Entspricht es der Menschenwürde, mit einem Diktator und Kriegsherren befreundet zu sein?

Die 18. der “unerhörten Fragen”.

Zugleich ein Beitrag zur aktuellen politischen Anwendung von Kants „Kategorischem Imperativ“.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 9.4.2024. “Es geht doch dabei nicht um eine moralische Frage !!!”  Doch, natürlich…

1.
Unter welchen Bedingungen darf ich als Demokrat, der universell geltenden Menschenwürde entsprechend, mit einem Diktator und Kriegstreiber (oder auch auch Verbrecher, Mafioso etc…) befreundet sein?

2.
Vorausgesetzt, Freundschaft ist dabei ein intensiveres geistiges Einvernehmen mit einer anderen Person als eine oberflächliche „Bekanntschaft“ mit irgendjemandem.

3.
Dann kann die Antwort auf diese Frage nur heißen: Diese Freundschaft sollte alles daran setzen, den Diktator, den Kriegstreiber usw. von seinem inhumanen Irrweg zu befreien. Und zwar möglichst umgehend und definitiv und objektiv kontrollierbar.

4.
Sollte aber diese Überzeugungsarbeit zum ethisch guten Leben gegenüber dem Diktator – Freund, Kriegstreiber – Freund nicht gelingen: Dann soll ich, soll jeder,  diese Freundschaft aufkündigen, mindestens nach einigen Monaten der Geduld und „Wartezeit“. Freundschaften haben im Unterschied zu „Ehe – Verträgen“ die Eigenschaft, sofort – auch einseitig – kündbar zu sein.

5.
Es kann aber auch sein: Der besagte Freund des Diktators denkt selbst so wie sein Diktator – Freund, und dabei nur an den eigenen riesigen materiellen Profit: Und dieser sich nach außen so human zeigende Freund verschweigt diese seine Interessen raffiniert – diplomatisch und in der Öffentlichkeit blasiert: Dann muss dieser Zusammenhang eigens öffentlich freigelegt und analysiert werden. Denn dann lässt der Freund die universal geltenden Menschenwürde de facto auch für sich selbst nicht gelten, er entzieht sich dann selbst – wie sein Freund, der Diktator – den universal geltenden moralischen Prinzipien. Wen interessiert das noch?

6.
Diese Haltung wird immer dann sichtbar, wenn diese Leute, also etwa diese „Freunde“, die Geltung moralischer Prinzipen für sich selbst abweisen und Moral im allgemeinen lächerlich machen, und so tun, als wäre Moral immer nur spießige Sexual – Moral. Und für sie gelte Moral nicht! Damit verabschieden sich diese Leute aus der humanen Menschengemeinschaft, die ohne universell geltende Normen nicht (über)leben kann. Dass diese Weltordnung heute zerbricht, liegt an der egoistischen Ignoranz derer, die universell geltende humane Moral für sich selbst ablehnen.

7.
Diese selbstverständlich (!) nur sehr allgemein formulierte (!) unerhörte Frage findet eine Antwort in einer Formulierung Kants über den von ihm entdeckten universal geltenden „Kategorischen Imperativ“: „Handle nur nach derjenigen Maxime (also deinem Grundsatz fürs Leben), durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Konkret übersetzt heißt diese gültige Erkenntnis Kants: Der Freund eines Diktators kann niemals – falls Vernunft beim Freund vorhanden ist – annehmen, dass Freundschaft mit einem Diktator von allen Menschen als Lebens- Maxime gelebt werden sollte.

Denn dann würde diese Welt in viele egoistisch fundierte Diktatoren – Freundschaften versinken und sich selbst zerstören. Auf diesem Weg als Abschied von der Demokratie sehen leider manche Beobachter diese heutige Entwicklung der Welt, besonders, wenn man an die immer noch unterstützenden Freundeskreise der hier nur selbstverständlich philosophisch – abstrakt genannten Freunde von Diktatoren etc. denkt.

8.

Es bedarf wohl keiner ausführlichen Erläuterung: Die ökonomischen Beziehungen demokratischer Staaten mit Regimen, die nicht die Menschenrechte respektieren, (Öl produzierende Staaten etwa), sind überhaupt keine Beziehungen von Freunden. Diese wirtschaftlichen Beziehungen sind keine Freundschaften, sondern einzig rechtlich gestaltete Handelsbeziehungen. Bei denen Demokraten trotzdem alles daran setzen sollten, dass Menschenrechte in den genannten Staaten, in vollem Umfang respektiert werden.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Das Glaubens – Bekenntnis heißt: „Menschlichkeit zuerst“. Der ungewöhnliche Bischof Jacques Gaillot

Ein Hinweis anläßlich seines 1. Todestages am 12.4.2023

Von Christian Modehn am 8.4.2024

1.
Eine Erinnerung an einen außergewöhnlichen katholischen Bischof, eine Erinnerung, die nicht nur für den kleinen Kreis der interessierten Katholiken wichtig ist!

2.
Jacques Gaillot war ein katholischer Bischof ohne jeden Anspruch auf klerikale Bevorzugungen, ein katholischer Bischof, der Menschlichkeit wichtiger fand als den bis heute klerikal – üblichen Dogmatismus, ein katholischer Bischof, der politisch sehr präzise links stand und sehr praktisch an der Seite der Armen mit lebte. Jacques Gaillot ist sein Name.
Wir haben über diese außergewöhnliche Persönlichkeit, man sollte sagen einmalige Persönlichkeit eines katholischen Bischofs in Europa, seit 1985 regelmäßig journalistisch berichtet: Weil Bischof Gaillot schon ab 1988 für das Priestertum der Frauen öffentlich und laut eintrat, ebenso für die Segnung von homosexuellen Paare und deren Ehe, für die Gleichberechtigung der Laien in der Gemeindeleitung … wurde er von Papst Johannes Pauli II. als Bischof von Evreux, Normandie, abgesetzt und zum Bischof eines imaginären, längst untergegangen Bistums in der Wüste Algerien ernannt. Aber diese Degradierung war zwar schmerzhaft, aber auch eine Befreiung: Jacques Gaillot konnte sich um so deutlicher um die für die Menschheit wirklich sehr wichtigen Themen kümmern: Frieden, Abrüstung, Wohnungslose, Schutz der Ausländer, Kampf gegen Rechtsextreme, Solidarität mit Flüchtlingen. Über theologische Spitzfindigkeiten und Spezialfragen etwa zur „Trinität“ war von ihm eher wenig zu lesen.

3.
Am 12.April 2023 ist Bischof Jacques Gaillot in Paris gestorben. Anläßlich seines ersten Todestages erinnern wir an ihn. Wir sind traurig, dass die offizielle Erinnerung an ihn schon jetzt immer mehr verblasst; traurig, dass ein katholischer Bischof von einer solchen Weite des Denkens … einmalig bleibt, und viele der Konservativen und Reaktionären doch froh sind, dass dieser „Bischofsrebell“ nicht mehr – leiblich – unter uns weilt. Aber sein Geist lebt, er ist „présent“ … in seinen Büchern, in den Gedanken derer, die ihn so schätzten! Als einen Freund, der für sie nur „Jacques“ war.

Zwei Links:
– Abschied von Jacques Gaillot. LINK

– Und als Hintergrund: Das empirisch nachgewiesene langsame Verschwinden des Katholizismus in Frankreich, er verschwindet, weil die Öffnung auf die Moderne, die Entrümpelung der veralteten Theologie etc. ausbleibt… LINK.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Papst Franziskus erzählt so einiges aus seinem Leben und will das Papsttum als “absolute Monarchie” abschaffen?

Warum einige Themen seines Buches „Leben“ dennoch wichtig sind.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 2.4.2024

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Ergänzung am 5.4.2024: Wer sich mit den vielen Stellungnahmen, Büchern, auch der Autobiographie von Papst Franziskus befasst, hat es schwer: Nach der hier vorgestellten Autobiographie hat der Papst gleich schon wieder ein Interviewbuch veröffentlicht, meldet der BR am 5.4.2024: Der spanische Titel “El Sucesor”, die Fragen stellte Javier Martinez-Brocal, der als Journalist und “Vatikanologe” seine Ausbildung an der bekannten “OPUS-Dei -Universität” in Pamplona, Spanien erhielt. Martinez Brocal arbeitet für die bekannte sehr katholische und sehr konservative (PP- Partei) spanische Tageszeitung “ABC”. In diesem Buch “El Sucesor” LINK rechnet Papst Franziskus mit Benedikt XVI. Privatsekretär Erzbischof Georg Gänswein ab, lobt – wider Erwarten? – Ex-Papst Benedikt XVI, der sich bekanntlich als unmittelbarer Nachbar von Franziskus im Vatikan eingenistet hatte. Das Buch “El Sucesor” ersxcheint in dem großen Verlag Planeta, der auch über Bücher des Opus Dei Gründers veröffentlicht…LINK

Man darf fragen: Ist sich der angeblich so progressive Papst Franziskus bewusst, dass er sich mit diesem Buch dieses Journalisten in diesem Verlag in sehr konservative Kreise begibt, die dem OPUS DEI  nahestehen? Braucht er nun sogar Hilfe vom Opus Dei und einer der PP – Partei (gegen Ehe für alle, absolut gegen Schwangerschaftsabbruch etc.) nahestehenden Zeitung (ABC)?

