Fromm und rechtsextrem in Deutschand: Eine Buchempfehlung

Fromm und rechtsextrem: Eine Herausforderung für Philosophie und Theologie

Eine Buchempfehlung von Christian Modehn

Wer an den Gott der Bibel glaubt, ist gleichsam immun gegen rassistische Hetze und menschenfeindliche Propaganda; denn Brüderlichkeit und Gleichheit aller Menschen gehören zum Kernbestand des Bekenntnisses. Diese Überzeugung wird immer wieder verbreitet, aber hatte auch früher schon, etwa in der Nazi-Zeit, keine umfassende Gültigkeit. Tatsache ist: Auch heute folgen selbst praktizierende Christen rechtsextremen Parolen. Darauf weisen jetzt 21 Soziologen, Politologen und Theologen hin. Sie legen unter dem Titel „Rechtsextremismus – eine Herausforderung für die Theologie“ ein Buch vor, das eindeutig zeigt: Rechtsextreme tummeln sich nicht nur am Rande der Gesellschaft in militanten Gruppen oder in rechtslastigen, populistischen Parteien. Die Feinde von Demokratie und Menschenrechten sind auch in der Mitte der Gesellschaft, auch in Kirchen und Gemeinden zu finden.

Das Wort rechtsextrem beschreibt keineswegs nur die mörderischen Aktivitäten der kleinen Clique der NSU-Verbrecher. Rechtsextremismus ist überall anzutreffen, wo man von Rassen spricht und eine Rasse für minderwertiger als die andere hält und dabei die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Menschen bekämpft. Mit dieser Ideologie soll der demokratische Verfassungsstaat überwunden werden. Diese Propaganda wird auf europäischer Ebene in weiten Kreisen der Partei „Front National“ in Frankreich verbreitet oder in der Freiheitspartei „PVV“ in den Niederlanden. Beide Organisationen rühmen sich, dass praktizierende Katholiken zu den Stammwählern gehören: Bei den französischen Départementswahlen 2015 war etwa jeder fünfte Wähler des Front National ein engagierter Katholik. In Deutschland sind rechtsextreme Tendenzen unter frommen Christen eher in gut vernetzten kirchlichen Vereinigungen zu beobachten: Darauf weisen die 21 Autorinnen und Autoren der Studie zum Rechtsextremismus hin. Die Soziologin Elke Pieck zeigt, dass der evangelikale Dachverband „Deutsche Evangelische Allianz“ immer wieder in seinen Medien Berichte aus äußerst rechtslastigen Medien übernimmt, wie der Wochenzeitung „Junge Freiheit“. Auch mit islamfeindlichen Weblogs arbeitet diese konservativen Christen zusammen. So behauptet die „Deutsche Evangelische Allianz“, Muslime bemühten sich, die staatlichen Organe in Deutschland zu unterwandern. Die Soziologin Elke Pieck kommentiert: Angesichts dieser irrationalen Thesen könnten „Christen ins rechte und rechtsextreme Lager rutschen, das dann als Fortsetzung der eigenen christlichen Bindung erscheint“. Die Deutsche Evangelische Allianz ist in mehr als 1000 Gruppen organisiert und mit 350 Organisationen verbunden.

Für den katholischen Bereich berichtet der Theologie Professor Rainer Bucher aus Graz, dass nicht nur im österreichischen Katholizismus rechtsextremes Denken, etwa in der Partei FPÖ, weit verbreitet ist. Es gebe in ganz Europa einen spezifisch rechten katholischen Sektor, der, so wörtlich, „mit politisch reaktionären bis autoritären Positionen flirtet“. Ausdrücklich wird auf den Dachverband konservativer Gläubiger hingewiesen, der als „Forum Deutscher Katholiken“ immer wieder internationale Konferenzen organisiert. Hauptfocus ist dabei der Kampf gegen die rechtliche Gleichstellung homosexueller Menschen. Eine der Chefideologinnen des konservativen Katholikenforum ist die Soziologin Gabriele Kuby: Sie nimmt an internationalen Konferenzen teil, wie kürzlich in Moskau, wo sich Rechstextreme aller Couleur treffen, um ihren Hass auf die Homoehe gemeinsam zu artikulieren. Weitere extrem rechtslastige Positionen formulieren Christen aller Konfessionen heute mit der Parole „Gegen die Islamisierung des Abendlandes“.

Die Soziologen Oliver Decker und Johannes Kiess betonen, wie der Hass auf „den“ Islam sich machtvoll als eine eigene Form des „Religionsersatzes“ artikuliert.

Die Kirchen, ihre Gemeinden und die Theologen, so das Resumée, müssen sich vermehrt politischer und religionswissenschaftlicher Aufklärung widmen. Sie sollten die Empathie, das Mitfühlen lehren, um den anderen, den fremden und vielleicht auch befremdlichen Menschen schätzen und lieben zu können. Der einstige DDR Bürgerrechtler und heutige Leipziger Pfarrer Stephan Bickhardt betont: „Ich habe Angst vor einem Rechtsruck der Bundesrepublik. Ein Erosionsprozess der Demokratie hat begonnen“.

Mit besonderer Empfehlung weisen wir auf den Beitrag von Yasemin Shooman (Berlin) hin über “Das Zusammenspiel von Kultur, Religion, Ethnizität und Geschlecht im antimuslimischen Rassismus” (Seite 196-222) sowie auf den wichtigen Beitrag: “Homophobie und gruppenbezogener Menschenhass” (S. 223-244), dort wird deutlich, wie fundemantalistische Kirchen (aus den USA) etwa die Menschen in Afrika aufhetzen, “missionierend”, gegen homosexuelle Menschen. Der Hass auf Homosexuelle in etlichen Staaten Ostafrikas ist auch ein Produkt europäisch-amerikanischen Missionierungs-Wahns.

Sonja Angelika Strube (Hg.), Rechtsextremismus als Herausforderung für die Theologie. Herder Verlag Freiburg, 2014, 317 Seiten, 24,99 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Emil Cioran zum 20. Todestag: Viel Nichts und keine Hoffnung

Viel Nichts und keine Hoffnung: Emil Cioran und die Religionen

Ein Hinweis von Christian Modehn

Gedenktage haben manchmal auch etwas Zwanghaftes. Gelegentlich glaubt man, das Feuilleton und der „Kulturbetrieb“ (Adorno) könnten fast nur noch bestehen angesichts der ständigen 100. oder 75. Geburtstage und Todestage „prominenter“ Leute. Große Jubiläen, wie etwa das Luther-Jahr 2017, werden viele Jahre lang bereits vor-gefeiert, vor-gedacht. Aber wird dann wirklich Neues gedacht? Und führt das Gedenken zu einem neuen Handeln, das über alles historisch „Bedachte“ natürlich hinausführen muss?

Nun erinnern sich vielleicht einige LeserInnen am 20. Juni an den 20. Todestag des Autors, Philosophen und Essaisten EMIL CIORAN (geboren 1911). Wer liest noch seine Texte? Wer diskutiert seine Thesen zum Thema Verzweiflung, Tod, Suizid? Das „Metzler Philosophen Lexikon“ von 2003 enthält keinen Artikel zu Cioran. Auch das Kleine Lexikon der Religionskritik (Herder, 1979) erwähnte ihn schon (zu Lebzeiten!) nicht. Ob sich jetzt auch die Theologen mit Ciorans Texten befassen, mit seinem Werk, das er seit seinem „Exil“ und später der neuen „Heimat“ in Paris (ab 1937, mit gelegentlichen Reisen noch nach Rumänien) fast ganz auf Französisch verfasste? Das voller Provokationen steckt für alle, die meinen zu glauben? Hat man wahrgenommen, dass da im 20. Jahrhundert ein Autor lebte, der sich selbst „Manichäer“ nannte, also einen Denker, der von einem bösen Gott und einer bösen Schöpfung überzeugt war?

Was hat er heute zu sagen, dieser radikale Pessimist, der sich nach dem Nichts und der absoluten Leere sehnte? Ist es vielleicht eine versteckte Form der Mystik, die auch er hoch schätzte und die ihn am Leben hielt? Ist also „Cioran der Mystiker als der Verzweifelte“ neu zu entdecken?

