Jenseits des Wachstums. Barbara Muraca bietet Perspektiven für ein „gutes Leben“. Eine Buchempfehlung

Jenseits des Wachstums. Barbara Muraca bietet grundlegende Informationen und Perspektiven für ein „gutes Leben“

Hinweise auf ein wichtiges Buch von Christian Modehn

Es geht um die Befreiung von einer krankhaften Abhängigkeit und lebensfeindlichen Bindung: „Wie bei einer Sucht, die tief in unsere kollektive Vorstellungswelt eingedrungen ist und alle Aspekte des Lebens durchdringt, müssen wir von der durchdringenden Wachstumslogik mühsam befreien“.

Mit diesen Worten beschreibt sehr treffend die Philosophin Barbara Muraca (Universität Jena, ab 2015 Oregon State University) in ihrem neuen Buch „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“ (Wagenbach Verlag 2014) die große Herausforderung von heute und für die nächsten Jahre. Der von der kapitalistischen „Ordnung“ heftig verbreitete Glaube an das ständig fortschreitende und immer währende ökonomische Wachstum der Wirtschaft ist ein Wahn. Das “Immer mehr haben wollen“ erreicht nur eine Minderheit der Weltbevölkerung, der große Rest bleibt im Elend, die Natur wird total zerstört. Wer es noch nicht wahrhaben will: Klar ist und evident: Der Glaube an das Wachstum hat katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt, auf die Menschen; auch die Seele leidet unter dieser von den Herren dieser Wirtschaft heilig gesprochenen Gier; es leiden die Gesellschaften, es leidet das friedliche Miteinander in der einen Welt der einen Menschheit. Wachstum in Permanenz erzeugt Krieg. Das wussten schon die weisen Lehrer des Zen-Buddhismus.

Debatten über „Wege aus dem Wachstumswahn“ werden etwa bei den verschiedenen internationalen „Degrowth-Konferenzen“ ausgetauscht, die sich der Überwindung der Wachstumsideologie widmen, wie jetzt im September 2014 in Leipzig. Diese Tagung mit mehr als 2000 TeilnehmerInnen hat Barbara Muraca mit-organisiert.

Das neue Buch von Barbara Muraca bietet eine konzentrierte und klare Übersicht zum Thema. Neue Informationen und neue Literaturhinweise werden den „Aktivisten“ in den verschiedenen wachstumskritischen Bewegungen geboten; vor allem aber sind die Informationen bestens geeignet, sehr viele Menschen für die Überwindung der Wachstumsgesellschaft „wach zu machen“. Insofern gehört das Buch in weiteste Kreise! Es gilt, sich von einem „stillschweigenden Grundkonsens“ unserer Gesellschaften zu befreien, der sich in den Köpfen festsetzen will als unumgängliche „Alternativlosigkeit“.

Barbara Muraca betont, dass die Suche nach einer politischen und ökonomischen Gestaltung ohne Wachstum durchaus mit dem Begriff Utopie zu denken ist. Dabei versteht sie Utopie als „Öffnung von Denk- und Handlungsräumen“, die aus der technokratischen Welt des „immer mehr Habens“ herausführen. „Das Reale ist kein unveränderlicher Block von immer gleichen vorgegebenen Strukturen, sondern offen und in stetigem Wandel“ (S. 16). Utopie ist also alles andere als ein traumhafter, illusorischer Begriff; er enthält die Kraft, das Gespür für das „Real – Mögliche“ zu entwickeln. Und „real möglich“ ist eine Gesellschaft ohne (tödliches) Wachstum. „Utopie bedeutet, dass Wandel durch menschliches Tun hervorgebracht werden kann“ (S. 21).

Für viele Leser in Deutschland wird es hoch interessant sein zu erfahren, dass die ersten Impulse für eine Welt – Gesellschaft ohne Wachstums, im Sinne der Abnahme oder Reduzierung von Wachstum, in Frankreich zu finden sind, in der „Dé-Croissance-Bewegung“, seit 1973 durch André Amar zur Diskussion gestellt. Dazu bietet das Buch hilfreiche Informationen, auch zu dem wegweisenden Philosophen Serge Latouche. Das Thema ist klar: Es geht um eine „gut durchdachte Schrumpfung (Décroissance) in den westlichen Industrieländern“. Inzwischen wird über dieses Konzept mit unterschiedlichen politischen Zielvorstellungen debattiert. Die äußerst rechtslastige Nouvelle Droite in Frankreich hat sich – etwa über ihren Meisterdenker Alain de Benoist – formal dieser Begrifflichkeit bemächtigt, sie preist nun die klassischen Werte des Verzichts, der Bescheidenheit, der altvertrauten Familie, der Bodenständigkeit, der nationalen Kultur, der westlichen Welt im Anschluß an eine Kritik der (globalen) Wachstumgesellschaft. So kann eine demokratische Bewegung auch noch missbraucht werden.  Auch die Kritik an der Wachstumsideologie durch den konservativen Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel (etwa sein Buch „Exit“) wird von Barbara Muraca einer Kritik unterzogen. Miegel setzt eindeutig nur auf Wertewandel „statt auf Umverteilung und gesellschaftlicher Transformation“ (S. 61).