Jedenfalls gilt: Die von Papst Franziskus früher schon genannten üblen “Schlammschlachten” im Vatikan gehen also nun auch von seiner päpstlichen Seite in aller Öffentlichkeit jetzt weiter. Ein bißchen wie in der Politik Argentiniens, damals wie heute, oder?
——–

1.
Einige Journalisten haben das neue Buch von Papst Franziskus mit dem Titel „Leben“ eine Autobiographie genannt. Für einen solchen Anspruch ist das vorliegende Buch wahrscheinlich nicht umfangreich genug, es hat nur 272 Seiten. Der Untertitel des international verbreiteten Werkes ist: „Meine Geschichte in der Geschichte“. Der Papst versucht also, in persönlicher Erinnerung an einige wichtige Ereignisse seine Sicht der erlebten Geschichte mitzuteilen. Geboren wurde Jorge Mario Bergoglio am 17. Dezember 1936 in Argentinien. Er ist Papst seit März 2013.

2.
Die LeserInnen sind wohl erstaunt, in welcher Ausführlichkeit sich Papst Franziskus in dem Buch seiner Jugendzeit zuwendet und wie bewegt er seine Meinungen über den (argentinischen) Fußball mitteilt. Offenbar will der Argentinier Papst Franziskus erneut seine oft bezeugte Nähe zum einfachen Volk, zu den eher ärmeren Leuten, ausdrücken. Die päpstliche Erinnerung an den Fußball mag zwar menschlich sympathisch sein, aber es gibt für einen Papst in einer „Autobiographie“ vielleicht dringendere Themen.

3.
Dennoch werden Historiker dieses Buch unter den vielen anderen immer wieder neuen Publikationen, Enzykliken und Interviews mit Papst Franziskus beachten müssen.

4.
Zunächst sind zwei eher beiläufig mitgeteilte Aussagen sehr erstaunlich:
Papst Franziskus äußert sich zur Psyche vieler Argentinier: „Anfangs begeistert man sich für etwas, kommt dann aber aus Mangel an Durchhaltevermögen nur mühsam bis ans Ende..Uns Argentiniern fehlt das Durchhaltevermögen nicht nur beim Fußball, sondern im täglichen Leben. Bevor wir etwas zu Ende führen, trödeln wir zu lange herum und erzielen deshalb vielleicht nicht das gewünschte Ergebnis“ (Seite 122).
Die Leser, zumal in Deutschland, denken bei diesen Worten an den – gelinde gesagt – sehr „mühsamen“ Umgang des Papstes mit dem „Synodalen Weg“ in Deutschland oder sie denken an des Papstes Nachlässigkeit, mit der er die „Causa Kardinal Woelki“ seit Jahren verschleppt.
Der Papst machte sich selbst aber etwas Mut, wenn er diesen Gedanken abschließt: „ Zu guter Letzt schaffen wir es zum Glück aber doch“ (ebd). Ein schwacher Trost… für deutsche Katholiken.

– Erstaunlich eine weitere, eher nebenbei formulierte Aussage von Papst Franziskus, die eigentlich, wenn man sie ernst nimmt, zur Abschaffung des Papsttums führen müsste: Auf Seite 255 heißt es: „Es stimmt, dass der Vatikan die letzte absolute Monarchie in Europa ist, und dort werden in seinem Inneren Grabenkämpfe ausgefochten und Hofintrigen gesponnen. Doch das müssen wir dringend überwinden“. Müssen “wir“ also die „Grabenkämpfe“ des vatikanischen klerikalen Beamtenwesens überwinden oder müssen wir sogar die absolute Monarchie abschaffen? Das bleibt in der Aussage des Papstes offen. Die „absolute Monarchie“ ist ja nichts anderes als die Wahlmonarchie des alle demokratischen Gewalten auf sich vereinigenden Papstes. Für diese Interpretation scheint zu sprechen, dass ein paar Zeilen weiter (S. 255) der Papst von den abzulehnenden „Zeiten eines Papst – Königs, einer Monarchie“ spricht. Man darf sich fragen, ob Papst Franziskus eigentlich weiß, was er da so alles fordert. Angeblich hat er alle seine Worte gut bedacht in diesem Buch! Siehe Nr. 13 in diesem Hinweis.

Man fragt sich weiter, ist sich Papst Franziskus der Konsequenzen seiner theologisch richtigen, aber eher nebenbei formulierten Aussage bewusst? Er will wohl – endlich – das Papsttum oder mindestens diese Form des Papsttums abschaffen! Nur ein Vorschlag: Ein modernes Papsttum der katholischen Kirche könnte sich ja aus mehreren gleichberechtigten Patriarchen etwa in Rom, Sao Paulo (Brasilien), Kinshasa und Seoul usw. gestalten…

5.
Diese Aussage „Papsttum ist keine absolute Monarchie“ (also vielleicht doch ein bißchen Demokratie) steht in einem gewissen Widerspruch zu der Aussage des Papstes in selben Buch: „Die Kirche ist doch, wie ich häufig genug sage, kein Parlament“ (S. 64). Also keine Demokratie. Aber auch keine Monarchie. Wieder eine offenbar schnell formulierte Aussage…

6.
Wenn HistorikerInnen und TheologInnen und unabhängige Katholizismus – ForscherInnen eines Tages das theologische Profil von Papst Franziskus kritisch fundiert herausstellen: Dann werden sie von diesen Themen sprechen müssen, das ist jetzt schon sicher:

– Die ausgeprägte und sehr intensive Verehrung Marias, der Mutter Jesu, die Papst Franziskus oft als „Gottes-Mutter“ bezeichnet. Sogar die volkstümliche Verehrung „Maria als der Knotenlöserin“ (in Augsburg ursprünglich verehrt) findet in dem Buch wieder eine Bestätigung. Papst Franziskus mag zwar in seiner Sorge um Arme und Flüchtlinge unter den Päpsten vorbildlich sein, er ist in seinem theologischen und spirituellen Denken konservativ. Man lese etwa S. 123: „Maria und ihr Sohn Jesus (in dieser Reihenfolge formuliert !, C.M. ) müssen immer an erster Stelle stehen“. Und S. 73: „Ich betete zur Muttergottes“ . Und auch der eher obskure Marien-Wallfahrtsort Fatima (Portugal) wird von dem Jesuiten – Papst gelobt und geliebt (S. 153). Manchmal fragt man sich, ob nicht Jorge Bergoglio besser in den Orden der Maristen oder Marianisten als in den Jesuiten – Orden eingetreten wäre.

Nebenbei: Bekanntlich sind die Jesuiten einem besonderen Gehorsam dem Papst gegenüber verpflichtet! Man spricht von dem “vierten Versprechen bzw. Gelübde (neben Armut, Ehelosigkeit und Gehorsm). Welchem Papst gehorcht dann aber besonders ein Papst, der selbst dem Jesuitenorden angehört? Hat der Jesuit Papst Franziskus vielleicht noch – unbewusst? – dem Papst emeritus Benedikt XVI. gehorcht? Und fühlte sich Papst Franziskus erst richtig frei, als Benedikt XVI. verstorben war? Und gehorcht Papst Franziskus sozusagen jetzt seinem “inneren Papst”, “nur noch” seinem Gewissen? Eine interessante Frage…

Ein weiteres Thema:
Die oft im Buch bekundete Liebe zum Gebet, zum Bittgebet und damit zur Bitte um Wunder, etwa, dass doch Christus (oder auch Maria) eingreifen möge und die Wünsche des Glaubenden (Papstes) erfülle. Wer die letzten Predigten desPapstes etwa im März 2024 gelesen hat: immer wird das Gebet als DIE Lösung beschworen, als die Lösung der Katholiken im Krieg, in Konflikten, Katastrophen usw. Als würde nicht besser eine konkrete, differenzierte politische Analyse etc. wirksam weiterhelfen. Diese totale und ständige Überbetonung des Gebets als tatsächloiches Wundermittel in allen Konflikten kann man theologisch nicht anders als Aberglauben bezeichnen. Der Putin – Freund Patriarch Kyrill betet auch für den Frieden aber als Sieg Putins; reaktionäre Katholiken in den USA beten für den baldigen Tod von Papst Franziskus; Evangelikale dort beten für den Sieg von Donald Trump; militante Gegner jeglicher Abtreibung beten für die „Mörder-Frauen“ etc. Wie soll der „liebe Gott“ da noch alle Gebets – Wünsche sortieren und gerecht beantworten? … Diese naive Bettelei bei Gott ist in Zeiten reflektierter Spiritualität nicht ernst zu nehmen. Ein Papst, der doch irgendwie ahnt, was beten theologisch heute bedeuten könnte, sollte etwa öffentlich sagen: Liebe Leute, denkt mehr nach, meditiert, handelt politisch im Sinne der der Menschenrechte, vertraut euch einem letztlich tragenden Sinn – Grund an…

Ein weiteres Thema:
Palast Franziskus wohnt bekanntlich nicht im prachtvollen und „pompösen”, wie er sagt, „Apostolischen Palast“ wie seine Vorgänger! Mit der interessanten Begründung: „Hätte ich mich entschieden, dort zu wohnen, hätte ich vermutlich über kurz oder lang einen Psychiater gebraucht!“ (S. 221). Darf man daraus schließen, dass eigentlich die Vorgänger – Päpste, die dort viele Jahre wohnten, wie Johannes Paul II. oder wie Papst Benedikt XVI., einen Psychiater vielleicht brauchten und sich dessen Hilfe erfreuten?