Dass er es seinen Lesern zudem nicht leicht macht in seiner Art, eher aphoristisch zu argumentieren, ist bekannt; zumal bei seinen „Positionswechseln“ und dem „Wiederverwerfen eben erst festgehaltener Gedanken“. Strenge Fixierungen seiner Äußerungen sind oft schwierig, wenn sie denn nicht von Cioran selbst verhindert werden (so Franz Winter in „Emil Cioran und die Religionen“, S. 23, die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch). Und das zentrale Thema Ciorans, mit den Begriffen Pessimismus, Verzweiflung, Nichts und Leere umschrieben, verlangt von den LeserInnen auch eine eigene Art von Anstrengung, wenn nicht Mut.

Denn sein Denken ist außergewöhnlich, einseitig, extrem.

Und auch sein politisches Engagement wirft immer noch gewichtige Fragen auf.

Die meisten seiner Texte liegen auch in deutscher Sprache vor, und die gründliche Cioran-Forschung bringt immer wieder wichtige Impulse. So hat etwa kürzlich der Berliner Philosoph Dr. Jürgen Große eine umfangreiche Studie vorgelegt: „Erlaubte Zweifel, Cioran und die Philosophie“.319 Seiten, Verlag: Duncker & Humblot, 2014.

Wir hoffen, auf diese umfangreiche Arbeit später einmal zurückkommen zu können.

Viele Hinweise speziell zum religionsphilosophischen Denken Ciorans bietet immer noch die oben schon erwähnte Studie des bekannten Wiener Religionswissenschaftlers Franz Winter „Emil Cioran und die Religionen. Eine interkulturelle Perspektive“ (Nordhausen 2007). Franz Winter zeigt genau, welche Bedeutung das Christentums, der Buddhismus und die Gnosis im Denken Ciorans haben. Dabei bietet Franz Winter in großen Linien auch Elemente zu einer Biographie, er zeigt ausführlich, dass Cioran durchaus auch politisch „sehr dunkle“ Seiten hat: Als junger Mensch in Rumänien und später dann bei Aufenthalten u.a. in Berlin (1933-1935) hat er explizit und nicht ohne Enthusiasmus faschistische Ideen hoch geschätzt. Aber, so betont Winter, „fest steht, dass Cioran (seit seinem Buch „Die Lehre vom Zerfall“ , ins Deutsche übersetzt von Paul Celan!, in Paris 1949 erschienen) seinen =Jugendwahn= zutiefst bereute, dass er sich aber davon viel später löste, als immer behauptet wird… Aber die Diskussion (über die faschistischen Verstrickungen Ciorans) sind noch lange nicht beendet“ (S. 57). Auch seine „Cahiers“, seine Tagebücher, sprechen da eine deutliche Sprache (S. 53). Die Skepsis als die alles entscheidende Dimension des späteren, also in der neuen Pariser Heimat einsetzenden Denkens, bewahrte Cioran davor, weiterhin mit Ansprüchen des Totalitarismus zu sympathisieren. Wenn auch die Frage nach einer möglichen „Vergiftung“ seines Denkens (durch den einst hoch gelobten Faschismus) offen bleibt. Ciorans selbst oft von ihm selbst beschriebenes Gefühl der Abscheu vor dem Leben, dem menschlichen Leben, das Angewidertsein vom Anblick der Menschen oder der Liebe: das sind ja bekanntermaßen Haltungen, die im Nazi-Faschismus und bei Mussolini eine zentrale Bedeutung hatten…Und zu fragen wäre, wie der Polytheismus, den Cioran so nachdrücklich verteidigt (etwa in „Die neuen Götter“, in „Die verfehlte Schöpfung“, Frankfurt 1979, S. 21 ff). nicht auch einer zentralen Lehre der faschistischen Ideologie entspringt: Bekanntlich warf Hitler den Juden als Grundübel vor, wegen ihres Monotheismus auch die Menschenrechte zu verteidigen. Faschismus und Polytheismus gehören zweifellos tendenziell zusammen. Geradezu hymnisch und manchmal peinlich wegen historischer Ungenauigkeiten preist Cioran in dem genannten Essay, der 1979 in Paris veröffentlicht wurde, die Liberalität und Großzügigkeit heidnisch- polytheistischer (Kaiser)-Kulte im alten Rom… bis hin zur dem Urteil: „Der einzige Gott macht das Leben unausstehlich“ (S. 27). Oder, eine heute in vielen Varianten wiederholte Formel: „Der Monotheismus enthält alle Formen der Tyrannei im Keim“ (S. 30). So behauptet denn Cioran weiter, das Heidentum sei „an seiner Großmut, an seinem übertrieben großen Verständnis (für das Christentum, CM) zugrunde gegangen…“ (S. 28). Da entsteht dann im Blick auf die Stringenz des Denkens Corans die Frage: Wie kann er dann als ein Feind des Monotheismus immerhin die noch aus dem monotheistischen Christentum stammende Mystik hochschätzen?

Wie also hielt es Cioran unter diesen Umständen – seit seiner Pariser Zeit – mit dem Christentum? Als Sohn eines orthodoxen Priesters kannte er natürlich auch christliche Lehren. Aber Emile Cioran sagt immer wieder klar und deutlich: Nicht glauben zu können…weil er die Gabe des Glaubens nicht besitzt.

Am Christentum stört ihn am meisten die Hochschätzung des Leidens, darin Nietzsche folgend, während er, anders als Nietzsche, sogar Jesus verurteilt: „Hätte er uns bloß in Ruhe gelassen…“(vgl. S. 62)… Andererseits betont Cioran, betont, dass nur im erlebten Leiden überhaupt Kreativität entstehen kann, also ohne Leiden kein geistvolles Dasein möglich ist, so etwa, wenn er seine andauernde leidevolles Schlaflosigkeit als die eigentliche Antriebskraft seines Denkens deutet (S. 33in Winters Buch). Aber das sind eher typische Argumentationsmuster, die bei ihm oft parallel (d.h. unvermittelt) laufen.

Bei aller Ablehnung der christlichen Religion (als Institution) gibt es eine gewisse Sympathie für die christliche Mystik. Da entdeckt Franz Winter „einen der interessantesten Züge des Werkes Ciorans“ (67). Denn die Mystiker (etwa Theresa von Avila) lassen dem eigenen, subjektiven Erleben völlig freien Lauf; sie verachten das System, auch das religiöse System. Sie sprengen die Begrifflichkeiten, treten in ihrem Erleben aus der Zeit heraus, sie wollen dem Denkenmüssen ( das nun einmal den Menschen auszeichnet) entfliehen (75)

Interessant sind die Hinweise, dass Cioran, angesichts der ihm eigenen „Urgewalt des Zweifels“, in der Musik von Johann Sebastian Bach (S. 45) eine religiöse Dimension stark empfinden konnte.

Cioran hat sich häufig auch positiv über „den Buddhismus“ oder das asiatische religiöse Denken geäußert. Er entdeckte in den Grundstrukturen dieses Denkens Parallelen zu eigenen Auffassungen, vor allem in der Hochschätzung des Nichts oder mehr noch der Leere als dem Ziel eines dann doch noch erstrebenswerten Lebens.

Manche Äußerungen Ciorans sind unseres Erachtens philosophisch schwer nachvollziehbar, etwa wenn er meint, die Sinnlosigkeit des Daseins und der Welt mit diesen Hinweisen zu begründen: “Wenn die Welt einen Sinn gehabt hätte, so wäre er offenbar geworden. Und wir hätten ihn längst erfahren“ (in „Auf den Gipfeln der Verzweiflung, ein Buch, das Cioran selbst als das philosophischste seiner Bücher betrachtete, S. 33). Warum soll denn, so wäre zu fragen, der Sinn sich sozusagen knallhart offenbaren? Wie sollte das gehen, als Wunder, als Belehrung? Ist da nicht viel zu objektivistisch vom Sinn gedacht?

