pace ǀ Regal: Pazifismus der frühen Kirche 4). Digitale Erstausgabe der Neuedition. Düsseldorf ǀ Gammertingen, 12.12.2024.
https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/media/pdf/Heering_S%C3%BCndenfall.pdf

Die gedruckte Buchausgabe im Handel:
Gerrit Jan Heering: Der Sündenfall des Christentums. – Eine Untersuchung über Christentum, Staat und Krieg. Aus dem Holländischen übersetzt durch Octavia Müller-Hofstede de Groot, 1930. (= edition pace ǀ Regal: Pazifismus der frühen Kirche 4). Norderstedt: BoD 2024.
(ISBN: 978-3-7693-2488-4; Paperback; 316 Seiten; Preis: 12,99 Euro)
https://buchshop.bod.de/der-suendenfall-des-christentums-gerrit-jan-heering-9783769324884

Eine etwas ausführlichere Darstellung dieses Beitrags von Peter Bürger finden Sie auf der website www.remonstranten-berlin.de    LINK.

“Die Hoffnung stirbt zuletzt”. Widerstand gegen die Verzweiflung!

Kant lehrt uns, die Hoffnung zu bewahren.
Ein Hinweis von Christian Modehn am Ende der Kant – Jahres 2024 … in der Hoffnung, dass Kant weiter intensiv diskutiert wird.

Die Erkenntnisse des Philosophen Immanuel Kant wollen unbedingt verhindern, dass die Hoffnung wirklich “zuletzt stirbt”. Denn das wäre das Ende. Wir sollen gemeinsam alles dafür tun, dass wir die Berechtigung, das Recht, haben die Hoffnung zu leben und die Hoffnung niemals aufzugeben.

Diese Hoffnung ist alles andere als ein naiver Optimismus. Sie ist alles andere als eine politische nationalistische Ideologie, die den Menschen in den USA einen “amerikanischen Traum” empfiehlt und einredet. Siehe dazu die Nr.10 und 11 in diesem Hinweis.

1.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Wie ein Slogan hat sich dieser Satz in unseren dunklen Zeiten verbreitet und durchgesetzt.
Die Frage ist: Was ist eigentlich zuvor schon alles gestorben, an Weisheiten, Einsichten, Überzeugungen, wenn man einen solchen Satz sagt? In der christlichen Tradition spricht der Apostel Paulus von „den menschlich entscheidenden Dreien“, also von „Glaube, Hoffnung und Liebe.“ Um bei unserem Thema zu bleiben: Dann sind offenbar Glaube und Liebe schon gestorben. Dann bleibt nur noch die Hoffnung als das Letzte vor einem definitiv gedachten Ende, dem Nichts … oder dem Himmel?

2.
Immanuel Kant kann bei dem Thema weiterhelfen: Hoffnung und aktives Hoffen ist ein zentrales Thema seiner Philosophie. Auch Hoffen und Hoffnung führt ihn selbstverständlich über den Bereich des wissenschaftlich exakt Erkennbaren hinaus. Und so wird auch hier sichtbar: Kant hat zwar als Anhänger des Physikers Newton seine Karriere begonnen, aber er musste als Philosoph über die Physik hinaus denken … in eine vernünftig begründete Metaphysik: Kant als den „Zermalmer der Metaphysik“ zu bezeichnen, ist also falsch. Kant war ein Metaphysiker und Religionsphilosoph (und Kirchenkritiker LINK (2024)  LINK)
Nur als ein Metaphysiker konnte er auch die heute so dringende Frage beantworten: „Was darf ich hoffen?“ Sie steht im Zusammenhang mit der Frage Kants: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Und: Was darf ich hoffen?“

3.
Für Kant kann es Hoffnung nur geben, weil wir Menschen hoffen DÜRFEN, wie er ausdrücklich sagt. Das Hoffen – „Dürfen“ ist eine Art rechtlich begründeter Erlaubnis zu hoffen. Ich habe also also aufgrund meine Menschsein die Berechtigung zu hoffen. „Also hoffen wir doch“, möchte man etwas aufdringlich fordern. Oder:„Habe den Mut, deine in dir vielleicht noch versteckte Hoffnung zu leben“…

4.

“Hoffnung ist für Kant die entscheidende moralische Einstellung der Vernunft. Die richtige moralische Einstellung gegenüber der Zukunft ist (für ihn) Hoffnung.” Schreibt die Soziologin Eva Illouz in “Explosive Moderne”, Suhrkamp 2024, S. 43. Moralisch bedeutet für Kant: “Der Würde des Menschen entsprechend”.

5.
Hoffen zu dürfen ergibt sich für Kant in der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem SINN meines und der anderen Menschen Leben. Dieser alles gründende Sinn des Lebens eröffnet sich, zeigt sich, für den einzelnen inmitten des Tuns des Gerechten: Im Eintreten für Gerechtigkeit und gerechte Gesetze darf der Mensch das alles Entscheidende hoffen: dass sich die vorhandene Welt mit ihren Staaten langsam aber sicher der Utopie des Reiches Gottes annähert. Und zum Reich Gottes gehört für Kant auch der Frieden in der ganzen Welt. Seine bis heute vielbeachtete Schrift „Zum ewigen Frieden“ konnte Kant 1795 veröffentlichen.

6.
Dass Welt – Frieden nur in „republikanischen Staaten“ möglich wird, ist eine der wichtigen Voraussetzungen Kants. Es sind die freien Staatsbürger, die entscheiden, ob ein Krieg sein soll oder nicht. Es liegt also in der Entscheidung der Menschen, dass sie die Hoffnung auf einen Weltfrieden aktiv politisch fordern und gestalten! Kant betont, dass nur moralisch gesinnte Politiker dieses große Hoffnungsprojekt realisieren können, nicht etwa solche, die sich ihre Moral unabhängig vom Kategorischen Imperativ egoistisch erfinden.

7.
Eine menschliche Organisation, die uns lehren kann, Hoffnung haben zu dürfen und praktisch Hoffnung zu gestalten, ist für Kant grundsätzlich die (protestantische) Kirche. Wenn Kant in dem Zusammenhang von Kirche spricht, meint er damit die Vereinigung aller rechtschaffenden Menschen, die den Frieden auf dieser Welt schrittweise befördern. Politisches Handeln ist in der Kirche notwendig, sofern es dem Weltfrieden dient.

8.
Der dogmatische Glauben der Kirche wird bei Kant also aufgehoben zugunsten einer Gemeinschaft derer, die den Frieden der Welt als Ausdruck ihres Glaubens an das Reich Gottes verstehen. Und dieses Handeln ist nur möglich in der Kraft der Hoffnung. Die Theologen sollen also den Glaubenden sagen: „Ihr habt alle Berechtigung zu hoffen“. Und diese Hoffnung dürfen sich die Menschen (in der Kirche) nicht zerstören lassen, durch zynische Einwände, etwa: „dass doch alles nichts nützt“ usw. „Diesem Zynismus dürfen wir niemals erliegen“, betont Kant. Zynismus kann tödlich sein. „Es ist für Kant ein Gebot der moralischen Selbstachtung, an den politischen Zielen von Rechtsstaat, liberaler Demokratie, Gerechtigkeit, internationaler Kooperation und globalem Frieden festzuhalten. Denn ohne Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Frieden ist ein menschenwürdiges Leben nicht möglich. Wir können (und dürfen CM) diesen Anspruch nicht aufgeben, sonst geben wir unsere Menschlichkeit auf“ (Marcus Willaschek, „Kant“, München, 2024, S 42f.).

9.
Dieser politische Aspekt der Hoffnung im Denken Kants ist oft eher übersehen worden. Viele LeserInnen konzentrierten sich auf Kants eher individualistische Überzeugung: Dass der rechtschaffene Mensch in dieser Welt mit so vielen Übeltätern zwar scheitert und darüber zu verzweifeln droht. Aber, so meint Kant, aufgrund der von ihm als Postulat konzipierten Unsterblichkeit der Seele, habe der gescheiterte, aber rechtschaffene Mensch die begründete Hoffnung: einen Zustand des (göttlichen) „Höchsten Gutes“ zu erleben. Den „der gegenwärtige Zustand der Welt, in dem viele Menschen unverschuldet leiden, ist nach Kant eine moralische Zumutung“ , also etwas zu Überwindendes. (Marcus Willaschek, Kant, a.a.o. S.138).

10.

Die Soziologin Eva Illouz analysiert in ihrem neuen sehr empfehlenswerten Buch “Explosive Moderne” (Berlin, Suhrkamp, 2024) auch die falsche, weil unmenschliche “Hoffnungs” – Propaganda etwa in den kapitalistischen USA: Dort wird Hoffnung als reflektierte vernünftige Lebensorientierung zugunsten eines aktiven Handelns im Sinne der Menschenrechte völlig umgedeutet in den “amerikanischen Traum”: Und der verspricht den Armen und dem Mittelstand eine glänzende materielle Zukunft, einen Aufstieg nach oben mit einem Leben in unbegrenztem Reichtum. “In Gesellschaften, die so von Ungleichheit bestimmt sind wie die USA, ermöglicht diese Hoffnung es, Klassenkonflikte zu verwischen und die vielfältigen Weisen, in denen die Gesellschaft ihre Versprechen bricht, unkenntlich zu machen” (Eva Ellouz, a.a.o. S. 67). Wer dem amerikanischen Traum folgt, lebt also als Mensch, der von dem ewigen Erfolgsstreben nicht lassen kann und dann doch in dieser falschen Hoffnung scheitert. Der amerikanische Traum verändert die Hoffnung in die Erwartung künftigen materiellen Wohlstands, in die Hoffnung auf ein Leben , “das nie Zufriedenheit erlangen kann und in vergeblichem Warten versandet. ” (a.a.O. S. 71).