Mit der nun von Papst Franziskus erlaubten bescheidenen Segnung von Homosexuellen Paaren wird selbstverständlich NICHT eine Ehe für Homosexuelle angedacht oder gar gefeiert. Darauf legt der Pontifex Maximus wert! Denn die Homosexuellen bleiben ALS Homosexuelle in der Sicht des Papstes Sünder (S. 256, 258), dies ist ein theologischer Unsinn: Als wären nicht alle Menschen Sünder, aber die Homosexuellen sind doch nicht als Homosexuelle Sünder, sondern wie alle anderen Menschen auch, wenn man schon in diesen Kategorien noch denken will.

7.
Papst Franziskus mag offenbar das Bild der Urkirche, das weithin verbreitet wird, er schreibt: „In den christlichen Urgemeinden gab es kein Privateigentum. Das ist kein Kommunismus. Sondern das Christentum in reinster Form“ (S. 64). Trotz des Lobes der Urgemeinden meint Papst Franziskus, natürlich dürfe man die Urkirche heute NICHT als Modell verstehen.

8.
Über den Umgang von Pater Jorge Bergoglio als Provinzialoberer der Jesuiten in Argentinien während der Militärdiktatur dort (1976 – 1983) ist viel geschrieben und diskutiert worden. Argentinische Beobachter meinen, Pater Bergoglio habe zwei seiner linken, der Befreiungstheologie verpflichteten Mitbrüder im Jesuitenorden nicht wirklich geholfen, sondern habe sie sogar an die Militärjunta ausgeliefert. Eine Aussage, die Papst Franziskus immer entschieden zurückgewiesen hat. Auch in dem Buch „Leben“ geht er auf diese bis heute undurchsichtigen Zusammenhänge ein und bietet eine neue, bisher nicht bekannte Interpretation seines Umgangs mit den beiden linken, rebellischen Patres Orlando Yorio SJ und Francisco (Franz) Jalics SJ: Papst Franziskus schreibt diese ungewöhnlichen Worte in „Leben“: „Die Priester waren dabei, eine eigene Kongregation (also einen eigenen Orden, C.M.) zu gründen. Und als Provinzial der Jesuiten musste ich sie im Namen des Ordensgenerals darauf aufmerksam machen, dass sie in diesem Fall den Jesuitenorden verlassen müssten“. Dann folgt der nebulöse Satz: “Ein Jahr später war es (?, was ist „es“) tatsächlich so weit“. (S. 99). Was soll denn das heißen? Einen Orden haben die beiden ja nicht gegründet, sie wurden nach fünf Monaten der Inhaftierung und Folter durch die Militärs („Todesschwadrone“) zunächst ins Ausland abgeschoben…
Mit anderen Worten: Über die Nähe und Distanz von Pater Bergoglio zu den Militärs wird wohl noch weiter geforscht werden, trotz aller bekundeten Versöhnung des verfolgten Pater Jalics mit dem Papst, Pater Yorio starb schon 2000 in Uruguay.    Zu Bergoglio in Argentinien: LINK.

Ein weiterer Link auf einen unserer Hinweise zum Thema “Bergoglio in Argentinien” 2013 publiziert: LINK.

9.
Die weitere Forschung über Pater Bergoglio SJ und die Militärdiktatur wird durch eine winzige Äusserung von Papst Franziskus in seinem Buch „Leben“ angeregt: Pater Bergoglio, so berichtet der Mitautor des Buches „Leben“, Fabio Marchese Ragona, habe „desaparecidos“ (Verschwunde) betreut und er „steht für ihre Fälle in ständigem Austausch mit dem Apostolischen Nuntius in Argentinien“ (S.102).
Und dieser Nuntius ist ein Freund des Diktators Videla: Monsignore Pio Laghi war von 1974 -1980 päpstlicher Nuntius in Argentinien, also zu Zeiten der Militärdiktaturen (Jorge Videla) wie auch zu Zeiten des Leitungsamtes der argentinischen Jesuiten durch Pater Bergoglio. Wikipedia schreibt über den Diktatoren freundlichen Nuntius Laghi: „Er sah davon ab, gegen die Verbrechen (Morde, Verschwindenlassen, Folter, Kindesraub und andere Verbrechen) öffentlich zu protestieren. Stattdessen sagte der Nuntius bei einem Besuch der Garnison in Tucumán, Argentinien: „Was das Vaterland ist, wissen Sie, tun Sie gehorsam, was man Ihnen befiehlt, und bewahren Sie ruhig Blut.“ (Zitat: von dem Lateinamerika – Spezialisten Francois Houtard, der Titel seines Beitrags: „Johannes Paul II. als Restaurator der Weltkirche. In: Le Monde diplomatique, 14. Juni 2002. Wikipedia gelesen am 1.4.2024.)

10.
Auf S. 97 erwähnt Papst Franziskus den merkwürdigen Zusammenhang, dass der linke Bischof Enrique Angelelli (von La Rioja, Argentinien) Morddrohungen erhielt. „Angelelli, der auch den apostolischen Nuntius in Argentinien, Pio Laghi, über die erhaltenen Morddrohungen informiert hatte, wurde dann tatsächlich am 4. August 1976 am Steuer seines Wagens ermordet… Der Fall wurde noch am selben Tag (von den Diktatoren) als Unfall eingestuft und zu den Akten gelegt.“ Also der Nuntius konnte seinen Bischof nicht schützen, oder wollte er das gar nicht? Hatte doch doch auch der damalige Erzbischof von Buenos Aires, Kardinal Aramburu, „diese Version des Geschehens (Unfall des Bischofs) anstandslos akzeptiert“, berichtet der Papst in dem Buch Leben“. Und er fügt hilflos hinzu: „Das hat mich sehr geschmerzt“ (S. 97). Und genauso hilflos, eher kühl und unbestimmt der folgende Satz: „Aber auch für die Kirche waren das schwere Zeiten“ (ebd.). Die Auftrags – Mörder von Bischof Angelelli wurden erst 2014 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt…
Auch über die zwei Aufenthalte Pater Bergoglio in Cordoba, Argentinien, (1990 und 1992) erfährt man nichts Genaues: War es eine Art Bestrafung, dass ihn seine damaligen Ordensoberen aus der Hauptstadt zu einer untergeordneten Funktion nach Cordoba versetzten?

11.
Weitere interessante, eher nebenbei erwähnte Tatsachen können hier ebenfalls nur nebenbei für weitere historische Forschungen erwähnt werden: Papst Franziskus sieht seit 1990 kein Fernsehen mehr (S. 139). Er bekennt auch, erwartungsgemäß, wie eigentlich alle befragten Bischöfe und Kardinäle und Päpste, dass er einmal, zweimal in ein „schönes und intelligentes Mädchen“ verliebt war (S. 72). Aber wie alle zölibatären Kleriker in solchen Fälle immer betonen, wollte er dem HERRN dienen. Nach einer Woche hatte der junge Jorge Bergoglio die plötzliche Liebe zum „sehr süßen Mädchen“ (S. 72) dann doch überwunden. Der Papst schreibt im Rückblick Worte, die von erotischer Begeisterung nicht gerade erfüllt sind. „Eine Woche ging mir ihr Bild nicht aus dem Kopf, und es fiel mir schwer zu beten. Doch dann habe ich es (?, CM) überwunden und gab mich mit Leib und Seele meiner Berufung (als Priester) hin“. Einige LeserInnen wird das „es“ stören, was ist ES, das Bild, das Mädchen, die Liebe? Eine merkwürdige, irritierende Formulierung…

12.
Papst Franziskus hat im Rahmen seiner Reformvorschläge 2018 dafür gesorgt, dass die Todesstrafe nicht mehr Teil der katholischen Lehre des Offiziellen katholischen Katechismus ist. 1992 hatte es noch im offiziellen Katechismus geheißen, die Todesstrafe könne in schwerwiegendsten Fällen angewendet werden“ (§ 2266 des Katechismus). Ausdrücklich wird dort geschrieben, dies sei die „überlieferte Lehre der Kirche“!! Papst Franziskus macht aus dieser traditionellen Bejahung der Todesstrafe (bis 2018) eine allgemeine, nicht differenzierende Aussage: „Die Kirche lehnt die Todesstrafe ab“ (Seite 63).Na ja, seit 2018 ist das offiziell, vorher nicht.

13.
Das Buch „Leben“ hat zweifellos einen hohen Anspruch, es will doch so etwas wie Autobiografie sein. Schließlich wurde das Buch lange und gründlich vorbereitet, wie der Mitarbeiter, der Journalist und Vatikanologe Fabio Marchese Ragona erwähnt. LINK.