Es stört auch eine gewisse Arroganz des leidenden Nihilisten, etwa wenn er den Schriftsteller und Philosophen Albert Camus „an Bildung einen Provinzler“ nennt, der angeblich nur die französische Literatur kennt….bloß weil Camus Ciorans Buch „Die Lehre vom Zerfall“ nicht loben wollte?

Auch zum Buddhismus formuliert Cioran kritische Vorbehalte: Er meint, Leute aus Europa könnten gar nicht Buddha verstehen und buddhistisch hierzulande leben. Interessant und zur weiteren Diskussion geeignet sind die Hinweise von Franz Winter zur „praktischen Unlebbarkeit der skeptischen Methode“, wie sie Cioran selbst sah. „Nichtsdestotrotz fühlt er sich in geradezu masochistischer Weise dieser (skeptischen) Denkform verpflichtet: Er schreibt in den =Syllogismen=: Die Skepsis, die nicht zur Zerrüttung unserer Gesundheit beiträgt, ist nur ein intellektuelles Exerzitium“ (S. 122).

Wie weit entfernt sich eine solche Position von einem Verständnis von Philosophie, die sich auch klassisch als weisheitliche Orientierung (sophia) versteht, (siehe etwa die selbst von Cioran – für ihn wieder einmal widersprüchlich? – gelobte STOA) ?

Emile Cioran hat mit aller Energie trotz aller permanenter und oft behaupteter Schlaflosigkeit versucht, sein eigenes und einzelnes und vielleicht darin einmaliges Dasein auszusprechen. Das macht seine Philosophie interessant, weil sich einmal mehr zeigt, dass Philosophieren auch als Form der Schriftstellerei eine Alternative ist zur akademischen Universitätsphilosophie. In Ciorans Werk sehen wir die Erschütterungen, ja wohl auch Verwirrungen eines leidenden Menschen, der stets erlebt: Alles, was entsteht, muss sterben. Also verschwinden. Und, wie Cioran meint, hoffentlich verschwinden. Denn diese Welt, so glaubt der Manichäer Cioran, ist eine böse Welt, geschaffen von einem bösen Gott. Darüber muss man diskutieren. Warum nicht auch in der Absicht, ob eine solche Position fürs Leben Orientierung oder gar Hilfe bietet, falls man denn überhaupt noch Orientierung und Hilfe von Cioran wünscht. In der tiefen Krise unserer Welt, bei dem Terror, dem Abschlachten aus religiösen wie machtpolitischen Gründen usw. kann dieses Denken wohl keine Auswege zeigen. Aber wollte Cioran Auswege zeigen? Wer diese Frage mit Nein beantwortet, weiß: Cioran bleibt dauerhaft verstörend und störend, und er lässt den Leser hilflos zurück. Wollte das vielleicht gar Cioran? War er vielleicht ein unbescheidener Missionar des nichtigen Nihilismus?

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

“Pflichtlektüre” zu Oscar Romero: „Die Linken kämpfen, um die soziale Ungerechtigkeit zu beseitigen“

“Pflichtlektüre” zu Oscar Romero:  „Die Linken kämpfen, um die soziale Ungerechtigkeit zu beseitigen“

Eine Buchempfehlung von Christian Modehn

Der katholische Erzbischof Oscar Romero (San Salvador) wird nun endlich auch von der römischen Kirche öffentlich geehrt und öffentlich als Vorbild empfohlen. Er wurde von reaktionären Katholiken (Todesschwadronen) ermordet. Im Vatikan heißt es seit Februar 2015 eindeutig, Romero wurde „aus Hass auf den (also auf seinen) Glauben“ ermordet, den Glauben eben an die Universalität der Menschenrechte und der befreienden Botschaft des Evangeliums. Das war der Glaube Romeros! (Zum Thema “Oscar Romero und das Opus Dei” klicken Sie bitte hier)

Am Samstag, den 23. Mai 2015, findet in der Hauptstadt des zentralamerikanischen Staates El Salvador die offizielle „Seligsprechung“ des von so vielen Lateinamerikanern (und vielen anderen auch außerhalb der römischen Kirche) verehrten Befreiungstheologen statt.

Der Religionsphilosophische Salon Berlin verteidigt die universalen Menschenrechte und auch auf die bleibende Aktualität der Befreiungstheologie. Denn sie ist ein qualitativ neue, andere Art, von Gott zu sprechen, deswegen ist sie auch philosophisch hoch interessant!

Nun ist dieser Tage die große Biographie zu Oscar Romero neu erneut publiziert worden, verfasst von dem us-amerikanischen Jesuiten James R. Brockman. Er hat dieses Buch mit dem Titel „Oscar Romero“ schon 1989 in den USA, in dem berühmten, dem hervorragenden Verlag Orbis Books, Maryknoll, veröffentlicht.

Die Neuausgabe der deutschen Übersetzung erschiennun – unser Dank ! – im Verlag TOPOS Premium, es hat 448 Seiten und kostet 26,95 EURO.

Dieses Buch ist für alle, die Oscar Romero und sein Werk verstehen wollen, eine Art Pflichtlektüre, auch wenn die Darstellung eben schon 1989 endet, also etwa die Phase der vom Vatikan betriebenen Zerstörung einiger Werke von Erzbischof Romero durch seinen späteren Nachfolger, den spanischen Opus Dei Bischof Saenz Lacalle, nicht mehr erwähnt werden kann. „Die Kirche ist in El Salvador unpolitisch“ war Saenz Lacalles Motto…

Der Vorteil der neuen Ausgabe des großen Buches von James R. Brockman ist, dass einer der entscheidenden Berater Oscar Romeros, der Jesuit und weltbekannte Theologe Jon Sobrino, ein kurzes Geleitwort geschrieben hat, vielleicht zu knapp nach unserer Meinung. Pater Sobrino erwähnt auch die Gegner Romeros im Vatikan, etwa, so wörtlich die „Grobheit“ des reaktionären Kardinals Lopez Trujillo, der die Seligsprechung Romeros Jahre lang unterbinden konnte, wie jetzt im Vatikan – ohne Schuldbekenntnis – zugegeben werden muss. Dass die Clique um einen einzelnen Herrn, Kardinal, so viel Macht hat, wäre mal eine eigene kirchenkritische Erörterung wert…

Wichtig bleibt als Leitlinie ein kurzes Zitat aus einer Predigt Oscar Romeros am 9. März 1980, also wenige Tage vor seiner Ermordung durch die rechtsextremen, von den USA mit ausgebildeten und finanzierten Todesschwadronen:
Romero sagte, so zitiert Brockman auf Seite 379:
„Wir übersehen auch nicht die Sünden der Linken (also den massiven, gewaltsamen Widerstand, CM). Aber sie stehen in keinem Verhältnis zur Gesamtmenge der repressiven Gewalt. Die Taten der politisch-militärischen Gruppen der Linken erklären die Unterdrückung nicht!… Die Morde der paramilitärischen Truppen sind Teil eines umfassenden Programms zur Vernichtung der Linken, die von sich aus keine Gewalt ausüben und fördern würden, wäre es nicht der sozialen Ungerechtigkeit wegen, die sie beseitigen möchten“.