Die demokratische und politische Bewegung gegen das Dogma des permanenten ökonomischen Wachstums ist inzwischen in Spanien, Italien und vielen anderen Ländern in vielen Basisinitiativen lebendig. Wichtig ist auch, dass die indianischen Völker etwa Ecuadors das (uralte) Konzept des Buen Vivir (gutes Leben) in den Mittelpunkt stellen und sogar für eine Verankerung dieses Konzepts in der Verfassung sorgen konnten (s.S. 46ff). Leider hat sich die ökonomische Macht des Nordens (USA, Europa) als stärker erwiesen: Ecuador hat jetzt große Flächen des Regenwaldes für Erdölbohrungen freigegeben. „Buen vivir“ ist in Lateinamerika leider noch mehr Projekt als Realität.

In Deutschland, so Muraca, hat vor allem der Ökonom Nico Paech „dafür georgt, dass der Begriff Postwachstum breit bekannt wurde“ (S. 35). Auch über sein Konzept wird in dem Buch debattiert.

Das Buch zeigt eindringlich: Die Suche nach einer praktischen Überwindung der Wachstumsgesellschaft ist nicht eine aktuelle Aufgabe neben vielen anderen. Die Überwindung des „Götzen Wachstum“ (S. 51) geht ins Grundlegende, „sie fordert eine radikale Veränderung der Machtstrukturen und wird nicht ohne heftige Auseinandersetzungen zu realisieren sein“ (s. 87). Das andere Leben ist bereits unter uns, wie es die Occupy – Bewegung, die „Indignados“ in Spanien und anderswo zeigen: Es gibt überall die Kooperativen, Tauschbörsen, Reparaturwerkstätten, gemeinsam verwaltete (Stadt-) Gärten usw.. „Solche Experimente sind Laboratorien für gesellschaftliche Veränderungen, durch die viele Menschen motiviert werden, für Demokratie zu kämpfen“ (S. 89).

Zum “Welttag der Philosophie” am 20. November 2014 wird Barbara Muraca über “Gut leben” im Kulturzentrum “Afrika-Haus” in Berlin, Bochumer Str. 25 sprechen. Beginn um 19 Uhr. Eine Veranstaltung zusammen mit dem Wagenbach Verlag. Weitere Hinweise folgen.In jedem Fall schon jetzt: Dazu herzliche Einladung!

Barbara Muraca, „Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums“. Wagenbach Verlag Berlin, August 2014, 94 Seiten. 9.90 Euro.

Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”. Ein Buchhinweis in PUBLIK-Forum

Kürzlich veröffentlichte die christliche und ökumenische Zeitschrift PUBLIK FORUM (Heft 13/2014, Seite 55) eine kurze Besprechung des wichtigen Buches von Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”. Wir bieten hier den Text noch einmal für jene, die PUBLIK FORUM nicht lesen.

Shlomo Sand: “Warum ich aufhöre, Jude zu sein”.

Shlomo Sand, weltweit bekannter und geschätzter Professor für Geschichte in Tel Aviv, bietet mehr als ein persönliches Bekenntnis. Er kann aus objektiven Gründen nicht länger Jude sein, weil er den heutigen Staat Israel ablehnt. Dabei gibt es für ihn keinen Zweifel, als polnischer Jude, 1942 in Österreich geboren, für das Existenzrecht Israels einzutreten. In dem „jüdischen Staat“ lebt er seit 1949. Aber gerade diese Definition findet er unerträglich. Denn Israel bevorzugt die Bewohner, die dem jüdischen Volk zugehören. Dabei ist es ein Mythos, so wörtlich, über die jüdische Rasse den Staat Israel zu definieren. Die „Rasse“ der Hebräer gibt es nicht. Jude, meint Sand, sei man einzig durch sein religiöses Bekenntnis. Als Atheist möchte er aufhören, als Jude zu gelten, kann es aber nicht, weil er vom Staat unaufhebbar dem „Volk“ zugerechnet wird. In dieser „Volksideologie“ sieht Sand zudem die Wurzel der verhängnisvollen Besatzungspolitik. Er plädiert für eine „republikanische Identität“ Israels mit dem absoluten Respekt der Menschenrechte und einer Zweistaatenlösung mit Palästina. Das wichtige Buch verdient intensive Diskussionen.