14.
Um so schlimmer ist, dass wesentliche Themen des heutigen Leben des römischen Katholizismus von Papst Franziskus gar nicht diskutiert werden: Nur einige Beispiele: Sinnund vor allem Unsinn des Zölibats; Frauenpriestertum; Mangel an Priestern in Europa und damit der Niedergang der Gemeinden; die Bedeutung des Protestantismus; Kirche und synodale Leitung; Kirche und Reichtum, Eigentum (nicht nur in Rom). Wie war das Verhältnis zu dem sogenannten Papst emeritus Benedikt XVI. wirklich, er hatte sich ja in der unmittelbaren Nachbarschaft von Papst Franziskus eingenistet. Und sogar dessen Sekretär Georg Gänswein hatte Papst Franziskus als seinen „Präfekten des päpstlichen Haushaltes bis 2020 (!) beschäftigt. Hatte Franziskus Angst davor, sich ganz von Benedikt XVI. zu trennen, als er nun ausgerechnet noch den Intimus und treuen Freund von Ratzinger in sein eigenes engstes Umfeld holte?

15.
Diese Hinweise zeigen: Unter welchen sehr schwierigen Bedingungen Papst Franziskus im Vatikan lebt(e). Man denke an die heftigen und zweifelsfrei begründeten Attacken von Papst Franziskus in seiner Weihnachtsansprache gegen die Kurie schon am 22.12. 2014, solche heftigen kritischen Worte verdienen bis heute viel Beachtung. LINK

Ein Link auf einen unserer Hinweise zum Thema “Bergoglio in Argentinien” 2013 publiziert: LINK.

16.
Man vergesse nicht: Dieser Papst ist wohl der erste, der den Klerikalismus öffentlich aller heftigst kritisiert. Der Klerikalismus muss überwunden werden, betont er oft, der Klerikalismus sei, so wörtlich eine Pest“ („eine wahre Krankheit“, Seite 256), oder: “der Klerikalismus ist eine Geißel, eine Perversion,“ die das “Potential hat, die Kirche zu zerstören“. Bei der nächsten Papstwahl wird der Klerikalismus wie gewohnt wieder seine Macht zelebrieren. Und der nächste Papst wird wieder ein Kleriker sein. Der Klerikalismus wird erst verschwinden, wenn  auch Frauen Priesterinnen sind.

17.
Papst Franziskus ist vielleicht doch ein wütender Papst, ein Empörter, nicht nur über den Kapitalismus und Neoliberalismus, sondern auch und vor allem über die „Perversion und die Pest des Klerikalismus“, wie er sagt!!
Aber, leider, leider, reflektiert er nicht die Ursachen dieses Klerikalismus: Eine Ursache ist das völlig sinnlose Zölibats- Gesetz, ist die nach Außen hin geforderte Gehorsams- Struktur innerhalb der nur männlichen Priesterschaft in einer Kirche … als Pyramide organisiert.
Empörung ist das eine, Analyse das andere. Mit Empörung wird der Klerikalismus als tödliche Pest der katholischen Kirche nicht verschwinden. Mit anderen Kirchengesetzen und einer Kirchenreformation, die den Namen verdient, sicher schon.

Papst Franziskus. „Leben. Meine Geschichte in der Geschichte.“
HarperCollins Verlag, Hamburg 2024, 272 Seiten, 24€. Aus dem Italienischen übersetzt von Friederike Hausmann und Stefanie Römer. Das Buch mit dem Journalisten Fabio Marchese Ragona verfasst.

Copyright: Christian Modehn, Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin.

 

Der christliche Glaube ist einfach: Die Provokationen des katholischen Theologen Karl Rahner.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 26.3.2024

1.
Einer der wichtigsten katholischen Theologen im 20. Jahrhundert, Karl Rahner SJ, ist vor 40 Jahren, am 30.März 1984, im Alter von 80 Jahren gestorben. Aber er lebt – er lebt weiter in seiner Theologie. Sie verdient die Bezeichnung kreativ, sie sagt Neues, Ungewohntes, Radikales … in einer katholischen Welt, in der Theologen bis ca. 1960 monoton und langweilig “immer dasselbe“ sagen und lehren mussten.
Die Theologie Rahners ist bekanntlich sehr umfassend und vielfältig, sie enthält auch manche explizit nur katholisch interessante Arbeiten (Mariologie, Priesterstand etc.), diese können wir hier beiseite legen.

2.
Viele zentrale, wesentliche Erkenntnisse Karl Rahners sind auch eine spirituelle Hilfe im 21. Jahrhundert. Sie sind in ihrer Deutlichkeit eine bleibende Orientierung für Menschen, die ihren christlichen (katholischen) Glauben mit einem heutigen, modernen, aufgeklärten Denken verbinden wollen: Die Menschen wollen Wesentliches vom Christentum begreifen, möglichst kurz und knapp, darum auch der Versuch Rahners, in „Kurz – Formeln“ den christlichen Glauben nachvollziehbar „auf den Punkt zu bringen“.

Beispiele aus Rahners Werk … zur Besinnung und Meditation:

-„Mein Christentum ist der Akt eines Sich – Loslassens in das unbegreifliche Geheimnis hinein. Mein Christentum ist darum alles andere als eine Erklärung der Welt und meiner Existenz. Der Christ hat weniger als jeder andere letzte Antworten. Seinen Gott kann der Christ nicht als einen durchschauten Posten in die Rechnung seines Lebens einsetzen, sondern nur als das unbegreifliche Geheimnis annehmen …“ (Karl Rahner, “Warum ich heute Christ bin”, zit. in dem wichtigen Beitrag Philip Endeans SJ, Stimmen der Zeit Spezial, 2004,,, s. 70 f.).

-„Die (katholische) Kirche sagt eigentlich ganz wenig: nämlich, dass es ein unüberholbares Geheimnis realster Art in unserem Dasein gibt: Gott. Und dass dieser Gott uns nahe ist und sich in Jesus gezeigt hat. In diesem eigentlich ganz Einfachen haben Sie im Grunde schon das ganze Christentum“ . (Karl Rahner, Schriften zur Theologie, Band X, Benziner Verlag 1972, S. 283).

-„Es ist nicht auszuschließen, dass die normale Verkündigung Gottes das Gottesbild primitivisiert und unglaubwürdig macht, zumal eine Verkündigung, die nur lehramtliche Dogmen über Gott wiederholt… Es gibt einen Kampf gegen die Unzulänglichkeit unseres eigenen Theismus“ (Karl Rahner, „Kirche und Atheismus“, in Schriften zur Theologie, Band XV. Benziner Verlag 1983. S. 149)

-„Nach der Lehre des Christentums ist die Nächstenliebe nicht bloß ein Gebot, das erfüllt werden muss, sie ist nicht bloß eine der vielen Verpflichtungen des Menschen und des Christen, sondern der Vollzug des Christentums schlechthin“ (zit, Karl Rahner, „Ich glaube an Jesus Christus, Benziger Verlag. 1968.)

– Karl Rahner, legte in seinem letzten Vortrag allen Nachdruck auf den einen, entscheidenden Mittelpunkt des Glaubens: Er sagte wenige Wochen vor seinem Tod: “Weil wir alle Religionsunterricht gehabt haben, kann es vielleicht so aussehen, als ob das Christentum, gerade das katholisch- kirchliche Christentum eine ungeheure Menge von Dingen sagt, einen indoktriniert und zu glauben befiehlt. In Wirklichkeit sagt das Christentum das Selbstverständlichste, das gleichzeitig unbegreiflich ist: In deinem Leben ist immer schweigend, umfassend bergend, liebend das namenlose Geheimnis am Werk, ein Christentum, das eigentlich sehr einfach ist”.

3.
Karl Rahners „anthropologische Wende in der Theologie“ wäre ausführlicher zu besprechen, von diesem Ansatz zehren bis heute viele populäre Schriftsteller, wie etwa Pater Anselm Grün.
Über die originelle „transzendentale Theologie“ Rahners wäre auch zu sprechen, also über seinen der Moderne verpflichteten Versuch, zentrale Aspekte der Glaubenslehre der Kirche „von unten“, also aus dem religiösen Bewusstsein der Menschen, zu entwickeln, eine großartige Leistung, die Rahner in dieser Hinsicht in eine Reihe stellt mit protestantischen Theologen oder auch mit mutigen katholischen Theologen, die im 20.Jahrhundert als Modernisten verfolgt und unterdrückt wurden. Weiterführend zu diesem wichtigen, bisher kaum beachteten Thema: siehe auch: LINK.

Sechs Wochen vor seinem Tod hielt Karl Rahner einen bemerkenswerten Vortrag zum Thema Tod, darin zeigt sich der Theologe, der Philosoph, der Mystiker vor allem: LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Freundschaft oder Brüderlichkeit? Wie den Universalismus durchsetzen? Eine Frage an Omri Boehm.

Anläßlich der Verleihung des „Buchpreises für europäische Verständigung“ in Leipzig, März 2024.

Ein Hinweis von Christian Modehn. (Warum diese Frage alles andere als eine „bloß akademische“ ist, siehe Nr. 13 dieses Hinweises.)