11.

Von dieser politischen Ideologie der Hoffnung als einem reduzierten, nur ökonomisch – kapitalistischen Traum kann  philosophische Reflexion befreien, die Überlegungen Kants oder auch die Erkenntnisse Václav Havels , des entscheidenden Denkers der “Samtenen Revolution” in der Tschechoslowakei. Im Jahr 1985, noch unter kommunistischer Herrschaft, reflektierte Havel über die wahre Hoffnung in dem Buch “Kreuzverhör”: “Hoffnung ist ein Zustand des Geistes…Hoffnung ist eine Dimension unserer Seele…Hoffnung ist keine Prognostik. Sie ist eine Orientierung des Herzens, die die unmittelbar gelebte Wwlt übersteigt und irgendwo in der Ferne verankert, hinter ihrn Grenzen…Hoffnung ist nicht Optimismus… Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht” (zit. in Illlouz S. 55). Die Nähe der Erkenntnisse Havels zu denen Immanuel Kants müssten hier weiter ausgearbeitet werden, sie sind offensichtlich:  “Hoffnung ist die Gewissheit, dass etwas Sinn hat…”

12.
Wer das neueste Buch des Historikers und Autors Rutger Bregman (Niederlande) liest mit dem Titel „Moralische Ambition“, Rowohlt – Verlag, 2024, hat den Eindruck: Da werden Kants Erkenntnisse aktualisiert, da wird das Hoffen – DÜRFEN als Erlaubnis und Aufforderung, zu hoffen und politisch tätig zu werden, für heute kreativ aufgegriffen und weiter geführt. “Wer wird leben im Gedächtnis der Menschen?” Ein zentraler Satz Rutger Bregmans: „Nicht die reichsten, sondern die hilfreichsten Menschen werden von der Geschichte erinnert“.

13.
Nebenbei:
Über die Bedeutung des in der Hoffnung erschlossenen höchsten Gutes wird diskutiert: Die einen Kant – Kenner betonen: Im Sinne Kants werde dann Gott im „Jenseits“ die moralische Qualität eines jeden Menschen prüfen und die Bösen bestrafen und die Guten belohnen. Im Laufe der Zeit, betont der Kant – Forscher Marcus Willaschek, habe sich „Kants Verständnis des höchsten Gutes immer weiter von einer `religiösen` zu einer `säkularen` Konzeption verschoben“ (S. 142). Gott werde nicht mehr als himmlischer Richter gesehen, sondern als ein Schöpfer, „der die Natur so geschaffen hat, dass wir Menschen in ihr das höchste Gut aus eigener Kraft realisieren können“ (ebd.).

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

War Jesus Palästinenser? NEIN. Aber Jesus als Christus ist AUCH Palästinenser!

Eine theologische Korrektur
Von Christian Modehn am 12.12.2024

Aktualisierung am 13.12. 2024: Als wir diesen Hinweis am 12.12. 24 veröffentlichten, durfte das Jesus-Christus- Kind noch auf einem Palästinensertuch in der Krippe in Rom/Vatikan liegen. Diese Präsentation wurde jetzt aus erwartbaren Gründen aufgehoben/verboten?  Das Jesuskind ist dabei auch entfernt worden. Sozusagen: Nun also die Feier einer Geburt ohne das Kind.

Uns irritiert diese Aktion sehr, weil damit vor allem auch eine theologische (!) Debatte aufgehoben wird. Ein Rabbiner verstieg sich sogar zu der Behauptung, Jesus sei Zionist gewesen…

Bedenkenswert ist dieser folgende Hinweis auf “Jesus-Christus in Rom auf einem Palästinensertuch” allemal.  CM.   LINK zum Verschwinden dieses Jesus Christus in der Weihnachtskrippe des Vatikans…Die Krippenfiguren wurden in einer Werkstatt in Bethlehem gefertigt!

1.
Einige große Medien regen sich darüber auf, dass in einer Weihnachtskrippe zu ROM, im Vatikan !,  jetzt das Jesuskind auf einem schwarz-weißen Palästinenser – Tuch, einer Kufija, liegt. Die Empörung heißt: „Das geht gar nicht! Jesus war doch Jude.“ Das stimmt. Aber es nicht die ganze Wahrheit. Fakten – Check bitte auch hier!

2.
Zu Weihnachten, dem Fest der Christen, wird dieser Jesus als der Christus, als der Heilsbringer für ALLE Völker und alle Menschen aller Kulturen gefeiert. Das sagt ja der Name „Christus“, er wird als universaler „Messias“ verehrt. Darum ist es sehr berechtigt und sehr richtig, diesen Jesus Christus auch als den religiösen Heilsbringer in den Gewändern der palästinensischen Kultur darzustellen. Das nennt man theologisch „Inkulturation“. Es kann doch sein, dass im Glauben an dieses palästinensische Jesuskind Impulse des Friedens ausgehen, wird doch dieser Jesus Christus als “Friedensfürst” verehrt. Der die Gewaltlosigkeit predigte und den Dialog auch mit politischen Gegnern/Feinden pflegte…

3.
So wie es auch berechtigt ist bzw. wäre, Jesus als den Christus in aktuellen jüdischen Gewändern und Symbolen darzustellen und in eine Krippe zu Weihnachten zu legen, weil es doch bekanntlich auch heute etliche Juden (vom Volk her definiert) gibt, die Christen (von der Konfession her) geworden sind. Sie sollen doch bitte ihren jüdischen Jesus als ihren Christus verehren.

4.
Diese Aufregung über das „Jesulein auf einem Palästinensertuch“ (so DIE ZEIT, S. 62, Nr. 53, siehe auch den polemischen Kommentar von Stefan – Andreas Casdorff im „Tagesspiegel“ 12.12.2024) in einer Krippe zu Rom ist lächerlich. Sie ist Ausdruck von theologischer Unbildung vieler Journalisten heute. Wenn diese Journalisten und Theologiennen wenigstens wüßten, was sie – möglicherweise beim Gottesdienstbesuch zu Weihnachten – alles so singen, etwa richtig:  „Christ der Retter ist da“. In christlicher Theologie ist es der Jude Jesus, der zum universalen Christus für die Christen erklärt wurde. Das können einige Theologen problematisch finden, aber es ist Tatsache. Christen sind eben nicht “Jesuaner“. Aber sie deuten den universalen Christus auch im Licht des Weisheitslehrers Jesus von Nazareth und seiner Menschenfreundlichkeit.

5.
Die weltreisenden Europäer wissen längst: Jesus Christus wird in Afrika als schwarzer Afrikaner dargestellt, in Tanzania oder am Kongo usw. Und in Peru und Bolivien ist Jesus als Christus gekleidet in üblichen Kleidern der indigenen Kulturen. Und für alle Marien- Verehrer sei gesagt: Da wird niemals Maria als Mutter Jesu Christi in der damals üblichen jüdischen Mode ausgestattet, sondern als schwarze Madonna in Afrika, als kluge Japanerin in Japan, als stolze Frau in der Renaissance, als leidende Mutter im 20.Jahrhundert oder als weinende Mutter im Gaza – Streifen angesichts ihrer getöteten Söhne oder als verzweifelte Maria im Kriege des mörderischen Russland gegen die Ukraine. Bravo also auch für dieses „Jesulein auf einem Palästinensertuch“. Diese Krippendarstellung regt das theologische Nachdenken an! Und nebenbei: Es gibt ja bekanntlich Palästinenser, die sich zu dem Juden Jesus als dem universalen Christus bekennen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Eine Geschichte zu Weihnachten: Maria verprügelt das Jesuskind.

Ein Hinweis auf ein Gemälde von Max Ernst
Von Christian Modehn am 10. Dezember 2024

1.
Es ist die Weihnachtsgeschichte, die hinausweist über den „Realismus“ des „alltäglichen“, des„normalen”, angeblich „gesunden“ Verstandes. Man denke an die Geburt des Gottessohnes Jesus, standesgemäß nicht in einem Palast, sondern in einem Stall geboren, dennoch umgeben von himmlischen Heerscharen und heiligen drei Königen. Und vor allem Maria, die Mutter des Gottessohnes, spielt dabei eine Rolle.

2.
Zu Weihnachten also sollte der Sinn fürs „Sur-Realistische“, „Über-Realistische“, wieder entdeckt und gepflegt werden! Diese Empfehlung gilt, nicht um etwa ins Schwärmen zu kommen, sondern um die Weihnachts-Mythen, gerade den Maria – Mythos, besser oder mindestens anders und neu zu verstehen.