Diese grundlegende Überzeugung Erzbischof Romeros hat im Vatikan und in führenden Kirchenkreisen damals kaum jemand verstanden, im Gegenteil…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

Bei der Endlichkeit stehen geblieben. Hinweise zum Philosophen Odo Marquard

Bei der Endlichkeit stehen geblieben. Hinweise zum Philosophen Odo Marquard

Von Christian Modehn

Sein Tod hat die breite Öffentlichkeit kaum berührt. So ist es heute in Deutschland, wenn Philosophen sterben, selbst wenn sie sich in ihren Essais um allgemeine „Erreichbarkeit“ ihrer Argumente bemühten, also durchaus eine gewisse „Öffentlichkeit“ bedienen wollten. Odo Marquard hat die meisten seiner Texte, durchaus bezeichnend für ihn, im (populären) Reclam-Verlag Stuttgart (in den griffigen gelben Heften zu erschwinglichen Preisen) publiziert. Er wollte wohl heraustreten aus dem Elfenbeinturm, in dem sich so viele Philosophieprofessoren in Deutschland heute verstecken und ihre Bücher eher für Fachkollegen als für kulturell Interessierte, Philosophierende, schreiben. Marquard wollte kein philosophisches Getto. So wurde er direkt oder indirekt inspirierend bei der Einrichtung philosophischer Praxen und philosophischer Salons, also jener Orte, in denen das philosophisches Denken, eben das elementare Philosophieren, belebt wird. Es ist sicher bezeichnend, dass Gerd B. Achenbach, der Gründer der ersten philosophischen Praxis in Deutschland (1982 gegründet!), bei Odo Marquard in Gießen promoviert wurde. Und es ist weiter bezeichnend, dass man Marquards zahlreiche Essais („Ende des Schicksals“, „Philosophie des Stattdessen“, „Zukunft und Herkunft“, um nur einige zu nennen) mit der nötigen Konzentriertheit, aber doch eben als bloß Philosophierender noch mühelos lesen konnte, eben weil sie in jede Jackentasche passten, auf Reisen, in Wartesälen, auf Parkbänken…Dabei waren seine Gedanken alles andere als „leichte Kost“, schon gar nicht philosophisches fast food, auch wenn Marquard oft locker und ironisch, manchmal gar an der Grenze des Albernen formulierte: Er war alles andere als ein „Populärphilosoph“, auch wenn er, wie gesagt, nachvollziehbar schreiben konnte und schreiben wollte. Am 9. Mai ist der vielfach ausgezeichnete „Transzendentalbelletrist“, wie er sich selbst nannte, im Alter von 87 Jahren gestorben: Odo Marquards hat immer Wert darauf gelegt, Schüler des Philosophen Joachim Ritter zu sein, tausend mal hat er davon gesprochen, um immer nur klarzumachen, dass er einem konservativen Denken verpflichtet sei und deswegen nichts von den Veränderern, den linken „Revoluzzern“ schon gar nichts, halte. Seine ironisch formulierte Polemik gegen den Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas war heftig (und falsch in unserem Sinne). Marquard selbst publizierte eine „Apologie der Bürgerlichkeit“, das war wohl für ihn eine Variante einer bei ihm konservativ verstandenen Skepsis.

Ich habe etliche Essais von Marquard dann doch gern gelesen, weil sie eben sprachlich hübsch waren und schnell zum Widerspruch reizten: Man denke etwa an seine Warnung vor dem Willen, vieles zu verändern in der Gesellschaft: Die Beweislast, dass die veränderte Situation besser ist als die gegenwärtige, trage der Veränderer, so Marquard, darin durchaus beruhigend fürs Bestehende eintretend und darin eben der skeptischen Tradition verpflichtet. Damit wollte er warnen vor allzu heftiger Gesellschaftskritik, vor der Bindung an Utopien, überhaupt an Hoffnungen, dass „es später doch einmal besser werden muss“. Diese These hat mir nie eingeleuchtet: Weil doch das Leiden so vieler Menschen an dieser Gesellschaft so groß ist, dass diese Unerträglichkeit doch überwunden werden muss! Und die Leidenden schreien ja förmlich danach. Die neue, andere Situation kann nicht noch schlimmer sein als die gegenwärtige, sagten mir Slumbewohner in Santo Domingo. Da zeigt sich ohnehin die strukturelle Begrenztheit des Denkens von Odo Marquard: Er dachte im Horizont des alten Europa, vielleicht des alten Deutschland, der Bundesrepublik: Globalisierung und Elend in der Dritten Welt und Ökologische Katastrophen und Rechtsextremismus und Islam und so weiter und so weiter kamen bei ihm nicht vor. Er war in meiner Sicht doch der biedere Philosoph, irgendwie auch der etwas brillante Schöngeist, der mit seinen Essais durchaus seine klassische philosophische Kompetenz zeigte, aber doch in der bürgerlich-konservativen Welt befangen blieb.

Nebenbei: Meines Wissens hat Odo Marquard bei seinen ständigen Hinweisen und Lobeshymnen auf seinen hoch verehrten Lehrer Joachim Ritter in Münster niemals daran erinnert, dass dieser Ritter (offenbar in der Jugend ein Kommunist) am 11. November 1933 zu den Unterzeichnern des Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat gehörte; und dass Ritter 1937 in die NSDAP, die NS-Studentenkampfhilfe, den NS-Lehrerbund und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt eintrat. Diese „Herkunft“, auch so ein Lieblingswort Marquards, wurde von ihm nicht thematisiert. Marquard war eben dann doch kein konsequenter Aufklärer, denn Aufklärung war ja auch nicht gerade seine Lieblingsphilosophie.

Man hat trotzdem Marquards Essais gern gelesen, weil sie zum Widerspruch aufforderten! Marquard selbst hat ja die von ihm betriebene Skepsis als „Zerstörung von Zustimmungen“ beschrieben (in „Skepsis und Zustimmung, 1994, Seite 10). Und das konnte man bei ihm lernen. Sein Insistieren auf der „endlichen Endlichkeit“ war schon penetrant und in meiner Sicht unphilosophisch-unkritisch, selbst wenn Marquard förmlich als Entschuldigung beteuerte, von Hegels Denken sich abgewandt zu haben: Aber es tut trotzdem gut an Hegel zu erinnern und ist von der Sache her wohl geboten, dass Endlichkeit ALS Endlichkeit eben nur in dem Darüberhinaussein, also im Transzendieren, überhaupt nur sein kann. Wir sind also als Endliche immer schon ins Unendliche einbezogen. Aber davon wollte Marquard partout nichts wissen: Er wollte die ins einer Sicht prinzipielle Endlichkeit unseres Daseins und Denkens dadurch erträglich machen, dass er diese prinzipielle Endlichkeit aufteilte, in viele kleine Endlichkeiten, um so das Leben noch im Alter – kurz vor dem Tode – halbwegs erträglich zu machen: „Endliches zeigt sich als das Menschliche nicht dadurch, dass es aufhört, das Endliche zu sein, sondern dadurch, dass bekräftigt wird, dass es das Endliche ist. Endliches wird humoristisch nicht durch Unendliches, sondern durch anderes Endliches distanziert, in dem man – sozusagen – die Endlichkeit auf die Schultern möglichst vieler Phänomene verteilt: Geteilte Endlichkeit ist lebbare Endlichkeit.“ (IN „Endlichkeitsphilosophisches“. Über das Altern. Hrsg. v. Franz Josef Wetz. Philipp Reclam Verlag, Stuttgart 2013)

Dieser Vorschlag, hübsch formuliert, klingt wie eine verhaltenstherapeutische Weisung, er löst aber nicht das philosophische Problem der in jeder Endlichkeitserfahrung eben mit-gegebenen Unendlichkeitserfahrung: Da war der ebenfalls kürzlich verstorbene große Philosoph Michael Theunissen (Berlin) sehr viel reflektierter und sehr viel gründlicher im Denken als unser „Transzendentalbelletrist“. (Nebenbei: Auch an den großen Michael Theunissen wurde leider kaum erinnert).

Inspirierend, aber eben zur Kritik inspirierend bleibt auch der Essay Marquards „Lob des Polytheismus“ von 1978, der zweifellos eine gewisse Breitenwirkung hatte. Dort deutet er – durchaus kreativ, das wollte er ja immer sein – die demokratische Gewaltenteilung als „entzauberte Wiederkehr des Polytheismus“ und behauptet, das Individuum als Individuum könnte im Monotheismus gar nicht entstehen (in: „Abschied vom Prinizipiellen“, 1981, Seite 108). Da wird dann die später in rechtsextremen Kreisen (der Neuen Rechten, der nouvelle droite in Frankreich etwa) verbreitete These in Umlauf gebracht: Der Mensch müsse im Monotheismus „dem einzigen Gott nur parieren“, wie es Marquard polemisch ausdrückt. Dass durch die Vorstellung des einen Gottes die Menschen als gleichwertige „Menschheitsfamilie“ gesehen werden, dass also im Einheitsdenken die Menschenwürde eines jeden einzelnen gerettet wird und also im Monotheismus der Ursprung der Menschenrechte liegt, all das kann und will Marquard in seinem „Lob des Polytheismus“ nicht sehen und zugeben. Es mag wie ein (schwerer) faux-pas erscheinen, dass Odo Marquard in dem Beitrag ein paar Zeilen später in Hinweisen zur Mythenrezeption (Seite 109) in einem Atemzug „Roland Barthes und Alfred Baeumler“ einfach so hintereinander nennt: Als wäre Alfred Baeumler ein gleichermaßen kritischer und wichtiger Kopf wie der große Roland Barthes. Es wird nicht mit einem Wort erwähnt, dass der (sachlich wohl unnötigerweise) zitierte Alfred Baeumler der führende und prominente Kopf der Nazi-Philosophen war. Er gehörte zu den wenigen NS Philosophen, die nach 1945 nicht an eine deutsche Hochschule zurückkehrten. Muss Marquard wirklich dann in Fußnote 32 auf eine Arbeit Baeumlers hinweisen? Ohne weiteren Kommentar?