Shlomo Sand: Warum ich aufhöre, Jude zu sein.  Propyläen Verlag, 2013. 156 Seiten. 18 €

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

PS: „Shlomo Sand hat Intelligenz und Humor. Er schreibt, wie Professoren meist nicht schreiben können“, schreibt der Publizist Rupert Neudeck in Kölner-Stadt-Anzeiger, am 06.12.2013.

Heidegger: Ein esoterischer Philosoph. Hinweise auf ein Buch von Peter Trawny

Heidegger – ein esoterischer Philosoph

Hinweise auf ein Buch von Peter Trawny

Von Christian Modehn

(Die in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf das Buch von Peter Trawny “Adyton“ )

Eine interessante Deutung des (Spät-) Werkes Martin Heideggers liegt seit 4 Jahren vor: Der Heidegger Spezialist Prof. Peter Trawny (Wuppertal, auch Herausgeber der „Schwarzen Hefte“ Heideggers) hat eine (leider sehr knapp gefasste) Studie publiziert. „Adyton. Heideggers Esoterische Philosophie“ ist der Titel.

Martin Heideggers Denken und Publizieren ist seit Mitte der neunzehnhundertdreißiger Jahre esoterisch geprägt. Diese Einsicht erläutert Peter Trawny in dem Buch „Adyton. Heideggers Esoterische Philosophie“. Erschienen ist die 114 Seiten umfassende Broschüre bei Matthes und Seitz in Berlin im Jahr 2010.

Unter dem eher befremdlich wirkenden Begriff „Adyton“ aus dem Altgriechischen versteht Trawny das Unzugängliche und Unbetretbare, aber auch den „Ort des Orakels“, wo der Gott spricht, der für sein Sprechen den hörenden Menschen braucht. Wer im Adyton oder wenigstens beim Adyton weilt, hat das Unermessliche erreicht, nämlich „den Ursprung von Leben und Wort“ (8). Trawny schreibt weiter: „Heideggers Philosophie ist der Gang zu diesem Adyton“ (8). Es bedeutet Stille, der Ort des Zuspruchs, auch „Seyn“, worin sich der Gott zeigen könnte. Dort empfängt Heidegger „einen ungeheuren Exzess von Sinn“ (9).

Trawny bezieht sich in seiner Heidegger Deutung vor allem auf das Buch „Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis“, das 1989, wie die Schwarzen Hefte jetzt, ebenfalls post mortem erschien (bzw. wohl auf Wunsch Heideggers erscheinen durfte). In diesem Buch, 1936 – 38 geschrieben, kommt, nach Trawny sicher zu recht, die ganze Dimension des Esoterischen bei Heidegger zum Ausdruck. Heidegger Leser wissen, dass seit „Sein und Zeit“ ,1927 erschienen, das Denken Heideggers ganz neue Weg ging; angefangen vom „Vom Wesen der Wahrheit“ (1931, erschienen 1943) bis zu dem von Heidegger selbst kaum noch verständlich genannten Text „Zeit und Sein“ (1962).

Die zentrale These Trawnys also: Heideggers so genannte Spät- Philosophie ist esoterisch, also nicht für die Öffentlichkeit, sondern, wie Trawny schreibt, für den „Zirkel“, also den kleinen Kreis Berufener, bestimmt. Er nennt Heideggers Werk sogar „essentiell esoterisch“ (13). Dass die Spätphilosophie Heideggers (höchst) ungewöhnlich ist, in der sprachlichen Gestalt und damit zugleich in der Sache, war den meisten ja immer schon klar. Neu ist diese Zuspitzung in der Qualifizierung „esoterisch“.

Dabei muss darauf hingewiesen werden, was Trawny selbst nicht vertieft, was denn in der reflektierten „Alltagssprache“ esoterisch bedeutet; „esoterisch“ ist heute ein inhaltlich weit gebrauchtes Wort, bis hin zur Qualifizierung der “new age” Szene oder für religiöse „Sondergruppen“ wie die Rosenkreuzer oder die Swedenborg-Gemeinschaft. Ob diese Qualifizierung der Spätphilosophie Heideggers als „esoterisch“ tatsächlich in diesem sprachlichen Umfeld weiterführt, ist eine andere Frage. .