3.
Sur-realistisch also ist die Erzählung von der Ankündigung der Geburt Jesu: Als das Mädchen Maria von einem Engel besucht wird, da wird ihr sozusagen von Gott selbst versprochen: Kein Geringerer als der Heilige Geist werde der Vater ihres Sohnes sein. Allem alltäglichen Realismus zuwider verheißt ihr dann der Engel: „Die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das (von dir) geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.“ So wird der Mythos im Lukas – Evangelium 1. Kap. Vers 35 erzählt.

4.
Maria wird also „Heiliges“ zur Welt bringen, Gottes Sohn soll ihr Kind sein, ein Kind zwar, das wie alle Menschen von einer Frau geboren wird. Angesichts dieser über-weltlich anmutenden Geschichte der Gottes – Geburt kann man  surrealistischen Inspirationen guten Gewissens und voller Neugier folgen: Bei solcher Ankündigung: „Heiliges wird von dir geboren“, kann doch Maria als frommes, sagen wir einfaches Mädchen nur denken: Dann muss dieses göttliche Kind auch im Laufe seiner Entwicklung immer göttlich sein, also total anders, von menschlichen Grenzen und Begierden befrei. Und ebenso von körperlichem Leiden und leiblichen, auch sexuellen Vorlieben nicht berührt. So viel Menschliches passe doch nicht zum „Heiligen“, passe nicht zu „Gottes Sohn“, gezeugt vom heiligen Geist. Da kann Maria doch nur gespannt und neugierig sein auf ihren ungewöhnlichen Sohn… (Erst nach der „Auferstehung“ Jesu von Nazareth legte die Kirche allen Wert darauf zu betonen: Trotz dieser außergewöhnlichen Auferstehung ist Jesus ganz Mensch gewesen. Über seine Leiblichkeit in jeder Hinsicht, auch seine Sexualität, äußerte sich die offizielle Kirche schon damals – angstvoll – nicht…)

5.
An dieser Stelle wird ein Gemälde von Max Ernst (1891-1976), dem Surrealisten, interessant und wichtig. Wir lesen sein außergewöhnliches Gemälde als Beitrag zum Weihnachtsmythos, gemäß der offenen Haltung der Surrealisten…Deren Philosophie (Surrealismus ist wohl mehr als eine Kunst -„Richtung“) ist also inspirierend und hilfreich fürs Verstehen der biblischen Mythen, auch der Weihnachtserzählungen. Aspekte der ohnehin nur surrealistisch zu nennenden Weihnachtsgeschichte werden durch die Phantasie dieses Künstlers explizit freigelegt und zur Auseinandersetzung angeboten. Denn der einfältige, phantasielose „Realismus“ hat fürs kritische Denken keine Chancen! Deswegen schafft Max Ernst im Jahr 1926 das berühmte, umstrittene Gemälde „Die heilige Jungfrau (Maria) züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen“. Zum Gemälde selbst: LINK:

6.
Wichtig ist im Bild selbst: Maria, mit einem Heiligenschein ausgestattet, wird als eine moderne Frau dargestellt, sie ist sehr ansehnlich und ziemlich beleibt. Und sie schlägt voller Wut ihr Kind Jesus, er ist kein Baby mehr, vielleicht 3-4 Jahre alt, heftig auf den Popo. Dabei fällt dem Jesuskind der Heiligenschein vom Kopf: Das Jesuskind, durch die Tracht Prügel vom Heiligenschein befreit, ist jetzt nur noch ein Mensch. Marias Heiligenschein hingegen bleibt, eine Ironie des Künstlers vielleicht, weil Maria als ordentliche Erzieherin auftreten sollte, die den uralten, heiligen Erziehung – Gesetzen der Herrschaft über das Kind entspricht. Maria ist in der Hinsicht von Max Ernst also gesetzestreu und hoch respektabel, deswegen ihr Heiligenschein. Auch das ist Surrealismus und seine tiefe Wahrheit: Drei Männer beobachten durch ein schmales Fenster das Geschehen, auch Max Ernst wird dabei von Kunsthistorikern erkannt.

7.
Entscheidend ist religionsphilosophisch die Frage: Warum schlägt Maria auf ihren Sohn Jesus ein? Wer dem Wink des Gemäldes folgt, entdeckt wahre Elemente im Weihnachtsmythos: Maria schlägt auf ihren Sohn Jesus ein, weil sie eigentlich und am liebsten auf Gott einschlagen würde. Aber der ist im Himmel, unerreichbar für die schlagende Hand. Ihre Wut leitet Maria also auf ihren Sohn um. Soll der doch ihre Wut spüren, ihre Wut über Gott.

8.
Maria fühlt sich zutiefst von Gott selbst getäuscht: Was hatte sein Engel ihr nicht alles versprochen? „Heiliges wird geboren“, „Gottes Sohn wird ihr eigener Sohn sein.“ Aber als dieser Sohn Gottes dann zur Welt kommt, da erlebt die junge Mutter und ihr Gatte Josef nichts Göttliches, Wunderbar -Hilfreiches: Von einem herrschaftlichen Haus für die Geburt Ihres Gottes-Sohnes wagen sie schon gar nicht zu träumen, selbst eine bescheidene Herberge finden sie nicht. So muss der Gottes-Sohn im Stall zur Welt kommen. Man kann sich denken, wie wütend Maria und ihr Gatte Josef ist, als sie nun den Gottessohn, frisch geboren, ins harte Stroh legen müssen, von blökenden Tieren und naiven Hirten umgeben.

9.
Die üblichen, aber theologisch so dummen und völlig ausgesungenen kitschigen Weihnachtslieder lassen dann singen: „Da liegt es das Kindlein in Heu und auf Stroh.“ Und dann der skandalöse Satz im Lied: “Maria und Josef betrachten es froh.“ Was für ein Sadismus: Die Eltern freuen sich, dass ihr Neugeborenes im Stroh liegt und dabei wohl doch gewisse Schmerzen empfindet und sicher ständig heult. So dumm können nur Weihnachtslieder sein (wie: „Ihr Kinderlein kommet“ usw.) Tatsache ist, dies zeigt uns der Surrealismus: Maria betrachtet das Gotteskind, „das von ihr geborene Heilige“, alles andere als „froh“: Sie ist wütend, vor allem auf Gott und seinen Engel. der ihr so viel Unglaubliches versprochen hat. Alles Unsinn, sagt sich Maria.

10.

Maria wird von der ut auf Goitt weiter bestimmt, so die surrealistische Interpretation, als die „heilige“ Familie längst in Nazareth eine Unterkunft hat: Denn ihr Gottessohn, ihr Heiliges, zeigt sich dort als so menschlich: Maria ist wütend und zornig, weil ihr verheißener „Gottes Sohn“ Jesus tatsächlich bloß ein übliches Menschenkind ist, mit all den genannten Eigenheiten menschlicher Bedürfnisse. Ein Gotteskind, das in die Windeln kackt, was das hat doch nichts mit Gottes Sohn zu tun?
Maria ist wütend, weil dieses Kind, größer werdend, gar nicht so abgehoben ist von allem Menschlichen, nicht total vergeistigt und vergöttlicht, nicht über allem Irdischen schwebend.
Maria muss erkennen: Welch ein Wahn war es doch von mir zu glauben, da würde mit Jesus ein Gott auf Erden wandeln, ein reiner Geist, ein reiner Leib.

11.
.Das Gemälde von Max Ernst zeigt: Die Wut Marias auf Gott wegen der irritierenden Behauptungen des Engels über das „göttliche Kind“ ist zugleich auch die Wut spiritueller (Christen-) Menschen auf einen Gott, der sich – im Mythos -zwar  ins weltliche Geschehen einmischt, in die Welt kommt, aber doch so ganz anders als Gott erscheint.

12.
Die meisten Christen wollen auch heute in Jesus ihren Gott sehen, als einen universalen Herrscher, als Himmels – König und Weltenrichter. Dabei ist Jesus  bloß ein Mensch, der sich im Laufe seines Lebens zum Weisheitslehrer entwickelte. Aber ein auf Erden wandelnder, makelloser, total vergeistigter Gott ist er eben nicht. Und diesen Gedanken fanden und finden die meisten Christen unerträglich. „Einen Weisheitslehrer wollen wir nicht. Wir wollen einen Gott auf Erden. Und wenn der nicht erscheint, dann wenden wir uns eben den “göttlich” auftretenden politischen Führern zu….“ Welch ein Wahn!

13.
Die meisten Christen und ihre Kirchenführer erfanden schon bald nach Jesu Tod aufgeschwollene spekulative Lehren und Dogmen, die behaupten: Dieser Jesus von Nazareth ist dann als Christus auch Gott, er gehört also zur göttlichen Trinität, er ist der (griechische) Logos, gezeugt von seinem Vater im Himmel usw. Und was machen diese geradezu Gott-besessenen Christen dann auch noch aus der armen und letztlich irgendwie irritierten Mutter Maria? Sie erklären diese Maria zur Gottes – Mutter und zur Himmelskönigin. Denn sie erlebt, so das aufgeblasene Dogma, unmittelbar nach ihrem Tod eine Aufnahme in den Himmel, “Wer das nicht glaubt, der sei aus der Kirche ausgeschlossen“, heißt es in der katholischen Dogmatik.