Trotz aller Kritik: Die Essais von Marquard bleiben (manchmal leicht) lesbar, trotz aller Egozentrizität mancher Formulierungen und der gewollt witzigen Bonmots. Marquards Essais, er schrieb ja eigentlich nur Essais, also in gewisser Weise kurze Studien, vielleicht manchmal auch Fragmente, bleiben inspirierend, gerade weil sich an ihnen so schnell der Widerspruch, das Nein, entwickelt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Ohne Pressefreiheit (Meinungsfreiheit) gibt es keine Freiheit: Mit einem Hinweis auf ERITREA

Ohne Pressefreiheit (Meinungsfreiheit) gibt es überhaupt keine Freiheit

Der 3. Mai: Der Internationale Tag der Pressefreiheit

Von Christian Modehn

Gott sei Dank gibt es „Internationale Tage“. Sie sind Gedenktage, also Tage zum Innehalten und bohrend-fragender Kritik. Sie sind inspirierend für sehr viele hoffentlich, selbst wenn wir heute förmlich umzingelt werden von diesen „besonderen Tagen“ (der „Welttag der Philosophie“ ist ein bleibend großer Internationaler Tag, immer der 3. Donnerstag im November, 2015 also der 19. November).

Auch der „Internationale Tag der Pressefreiheit“ am 3. Mai ist von elementarer Bedeutung: Weil es wahrzunehmen gilt in kritischer Abwägung, dass es ohne Meinungsfreiheit, die sich etwa in der Pressefreiheit ausdrückt, keinerlei andere Freiheit gibt; es sei denn die Gedankenfreiheit, die selbst dem Widerstandskämpfer noch in seiner Todeszelle als geistiger Wert von keinem Henker genommen werden kann. Aber Gedankenfreiheit strebt von sich aus nach Austausch, nach Dialog, als Meinungsaustausch… Alle diese vielen Diktaturen und Scheindiktaturen dieser Welt hassen die Meinungsfreiheit und die damit eng verbundene Pressefreiheit. Wer frei seine Meinung äußert, könnte ja die korrupten Regime in ihrer Brutalität kippen wollen. Zu der philosophisch-grundlegenden Erwägung „Ohne Meinungsfreiheit auch keine Religionsfreiheit“ klicken Sie bitte zur weiteren Vertiefung hier.

Die “Reporter ohne Grenzen“ haben 2015 erneut einen Index zur Situation der Pressefreiheit veröffentlicht. Zur Lektüre klicken Sie bitte hier.

Unter den 180 hinsichtlich der Pressefreiheit bewerteten Länder steht an allerletzter Stelle, nach Syrien, Turkmenistan und Nord-Korea der afrikanische Staat ERITREA.

„Reporter ohne Grenzen“ kommentiert die Lage der Pressefreiheit in dem Land, das am „Horn von Afrika“ direkt Jemen gegenüberliegt:

„In Eritrea sind seit 2001 alle privaten Medien verboten, seit 2010 sind auch keine ausländischen Korrespondenten mehr im Land. Die staatlichen Medien unterliegen der Vorabzensur und werden scharf überwacht. Dutzende Journalisten wurden wegen ihrer Arbeit verhaftet. Viele sitzen ohne Urteil, Kontakt zu Anwälten oder Familien seit Jahren im Gefängnis; sie werden gefoltert, die Haftbedingungen sind lebensbedrohlich. Mehrere Journalisten sind in Haft umgekommen. Viele Journalisten sind ins Ausland geflohen, wo die eritreischen Behörden sie oft weiter drangsalieren. Das Internet wird umfassend überwacht und zensiert“. (Der Beleg findet sich, hier, bitte klicken.

Zum ersten Mal liegt jetzt in deutscher Sprache ein recht umfangreicher Sammelband über das hierzulande bestenfalls dem Namen nach bekannte ERITREA vor. Dieses Buch dokumentiert auch die Situation der Presse in dieser brutalen und fast völlig abgeschotteten Diktatur. 1993 wurde das Land unabhängig, nach einem dreijährigen Krieg gegen Äthiopien.

Amnesty International berichtet, das in diesem „freien Land“ seit Jahren Tausende gefoltert und misshandelt werden, dass viele Bewohner des Landes zu Zwangsarbeit verpflichtet werden, dass Sklaverei noch fortbesteht, dass Eritrea das fünftärmste Land der Welt ist… und: Dass es keine noch so geringe Form von Pressefreiheit gibt. Das Buch „Eritrea. Von der Befreiung zur Unterdrückung“ berichtet auf den Seiten 79 bis 87 vor allem über das Schicksal des schwedisch-eritreischen Publizisten Dawit Isaak: Er sitzt seit 2001 in einem Gefängnis in Eritrea, Genaues weiß man nicht, die Regierung verweigert jegliche Auskunft zum Zustand seines qualvollen Lebens in Einzelhaft. Es sind vor allem schwedische Institutionen, die sich um die Befreiung ihres Landsmanns kümmern: Dawit Isaak, geboren 1964, war 1987 nach Schweden geflohen, dort nahm er 1992 die Staatsbürgerschaft an. Er kehrte aber 1993 nach Eritrea zurück, in der Hoffnung, dort als Journalist den demokratischen Aufbau des Landes zu unterstützen. Am 23. September 2001 wurde Dawid Isaak zusammen mit 10 anderen Journalisten und 11 Reformpolitikern festgenommen. Die schwedische Initiative hat diese website: www.freedawid.com. In dem Beitrag des schwedischen Journalisten Björn Tunbäck über seinen eritreischen Kollegen heißt es: „Was 2001 geschah, passierte nur, weil es einen machthungrigen Präsidenten und seinen engsten Kreis gab. Sie zerschmetterten die Pressefreiheit. Sie zerschlugen die öffentliche Debatte. Sie stoppten alle Entwicklungen in Richtung Demokratie. Die Herrscher in der Hauptstadt Asmara und das Regime sind verantwortlich für all die vielen Tausend Eriteer, die aus ihrem Land fliehen…“ (S. 83)

Seit der Unabhängigkeit Eritreas ist Isaias Afewerki der Staatspräsident, er diktiert die Politik, er ist für die Knechtung der Bevölkerung verantwortlich. „Mit Indoktrinierung und Gehirnwäsche-Methoden versucht man politischen Einfluss auszuüben. Schon unliebsame Fragen werden mit Prügel, Folter und ausgedehnter Haft hart bestraft. Mädchen sind, wie berichtet wird, sexueller Gewalt und Vergewaltigung durch Offiziere ausgesetzt. Trotz dieser Verletzungen elementarer Menschenrechte macht es westlichen Unternehmern nichts aus, wie dem kanadischen Bergbau Unternehmen NEVSUN ein Joint Venture mit dem Regime abzuschließen, um die Vorkommen von Gold, Silber, Kupfer und Zink auszubeuten.. Sonst sind Ausländer unerwünscht: Konsularische Betreuung von Bürgern anderer Staaten ist keineswegs gesichert. Deswegen rät das Deutsche Außenministerium von jeglichem Besuch in Eritrea dringend ab, falls man denn über ins Land kommt.