Trawny meint also zenral: Esoterisch ist das Werk Heideggers vor allem wegen der entschiedenen Zurückweisung der Öffentlichkeit, was im Sinne Heideggers bedeuten soll: Diese hier präsentierte Philosophie/dieses Denken, darf nicht von außen, nicht von den vielen, dem „Feuilleton“ und wem auch immer in der Öffentlichkeit der Gesellschaft beurteilt werden. Denn diese vielen, auch die vielen der Aufklärung verpflichteten Philosophen, können gar nicht das von Heidegger Gesagte verstehen. Trawy selbst schreibt, dass sich die vielen von dieser Philosophie „abgestoßen“ fühlen könnten (11). Komisch hingegen, dass Heidegger diese Philosophie nicht in kleinster Auflage für den Zirkel, sondern in öffentlich zugänglichen Verlagen publizierte mit den entsprechenden Übersetzungen. Der Esoteriker Heidegger wollte also doch in der Öffentlichkeit Beachtung finden, wenn nicht Aufsehen erregen.

Tatsächlich haben viele wegweisende Philosophen schwierig geschrieben, man denke an Kant, Fichte, Hegel usw. Aber schwierig ist eben nicht identisch mit esoterisch. Diese Philosophen sagten Neues. Aber sie haben den Anspruch, doch mit einiger Mühe für alle gebildeten Leser verständlich sein zu können. Die Publikation etlicher Beiträge von Kant in Zeitschriften spricht ja dafür. Diese Philosophen schreiben also von Erkenntnissen, die sie in allgemeiner Sprache begründen. Im Unterschied dazu schreibt der späte Heidegger von Gehörten, von Empfangenen, vom Geschenkten. Aber von wem denn nun empfangen? Vom Seyn (sic), wie er dauernd und immer im Spätwerk betont oder vom „Ereignis“, dem zu lauschen ihm und einigen Erwählten vorbehalten und geschenkt ist. Dies dort Gehörte gibt Heidegger weiter, in einer neuen, man möchte sagen, fast privaten und neu geschaffenen („ereigneten“) Sprache, die die gelauschte Sache selbst auszusagen wagt, so behauptet er.

Dies ist der Kern der esoterischen Philosophie Heideggers. Sie ist verschieden von den Erkenntnissen, die etwa Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ machte. Erkenntnisse sind für Kant kein Geschenk, keine Gnade. Kant hat nichts (mysteriös?) gehört etwa von dem transzendentalen Apriori, sondern es erkannt und in einer (zwar schwer) nachvollziehbaren Sprache für alle dargestellt.

So wird das besondere Profil der esoterischen Philosophie Heideggers deutlich. Er ist – wie ein Prophet – der Berufene, dessen Worten man letztlich nur glauben kann. Auch das ist nicht weiter problematisch, wenn man denn diese Philosophie als Privatphilosophie eines Berufenen definiert oder als Poesie und Lyrik eines besonders Begabten.

Noch einmal: Heideggers späte Philosophie will explizit nur Eingeweihten des Zirkels (109) zugänglich sein; solchen Menschen also, die den Mut haben, viele neue Wortschöpfungen Heideggers (und gehörte Botschaften vom „Ereignis“ her) stundenlang hin und her zu wälzen, bis vielleicht der „Funke“ (Geschenk, Gnade?) auch auf sie überspringt. Jedenfalls, so Trawny, haben sie den Mut, ihre „Neutralität“ ( 24), also Distanz und vielleicht sogar Skepsis, aufzugeben.

Heidegger – ein philosophisches Doppelleben

Wer Neutralität aufgibt, ergreift folgerichtig Partei, ist Partei und parteiisch. Der späte Heidegger wünscht sich also Anhänger, Gläubige, „Parteigänger“. Das kann man ja fordern. Die Frage ist nur, wie sich solch ein Denken noch Philosophie nennen kann. Aber das Schwierige ist: Das wollte Heidegger ja auch gar nicht, er trat zwar bei Kongressen als „Philosoph“ auf, war aber im Innersten seines Erfahrens und Denkens eben ein esoterischer Denker. In seinen Vorträgen etwa nach 1945 bis zu seinem Tod 1976, die oft noch nachvollziehbar sind auf weite Strecken, wie etwa zur Technik, hat er sich also in seinem wahren, dem esoterischen Wesen versteckt. Es wäre eine interessante Frage, einmal einen Aufsatz zu schreiben über „Heidegger und sein geliebtes Versteckspiel“ nicht nur im Blick auf seine Liebschaften und Lieben, sondern auch auf seine tatsächliche, innere und eigene politische Haltung, die in den „Schwarzen Heften“ zum Ausdruck kommt. Versteckspiel ist es auch, dass Heidegger die ehrlichen Worte (der Schwarzen Hefte) zur (Nazi-) Politik eben erst post mortem veröffentlichen ließ. Jedenfalls hat sich der hoch dotierte und von etlichen Kreisen hoch verehrte Philosoph zu Lebzeiten versteckt. Damit passt er gut in diese Zeit: Viele Politiker, Richter usw. der Bundesrepublik haben sich als ehemalige NSDAP Mitglieder versteckt/opportunistisch verstecken müssen….