1.
Der Philosoph Omri Boehm verteidigt entschieden das philosophische, ethische und rechtliche Prinzip des Universalismus, das zeigt er in seinem Buch mit dem Titel „Radikaler Universalismus“ (2022): Dieses Prinzip lehnt die Vormacht der Identitätspolitik ab, es will Raum schaffen für eine gerechte Welt in der alle Menschen tatsächlich die viel zitierte, aber nicht realisierte Gleichheit aller Menschen erleben. Der Universalismus legt allen Wert darauf, den Menschen, jeden Menschen, als moralisches Wesen der Freiheit und Vernunft zu definieren und nicht bloß den Menschen als ein Lebewesen (Tier) unter anderen!
Der Mensch ist, der Erkenntnis von Immanuel Kant folgend, verpflichtet: Dem im Innern der Vernunft vernommenen Aufruf der Pflicht, moralisch zu handeln, praktisch zu entsprechen. Die Menschen sind als „Subjekte von absoluter Würde“ („Radikaler Universalismus“, S. 17). Omri Boehm betont also, es gelte „dieser Idee (d.i. absolute Würde eines jeden Menschen) zu folgen, dies sei sogar “ein Gesetz, das nicht von Menschen gemacht ist“ (ebd). Diese Wahrheit gelte „unabhängig von menschlichen Konventionen“ (ebd.).

2.
Und das ist besonders bemerkenswert an Boehms Rede in Leipzig: Um den Universalismus durchzusetzen, drängt Boehm darauf, die Freundschaft mit dem anderen Menschen und den anderen Menschen, zu pflegen und politisch zu gestalten: Durch Freundschaft also, vor allem durch die Freundschaft zwischen Israelis und Palästinensern, soll dem moralischen Universalismus praktisch entsprochen werden. Freundschaft also der Weg zur Stiftung von Frieden, zur Beendigung von Kriegen?

3.
Das ist ein neuer Gedanke, der da in Leipzig vorgetragen wurde. Man könnte zugespitzt sagen: Freundschaft contra Brüderlichkeit?
Darum muss zunächst noch etwas ausführlicher das „Wesen“ der Brüderlichkeit erläutert werden. Denn der Universalismus als die Einsicht in die wesentliche, auch rechtlich garantierte und sozial gelebte Gleichheit aller Menschen lebt von der Leitidee, Brüderlichkeit zur praktischen, auch politischen Geltung zu bringen. Dabei ist es ohne Frage so: Brüderlichkeit als Prinzip des Zusammenlebens hat trotz aller theoretischen Lobeshymnen faktisch in der Geschichte keine dauerhaft prägende Rolle gespielt. Oft war und ist die Barbarei stärker als die Brüderlichkeit. Daran erinnert sehr deutlich der Historiker Friedrich Heer in seinem Aufsatz „Im Namen der Brüderlichkeit“ in dem empfehlenswerten Sammelband „Brüderlichkeit. Die vergessene Parole“ , Gütersloh, 1979, S. 19 ff).

4.
Es geht hier in der philosophischen Reflexion zum Thema nicht primär um die Auseinandersetzung mit historischen Fakten. Es geht um ein Verständnis dessen, was „Brüderlichkeit“ (und dann auch „Freundschaft“) sozusagen „wesentlich“ meint. Die Möglichkeit, einfach „nur so“ und ganz allgemein für „den“ Menschen oder „die Menschheit“ einzutreten als Form, den Universalismus zu realisieren, ist viel zu unbestimmt: Unter einem Prinzip „Menschlichkeit“ bzw. „Humanismus“ können viele, sich widersprechende Inhalte versteckt sein. Zudem: Nicht nur einige Philosophen halten explizit den Menschen für ein Tier unter anderen Tieren, da wird der Mensch ausschließlich als Naturwesen definiert, und das ist falsch.
Hier aber geht es eben um ein anspruchsvolleres „Definieren“ dessen, was Menschen und Menschsein bestimmt. Brüderlichkeit und Freundschaft sind solche Bestimmungen, über deren unterschiedliche Bedeutung zu debattieren ist.

5.
Man denke daran, dass die drei zentralen Prinzipien der immer wieder umstritteneren Neugestaltung Frankreichs seit der Revolution von 1789 heißen: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.“ Manche sprachen sogar von einer neuen, humanen „Trinität“. Die „Fraternité“ ist eine moralische Verpflichtung, während die beiden anderen Begriffe Freiheit und Gleichheit, Rechte des Bürgers beschreiben. „Die Fraternité ist das Ziel einer Bildung der Bürger für die weitere Zukunft und keinesfalls eine unmittelbare Forderung“, schreibt Mona Ozouf (im „Dictionnaire critique de la Révolution Francaise”, Paris 1988, S. 731-732, Übersetzung CM). Erst 1848 (!) wurde in der Konstitution Frankreichs von den bekannten drei Begriffen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ gesprochen. In der „Déclaration des droits et des devoirs du citoyen“ (Jahr III, d.i. das Jahr 1795), eher nebenbei, wird fraternité so definiert: „ Tut dem anderen Menschen nicht das an, von dem ihr selbst nicht wollt, dass es euch geschieht. Tut beständig den anderen Menschen das Gute, das ihr selbst von ihm empfangen wollt“ (Übersetzung von C.M. Das Zitat: „Histoire et Dictionnaire de la Révolution Francaise“, Paris 1987, Seite 832.)
Das heißt: Die Brüderlichkeit bzw. das brüderliche Verhalten wird hier, 1795, definiert in einer Form der uralten, man möchte sagen universalen „goldenen Regel“, die, so sagen Kant – Forscher, einen präziseren Ausdruck in Kants Formulierungen des „Kategorischen Imperativs“ fand.
Nebenbei: Beim Stoa – Philosophen Marc Aurel (121 – 180 n. Chr.) finden wir eine Erkenntnis der Universalität: „Ich habe klar erkannt, dass der Mensch, der gegen mich fehlt, in Wirklichkeit mir verwandt ist, nicht weil wir von demselben Blut, derselben Abkunft wären, sondern wir haben gleichen Anteil an der Vernunft, der göttlichen Bestimmung.“ (Seite 22 in Reclam, „Marc Aurel, Selbstbetrachtungen 2001). Und auch: „Jedes vernünftige Wesen ist mit mir verwandt“, (ebd. S. 34, 3. Buch)

6.
Zurück zu Omri Boehm: Er lehnt es in seiner Leipziger Rede 2024 ab, die Brüderlichkeit als bestimmende und entscheidende Lebensform des Universalismus gelten zu lassen. Boehm spricht sogar von einem „katastrophalen Versagen der Brüderlichkeit“, sieht das Eintreten für die Brüderlichkeit als „Brüderlichkeit der Privilegierten“, Brüderlichkeit also als Ideologie im westlichen Kapitalismus. Er sieht die „Fraternité“ als eine bloße Form der Solidarität, die oft nicht über das Proklamieren von Parolen hinausgeht. Boehm behauptet „diese Solidarität bilde sich unter verfolgten Gruppen durch die Verbundenheit mit der eigenen Identität heraus“: Brüderlichkeit gehöre also in die Welt der von Boehm abgelehnten Verkapselung in Identitäten. Aber ist dies das Wesen der Brüderlichkeit? Ist diese Fixierung auf familiäre oder andere identitäre Vorlieben das Wesen von Brüderlichkeit?

7.
Boehm plädiert in seiner Leipziger Rede, wie schon in Nr 2. kurz erwähnt, also explizit für die Freundschaft als einer Lebensform, die das richtige Prinzip des Universalismus durchsetzen kann. Unter Freunden kann eine Wahrheitsaussage des einen, die der Erkenntnis des Freundes widerspricht, gerade nicht „persönliches Leid darstellen“, so Boehm in Leipzig in seiner Deutung der Freundschaftslehre des Aristoteles. Er bemüht auch Kant, der von einer „Pflicht zur Freundschaft“ spricht (in seiner „Metaphysik der Sitten“, § 46). Das hätte überhaupt erläutert werden müssen, genauso wie der von Boehm zitierte Ausruf des Juden „Nathan des Weisen“ gegenüber dem christlichen Tempelherren :„Wir müssen, müssen Freunde sein“ (die Quelle ist: Zweiter Aufzug, fünfter Auftritt in dem Theaterstück „Nathan der Weise“ von Lessing). Die bei Boehm nicht geleistete Interpretation wäre: Wenn man gezwungen wird, bestimmte Menschen als Freunde zu haben, dann wird das Wesen der Freundschaft als freier Tat ausgelöscht. Das kann wohl Lessing nicht gemeint haben! Das Zitat ist eine dem erregten Redefluss Nathans folgende zugespitzte Aussage für: “Lass uns doch endlich, endlich Freunde sein…“

8.
Es sollte also weiter diskutiert werden: Ist Freundschaft als Form der Beziehung zwischen Menschen nicht sehr oft eine zufällig entstandene Beziehung zweier Menschen oder von Menschen in einer Gruppe? Freundschaft lebt auf Dauer von Freiheit, von Sympathie, von einem Vertrauen, einer Nähe, die eigentlich sozusagen immer „gesetzlos“ ist: Und dies im Unterschied zur Liebe, die oft ihren Ausdruck findet in der strukturierten gesetzlich gefassten und mit Verpflichtungen verbundenen Ehe. Darum heißt es auch immer zurecht von Psychologen, Freundschaft zu leben sei viel schwieriger zu gestalten und auf Dauer zu leben als Liebe in der Form einer Ehe. Freundschaft, eine zeitlich begrenzte Beziehung, kann oft spontan aber auch mit gutem Grund auch einseitig wieder aufgekündigt werden, ohne rechtliche Komplikationen.