Wer es nur irgendwie ermöglichen kann, flieht aus diesem Regime: 357.406 eritreische Flüchtlinge hat das UN Flüchtlingswerk gezählt. Etwa 5 Prozent der Bevölkerung sind angesichts unerträglicher Zustände aus ihrer Heimat geflohen. Viele gehören zu den Bootsflüchtlingen, und einige hundert sind im Mittelmeer bei der Flucht umgekommen. 14.000 Eritereer haben in Deutschland um Asyl gebeten. Thomas Scheen berichtet in der FAZ vom 22. 4. 2015: „In Israel sollen sich gegenwärtig 40.000 eritreische Staatsbürger aufhalten, im benachbarten Äthiopien sollen es 87.000 sein. Selbst in einem so schlecht beleumundeten Land wie Sudan muss das Leben freier sein als zu Hause, sonst wären nicht 125.000 Eritreer dorthin geflohen“. Etwa 14.000 Eritereer haben in Deutschland um Asyl gebeten. Werden die Behörden sie in ihre „Heimat“ zurückschicken, „weil sie ja dort eigentlich nicht lebensgefährlich bedroht sind“?

Wir empfehlen dringend das Buch „Eritrea. Von der Befreiung zur Unterdrückung“.

Das Buch wurde von Katja Dorothea Buck und Mirjam van Reisen herausgegeben. Es ist im April 2015 erschienen, und zwar im Verlag des Evangelischen Missionswerkes in Deutschland. Das Buch kann kostenfrei bestellt werden, es ist also bestens einsetzbar in Gruppen, die sich mit der Pressefreiheit oder den Menschenrechten in einer afrikanischen Diktatur auseinandersetzen wollen! Und etwas erfahren wollen über die Mitbürger, die als eritreische Flüchtlinge – kaum sichtbar – unter uns leben!

Bestellungen bitte an: Evangelisches Missionswerk in Deutschland: Normannenweg 17-21, D-20537 Hamburg Oder: http://www.emw-d.de/

Über eine Spende für das Buch freut sich das Missionswerk sehr.

PD: Für alle, die vielleicht über den Begriff „Missionswerk“ irritiert sind: Bei diesem Buch über Eritrea handelt es sich, das wurde ja wohl schon deutlich, um keine „Kirchenwebung“, sondern einen Reader kompetenter Autoren und Wissenschaftler!

Ein kleiner Nachtrag: In der Liste der “Reporter ohne Grenzen” über den Zustand der Pressefreiheit in allen Staaten dieser Erde wird der Staat “Vatikanstadt” nicht erwähnt, das wundert uns ein bißchen;  gibt es doch dort die bewährte Tageszeitung “Osservatore Romano” und Radio Vatikan sowie “TV Vatikan” und Presse-Agenturen etc. Könnte man nicht 2016 auch den Zustand der Pressefreiheit im Vatikanstaat bewerten? Könnte doch interessant sein…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon

Die liberale Theologie lebt. Literarische Zeugnisse für eine neue religiöse Perspektive

Die liberale Theologie lebt. Zeugnisse aus Kunst, Musik, Literatur, Film … für eine neue religiöse Perspektive

Von Christian Modehn

Zu diesem Artikel, der hoffentlich bald umfangreich wird und Diskussionen fördert, aber immer Essay bleibt, wurde ich angeregt ausgerechnet von dem obersten römischen dogmatischen Glaubenswächter Kardinal Gerhard Ludwig Müller (zuvor Erzbischof von Regensburg und bleibender Ratzinger-Getreuer): Er hat in der katholischen Tageszeitung „Deutsche Tagespost“ einfach verkündet: „Die Lebenswirklichkeit ist keine Offenbarungsquelle“, so in einem Interview vom 28. März 2015, das weltweit verbreitet wurde, unter anderem auch auf der konservativen www.kath.net. http://www.kath.net/news/50039

Eine neue liberale (protestantische, vielleicht später auch einmal explizit katholische) Theologie plädiert genau für das Gegenteil: Die Lebenswirklichkeiten eines jeden Menschen, das Aussprechen seiner Lebenserfahrungen, verbal oder non-verbal, sind Offenbarungsquellen, also mitten im geistvollen Leben “lebt” das Göttliche/Gott und Menschen finden dafür den ihnen eigenen Ausdruck..

Das heißt: In jedem Leben offenbart sich auf eine individuelle Art und in persönlichen Worten Gott. Und jeder drückt diese Wirklichkeit anders aus, als Kunst, als Musik, als Poesie, als politisches radikales Engagement, als stilles Dulden, als Schweigen, als hilfloses Suchen usw. Und das hat bitte jeder und jede, selbst Kardinal Müller, zu respektieren. Er sitzt doch nicht auf dem Thron der Weisheit. Da haben ihn einige Fromme hingesetzt, damit sie zu etwas Exklusivem aufschauen können..

Dabei wird liberale Theologie vorschlagen, dass die unterschiedlichen (religiösen) Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Das ist der Sinn der christlichen Gemeinde: Religiöse Menschen miteinander in ein (selbst)kritisches Gespräch einladen, damit sie besser und tiefer ihre eigene Lebensphilosophie, die nun einmal jeder hat, bzw. ihren je eigenen Glauben wahrnehmen. Diese Theologie hat Schleiermacher vertreten. Eine solche Gesprächsrunde (also Kirche) will niemals Missionierung betreiben, sondern die Vielfalt der Meinungen wird als Geschenk erlebt.

Diese Erkenntnis verdanke ich dem Berliner Theologen Wilhelm Gräb, Humboldt Universität, er ist mit dem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin freundschaftlich verbunden und hat dieser website schon zahlreiche Interviews gegeben. Sie sind unter www.religionsphilosophischer-salon.de nachzulesen, klicken Sie hier.

Als Motto soll über unserem (Langzeit)-Projekt ein Wort von Wilhelm Gräb stehen: “Vom heutigen Glauben und dem, was die Menschen als ihren eigenen Glauben zuzumessen bereit sind, gilt es auszugehen. Es gilt, den Glauben zu durchdenken, der ein souveräner Glaube ist, ein Glaube, den die Menschen selbst hervorbringen, aus den Bezügen ihres Lebens”. (in: dem empfehlenswerten Buch von Wilhelm Gräb, “Glaube aus freier Einsicht”. Gütersloher Verlagshaus 2015, S. 12 f.)

Zur Methode unseres Projekts:

Es gilt, zahlreiche Lebensberichte, “Lebensbeichten” oder bloße Interviews aufmerksam zu lesen und herauszuspüren, wie sich da, jeweils persönlich sehr verschieden, der Sinn des eigenen Lebens oder der erlebte Sinn von Welt ausspricht oder der Wille, sich an die eigene Basis-Überzeugung „absolut“ zu halten. Es soll sozusagen, die bei immer schon gelebte Spiritualität dokumentiert werden. Eine solche Dokumentation von individuellen Lebens-Sinn-Geschichten ist keine Vereinnahmung in eine Kirche hinein. Diese Dokumentation ist nichts als die Wahrnehmung aus einer liberal-theologischen und dann auch religionsphilosophischen Perspektive, dass die Lebenswirklichkeit eben doch die Offenbarungsquelle des Göttlichen ist. Das gilt, selbst wenn manche Menschen sicher aus Abwehr gegenüber allem Kirchlichen von Göttlichem in ihrem Leben eher nicht sprechen wollen, weil Gott zu sehr mit der Institution Kirche konnotiert ist. Trotzdem kann ein Betrachter „von außen“ dann doch Gott/Göttliches im jeweiligen Leben wahrnehmen und als solches benennen, ohne diese Sprache dann den anderen aufzudrängen.

1.

Sehr viel Aufmerksamkeit verdient das Interview in „DIE ZEIT“ vom 26. 3. 2015 (Seite 45) mit dem Autor und Theatergründer (in Maputo) HENNING MANKELL. Das Interview bezieht sich vor allem auf die Krebserkrankung Mankells. Angesichts des eigenen Todes sagt er:
„Dass ich mich vor dem Sterben nicht fürchten muss. Man geht über in etwas anderes. In meinem Fall: in die Dunkelheit, für religiöse Menschen in das Paradies, was auch immer. Wir gehen in verschiedene Richtungen, aber wir gehen…“

Dann erinnert sich Mankell an Johann Sebastian Bach, der eines Tages nach Hause kam und seine Frau sowie zwei Kinder waren gestorben. „Wie Luther war Bach ein Mann, der die Erotik liebte, und auch für mich ist die Erotik die wahre Freude des Lebens. Es ist das Wundervollste des Lebens. Unvergleichlich“.