Mit anderen Worten: Es ist klar nach den Ausführungen Trawnys: Heidegger führte auch ein philosophisches Doppelleben. Das wäre ein hübsches Thema, das ich leider jetzt hier nicht weiter bearbeiten kann. Trawny erwähnt selbst mit einem Satz, dass Heidegger „in Vorlesungen, Vorträgen und Aufsätzen (die esoterische Dimension seines Denkens) verschwieg“ (46).

Ich kann hier das komplexe Thema des dicht geschriebenen Buches von Trawnys in aller Ausführlichkeit nicht wiedergeben.

Nur einige uns wesentlich erscheinenden Hinweise:

Spätestens ab 1933 sucht Heidegger in seinem Denken und Publizieren das normalerweise Unzugängliche, mit ihm will er inniglich verbunden sein. Er will nun etwas ganz Besonderes und Unerhörtes sagen, zumal er in seinem groß angelegten Projekt „Sein und Zeit“ (1927) gescheitert war und dies auch wusste. Nebenbei: Das viel gerühmte Werk „Sein und Zeit“ ist letztlich ein zweifelsfrei wichtiges, denkwürdiges Fragment, aber eben nur der erste Teil für ein weiteres Vorhaben, das nicht realisiert wurde bzw. realisiert werden konnte. Es ist aber, wie Trawny schreibt (31), ein „exoterisches Buch“, ein solches also, das viele lesen und in vernünftiger Sprache und ebenso in vernünftigem Denken verstehen können und in allgemeiner Sprache debattieren. Weil eben exoterisch bedeutet: In der nun einmal allen verständlichen und gebräuchlichen Umgangssprache, die zu bestreiten ja unmöglich ist, geschrieben, selbst wenn da neue Wortschöpfungen durch Heidegger häufig schon vorkommen.

 

Nach dem gescheiterten „Sein und Zeit“ sucht Heidegger das “äußerst Besondere”, nämlich die intime Nähe zum Unzugänglichen. Diese Innigkeit, Inniglichkeit, betont Trawny in seiner Broschüre sehr. „Weil dieser Empfang (im Adyton , CM) ein Bewohnen dieses Bezugs (zum Adyton CM) voraussetzt, ist Heideggers Philosophie esoterisch“ (9), esoterisch von Trawny kursiv gesetzt!

Trawny selbst ist sich der wichtigen, um nicht zu sagen globalen Dimension seiner Studie bewusst, nämlich dass diese Interpretation „womöglich zu einer neuen Heidegger-Interpretation“ (wenigstens des Spätwerkes) führt! (12).

Trawny verwendet anstelle von „esoterisch“ sehr häufig das Wort „esoterische Initiative“ (ab Seite 11 ständig). Dabei will er das Esoterische nicht als Irrationale verstanden wissen (46), es wird also die Möglichkeit offengehalten, das Esoterische ins Exoterische zu übersetzen, was man ja vom „Irrationalen“ so nicht sagen kann.

Wenn Trawny in seiner Studie sehr oft von einer „esoterischer Initiative“ (Heideggers) spricht, dann darf man das wohl übersetzen in eine exoterische, also allgemein verständliche Vernunft- Sprache: Heidegger hat sich entschlossen, also die Initiative ergriffen, also (frei?) gehandelt, um seine „Spätphilosophie“ ab 1933 eben „esoterisch“ darzustellen.