14.
Das Gemälde von Max Ernst ist eine heftige Provokation zur Weihnachtszeit: Jesus von Nazareth ist kein süßliches göttliches Kindelein. Jesus ist ein normaler Mensch, der auch unter der strenger Erziehung zu leiden hat. Er wird im Laufe seines Lebens zu einem Weisheitslehrer, der die Herrschenden provoziert und viel mehr zu sagen hat als der im Weihrauch und Alleluja förmlich erstickende Gott mit dem Namen Jesus Christus, und mit uralten Formeln und Floskeln hoch – gelobt, in den Himmel entrückt, aber nicht verstanden.

15.
Dies sei allen gesagt, die sich auf die offiziellen Feierlichkeiten zum 1.700 Jubiläum des Konzils von Nizäa im nächsten Jahr (2025) freuen: Da wird dieser arme und gekreuzigte Weisheitslehrer Jesus wieder erneut als ein Gott bestätigt und bejubelt, vom Papst, von den orthodoxen Patriarchen, den lutherischen Bischöfen, den so klugen Theologen … Sie bemächtigen sich erneut dieses armen Mannes und Weisheitslehrers Jesus und entrücken ihn in weite Ferne. So wird er belanglos und ungefährlich für alle, die Weisheitslehrer nicht respektieren wollen. Aber die Herren der Kirchen können sich auf der Seite dieses Gott – Menschen Jesus Christus wissen und stolz ihre Herrschaft durchsetzen…

16.
Das hat der Künstler Max Ernst begriffen: Maria ist die erste, die mit dem Menschen Jesus ihre sehr große Mühe hatte. Wo sie doch so gern einen jungen Gott in ihrer Wohnung gehabt hätte und nicht ein eigensinniges Kerlchen mit voll gekackten Windeln… Manchmal ist Maria deswegen vor Wut ausgerastet und hat diesen ihren Sohn Jesus geschlagen.
Diese Maria hat wohl auch eine Entwicklung durchgemacht, so der Mythos des Neuen Testaments. Sie stand unter dem Kreuz der Hinrichtung Jesu, und sie wusste: Ihr Sohn war ein großer Mensch, ein religiöser Reformator, ein Vorbild. Erst die herrschsüchtige Kirchenführung machte aus dieser lernbereiten Frau eine Himmelskönigin, so fern, so überirdisch, auch dies ein Wahn der Herrschenden.

17.
Marias lieber Gatte Josef – und de facto – also realistisch – natürlich der Vater Jesu – hatte sich vielleicht längst aus dem Staub gemacht, oder er kümmerte sich – angeblich als Tischler – auch um die Geschwister Jesu, die zu prügeln unkomplizierter war. Denn bei den Geschwistern Jesu wurde ja nichts Göttliches angekündigt. Ob er seinen Sohn Jesus, den Tischlerlehrling, geschlagen hat, interessiert die Surrealisten nicht. Auszuschließen ist das nicht, Mutter Maria hätte es wohl geduldet, wütend auf ihren Gott und seine seltsamen, so mißverständlichen Verheißungen…

18.

Siehe auch den weiterführenden Hinweis von Christian Modehn “Weihnachten und Philosophieren”: LINK.

19.

Unsere Deutung eines surrealistischen Gemäldes als eines inspirierenden Gemäldes zu Weihnachten, zum Verständnis der Jesus – Gestalt und der Maria hat nichts zu tun mit den völlig der eigenen Phantsasie hingegebenen Erzählungen der so genannten “apopkryphen Weihnachtsgeschichten”. Zu dem Thema siehe den Link zu einer Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn LINK.

Copyright: Christian Modehn, Berlin, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

Ablassjahr – Jubeljahr – Sündenjahr 2025!

Am 24.Dezember 2024 beginnt das „Heilige Jahr 2025“ in der katholischen Kirche.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 25.11.2024

Vorwort: Der katholischen Kirche, d.h. dem Papst und dem Klerus, verbleibt nach allen Niederlagen in der Auseinandersetzung mit der Neuzeit nur noch eine einzige universelle Macht: Die Herrschaft über die Sakramente, also über alles, was mit Gott und Erlösung und “Jenseits” zu tun hat. Zum Beispiel die Macht über das Bußsakrament bzw. die Vergebung der Sünden. Und diese Herrschaft wird jetzt erneut universell für alle Katholiken ausgeübt: Mit der päpstlichen Verfügung, 2025 zum Jahr des Ablasses, also des Nachlasses von allen zeitlichen Sündenstrafen zu machen. Das Ganze wird “Heiliges Jahr” genannt.

Aber das Thema Ablass spielt bis jetzt (26.12.2024) in den Reden des Papstes keine große Rolle: Es gehört zum halbherzigen Reformprogramm des Papstes Franziskus: Alte Traditionen pflegen und aufwärmen und einige wenige moderne Elemente dann einbauen: So auch jetzt: Das “heilige Jahr” sollte alle Menschen, wirklich alle, zu Jesus führen, “Jesus ist die Pforte des Friedens.” Das sagte der Papst in seiner Weihnachtsansprache Urbi et orbi 2024. Also nicht die universellen Menschenrechte führen für den Papst zum Frieden, sondern es ist Jesus. Aber was da genau? Etwa die Bergpredigt? Das wird nicht gesagt. Würden hingegen die universellen Menschenrechte auch in der katholischen Kirche vom Papst an erster Stelle für alle (!) empfohlen und würden sie auch in der Kirche selbst gelten, dann müsste der Papst Frauen zum Priesteramt/Pastorenamt/Diakoninnenamt zulassen. Macht er aber nicht: Angeblich wollte dies Jesus Christus nicht. Welch eine autoritäte Erstarrung! Eigentlich ein hoffnungsloser Fall…

1.
Seit dem Jahr 1300 gestaltet die katholische Kirche „heilige Jahre“, sie werden seit einigen Jahrhunderten alle 25 Jahre gefeiert: Diese katholisch – spirituellen Höhepunkte sollen den Glauben fördern, vor allem aber die Frommen von eher noch harmlosen, also nicht „ewigen“ Sündenstrafen befreien. Ursprünglich wurden die heiligen Jahre als religiöse Jubeljahre der Versöhnung mit Gott propagiert: Dann wurden sie wegen des Ansturms der frommen Sünder, also der religiösen Touristen nach Rom, eher Trubel – Jahre: 2025 werden mindestens 32 Millionen Pilger – Touristen in Rom erwartet, LINK.

Diese frommen Massen erzeugen eine verrückte (auch ökologisch verrückte) Herausforderung für die Bewohner der Stadt Rom. Aber der Euro wird dann rollen, mindestens für etliche gut vernetzte auch kirchliche Unternehmen…
Aber nach außen hin dreht sich alles – in der offiziellen Propaganda – um die Gewinnung des Ablasses. Und dafür verantwortlich ist das Büro der „Apostolischen Pöniteniarie“ in Rom, übersetzt die Behörde des „Apostolische Bußgerichtshof“. Falls Sie dort mal vorsprechen wollen in diesem sündhaft prächtigen alten Palazzo: Hier die Adresse: Penitenzieria Apostolica, Piazza della Cancelleria 1, 00186 – ROMA (ITALIA).  Fotos: LINK

2.
Lassen wir es einmal dahin gestellt, ob Katholiken heute sich als Sünder im päpstlichen Sinne verstehen. Die Teilnahme an der Beichte im „Beichtstuhl“ ist bekanntlich in Europa absolut minimal. Offensichtlich wird vom Papst gutgläubig (naiv?) unterstellt: Katholiken drängeln sich geradezu darum, durch den Ablass von ihren „zeitlichen Sündenstrafen“ befreit zu werden. Das muss erklärt werden: Die zeitlichen Sündenstrafen beziehen sich auf die „Zeit“ im Fegefeuer, die der Sünder dort absitzt; der Ablass erlässt also diesen Aufenthalt im Fegefeuer- wo auch immer er sich befinden mag. Von sehr schweren Sünden (Mord, und den sieben Todsünden, darunter Geiz, Zorn usw.) allerdings kann nur die persönliche Beichte befreien, sonst landet der Sünder ad aeternum in der Hölle. (Siehe dazu die ausführlichen Darstellungen im offiziellen „Katechismus der katholischen Kirche“ (1993) § 1471 ff. zur Beruhigung: Leichte, lässliche Sünden sind heimliche Naschereien, unkeusche Gedanken, Onanie usw…

3.
Auch viele Katholiken fühlen sich heute nicht als Sünder, sondern eher als Menschen, die – ziemlich hilflos – in verbrecherische, friedlos und ungerechte Strukturen der kapitalistischen Welt eingebunden sind. Sie müssen als „einfache Menschen“ ihre Energie nur darauf verwenden, irgendwie zu überleben und sich irgendwie „recht und schlecht“ „durchzuwurschteln“ … mit kleineren Vergehen, eben leichten, „lässlichen“ Unkorrektheiten, einst Sünden genannt. Diese „mühsame Last im Leben“ wäre doch ein relevantes kirchliches Thema, das in vielen tausend Therapie – Sitzungen in Kirchen und Gemeindehäusern besprochen werden könnte. Aber auf diese Idee kommt man im Vatikan nicht, schließlich sind die so genannten Seelsorger, also die Priester, meist gar keine Kenner der Seele und deren Abgründe. Sie nennen sich Seelsorger, sind es aber nicht… Sie sind meist eben nur gut bezahlte zölibatäre kirchliche Manager. Da ist es einfacher und völlig anspruchsloser, immer wieder den umstrittenen Ablass zu propagieren, und auf Geld- Spenden zu insistieren, die mir dem Ablass verbunden sind anläßlich der Wallfahrten nach Rom und zu anderen „Heiligtümern“…

Der Vatikan braucht förmlich diese Pilgerströme, der Vatikan ist jetzt in großen Geldnöten, das bekennt Papst Franziskus. „Laut Medienberichten soll der Zwergstaat Vatikan in Haushaltsdefizit von mehr als 80 Millionen Euro angehäuft haben.“ LINK.    Siehe auch einen weiteren LINK.