Das Wundervollste im Leben: Gibt es etwas Größeres als dieses? Erlebt ein Mensch bei dem Wundervollsten das, was in anderer Sprache Transzendenz genannt wird?

Susanne Mayer, die Journalistin, fragt direkt nach: „Mehr als Schreiben?“

Mankell antwortet: Schreiben ist die Nummer zwei. Erotik ist fundamental“.

Zuvor hatte Mankell auf die Frage, woher bei ihm die Kraft kommt, so viel zu arbeiten und in Afrika Gutes

zu tun, geantwortet: „Woher kommt das? Von Luther und Calvin. Ein bisschen von beiden. Ich meine, ich möchte die Welt ein bisschen besser zurücklassen, als ich sie vorfand“. Auf diese provozierende Antwort eines „an sich“ bekennenden Agnostikers: „Luther und Calvin…“ geht die Journalistin leider nicht näher ein. Das wird verdrängt, diese überraschende Antwort überhört.

PS. von Christian Modehn: Das habe ich oft beobachtet, dass JournalistInnen, die mit Religionen, Kirchen usw. nicht so viel „am Hut haben“, überraschende religiöse Antworten übergehen und gleich zum nächsten „Punkt“, zur nächsten Frage, weitergehen.

2.

Über Musik (verbal) zu sprechen, ist eine besondere Schwierigkeit, nicht nur für Menschen, die Musik hören. Mehr noch für Künstler, die Musik “spielen”. Der besonders bedeutende Pianist der Gegenwart ist Grigory Sokolov. Er gibt prinzipiell keine Interviews, nur wenige Zitate (aus Gesprächen) werden in Reportagen über seine Konzerte wiedergegeben. In “Die Zeit” vom 16. April 2015 sagte Sokolov: “Die Musik hört niemals auf. Sie bleibt , sie ist immer da”. Nebenbei: Bei seinen Konzerten verlangt Sokolov, dass die Beleuchtung stark reduziert wird, es entsteht also eine eher meditative Dunkelheit. “Die Zeit”- Autorin Christine Lemke-Matwey spricht gar davon, dass die Berliner Philharmonie dann “in eine Höhle verwandelt wird”, in “einen Uterus des Noch-nicht-Seins”. Sie relativiert diese Einschätzung jedoch – korrekterweise ?- durch eine prosaische Erklärung des Künstlers, bei vollem Licht werde “alles alles einfach zu heißt”…

3.

Der Dichter (und Philosoph) Friedrich Hölderlin verlässt im Jahr 1798 seelisch stark belastet (verzweifelt) Frankfurt am Main und findet Zuflucht in einem Haus am Rande von Bad Homburg, das ihm sein Freund Isaac von Sinclair vermittelt hat. Hölderlin findet dort Ruhe und “Kraft zum Leben”: “Da gehe ich dann hinaus, wenn ich von meiner Arbeit müde bin, steige auf den Hügel und setze mich in die Sonne. Und sehe über Frankfurt in die weiten Fernen hinaus. Und diese unschuldigen Augenblicke geben mir dann wieder Mut und Kraft zu leben und zu schaffen”. Der Autor Gunter Martens fährt dann fort: “Hölderlin schließt diesen Brief an seine Schwester mit der Bemerkung, solche Naturgänge seien, “so gut, als ob man in der Kirche gewesen ist” (RoRoRo Monographie, Hölderin, Seite 95) Hölderlin erlebt “Mut zum Leben” in der meditativen Betrachtung der Natur “als ob man in der Kirche“, er meint: in einem Gottesdienst gewesen ist”: Denn was soll eigentlich ein Gottesdienst bewirken: Stärkung, Heilung, Befreiung. Also eine Form irdischer Erlösung. Erlösung im Himmel allein ist ja Gott sei Dank obsolet geworden. Wenn das ein Gottesdienst nicht (mehr) leistet, etwa aufgrund ritueller Erstarrung oder hermetischer/esoterischer Sprache oder allzu banaler Alltagsfloskeln, dann kann eine meditative Naturerfahrung auch dieselben heilsamen Wirkungen haben. Kommt es nicht in den Evangelien Jesu einzig auf diese Heilung, also Erlösung, an. Die kann doch wohl nicht die Kirche allein vermitteln! Insofern ist das knappe Zitat Hölderlins ein Beispiel für eine Spiritualität, an die sich viele Menschen halten, damals wie heute. Und Hölderlin bietet ein weiteres Element für einen Essay einer umfangreichen, literarisch-empirischen liberalen Theologie. Dabei muss ein Hölderlin Kapitel natürlich sehr umfangreich sein, weil er sich explizit vom dogmatisch erstarrten Christentum absetzte und in der dichterischen Erfahrung das Mythische als solches wiederbelebte als mögliche Existenzform.

4.

Erneuter Eintrag zur musikalischen Erfahrung:

An den Komponisten Karlheinz Stockhausen muss erinnert werden. “Ich bin im Bergischen Land in der Nähe des Altenberger Doms aufgewachsen. In dieser frühgotischen Zisterzienser-Kirche gibt es eine große Michael-Figur, die mich schon als kleines Kind fasziniert hat. Ich habe zu ihr gebetet und von ihr geträumt. Michael ist in meinem ganzen Leben so immer die erste und höchste geistige Macht gewesen, an die ich mich wandte”(Stockhausen im Jahr 2005). Besondere Beachtung verdient wohl Stockhausens sieben Teile umfassende Oper “LICHT”. Günter Peters schreibt: “Stockhausen verstand seine Werke als Folge von Annäherungen an das Absolute. In einer musikalischen Welt, die sich nicht durch Ausschlüsse, sondern durch Nachbarschaften und Einschübe definiert, sind die Übergänge vom Physischen zum Spirituellen, von der Realität zur Transzendenz fließend… Stockhausen glaubte fest an einen alles umschließenden Gott, in dessen jenseitiges Reich er nach dem Tod auffahren würde…” (in: Musikfest Berlin 2015, hg. von den Berliner Festspielen. Seite 11).

 

FORTSETZUNG FOLGT.

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Theresa von Avila 500. Geburtstag: Mystik bricht aus dem religiösen System aus

Theresa von Avila und „Die mystische Fabel“

Ein Hinweis zum 500. Geburtstag der Mystikerin und eine Erinnerung an Michel de Certeau SJ

Von Christian Modehn

Theresa von Avila ist eine große Autorin, eine inspirierende Mystikerin, wohl auch heute.

Aber was heißt eigentlich „Mystik“? Welcher Sprache begegnen wir dann? Welche Lebenserfahrungen sind prägend? Wer darf sich Mysteriker, Mysterikerin, nennen oder darf so von anderen genannt werden?

Fragen, die anlässlich des 500. Geburtstages der Karmeliter-Nonne Theresa von Avila (28.3.1515 – 1582) wichtig sind, aber unseres Wissens im Umfeld dieses Gedenktages nicht (so oft) behandelt werden. Wie umfassend darf an kirchlichen (römischen) Gedenktagen gedacht werden?

Hilfreich sind immer die Studien des französischen Intellektuellen und Jesuiten Michel de Certeau (1925-1986). Wenn jemand die französische Ehrenbezeichnung „Intellektueller“ verdient, dann wohl er, der Historiker, Psychoanalytiker, Linguist, Theologe. Er hat unter anderem das (auch auf Deutsch vorliegende) Buch veröffentlicht “La Fable Mystique“, 1982 erschienen. 2013 wurde dann ein 2. Band publiziert: La Fable Mystique, II, Édition établie et présentée par Luce Giard, erschienen bei Gallimard, 392 p., 22,90 €. Luce Giard ist eine hervorragende Kennerin des Werkes de Certeaus.