Leider versäumt es Trawny zu erläutern, warum gerade zu Beginn der Nazi Herrschaft (und der NSDAP Mitgliedschaft Martin Heideggers) es zu dieser esoterischen Wende bzw. „Initiative“ kam. Wie sind da die Verklammerungen und Wechselbeziehungen zu verstehen: Flüchtete sich Heidegger ins Esoterische, um sich zur Zeit der Nazis und dann später, nach 1945, unangreifbar zu machen, weil er ja eben Esoterisches (also nicht allgemein Zugängliches!) vom Seyn (!) her hörte und vernahm und „Winke (aus dem Adyton) empfing“, die eben die (offenbar dumme exoterische) Masse gar nicht wahrnehmen konnte? Ist da der Gedanke der Abgehobenheit (und später dann der Straflosigkeit und mutmaßlichen Unschuld) zu berücksichtigen? Vielleicht war die Mitgliedschaft Heideggers in der NSDAP selbst sogar ein „Wink“ des Adyton? Wer könnte dem so Hörenden und Gehorsamen dann noch böse sein, wenn er doch bloß dem Seyn (!) traute? Aber hinzu kommt: Heidegger war in den dreißiger Jahren geradezu angewidert von dem System der Universitäten und sicher auch von der Gestalt der Weimarer Republik. Im Zusammenhang des Aufstiegs der NSDAP wünschte er sich noch 1936 dringend explizit eine „Revolution“, einen Umsturz. Er wünschte sich tatsächlich: Der „Nationalsozialismus wäre schön als barbarisches Prinzip“, aber leider waren ihm dann die Nazis doch, so wörtlich Heidegger, „zu bürgerlich“ (so Trawny S. 33).

„Öffentlichkeit ist der Selbstmord der Philosophie!“

Es zeigt sich in unserem Zusammenhang immer wieder die polemische Abgrenzung Heideggers von der „Öffentlichkeit“ (10), der „public sphere“. „Dagegen begehrt sie, die Philosophie, Initimität“, meint der Meisterdenker. Gesucht ist von Heidegger ein Leser, der ebenso wie er bereit ist, das Adyton, das Unbetretbare, zu begehen. Heidegger wendet sich also, noch einmal, an die wenigen, die Mutigen, die vom Adyton „Gerufenen“, die eben anders denken wollen und können als die Mehrheit. Peter Trawny stellt im Zusammenhang der von Heidegger esoterisch bevorzugten Intimität sogar das „erotische Ereignis“ daneben. „War Heidegger nicht auch ein gewaltiger (sic !) Erotiker?“. Vor allem am Ende der Studie wird auch von Frauen gesprochen, u.a. auch von den, so wörtlich, „braunen Frauen“, von denen Hölderlin in einer Hymne spricht (103). Auf Seite 108 erinnert Trawny erneut an das Hauptanliegen des esoterischen Philosophen Heidegger, nämlich an „seine ununterbrochene Verdammung der Öffentlichkeit“.

Deutlicher kann man diese Zurückweisung von Öffentlichkeit, also rechtlicher Kontrolle, Disput, Gesetzen, Demokratie usw. kaum sagen. Heidegger ein Anti-Demokrat? Nach dem Gesagten ist das sehr wahrscheinlich. Das können nur diejenigen richtig finden, die selbst der Demokratie mißtrauen und sie insgeheim verachten. Weil sie arrogant sind zu meinen, es gebe viel Besseres, offenbar die Oligarchie?

Mit dieser Zurückweisung, Philosophie als öffentliche Sache zu betreiben, also für die meisten Gebildeten in einer allgemeinen Umgangssprache der Vernunft zu sprechen, liegt eine weitere polemische Zuspitzung. Trawny zitiert Heideggers geradezu erschütternde Wort: „Das Sichverständlichmachen ist der Selbstmord der Philosophie“ (14, bezogen auf Band 65, Seite 435). Das heißt in eine exoterische Sprache übersetzt: Die Philosophie (Heideggers) kann sich und darf sich und soll sich NICHT (allgemein, öffentlich) verständlich machen, wenn sie denn leben und überleben will. Zur Rolle der Philosophie in der und für die Gesellschaft könnte man wohl kaum Schlimmeres sagen, in unserer Sicht. Eigentlich gehört in dieser Sicht Heideggers Philosophie in die Hütte im Schwarzwald und nur dorthin, nicht aber in den Disput dieser (angeblich) so „schrecklichen“ Universität. Die „Öffentlichkeit“ kann man und muss man kritisieren, aber pauschal verdammen kann man sie im 20. Jahrhundert wohl ernsthaft nicht. Gäbe es keine Öffentlichkeit, wäre etwa schon diese Heidegger Kritik nicht möglich, sondern müsste erst einmal einer Zensur vorgelegt werden. War sich Heidegger der Dimensionen seiner antidemokratischen Haltung bewusst? Vieles spricht dafür, auch im Zusammenhang der „Schwarzen Hefte“.