4.
Der ausführliche aktuelle Text des „Apostolischen Bußgerichtshofes“ ist sicher eine gewisse Zumutung der Lektüre, trotzdem einige wichtige Hinweise: Am 13. Mai 2024 wurde dieses umfangreiche, päpstlich genehmigte Dokument, eine im Vatikan genannte „Bulle“, zum Ablass im Heiligen Jahr 2025 veröffentlicht. LINK
Die alte katholische Lehre wird wiederholt und um einiges Unwesentliche „modernisiert”. Man sollte aber in dem Zusammenhang alle angeblichen ökumenischen Ambitionen des Papstes vergessen. Papst Franziskus wiederholt nämlich, unbeirrt von allen theologischen und ökumenischen Debatten und Erkenntnissen, den alten katholischen konfessionellen Geist: Der Ablass habe wie seit alten, vor – modernen Zeiten als „Erlass und Vergebung der Sünden und Vergebung von allen Folgen der Sünde“ zu gelten.
Der Ablass wird als ein Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes dargestellt: Die Kirchenführung weiß also, wie die Barmherzigkeit Gottes konkret aussieht. Entscheidend ist: Die Kirche (d.h. nur der Klerus, der Papst usw.) vermittelt zwischen Gott und dem Sünder. Dieser Ablass wird durch die Kirche, die „Braut Christi“, dem Sünder geschenkt. Sünder sollen also dankbar der Kirche (dem Papst usw.) sein, dass sie das Heil der Rettung vor dem Fegefeuer vermittelt. Spenden sind deshalb jederzeit willkommen. Der Dominikanerpater Tetzel forderte von den Sündern zu Luthers Zeiten bestimmte fixierte Geldsummen zur Erlangung des Ablasses. Inzwischen ist die Kirche da etwas großzügiger geworden.

Auffällig ist allerdings, soweit ich sehe, dass vom Fegefeuer als dem Ort der Abbüßung zeitlicher Sündenstrafen, im Dokument keine Rede ist. Aber man schließe daraus nicht, dass es in der katholischen Lehre kein Fegefeuer mehr gibt. Lediglich den Limbus, also das spezielle etwas milder gedachte Fegefeuer für ungetaufte kleine Kinder, “gibt” es nicht mehr, d.h. an den Limbus zu glauben ist jetzt keine Pflicht mehr. LINK.

5.
Die Führung der römischen Kirche Kirche spricht sich selbst also das Recht zu, von Gott persönlich die Vollmacht erhalten zu haben, den Sünder von allen Folgen der Sünde zu befreien.

6.
Die „Bulle“, das offizielle Ablass- Dokument, nennt dann viele Details, wo und wie die Sünder diesen Ablass 2025 gewinnen können, vorzugsweise in Rom, aber auch an anderen Orten europaweit. Es werden auch Möglichkeiten genannt, den Ablass außerhalb der Kirchenmauern zu erlangen, etwa, so wörtlich, durch „Teilnahme an Gesprächen über den offiziellen römischen Katechismus“ und zwar selbstverständlich „an geeigneten Orten“… Der Ablass kann zudem auch erlangt werden, wörtlich „durch eine anteilige Geldspende an die Armen durch die Unterstützung von Werken religiösen oder sozialen Charakters, insbesondere zugunsten der Verteidigung und des Schutzes des Lebens in jeder Phase des Lebens selbst“. Also: Durch Geld – Spenden für „Pro Life Aktivisten“ kann man auch den Ablass erlangen. Die evangelikalen Pro-Life – Aktivisten etwa Donald Trumps werden sich – endlich mal ökumenisch – mit dem Papst auf einer gemeinsamen Linie – befinden. Ebenso kann der Ablass erlangt werden durch Unterstützung „der verlassenen Kinder, der Jugendlichen in Schwierigkeiten, der alten Menschen in Not, der Migranten aus verschiedenen Ländern…“. Caritative Taten also, die aber an dem miserablen strukturellen Zustand der genannten Gruppen nicht so viel verbessern. Gesellschaftskritik wird nicht als Möglichkeit genannt, den Ablass zu gewinnen, Kirchenkritik schon gar nicht. Es wird also die übliche Spenden – Spiritualität propagiert: Spende etwas, „tu Gutes“, aber verändere bloß nicht die ungerechten Strukturen…

7.
Soweit kurz zum offiziellen Text, der an dieser Stelle das menschliche Tun als Weg zur Erlangung der Gnade der Sündenvergebung anpreist. Lutheraner werden diese Sätze vielleicht aufmerksam lesen, aber selbstverständlich kein kritisches Wort zu dieser angestaubten päpstlichen Bulle sagen. Die wenigen vernünftigen, also die nicht – evangelikalen Protestanten heute sind zum Widerspruch gegen Rom heute zu vornehm und zu schüchtern oder vielleicht auch zu verwirrt nach all den vielen tausend Papierflut ähnlichen Ökumene – Papieren, sie werden es still hinnehmen, dass dieser römisch – katholische Ablasswahn im 21. Jahrhundert immer noch hoch offiziell propagiert wird und lebt. Leider!

8.
Wenn katholische SünderInnen und Sünder den Ablass nach vatikanischem Beschluss jetzt auch außerhalb Roms erlangen können, fragt man sich, ob dann noch die Pilgerfahrt der geschätzten 32 Millionen nach Rom im Jahr 2025 so sinnvoll und ..auch ökologisch überhaupt noch vertretbar ist. „Bleibt also zu Hause, ihr findet dort euren Ablass, zum Beispiel darum Spenden für „Pro-Life – Aktivistinnen“, könnte man doch als Devise ausgeben. So deutlich werden die Pönitentiarier in Rom nicht…
Und : Wie die Sünder im Klerus nach den vielen tausend sexuellen Missbrauchstaten im Heiligen Jahr „behandelt“ werden, wird überhaupt nicht erwähnt. Zweifellos sind diese Sünden so gravierend, dass sie nicht mit dem Besuch einer Kirche in Rom automatisch erlassen werden.

9.
Es gibt in der langen Liste der bisherigen „Heiligen Jahre“ einige herausragende Ereignisse, die nur kurz erwähnt werden sollen:
Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Vernichtung des europäischen Judentums vor allem durch Nazi – Deutschland und Faschisten in Europa, verkündete Papst Pius XII. im Heiligen Jahr 1950 das Dogma der „leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel“. Das war ja wohl etwas ganz „Dringendes“ damals, unmittelbar nach den genannten Katastrophen. Besser wäre es gewesen, Pius XII. hätte sich für sein eigenes Schweigen zum Morden durch die Nazis und die Faschisten öffentlich entschuldigt. Aber eine Dogma – Erklärung zu veröffentlichen ist halt einfacher, selbst wenn sie theologisch Unsinn ist.
Und Papst Johannes Paul II. ließ im Jahr 2000 die Geburt Jesu von Nazareth vor 2000 Jahren als Heiliges Jahr feiern. Er setzte ganz den Akzent auf das offizielle Eingeständnis: „Nur die Söhne und Töchter der Kirche“ haben im Laufe der Kirchengeschichte viele Verbrechen begangen und die Kirche dadurch geschädigt. Es waren also nur einzelne „Söhne und Töchter der Kirche“, die als Kriegsherren, Ketzerverfolger, Kolonialherren, unwürdige Päpste usw. sündigten. ABER: Es war nicht die Kirche als Institution!! Diese hat gar nicht gesündigt, sondern sie ist und bleibt als gottgewollte Institution „die reine und heilige Braut Christi“.