9.
Es ist für uns erstaunlich, dass Boehm die Brüderlichkeit als die – prinzipiell – angemessene Lebensform des Universalismus so kritisch sieht. Der inhaltliche Hintergrund der Brüderlichkeit ist: Die Menschen sind alle gleichberechtigte Brüder und Schwestern, gerade weil sie als „Geschöpfe“ gemeinsam als Brüder und Schwestern in gewisser Hinsicht „Kinder“, im Bild gesprochen, also alle gemeinsam „Kinder“ eines gemeinsamen „Vaters“ und einer gemeinsamen „Mutter“ zu verstehen sind . Diese Formulierungen sind Symbole für das Geschaffensein aller Menschen. Mit anderen Worten: Die Lehre von der Brüderlichkeit hat eine berechtigte, nicht abweisbare Tiefe in der Erkenntnis eines allen, aber auch allen, Menschen gemeinsamen „Vaters“ (und natürlich einer gemeinsamen „Mutter”). Diese Erkenntnis wird religiös in der christlichen Tradition ausgesprochen mit dem Bild der „Gottes – Kindschaft aller Menschen“. Diese Erkenntnis ist nicht eine Formel einer religiösen Ideologie oder gar einer mystischen Verzückung. Sie hat bekanntlich Ausdruck gefunden in rechtlichen Bestimmungen, die von der im Bild der „Gottes – Kindschaft“ gemeinten wesentlichen Gleichheit aller Menschen ausgeht. In der Unabhängigkeitserklärung in den USA von 1776 heißt es bezeichnenderweise: „All men are EQUAL CREATED“, also geschaffen, man ergänze: von dem gemeinsamen Vater und der gemeinsamen Mutter….

10.
Zur Unterstützung unserer These soll darauf hingewiesen werden: Omri Boehm spricht in seinem Buch „Radikaler Universalismus“ selbst davon, es gelte bei diesem Thema „einer Idee, einem Gesetz zu folgen, das NICHT von Menschen gemacht ist“ (S. 17), also dann doch wohl von einem „göttlichen, transzendenten Schöpfer“ stammt, möchten wir die universale Brüderlichkeit, geschaffen von einem gemeinsamen „göttlichen Vater“ sehr ernst nehmen und der Freundschaft vorziehen. Das heißt, noch einmal: Die universale Brüderlichkeit als Gleichwertigkeit aller Menschen als Geschöpfe, die ja kein einzelner Mensch als Geschaffener aufkündigen kann, sollte der immer dem Zufall überlassenen und Freundschaft vorgezogen werden. Freundschaft kann man aufkündigen, Brüderlichkeit im Sinne der gemeinsamen Herkunft des Geschaffenseins NICHT. Universale Brüderlichkeit wird oft ignoriert, zerstören kann man sie nicht.

11.
Nebenbei: Zwei Beispiele aus der politischen Geschichte: Ein wichtiger, seit Jahren währender Versuch in Deutschland (!), Juden und Christen miteinander ins Gespräch zu bringen, hat den Titel „Woche der Brüderlichkeit“. Dass es jetzt in Deutschland wieder etwa 100 (!) Synagogen gibt, ist sicher auch eine Konsequenz dieser „Wochen der Brüderlichkeit“. Also der bleibenden Gemeinsamkeit von Juden und Christen ALS MENSCHEN.
Und noch ein Beispiel: In der DDR gab es seit 1947 einen Verein, der „Deutsch-Sowjetische FREUNDSCHAFT“ hieß. Da traten Leute in diesen Freundschaftsclub ein, die wahrlich nichts oder wenig mit Freundschaft etwa mit Stalin zu tun haben wollten. Diese Leute wollten nur nicht als Oppositionelle auffallen und traten deswegen diesem politisch eher harmlosen Freundschaftsclub der Massen bei. Die „Deutsch – Sowjetische Freundschaft“ hatte 3,5 Millionen Mitglieder im Jahr 1970, 6,4 Millionen Mitglieder waren es im Jahr 1988.

12.
Die gewisse Scheu Omri Boehms, die Brüderlichkeit offenbar prinzipiell nicht als die entscheidende Lebensform des Universalismus gelten zu lassen, rührt vielleicht auch aus einer gewissen Bindung an die Weisungen der hebräischen Bibel. „In der hebräischen Bibel kommt der Terminus Brüderlichkeit nur einmal vor, und wie alle Abstraktbildungen, erst in einem späten Text, im Kapitel XI des Propheten Zacharias“, schreibt Ernst Simon in dem Sammelband „Die vergessene Parole“, dort S. 29. Und der jüdische Wissenschaftler Ernst Simon beschließt seinen Beitrag mit dem Unter-Titel „Überlegungen aus dem Judentum“: “Wenn wir ernstlich vom jüdischen Boden aus zur Brüderlichkeit vorstoßen wollen, so müssen wir ausgehen von der Ebenbildlichkeit Adams mit Gott, eines Adams, des ersten Menschen, nicht des ersten Juden“ (S. 38).
Der Historiker Friedrich Heer vertieft diese Einsicht und betont in dem genannten Buch „Brüderlichkeit. Die vergessene Parole“: „ In Alt-Israel ist für den Bruder wenig Platz, da alle seelischen und geistigen Energien auf das Beziehungssystem: Gott, der Herr, und Israel, seine `Braut` zentriert sind“ (S. 21).

13.
Warum dieser etwas ausführliche Hinweis auf die Rede Omri Boehms in Leipzig?
Es geht uns darum, die Brüderlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen gegenüber der offensichtlichen Vorliebe Boehms für die Freundschaft als einem Weg, als einer Möglichkeit, den Universalismus zu gestalten. Universalismus, wie gesagt, verstanden auch als rechtlich garantierte Gleichheit aller Menschen, als Form eines Zusammenlebens der Menschen, die sich NICHT in Identitäten abkapseln und NICHT egoistische eigene Gruppen-, eigene Nationen-, eigene Religions- Interessen vorrangig durchsetzen … ohne Rücksicht auf die Gleichberechtigung und Gleichheit der anderen Menschen.

14.
Diesem Ziel kommen Menschen näher, wenn sie sich der universalen Brüderlichkeit aller Menschen moralisch verpflichtet wissen und entsprechend auch Politik gestalten. Brüderlichkeit hat von sich aus, wie wir gezeigt haben, selbst einen universalen Ursprung in der geistigen Herkunft aller Menschen von einem transzendenten, aber gültigen Symbol, das man Gott, die schöpferische Kraft, nennt. Die Brüderlichkeit mit dieser Herkunft und Weite hat erst in zweiter Linie etwas mit einer enger (und populär) verstandenen Brüderlichkeit zu tun, etwa in familiären Beziehungen oder in „brüderlichen“ Gemeinschaften (etwa Ordensgemeinschaften). Auch diese leben letztlich von der alle Menschen bestimmenden Einsicht, geschaffene Wesen, „Kinder“, religiös formuliert, „Gottes Kinder“ zu sein. Wenn es in diesen „Bruder-Gemeinschaften“ zu Konflikten kommt, berufen sie sich auf die universale Brüderlichkeit und ihre Gesetze, nicht aber auf variabel und kurzfristig geltende Regeln der Freundschaft…

15.
Freundschaft ist also selbstverständlich gut und (auch politisch) wichtig, aber nur auf der Basis und im Horizont der viel umfassenderen Brüderlichkeit aller Menschen.
Ich weiß, man sollte treffender von „Geschwisterlichkeit“ sprechen, wie dies viele feministisch inspirierte Theologinnen und PhilosophInnen zurecht praktizieren… Und diese Geschwisterlichkeit ist immer gemeint, wenn wir hier den klassischen Begriff Brüderlichkeit verwenden.

16.

Über Omri Boehms Buch “Radikaler Universalismus”:  LINK.

Über das Buch von Omri Boehm und Daniel Kehlmann über Kant:  LINK.

Über die Erkenntnis des Philosophen Pierre – Joseph Proudhon: Gerechtigkeit ist der neue Gott, ein Gedanke, der auch Omri Boehm wichtig ist:  LINK:

Darf ich als “demokratisch orientierter” Mensch auf Dauer eine Freundschaft mit einem Diktator und Kriegstreiber pflegen und hegen? LINK.

17.