Wenige Jahre vor der Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte“ (ab Frühjahr 2014) zeigt uns Trawny schon hier, sagen wir es ruhig, ein höchst unsympathisches Gesicht Heideggers. Denn Heidegger wendet sich gegen die philosophische Tradition als einer „Sache aller“, wie sie seit der Aufklärung eigentlich selbstverständlich galt. Die Agora als öffentlicher Platz der Philosophen wäre eigens zu debattieren. Hegel wehrte sich etwa gegen die Vorstellung, „die Philosophie könne ein esoterisches Besitztum einiger Einzelner“ sein, er förderte und forderte „die allgemeine Verständlichkeit“ (ob Hegel das immer gelang, ist eine andere Frage), so in der „Phänomenologie des Geistes“.

Die „Beiträge“ (Band 65) sollten „ein Geheimbuch“ sein und bleiben, das nur „zu bestimmten Adressaten sprach“ (41). Inzwischen liegt es in 3. Auflage vor. Warum wurde es erst nach dem Tod Heideggers publiziert? Wollte sich der immer noch als Philosoph hoch beachtete und bestaunte Heidegger nicht die „Blöße“ geben, nun als esoterischer Denker des Adyton (in der fruchtbaren Öffentlichkeit) zu gelten? Darauf gibt die Broschüre Trawnys leider keine Antwort.

Ein Intermezzo „Zur Übersetzung“: Die „Beiträge“ (Band 65) wenden sich also ausdrücklich nur an wenige und einzelne, d.h. an jene, die die Stimme des Seyns (sic!) hören können.

Trawny nennt die Texte dieses Buches, von 1936- 1938 geschrieben, „sehr sperrig“. Die Sprache Heideggers „orientiert sich (in Band 65) keineswegs an der Sprache des Alltags“ (42). In seinen Vorlesungen und sonstigen Publikation seit 1933 hingegen hat Heidegger diese nun für ihn grundlegende neue, esoterische Dimension seines Denkens eher verschwiegen, wie sie in Band 65 offensichtlich wird, meint Trawny (46). Dabei verschweigt Trawny, dass eigentlich alle Werke seit 1933 insgesamt von einer esoterischen Sondersprache geprägt sind! Man lese bitte nur einmal „Zeit und Sein“. Da warnt Heidegger selbst vor beinahe vollständiger „Unverständlichkeit“ für Exoteriker.

Die ganze Kunst des Verstehens besteht nun wohl darin, dass Philosophen diese sperrigen Texte nicht ihrerseits in der esoterischen Sprache nachsprechen und esoterisch wiederholen, sondern wie üblich beim Verstehen esoterischer Texte diese eben in die allen gemeinsame, d.h. die allgemeine, d.h. in die von Vernunftbegriffen bestimmte Sprache ÜBERSETZEN. So, wie man ein (esoterisches) Gedicht von Paul Celan nicht dadurch erläutert, dass man hundertmal Paul Celans Worte wiederum repetiert und zitiert, sondern das Celan-Gedicht eben in die allen gemeinsame, also allgemeine Sprache überträgt, so geht es wohl auch mit den esoterischen Äußerungen im Spätwerk Heideggers. Nehmen wir den Satz Heideggers aus diesen Jahren „Es göttert“. Den Satz kann man als verstehender Philosoph eben nur in der allgemeinen, also der öffentlichen Sprache übersetzen, will man denn nicht ein weiteres esoterisches Werk für wenige und einzelne schreiben.

Manchmal hat man den Eindruck, dass Peter Trawny in seiner Broschüre selbst ins esoterische Fahrwasser gerät, also im „Milieu“ Heideggers sich aufhält, ziemlich abstandslos, etwa wenn man den Satz liest: “In der Philosohie ist niemals Alles gleich möglich, selbst wenn ihr beinahe nichts unmöglich ist“ (108). Oder auf Seite 61steht der Satz: „Letztlich steht Alles und noch mehr als Alles auf dem Spiel“. Was ist „mehr als Alles“? Die Frage wird nicht beantwortet….

Nebenbei: Warum bedauert Trawny die, so wörtlich „zähe Aufweichung des Nationalstaates“ (78)? Offenbar, weil die „Nation und das „Volk“ abgeschafft wurden, wie er scheibt, mit dem Aufweichen des Nationalstaates… Hat man denn nichts davon gehört, dass die Kriege des 20. Jahrhunderts und davor Kriege von Nationalstaaten und Völkern waren, von Menschen und Herrschern, die sich als etwas „Besonderes“ fühlten und eben nicht schlicht als Menschen unter anderen gleichberechtigten Menschen. Das Plädoyer Trawnys für den Nationalstaat und das Volk ist seltsam und traurig zugleich in dem heutigen Europa der neuen Kriege der Völker und Nationen. In diesen Worten des Leiters des Heidegger Instituts glaubt man den Meister Heidegger selbst noch zuhören.