10.
Diese Aufspaltung von sündigen Kirchenmitgliedern und der NICHT- sündigen Kirchen – Institution hat damals, im Jahr 2000, zu dem treffenden Vergleich geführt: Auch die Kommunisten, Stalinisten, sagten: Falsch gehandelt haben immer nur einzelne kommunistische Funktionäre. Die Partei (verstanden als Parteiführung, etwa Stalin) ist fehlerfrei…: “Die Partei, die Partei hat immer recht“…

11.
Im Jahr 1500 kamen 200.000 Gläubige nach Rom, um im Heiligen
Jahr den Ablass zu erlangen, auch dies war eine große Herausforderung für die Bürger dort, Rom zählte damals 50.000 Einwohner. Aber der veranstaltende Papst Alexander VI. verdiente dabei doch viel Geld, so dass sein Sohn, Cesare Borgia, genug Mittel hatte, um seinen zweiten Romana – Feldzug zu starten. Nebenbei: Papst Alexander VI. ist eine der absolut übelsten und widerwärtigsten Gestalten unter den so genannten Nachfolgern des heiligen Petrus und den so genannten Stellvertretern Christi auf Erden. Man lese die Studie des Historikers Prof. Volker Reinhardt, „Der unheimliche Papst. Alexander VI. Borgia“,Beck Verlag, München, 2007, Seite 192).

12.

Es werden vielleicht Debatten stattfinden, ob ein Heiliges Jahr, also ein Jahr des Ablasses, die dringende christliche Antwort ist auf die tieferen Erschütterungen und Verunsicherungen und Ängste der Menschen heute… angesichts der ökologischen Katastrophen, der völlig ungerechten Verteilung des Eigentums, des Hungers von Millionen Elenden, der Kriege, des unerträglichen religiösen Fundamentalismus in Islam, Judentum, Christentum, Hinduismus usw…

Und auch diese Frage ist offen: Kann die seelische Belastung und seelische Verirrung katholischer Menschen (auch des Klerus) durch den Ablass, man möchte sagen, einfach durch eine Pilgerfahrt, einige Gebete, einige caritative Gesten, geheilt werden? Gehen die Katholiken nach gewonnenem Ablass dann als seelisch geheilte Menschen des Friedens, der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit hervor? Diese Frage stellen sich die Verantwortlichen, die Propagandisten des Ablasses und des Heiligen Jahres offenbar nicht. Sie wollen erneut die geistliche Macht der Kirche glanzvoll, voller Erbarmen für die armen Sünder, in den Mittelpunkt stellen.  Und sicher auch Geld einspielen durch die “Pilgerströme”, etwa nach Rom und in den Vatikan.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

Herbert Schnädelbach – ein “frommer Atheist”?

HERBERT SCHNÄDELBACH: Ein freier Denker.

Von Christian Modehn.

Das Interview wurde in der Zeitschrift PUBLIK – Forum Oktober 2009 publiziert.

Wir veröffentlichen das Interview mit Herbert Schnädelbach am 12.11.2024 noch einmal, wenige Tage nach dem Tod des Philosophen. Das Interview fand viel Interesse (allein mehr als 1.200 Seitenaufrufe). Keine Frage: Die philosophischen Stellungnahmen Schnädelbach sind auch heute noch von großer Aktualität.

Herr Schnädelbach, Sie haben als Philosoph den Begriff »frommer Atheist« geprägt. In welcher Weise trifft er für Sie selbst zu?

Herbert Schnädelbach: Ich habe damit zunächst einen Typus von Atheismus beschreiben wollen. Sehr verbreitet ist ja die Vorstellung, dass Atheisten vor allem Menschen sind, die militant den Gottesglauben bekämpfen, sich also als Anti-Theisten gebärden. Aber: Die meisten Atheisten sind vielmehr Menschen, die einfach ohne Gott leben wollen. Diese nachdenklichen Atheisten sagen: Ich will gar nicht lauthals vertreten, dass es Gott nicht gibt, sondern ich glaube einfach nicht an seine Existenz. Und der fromme Atheist ist dann derjenige, der nicht anders kann als die Glaubensinhalte, die er nicht vertritt, doch ernst zu nehmen. In diesem Sinne bin ich ein frommer Atheist. Ich bin einer, der sich darüber aufregt, dass die religiösen Inhalte heute verschleudert werden durch Kommerzialisierung oder durch Instrumentalisierung seitens der Politik. So nach dem Motto: Wir brauchen wieder Werte, wir brauchen sozialen Kitt, und deswegen benötigen wir auch die Religion.

Leiden Sie als frommer Atheist darunter, dass Sie religiöse Glaubensinhalte für sich selbst nicht realisieren können, etwa im Gebet, in Riten?

Schnädelbach: Ich würde das nicht mit »Leiden« beschreiben. Was mich betrifft, so ist mein Atheismus zum großen Teil das Ergebnis einer Befreiung. Ich habe eher das Gefühl, vom Glaubenmüssen erlöst zu sein. Aber natürlich ist da auch ein Bedauern: Menschen mit einem festen Glauben haben es offenbar im Leben leichter. Sie können viel mehr Nöte »wegschieben«, alle Sorgen auf Gott werfen, wie es in der religiösen Sprache heißt. Ich bin mehr auf mich selbst gestellt. Es gibt schon Augenblicke, wo ich es schade finde, dass ich nicht religiös leben kann. Auf der anderen Seite will ich als frommer Atheist diesen Glauben auch nicht. Ich weiß, dass ich nicht glauben kann. Der authentische religiöse Glaube rechnet ja mit Gott, verlässt sich auf ihn. Für mich gilt: Ich kann das nicht. Oder besser: Ich kann das nicht mehr. Es ist eine falsche Vorstellung, dass man sich zum Glauben einfach entschließen kann.

Waren Sie denn in Ihrer Kindheit oder Jugend gläubig?

Schnädelbach: Der Glaube war in meiner Familie ganz selbstverständlich. Die Eltern waren mit einer pietistischen Freikirche verbunden. Da gehörte der Glaube »an den Vater im Himmel« zum Alltag. Wir haben als Kinder schlimme Situationen erlebt bei der Flucht aus Schlesien und dann auch beim Angriff der Alliierten auf Dresden. Zu dem Zeitpunkt wusste ich genau: Wir werden sterben, aber ich hatte keine Angst, denn da war ja diese Stabilität des Kinderglaubens. Bei meinen Eltern war übrigens der Glaube nicht mit äußerem oder innerem Druck verbunden. Der kam dann für mich später im Umfeld der Gemeinde; und mit diesem Druck kamen die Zweifel. Es waren Unstimmigkeiten und Widersprüche in der Lehre, die man so hörte, die mich nachdenklich gemacht haben. Ich fing deshalb an, mich um Theologie zu kümmern. Aber letztlich war das Zweifeln die Triebkraft, mich immer mehr mit Philosophie zu beschäftigen. So ist mein Weg zur Philosophie ein Ausgang aus der kindlichen Geborgenheit im christlichen Glauben gewesen.

Welche Glaubenslehren fanden Sie damals besonders fragwürdig oder belastend?

Schnädelbach: Es waren merkwürdige Ängste, mit denen ich konfrontiert war. Wir hatten zum Beispiel in Leipzig eine Gemeindeschwester, die sagte: »Wir müssen so leben, als wenn Jesus jeden Augenblick wiederkäme.« Und dann haben wir uns Gedanken gemacht: In welches Kino dürfen wir jetzt gehen? Wenn Jesus wiederkommt, will er uns sicher in diesem oder jenem Film nicht antreffen. Wir haben uns ernsthaft den Kopf zerbrochen, ob wir die »Sünde wider den Heiligen Geist« schon begangen hätten. Und dann diese dauernde Pflege von Schuldgefühlen, die gerade im Pietismus sehr ausgeprägt war! So nach dem Motto: »Du musst dich erst bekehren, bevor du glücklich sein darfst.« Diese Lehre hat bei mir nicht funktioniert, Bekehrungserlebnisse habe ich nicht gehabt. Dann kamen Fragen zur Autorität der Bibel und Ähnliches; trotzdem habe ich damals sehr viel von der Bibel gelernt. Aber es stellte sich mir die Frage: Was ist wahr an der Religion?

Könnten Sie nicht auch sagen: Ich habe diesen Pietismus erlebt, aber vielleicht sollte ich eine andere, eine vernünftigere Form von Christentum suchen?

Schnädelbach: Das weiß ich nicht, man kann aus seiner Biografie ja nicht aussteigen. Aber als ich dann später meine Kritik am Christentum formulierte, handelte es sich jedenfalls nicht um eine Verarbeitung meiner religiösen Sozialisation. Meine Religionskritik, die mir so wichtig ist, kann nicht ins Biografische abgeschoben werden!

Sie denken an Ihren viel diskutierten Beitrag »Der Fluch des Christentums«, der den Untertitel trägt: »Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion«?

Schnädelbach: Ja, da habe ich eine kulturelle Bilanz des Christentums zu ziehen versucht, und dies vor allem auf der Grundlage meiner Beschäftigung mit der Philosophie und Kulturgeschichte der Neuzeit. Ich zeige, welche »Geburtsfehler« oder folgenreichen Hypotheken mit der Ablösung des frühen Christentums vom Judentum verbunden waren. So ist meine Streitschrift »Der Fluch des Christentums« entstanden.