Certeau spricht von „Fabel“, um das Sprechen und Briefe-Schreiben der Mystiker des 16. und 17. Jahrhunderts zu bezeichnen, und er meint damit: Es gibt bei den Mystikern eine bemerkenswerte Erfindungsgabe der Sprache. Sie sagen alles, „von dem man sagt, es nicht sagen zu können“ (so Johannes vom Kreuz, ein Mitstreiter und Freund Theresas, auch er ein Meister der Sprache, ein Poet). De Certeau zeigt, dass die Mystik (ein Wort, das vor dem 16. Jahrhundert unbekannt war, meint er) eine Art „paradoxe Wissenschaft“ sei, weil sie in neuer Sprache, befreit von der Last der klassischen Theologie und ihrer Systeme, wieder unverbraucht Wesentliches sagt. Die Welt der Mystiker dieser beiden Jahrhunderte ist erschüttert: Politischer Absolutismus, neue Welten („Amerika“), Wissenschaften, rationale Philosophie, Übersetzungen der Bibel etc…

Die Mystiker erleben diese neue Welt und wollen als Glaubende dieser erlebten neuen Welt Ausdruck geben. Es ergibt sich so eine „Befreiung der Stimme der Frauen“, ein Gespür für die Bedeutung der Subjektivität. Die alte Welt wird als untergehende erlebt, von der neuen Welt wird in neuer Sprache gesprochen, nicht in einer Geheimsprache, betont de Certeau. Es wird mystisch das NEIN gepflegt, das Nein zum alten System-Denken, es wird der alte religiöse Raum leer geräumt, zugunsten des NICHTS (vor allem bei Johannes vom Kreuz). Alte Sicherheiten zerbrechen, das Gehaltensein im Nichts als „dennoch“-Gehaltensein kann zum Glaubensausdruck werden.

Wer würde diese Gedanken nicht modern, also zeitgemäß finden? Bloß wo sind die Mystiker heute? Gibt es sie noch etwa unter den vielen tausend Nonnen der Unbeschuhten Karmelitinnen, also jenes Ordens, den Theresa unter Leiden und Not (drangsaliert von den reformunwilligen Nonnen) gegründet hat? Der Katholizismus hat „MystikerInnen“  in seinen Reihen, bloß die kommen nicht zu Wort, melden sich nicht, schweigen. Weil sie nichts zu sagen haben? Weil die Orden ihre beste Tradition aufgegeben haben und nicht mehr mystisch sind und bestenfalls historische Studien publizieren? Oder weil sie ihre vielleicht provozierende mystische Einsicht nicht sagen dürfen? Etwa: Dass wir vielleicht mehr an das Nichts, die Leere, als an den so lieben und allmächtigen und gerechten Gott denken sollten? Dass wir die Sprache des Schweigens üben und hören sollten als das viele religiöse Gerede, diese routinierte Fortsetzung von frommen Sprchen und Floskeln.

Vielleicht noch ein Hinweis zu dem empfehlenswerten Buch „Michel de Certeau“, herausgegeben von Marian Füssel, erschienen UVK Verlagsgesellschaft, 2007.

Aus dem Beitrag von Koenrad Geldof nur einige markante Sätze, immer bezogen auf das Werk de Certeaus selbst, als Einladung weiterzuforschen:

„Der Geburtsort der Mystik ist die Ruine“ (S. 138). „Die Mystik existiert gerade dank des Fehlens ihres Objektes Gott. Sie sehnt sich nach dem Abwesenden, aber ihre Sehnsucht kann und wird nie erfüllt werden: Diese Unmöglichkeit ist der Grund, aus dem die Mystiker sprechen und schreiben“ (S. 139).

„Der Mystiker ist dazu verdammt, ICH zu sagen, um im Namen seiner selbst sprechen zu können“ (S. 141).

Und Daniel Bogner schreibt in dem genannten Buch: “Wahrheit gibt es für die Mystiker nicht mehr als eine von der kirchlichen Institution treuhänderisch verwaltete und abrufbar bereitgestellte Wahrheit“ (S. 312). Wird man solche Sätze hören bei den nun einmal nicht ausbleibenden Jubelfeiern und Festgottesdiensten zu Ehren der Theresa von Avila. Papst Paul VI. hat 1970 diese unbequeme Frau und Kritikerin gar zur offiziellen Kirchenlehrerin ernannt. Wollte er diese radikale Theologin und Nonne besänftigend „eingemeinden“? Oder rechnete er damit, dass radikale Worte der Gottesferne und des Nichts wirklich in die Mitte des christlichen Glaubens und der römischen Institution gehören?

Dieser Beitrag bedarf einer Ergänzung:

Ich habe als Hörfunk und Fernseh-Journalist (RBB) im Karmelitinnen Kloster Regina Martyrum in Berlin Ordensfrauen getroffen, die durchaus von einer Weite des Denkens und des mystischen Erfahrens geprägt sind und dies auch so sagen. Ob alle Karmelitinnenklöster in Deutschland von diesem offenen Geist geprägt sind, ist eine andere Frage.

Einige Zitate aus verschiedenen Ra­dio­sen­dungen von mir.

Schwester Maria Theresia sagt zum Beten für andere Menschen: „Für andere beten, das heißt zunächst einmal von anderen wissen. Und nicht nur theoretisch, sondern auch direkt, persönlich, und auch die Lage von anderen Menschen, sich selbst unter die Haut gehen lassen. Es ist eine gewisse Solidarisierung. Das ist so etwas wie das Halten einer Hand, wenn wir sagen: Ich denke an dich“.

Die Gründerin des Karmelitinnenklosters in Berlin ist Schwester Gemma Hinricher, zuvor lebte sie im Karmel am Rande des ehem. KZs Dachau: Schwester Gemma ist 1990 verstorben, sie war in Berlin als geistliche Lehrerin sehr angesehen, ie sagte mir in einem Interview in Plötzensee:

„Es ist für die Karmelitinnen ganz wesentlich die Ausrichtung auf Gott und zugleich die Ausrichtung auf die Menschen. Ich glaube, dass wir teilnehmen an der Glaubensnot unserer Epoche. Dass wir ja in welcher Form auch immer auch ein Stück Gottferne erfahren. Es ist wichtig zu betonen, dass es uns da nicht besser geht, dass wir auch angefochtene Menschen sind und verletztliche Menschen, dass uns nicht alles zufliegt mit Heiterkeit“.

Gelegentlich besuchen auch Agnostiker und Atheisten den Berliner Karmel, so etwa Gita Neumann, Psychologin und Mitarbeiterin des Humanistischen Verbandes im Rahmen eines Filmes, den ich fürs ERSTE drehte. Gita Neumann fragte Schwester Maria Theresia:. „Betet man irgendwie zu Gott, zu Jesus, zu einer übergeordneten Instanz? Sind Sie der Meinung, dass da auch Wünsche auch irgendwo ankommen?“ Darauf die Karmelitin Schwester Maria-Theresia: :

„Ich muss gestehen, ich teile diese Frage auch. Für mich ist dieses Beten in eine gewisse Leere hinein wie ein Gottesbeweis. Weil ich mir sage: Eine fassbare Antwort, das ist nicht mein Gott. Es muss immer etwas bleiben, was geheimnisvoll ist, was scheinbar sogar das Gegenteil sogar von dem Erbeteten ist. Dieses durchkreuzende Moment von Gebeten führt mich, wenn ich ehrlich bin, letztlich weiter. Ich möchte darauf hin leben, dass ich Gott größer sein lasse als meine Gebete.“

In einem Beitrag über die spirituellen Dimensionen der Nacht konnte ich auch Schwester Maria Theresia zu dem Thema befragen: „Das beste Nachtgebet ist für mich, das, was am meisten mich selbst einsammeln kann, wo ich am meisten drin bin. Das ist überhaupt kein Gebet im üblichen Sinn. Das ist vielleicht ein Fallenlassen, ein Loslassen. Eine Einwilligung, in das, was jetzt gerade mein Leben ist, weil ich jetzt mal gerade so ganz zu mir kommen kann. Und ich denke, dass ist dann beste Gebet, auch wenn ich in dem Moment gar nicht merke, dass ich bete”.

Copyright: Christin Modehn Berlin