Ein Hinweis von Hannah Arendt: Ihr wurde wurde, etwa von Gershom Scholem, vorgeworfen, es mangle ihr an Liebe und Freundschaft zu Israel und “den Juden”. Hannah Arendt sagte: “Freundschaft und Liebe gehören der PRIVATEN,  nicht der politischen Sphäre an” . (Micha Brumlik, “Nationaljüdische Ambivalenz” in: “Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert”, Piper Verlag, 2020, S. 23).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Omri Boehm (Philosoph und Kritiker der Politik Israels) erhält den Leipziger Buchpreis 2024

Von Christian Modehn am 8.3.2024

Am 21.3.2024 eingefügt: Die Rede von Omri Boehm in Leipzig mit dem Titel “Freundschaft in finsteren Zeiten”. LINK

Über das in Leipzig wichtige geehrte Buch von Omri Boehm: “Radikaler Universalismus”:  LINK

Die Laudatio auf Omri Boehm und sein Buch “Radikaler Universalismus” hielt in Leipzig die Soziologin Eva Illouz (Frankreich/Israel). LINK

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Unser Hinweis vom 8.3.2024:

1.
Man darf am 20. März 2024 gespannt sein, wenn in Leipzig der israelisch – deutsche Philosoph OMRI BOEHM den Leipziger Buchpreis erhalten wird. Die Laudatio wird die Soziologin Eva Illouz halten. Omri Boehm wurde 1970 in Haifa (Israel) geborren, er besitzt die israelische und die deutsche Staastbürgerschaft, er arbeitet vor allem in New York an der “New School for Social Research” als Philosophieprofessor.

Und wir können nur hoffen, dass den richtigen Aussagen Omri Boehms zur gegenwärtigen Politik in Israel (siehe unten) die Attacken erspart bleiben, die der jüdische Filmemacher Yuval Abraham nach seinen Aussagen, auch auf der “Bären Gala”der Berliner Filmfestspiele, erleben musste. Yval Abraham (Regie: “No Other land”) hatte die rechtsextrem beherrschte Politik Israels treffend als “Apartheids-Politik” bezeichnet. Und er hatte deswegen Morddrohungen erhalten, weil bestimmte “übereifrige Deutsche”  seinen Argumenten unterstellten,  sie seien antisemitisch… LINK zu Yval Abraham.

2.
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung wird seit 1994 verliehen, LINK,  er gehört in Deutschland zu den bedeutendsten Literaturauszeichnungen. Veranstalter des Preises sind der Freistaat Sachsen, die Stadt Leipzig, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Leipziger Messe.
Omri Boehm erhält den Preis zu Beginn der Leipziger Buchmesse am 20. März 2024 im Leipziger Gewandhaus.

3.
Omri Boehm zeigt u.a. in seinem wichtigen Buch „Radikaler Universalismus“ einen Ausweg aus den ständigen Kriegen Israel – Palästina: Es ist die Idee/Utopie eines gemeinsamen Staates von Juden und Arabern. Die viel besprochene Zweistaatenlösung lehnt Omri Boehm ab.

4.
Aktuell wichtig erscheint uns die Deutlichkeit, mit der Boehm in seinem Buch „Radikaler Universalismus“ (Propyläen – Verlag) den Staat Israel und seinen Zionismus, vor allem die jetzige Regierung Israels kritisiert. Schon 2020 verfasste er eine „Streitschrift“ „Israel. Eine Utopie“. Nach dem Terroranschlag der Hamas am 7.10.2023 wiederholte Boehm seine Grundüberzeugung: “Wir haben es mit einer unerträglichen Situation zu tun, wo das Unmögliche notwendig ist. (…) Wir müssen Vorschläge für eine politische Lösung in der Zukunft finden. Die einzige Alternative zum entgrenzten Krieg ist der Kompromiss einer Föderation.“
Omri Boehm spricht auf Seite 150 des Buches „Radikaler Universalismus“, von der „Apartheidsstruktur, die Israels jahrzehntelange Siedlungspolitik im Westjordanland bestimmt.“

5.
Das Wort Apartheidsstruktur öffentlich zur Qualifizierung von Israels Westjordan – Politik zu gebrauchen, ist hierzulande doch „ein bißchen“ mutig. Man denke an die Aufgeregtheit, die anläßlich der Berliner Film – Festspiele die Debatten bestimmten, als auch das Wort „Apartheidspolitik Israels“ fiel…

6.
Ebenso erstaunlich, dass Boehm den Staat Israel und die westlichen Demokratien dadurch gekennzeichnet sieht, „dass sie für immer auf der gewaltsamen Unterdrückung anderer gegründet“ sind.(S. 152). Noch deutlicher auf Seite 153: Israel könne beides sein, ein Staat der Holocaust – Überlebenden und ein kolonialistischer Apartheidsstaat. Israel kann dieses beides nicht nur sein, sondern, so fügt Boehm wörtlich hinzu: „Ist es auch“ (S. 153).

7.
Mit dieser Kritik will Omri Boehm überhaupt nicht einen Antisemitismus fördern. Und auch ein deutscher Journalist, der Böhms Aussagen und Urteile dokumentiert, ist kein Antisemit, sondern wie Boehm ein Kritiker der von rechtsextremem Denken bestimmten gegenwärtigen Politik Israels! Diese Politik ist ein heftiger und für Humanisten und Philosophen unerträglicher Widerspruch gegen die vernünftige Politik, die den „radikalen UNIVERSALISMUS“, „Jenseits von Identität“ lebt. Zum Buch „Radikaler Universalismus“ der Hinweis des “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin” ,veröffentlicht am 30.9.2022: LINK.

8.
Omri Boehm will nur für Klarheit sorgen über die gegenwärtigen Zustände in Israel und Palästina; er denkt und argumentiert zugunsten eines besseren, eines gerechten Israel für Juden wie auch selbstverständlich für Araber.

9.
Unser herzlicher Glückwunsch zum Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung für Omri Boehm.

10.

Zur “weiten Herkunft” (und damit der universalen “Verbreitung” dieser Erkenntnis, also des universell gültigen Prinzips der selben Menschenwürde für alle Menschen. Nur ein Beispiel: Marc Aurel (121 – 180 n.Chr.) sagt in seinen “Selbstbetrachtungen”: „Ich habe klar erkannt, dass der Mensch, der gegen mich fehlt, in Wirklichkeit mir verwandt ist, nicht weil wir von demselben Blut oder derselben Abkunft wären, sondern wir haben gleichen Anteil an der Vernunft, der göttlichen Bestimmung.“ (Seite 22 in Reclam, „Marc Aurel, Selbstbetrachtungen 2001). Und auch: „Jedes vernünftige Wesen ist mit mir verwandt“, (ebd. S. 34, 3. Buch)
………..

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Kafkas paradoxe Weisheiten.

Hinweise auf einige Aphorismen Franz Kafkas.
Von Christian Modehn am 4.3.2024

Ein Vorwort:
Franz Kafka hat auch seine Tagebuchnotizen und Briefe als wichtige. literarische Arbeiten verstanden, keineswegs nur als „Beiläufiges“, „Sekundäres“. Seine Aphorismen erscheinen wie Lehrsätze, die sich auch auf vorgegebene Weisungen, Normen, Gebote, Konventionen beziehen. Kafkas Aphorismen, die 1917 in Zürau in Oktavheften geschriebenen, wirken eher wie Kommentare, betont der Germanist Peter – André Alt. Es sind Hinweise zur Lebensgestaltung. Sie führen aber nicht in allseitige Klarheit und Durchsichtigkeit. Die Aphorismen überschreiten logische Argumente, sie leben vom Widerspruch zu alltäglichen Selbstverständlichkeiten. „Kafka hatte einen Widerwillen gegen analytische Abstraktion“, schreibt Alt (S. 82), er lehnte abstrakt argumentierende Philosophien mit ihren „klaren Antworten“ ab. Es geht ihm bei den Lebensfragen (als Hintergrund der Aphorismen) nur darum, den geistigen, auch den religiösen Horizont zu öffnen, in dem eventuell Ansätze von Antworten auf diese Lebensfragen wenigstens ahnbar werden.
Kafka hat keine Vorliebe zur Philosophie entwickelt, hingegen ist sein Interesse am Werk des Philosophen Kierkegaard durchaus bemerkenswert… weil Kierkegaard auch das literarische Erzählen hochschätzt.

Die folgenden Aphorismen wurden dem Buch „Franz Kafka. Betrachtungen über Leben, Kunst und Glauben“ entnommen. Das Buch erschien 2007 im DTV Verlag, es enthält ein Nachwort von Peter – André Alt. Die Seitenangaben zu den jeweiligen Aphorismen beziehen sich auf dieses Buch.

Die hier ausgewählten Aphorismen wurden wegen ihrer Prägnanz und Kürze ausgewählt, vor allem aber, weil sie unmittelbar ins Philosophieren führen. Eigentlich stehen die Aphorismen für sich selbst. Hier wird der Versuch gemacht, kurze, subjektive Hinweise der Interpretation vorzuschlagen.Diese Hinweise können anregen, sich weiter in diese und andere Aphorismen Kafkas zu vertiefen … und andere Interpretationen zu formulieren.

Die Literaturwissenschaftlerin Margarete Kohlenbach hat in ihrem Buch “Franz Kafka in Zürau. 1917-1918” (Transit Verlag, Berlin, 2023) die meisten der dort geschriebenen Aphorismen Kafkas ausfürlich auf  252 Seiten untersucht und sie auf das Leben (und Leiden) Kafkas (dort) bezogen.