Zwei »Geburtsfehler«, die Sie nennen, sind die Erbsündenlehre und der dominierende Einfluss des Platonismus auf das Christentum. Sind diese Geburtsfehler für Sie immer noch ein Fluch?

Schnädelbach: Die Erbsündenlehre hat die Menschen jahrhundertelang tyrannisiert. Da wurden Halbtot- und Totgeborene noch schnell getauft, da gab es diese Vorhölle für die ungetauften Kinder. Niemand kann einem erklären, warum Neugeborene schon Sünder sein sollen. Diese kirchliche Lehre vom Menschen muss man infrage stellen. Dass alle Menschen als Sünder geboren werden, als Schuldige, ist für mich eine verhängnisvolle Weichenstellung des frühen Christentums. Das ist negative Anthropologie, keine Anthropologie des aufrechten Ganges. Die Menschen werden hier von vornherein klein gemacht. Es heißt: Sie seien zum Guten gar nicht fähig, sie bräuchten dafür die Gnade, und die Gnade kommt durch die Taufe, also durch die Kirche. Und der christliche Platonismus mit der Überordnung der Seele über den Leib, mit der Verachtung der Frauen wirkt bis heute. Dazu gehört der Kult um Maria als Jungfrau. Abgesehen von der dahinterstehenden Zurückweisung gelebter Sexualität: Maria wird nicht nur als Helferin im Himmel verehrt, sondern häufig genug selbst angerufen, ja angebetet: Bleibt da der Monotheismus eigentlich noch gewahrt? Der jetzige Papst ist ferner in der Nachfolge Augustins ein Vertreter des christlichen Platonismus; man denke nur, wie er die Vernunft mit dem fleischgewordenen, göttlichen Logos des Johannesevangeliums identifiziert: So wird Christus zum Inbegriff der Vernunft, die alle bestimmen soll.

Von diesen Vorstellungen haben Sie sich als Philosoph verabschiedet. Was haben Sie jetzt für Ihr Leben gewonnen?

Schnädelbach: Der Verlust des Glaubens ist nicht größer als das, was ich dazugewonnen habe. Ich stelle mir nicht mehr die Frage: Gehöre ich zu den Erlösten, oder gerate ich in die ewige Verdammnis? Wenn man das mal losgeworden ist und sich sagt: »Es gibt ein Leben vor dem Tod« – wenn also die Angst vor der Hölle verschwindet –, dann kann ich auch auf den Himmel verzichten. Das gilt sicher auch für viele junge Leute. Sie wollen intellektuell auf eigenen Füßen stehen, während ein sehr enges Christentum ja aus lauter Denkverboten besteht.

Sie können es sich als Philosoph nicht vorstellen, die Transzendenz, das Göttliche, das Umgreifende durch die Reflexion zu erreichen?

Schnädelbach: Es gibt keine Argumente, durch die man jemanden fromm machen kann. Wir haben zwar eine neue Konjunktur von sogenannten Gottesbeweisen, aber die funktionieren nicht. Wir sind endliche Wesen, wir haben eine kurze Lebenszeit, wir haben das meiste vergessen, was die Menschheit schon mal gewusst hat. Wir leben in Verhältnissen, wo wir angewiesen sind auf andere, wir verfügen nicht über unser Lebensschicksal. Natürlich denken wir über diese begrenzten Gegebenheiten hinaus. Gedanklich überschreiten wir die Grenzen des Endlichen, aber dieses Überschreiten können wir nicht wieder positiv denken, so, als kämen wir dann in der Transzendenz an. Immanuel Kant ist da für mich ein moderner Denker. Er hat klar gesehen: Im Bereich dessen, was unserer Vernunft zugänglich ist, können wir uns nicht auf Gott beziehen. Das ist Ausdruck unserer Endlichkeit.

Es gibt aber doch die Erfahrung des Erhabenen und Unendlichen, zum Beispiel in der Kunst.

Schnädelbach: Ich bin überzeugt: Man muss sehr deutlich unterscheiden zwischen religiösen Erfahrungen und ästhetischen Erfahrungen. Heute glauben zwar viele Menschen, religiöse Erlebnisse im ästhetischen Bereich zu haben. Leute, die sich gar nicht als Christen verstehen, gehen jedes Jahr in die Matthäuspassion und weinen immer an derselben Stelle. Aber da wird das Religiöse bloß in ästhetisierter Form konsumiert, und das hat nichts mit authentischer religiöser Erfahrung zu tun. Die hat man vielmehr dann, wenn man zum Beispiel erlebt, dass etwas wider Erwarten gut ausgegangen ist. Dann möchte man sich bei jemanden bedanken. Oder auch dann, wenn einem eine ganz schlimme Ungerechtigkeit passiert oder man eine schwere Krankheit bekommt: Da möchte man sich bei jemanden beklagen. Aber bei wem? Religiöse Menschen können sich dann an Gott wenden. Ich kann das nicht.

Angesichts dieser Erfahrungen könnten Sie sich doch sagen: Ich kann dem christlichen Glauben als dogmatisch formulierter Lehre nicht folgen, aber ich halte mir die Wirklichkeit eines absoluten Geheimnisses offen.

Schnädelbach: Nur weil wir nicht alles wissen, kann man von Geheimnis sprechen. Aber dieses Geheimnis kann man nicht einfach als das religiös Bedeutungsvolle definieren. Ich sehe dahinter den Versuch, die Begrenztheit unseres Lebens wieder ins Positive zu wenden, und das finde ich nicht vertretbar.

Aber inwiefern äußert sich dann bei Ihnen »das Fromme« in Ihrem Atheismus?

Schnädelbach: Fromm zu sein heißt ja, einer Sache treu zu bleiben und diese auch ernst zu nehmen. Ich frage mich immer wieder: Warum interessierst du dich eigentlich noch für die Religion? Du hast sie doch hinter dir? Und warum regst du dich auf, wenn mit der Religion so viel Missbrauch getrieben wird, wenn sie instrumentalisiert wird? Meine Frömmigkeit ist wohl am ehesten zu beschreiben als ein Widerstreben gegen diesen Missbrauch. Ich bleibe den authentischen Überlieferungen treu.

Meinen Sie damit die Lehren des historischen Jesus? Das »Jesuanische«?

Schnädelbach: Ja, da ist bei mir etwas geblieben, das es mir möglich macht, mir diesen bedeutenden Menschen zur Richtschnur zu nehmen. Aber ich kann auch noch auf andere verweisen. Manchmal habe ich zum Beispiel zu meinen Studenten gesagt: »Das hat Kant formuliert, und weil er es gesagt hat, stimmt es« (lacht) – aber das ist nicht ernst gemeint. Ich beschäftige mich auch viel mit dem alten Bach und finde es unglaublich, dass er ein solches Lebenswerk hinterlassen hat. Oder ich denke an den Dirigenten Georg Solti, der in einem Interview erklärt hat: »Für mich gibt es zwei Gottesbeweise: Das sind Mozart und das Lächeln meiner Kinder.« Aber mit solchen Aussagen sind wir meines Erachtens noch nicht im religiösen Bereich angekommen. Ich sage also: Insoweit ich Jesuaner bin, bleibe ich dabei im Humanen und Kulturellen.

Auch im Politischen?

Schnädelbach: Ob wir das, was wir für authentisch jesuanisch halten, auch politisch verwenden können, weiß ich nicht.
Haben Sie als frommer Atheist auch eine Poesie, die Sie Gebet nennen könnten?

Schnädelbach: Nein. Fromme Poesie, Gebete, habe ich nicht.

Haben fromme Atheisten Interesse an einer Gemeinschaft Gleichgesinnter?

Schnädelbach: Nein. Wenn ich sage: Ich glaube nicht, dass Gott existiert, dann ist die Debatte eigentlich zu Ende. Ich muss nicht noch weiter begründen, dass ich das nicht glaube.

Warum eigentlich nicht?

Schnädelbach: Ich habe ja nichts zu vertreten, und es wäre ein Missverständnis, wenn mein Unglaube als ein anderer dogmatischer Glaube aufgefasst würde. Ich sage nur: Ihr Glaubenden bezieht euch auf etwas, das ich nicht teilen kann. Es ist doch ganz normal in einer Welt so vieler verschiedener Überzeugungen zu sagen: Diese Meinung kann ich nicht teilen.

Wie schätzen Sie die Rolle der Kirchen in Deutschland heute ein?

Schnädelbach: Ich denke angesichts der genannten Probleme im Bereich der Lehre der Kirchen: Das institutionelle Christentum hat sein Ende erreicht, ohne es bemerkt zu haben. Wer versteht noch die Lieder, Predigten, Bibelverse? Das soziale Engagement der Kirchen verdient Respekt. Aber die positiven Energien des Christentums sind übergegangen in einen profanen Humanismus.

Lesetipp: Herbert Schnädelbach: Religion in der modernen Welt. Fischer. 192 Seiten, 12,95 €.

Prof. Herbert Schnädelbach hat sich oft auch mit kirchlichen und theologischen Themen auseinandergesetzt, so auch mit dem Opus von Manfred Lütz “Skandal der Skandale” LINK . Dazu meinte Herbert Schnädelbach LINK
Herbert Schnädelbach wurde 1936 im thüringischen Altenburg geboren. Der Philosoph kommt aus der Schule der Kritischen Theorie, von der er sich aber später abgrenzte. Er veröffentlichte Bücher über Kant, Hegel, Geschichts-, Kultur- und Sprachphilosophie. Sein Kernthema war stets die Frage nach der Vernunft. Immer wieder bezieht er sich auf aktuelle Debatten, zum Beispiel über die Rolle der Religionen oder die Bedeutung der Neurowissenschaften. Er lehrte in Frankfurt am Main, Hamburg und an der Humboldt-Universität in Berlin. Der emeritierte Professor lebt in Hamburg.

Herbert Schnädelbach ist am 9. November 2024 gestorben. Siejhe auch die Würdigung des Philosophen Geert Keil (Berlin): LINK

copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Die Hedwigskathedrale wird neu eröffnet

Die Toleranz eines Kirchenkritikers: König Friedrich II. fördert den Bau einer katholischen Kirche in Berlin.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 7. 11.2024

Das Bild zeigt die Katholische St. Hedwigskathedrale zu Berlin im Jahr 1777, als Johann Georg Rosenberg (1739 – 1806) diese Radierung schuf: Gesehen von der Französischen Straße aus. Der Preußenkönig Friedrich II. ist der Initiator dieser ersten katholischen Kirche seit der Reformation; Friedrich II. war bekanntlich ein heftiger kirchenkritischer und religionskritischer Geist; aber er von der Philosophie der Aufklärung (Voltaire war sein liebster Brief – und Gesprächspartner) bestimmt und deswegen der Toleranz auch gegenüber den Kirchen verpflichtet. Ein Freigeist also hat den Bau dieser St. Hedwigskirche im Zentrum des damaligen (und heutigen) Berlin ermöglicht,  er hat den Bau ausdrücklich gewünscht und gefördert. Wer diese Kirche heute sieht und besucht, sollte wissen: Dieses “Gotteshaus” ist ein Ausdruck aufklärerischer und kirchenkritischer Philosophie. Wer dort predigt, könnte doch bei aller Bibeltreue und üblicher Dogmenbindung den Geist der philosophischen Aufklärung respektieren und … verkünden! Es ist der Geist der Menschenrechte, selbstverständlich auch IN der Kirche geltend!

1.

“In seiner Großzügigkeit ging Friedrich II.  der Große über die von seinem Vater den Katholiken gewährte Duldung weit hinaus und gab ihnen zusätzlich auch noch die staatsrechtlich verbindliche Zusage der freien Religionsausübung. Sein Beispiel hat wie ein Erdrutsch gewirkt und dazu beigetragen, die konfessionellen Gegensätze zu entschärfen und echte Toleranz anzubahnen”, so der Historiker Josef Mörsdorf in “Kirchliches Leben im alten Berlin”, erschienen im katholischen Morus – Verlag, Berlin 1962, s. 136 f..

Und man wird erneut dokumentieren müssen, wie viele der katholischen Könige und Fürsten in den katholischen Stammländern Spanien, Frankreich, Österreich oder im Papsttstaat Vatikan usw. zu Zeiten Friedrichs II. in ihren Ländern den Bau protestantischer Kirchen erlaubten und sogar förderten. Da sieht die Antwort ziemlich düster aus…Das heißt: Auch wenn Friedrich II. innenpolitische, strategische Überlegungen für den Bau der katholischen St. Hedwogskirche hatte: Er hat in dem Fall einem philosophischen Aufklärer entsprechend gehandelt, was die Herrscher der genannten katholischen Ländern in ihrer Bindung an katholische Dogmen eben nicht taten…Über Friedrich II. als Religionsphilosoph siehe LINK.

2.

Die St. Hedwigskathedrale wird nach einem umfassenden Umbau am 24. November 2024 erneut eingeweiht. Es gab zuvor aussichtslose Debatten über den Sinn dieses Umbaus LINK, die Debatten wollen wir hier nicht wiederholen. Der Klerus hat sich durchgesetzt, wie immer.

Ergänzung am 24.11.2024 nach der Eröffnung: Soweit ich sehe, wurde von den Einweihenden wie den prominenten Gruß-Wort-Rednern mit keiner Silbe erwähnt, dass dieses “Gotteshaus” ein sehr heftig kirchenkritischer, aber toleranter König ermöglicht hat, König Friedrich II. Hätte doch gut gepasst bei der von Erzbischof Koch beschworenen “Offenheit der Kathedrale für alle…” Warum können Katholiken in Berlin nicht auch mal offiziell und offen dankbar sein für tolerante Taten kirchenkritischer Menschen?…

Die ursprünglich veranschlagten Umbau – Kosten von 43 Millionen Euro konnten nach Angaben des Erzbistums Berlin gehalten werden – nicht zuletzt durch eine Reduzierung der Planung. LINK.

Auf diese hohen Kosten (an denen sich selbstverständlich auch der Staat beteiligte !, es gilt ja die Trennung von Kirche und Staat ?) hinzuweisen ist deswegen wichtig, weil im allgemeinen die Kleriker über knappe finanzielle Mittel der katholischen Kirche in Berlin – wie in Deutschland im ganzen – klagen, wegen der vielen tausend Kirchenaustritte.

Bekanntlich werden bereits katholische Kirchen in Berliner Bezirken und im Land Brandenburg geschlossen, verkauft und abgerissen. Der Klerus mutet den verblieben (vor allem älteren) Katholiken lange Wege zu, um noch eine Messfeier zu erleben.

Die Fixierung der Kirchenleitung auf ein zentrales, repräsentatives und touristisch attraktives und teures Gebäude bleibt also erstaunlich. Diese attraktive Präsenz im Herzen der touristischen Zone „Unter den Linden“ ist also wichtiger als Präsenz zu erhalten zugunsten der kleinen Gemeinden.
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3.

In Berlin lebten 2023 – laut Information des Erzbischöflichen Ordinariates vom 24.6.2024 – 275.399 Katholiken; 31.000 weniger als im Jahr 2020. An der Sonntags-Messe nahmen in Berlin 2023 noch 27.814 Personen teil. Diffenzierte Angaben zum Alter der Teilnehmer an der Messe werden nicht gemacht, ebenfalls fehlen Zahlen über die Internationalität der katholischen Mess-Teilnehmer.  Ihr Anteil dürfte beträchtlich sein.

4.

Besucher können überrascht sein: Es sind Stühle, keine Bänke, als Sitzgelegenheiten in der Kathedrale vorgesehen, großartig ! Wenn dann mal nicht konservative Katholiken sich wie immer erregen: „Das ist ja protestantisch…“
Aber der Altar in der umgestalteten Kathedrale steht absolut in der Mitte, auf ihn fällt von oben das Licht (Gottes bzw. das der Aufklärung Friedrich II. „siècle des lumières“ ?).
Diese herausragende Stellung des Altars, an dem die Priester zelebrieren, ist Ausdruck der katholischen Dogmen: Der Priester steht entscheidend immer im Mittelpunkt, nur er feiert das Wichtigste der katholischen Lehre, die Eucharistie. Darum gilt er als unersetzbar und am wichtigsten! Warum? Weil Christus das angeblich so gewollt hat… behauptet eine fundamentalistische Bibel-Auslegung bis heute, trotz theologisch – wissenschaftlich ganz anderer Argumente. Aber die zählen nicht im Vatikan.

5. ERGÄNZUNG zum Umbau des benachbarten HAUSES, “Bernhard Lichtenberg Haus” genannt, der Umbau/Neubau wird teurer als geplant:

“Für Sanierung und Teilumbau des Bernhard-Lichtenberg-Hauses waren damals insgesamt 17 Millionen Euro vorgesehen. Im Lichtenberg-Haus sollen laut ursprünglicher Planung künftig ein “Wissenschaftszentrum” zum Dialog über ethische oder interreligiöse Fragen, ein niedrigschwelliges Caritasangebot sowie der Dienstsitz des Erzbischofs untergebracht werden. “Für dieses Projekt waren zu Beginn 17 Millionen Euro veranschlagt worden, inzwischen rechnet das Erzbistum jedoch mit nahezu verdoppelten Kosten von 33,8 Millionen Euro – für die das Hauptstadtbistum zudem allein aufkommen muss”. LINK  am 22.11.2024.

Die prognostizierten Gesamtkosten für beide Teilprojekte belaufen sich damit auf 78 Millionen Euro. Zur Finanzierung gibt es staatliche Zuschüsse: Zwölf Millionen Euro vom Bund und acht Millionen Euro vom Land Berlin. Ferner geben die deutschen Bistümer zehn Millionen Euro dazu. Laut Erzbistum konnte eine ursprünglich erhoffte zusätzliche Unterstützung in Höhe von weiteren zehn Millionen Euro durch einzelne Bistümer “nicht realisiert werden”. Ferner seien aus ganz Deutschland rund 600.000 Euro Spenden eingegangen.” Kath.de am 13.11.2024.

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