Unser Vorschlag zur Lektüre einiger weniger, kurzer offenbar auch “philosophischer” Aphorismen Kafkas ist wesentlich bescheidener, unser Vorschlag will die LeserInnen zu eigener Lektüre und eigener Interpretation ermuntern. Dazu muss man kein Kafka – Spezialist sein. “Die Texte Kafkas verändern unaufhörlich ihren Klang und ihre Farbe”, schreibt der Literaturkritiker Gregor Dotzauer im “Tagesspiegel”( 11.1. 2024, Seite 24).

1.
„Wer sucht, findet nicht. Wer nicht sucht, wird gefunden.“
(Oktavhefte 13. Dezember 1917). S 55.

Wer dem Sinn dieses Satzes folgt, erkennt: Also muss es doch einen Suchenden geben, der dann denjenigen findet, der eben nicht sucht. Ein Widerspruch, mindestens dann, wenn man die Aussage Kafkas auf den menschlichen Bereich bezieht. Das Suchen hier kann man aber als Suchen nach Sinn, nach „Gott“ verstehen. Dann aber sollte man – nach Kafka – aber gerade nicht Gott aktiv suchen. Man sollte stille sein, nichts tun, nichts suchen: Dann wird man gefunden, von Gott, von dem tragenden Lebens-Sinn.

2.
“Man darf niemanden betrügen. Auch nicht die Welt um ihren Sieg.“
(Oktavhefte 8. Dezember 1917). S. 54.

Ein Satz, der an Immanuel Kant erinnert, an dessen absolute Zurückweisung von Lüge und Betrug. Wenn man sich im Sinne Kafkas an diese Maxime (Kants) hält, dann muss man hinnehmen und ertragen, dass „die Welt“ siegen wird. Was ist hier die Welt? Offenbar alles Irdische, alles Ideologische, das Welt, “gegenüber” zu Gott,  diesen „Gott“ ausschließt oder auch einen transzendenten Lebens – Sinn. Wer also niemals jemanden betrügen will, muss die Herrschaft der Welt als dem Nicht – Göttlichen in Kauf nehmen. Sollten wir vielleicht doch etwas betrügen, lügen, damit die Welt gerade nicht siegt? Kant würde nicht zustimmen!

3.
„Wahrheit bringt keine Erfolge. Wahrheit zerstört nur das Zerstörte.“
(An Robert Klopstock, Juni 1922.) S. 57.

Wer sich bemüht, in einer Welt voller Lügen und Verlogenheiten die Wahrheit zu sagen und Wahrheit zu leben und zu tun, wird keinen Erfolg haben mit seiner Haltung, meint Kafka. Die Wahrheit wird sich nicht durchsetzen. Das Engagement zugunsten der Wahrheit kann nur das zerstören und beseitigen, was ohnehin schon zerstört ist und als kaputt und wertlos gilt. „Wahrheit zerstört das Zerstörbare“ ist heute angesichts der Kriege, der Rechtsradikalen Macht und Verbrechen, der Allgegenwart von Lügen etc… eine ziemlich optimistische Überzeugung Kafkas.

4.
Erkenntnis haben wir. Wer sich besonders um sie bemüht, ist verdächtig, sich gegen sie zu bemühen.“
(Oktavhefte 25. Januar 1918). S. 56.

Wissenschaftler, Philosophen, Theologen fallen bei Herrschenden in Ungnade, werden verfolgt, getötet, von jenen, die Macht haben. Wer neue Erkenntnisse mitteilt, stört diese etablierte, alte und selbstverständlich gewordene Erkenntnis und Wahrheit. Solche Störenfriede gilt es auszuschalten, indem man sie „verdächtigt“ eigentlich gar keine weiterführende Erkenntnis zu lehren.

5.
„Wer glaubt, kann keine Wunder erleben. Bei Tag sieht man keine Sterne.“
(Oktavhefte 22.November 1917.) S. 64.

Wer religiös glaubt, lebt förmlich wie selbstverständlich in einer transzendenten Geborgenheit, lebt gleichsam auf sicherem Boden und in einem hoffnungsvollen Horizont. Ein solcher Glaubender braucht keine einzelnen Wunder. Denn das größte Wunder ist für ihn bereits dieser sein Glaube. Darum Kafkas Ergänzung: Wer im hellen Licht lebt, braucht nicht die wunderbaren Sterne, die nur nachts zu sehen sind.Wer glaubt ist im Licht, er braucht keine wunderbaren Sterne.

6.
Und ähnlich ist auch dieser Aphorismus: 
„Wer Wunder tut, sagt: Ich kann die Erde nicht lassen“
(Oktavhefte 21. November 1917.) S. 54.

Wer Außergewöhnliches, Wunderbares leistet, will die Erde, das Leben auf Erden, pflegen und fördern, er „kann die Erde nicht lassen“, er kann sie nicht loslassen, zugunsten einer transzendierenden, über die Welt hinausgehenden und die Welt „überwindenden“ Lebenseinstellung.

7.
„Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: An das Unzerstörbare in sich glauben und nicht zu ihm streben.“
(Oktavhefte 19. Dez. 1917,) S. 24.

Haben wir das Unzerstörbare in uns entdeckt, auf das Kafka aufmerksam macht? Unzerstörbar als dauernd bleibend kann nur Ewiges in uns sein. Wer oder was ist der Ewige? Religiöse Menschen nennen ihn Gott. Gott lebt als das Unzerstörbare in uns. Aber, und das ist Kafkas Rat: Streben wir nicht nach ihm. Werden wir nicht zu Aktivisten der Gott – Suche. Gott ist doch schon unzerstörbar in uns. Das ist „vollkommene Glückseligkeit“.

8.
„Du kannst dich zurückhalten von den Leiden der Welt, das ist dir freigestellt und entspricht deiner Natur. Aber vielleicht ist gerade dieses Zurückhalten das einzige Leid, das du vermeiden könntest.“
(Oktavhefte 22. Februar 1918). S. 24.

Wer sich aus den politischen Konflikten, Krisen und Kriegen und damit aus allem Leiden der anderen Menschen fein narzisstisch raushält, der „entspricht“ durchaus seiner nun einmal egoistischen „Natur“. Aber dieser egoistische Rückzug, dieses Ignorieren des Leidens und der Leidenden der Welt, bereitet dem Egoisten dann doch seelisches Leiden. Falls er noch ein Gewissen hat, möchte man ergänzen.

9.
Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg. Was wir Weg nennen, ist Zögern“ .
(Zit. S. 81.)

Eine Erkenntnis Kafkas, die wie ein Motto für viele Politiker damals und heute vor allem gilt: Sie gehen nicht den Weg zum Ziel, etwa zum Frieden, zur universellen Gerechtigkeit, sie stehen bloß irritiert herum, reden viel und „zögern“ nur. Und sie nennen dieses Zögern dann noch ihren politischen „Weg.“

10.
„Geständnis und Lüge ist das Gleiche“.
Verfasst Ende 1920. (zit. S. 91.)

Es gibt in totalitären Regimen ständig die Praxis, die zu Unrecht Verurteilten, also die politischen oder religiösen Feinde, zu einem Geständnis zu zwingen, meist durch grausamste Folter. Die Prozesse in Moskau zu Stalins Zeiten in Berlin im Nazi-Regime oder die Slansky – Prozesse in Prag (1952) oder die „Gerichte“ der katholischen Inquisition sind treffende Beispiele für diese „Geständnisse“ eigener Fehler, diese Geständnisse sind de facto, der Wahrheit folgend, nichts als Lügen. Diese „Lügner“ haben auch nach ihrem Geständnis keine Überlebenschance im totalitären System. Die Romane Kafkas, etwa „Der Prozess“, zeigen in dem Protagonisten Josef K. den „unschuldigen Schuldigen“, auch Josef K. wird trotz Unschuld aufgefordert, „doch bei nächster Gelegenheit das Geständnis zu machen“.

11.
Wenn das, was im Paradies zerstört worden sein soll, zerstörbar war, dann war es nicht entscheidend. War es aber unzerstörbar, dann leben wir in einem falschen Glauben“
(Oktavhefte, 30. Dezember 1917, S. 87.)

Ein Satz der die göttliche Schöpfung von Welt und Menschen (Adam und Eva) meint. Was wurde im Paradies von wem zerstört? Die Menschen zerstörten ihre gehorsame Bindung an Gott und wurden von ihm aus dem Paradies vertrieben. Diese Haltung des Ungehorsams kann durchaus als etwas Zerstörbares, also zu Überwindendes angesehen werden. Dann ist der Ungehorsam nicht wesentlich. Wenn aber diese gehorsame Bindung an Gott als etwas Unzerstörbares, also als Absolutes und selbst schon Göttliches angesehen wird? Dann können wir diese gehorsame Überzeugung nicht akzeptieren, dann “leben wir in einem falschen Glauben”: Wer also Gehorsam absolut setzt, führt in einen „falschen Glauben“…Da hat Kafka – auch aktuell – recht.

Siehe auch Kafka und Kant LINK

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de