Einerseits lehnte es Heidegger ab, dass die Öffentlichkeit seine Philosophie beurteilen kann (also auch die damals von ihm anfänglich hoch umjubelten Nazi Herrscher), „so hielt er daran fest, dass die Philosophie ein herrschaftliches Wissen sei“ (35). Das kann bedeuten: Auch wenn Heideggers Philosophie nur einigen wenigen einleuchtete oder gar verständlich war, sollte sie doch als ein „herrschaftliches Wissen“ dann für alle in Staat und Gesellschaft „irgendwie“ gelten. Denn Heidegger, der Erwählte, hat Dinge gehört und gesehen im Adyton, die nur er und einige wenige gesehen haben. Deswegen sollten ja diese Menschen, die „zukünftigen Menschen“, herrschen, zusammen, wie er sagt, mit zahlreichen, so wörtlich „Bündischen“ und vielen, ebenfalls wörtlich Heidegger, „Zueinanderverwiesenen“. Wie diese drei Gruppen eine politische Legitimität erlangen können, interessierte Heidegger nicht, wie Trawny in der Beschreibung von Heideggers politischen Ideen betont (81).

Viele weitere Aspekte zur esoterischen Philosophie Heideggers können hier nicht ausgebreitet werden. Etliche Themen berührt Trawny in seiner Broschüre, etwa die Gottesfrage oder die Bedeutung Hölderlins, den Heidegger in einer merkwürdigen (nicht mehr logischen, aber vielleicht esoterischen) Steigerung „den Deutschesten der Deutschen“ (83) nennt.

Zusammenfassend sagt Trawny: „Heideggers esoterische Philosophie ist demnach eine Antwort auf die sich vor jenem Zusammenbruch befindende Moderne, der ein paar Jahre später in Auschwitz, Dresden und Hiroshima (um das jeweils Unvergleichbare zu nennen) Realität geworden ist“ (98 f.) Offenbar bemerkt Trawny, dass man Auschwitz (Symbol für die Vernichtung von 6 Millionen Juden) kaum in einer direkten Aufzählung so ohne weiteres neben Dresden (Bombardements der Alliierten auf eine Stadt in Nazi-Deutschland) und Hiroshima (Atombomben der Amerikaner auf Japan) stellen sollte und stellen darf. Alle ethischen Fragen der fundamentalen Schuld der Nazis und ihrer Freunde werden damit ignoriert, so sehr einem die Toten in Dresden und Hirsohima natürlich leid tun.

Direkt anschließend gehen die Probleme weiter: Wie soll man das Wort Trawnys in seine letztlich doch voller Verständnis für Heidegger geschriebenen Studie, verstehen: „Dass diese Antwort (Heideggers auf den Zusammenbruch der Moderne, CM) sich nicht an die Öffentlichkeit dieser Moderne wenden konnte, wird inzwischen ein wenig deutlicher geworden sein“ (99). „Ein wenig“ gewiss, wenn man denn mitmacht und hinzunehmen bereit ist, dass da ein Philosoph existiert mit dem Anspruch, auf das „Seyn“ hören zu können und dort seine Botschaften für den „Zirkel“ vernimmt.

Es gehören jetzt “starke Nerven” dazu, diese Philosophie Heideggers (ist es Denken, Poesie, Stammeln?) weiterhin im ganzen mitzuvollziehen. Wie viel Energie wurde ins Studium Heideggers gesetzt? War man blind? War man fasziniert? Dürfen Philosophen fasziniert sein vom Mysteriösen? Und jetzt also dieser sich immer deutlicher zeigende „Misston“ in seinem Denken, seiner Person, seinem Versteckspiel. Hätte man rechtzeitig auf Habermas gehört oder auf Karl Jaspers und andere…

Sicherlich bleiben einige Aspekte in Heideggers Philosophie noch interessant, inspirierend und denkwürdig. Wir haben viele Denkhaltungen Heideggers wohl längst „internalisiert“, ohne es noch thematisch zu wissen, etwa die ontologische Differenz, die Frage nach dem göttlichen Gott, die Achtsamkeit auf die Sprache usw… Aber kann man einige „Aspekte“ aus einem Gesamtwerk herausbrechen, wenn das Gesamtwerk einen eher problematisch unangenehmen, philosophisch politischen Geruch des Esoterischen hat? Können Fragmente stimmig oder gar wahr sein, wenn das Ganze einen, wie von Trawny zeigt, dann doch irritierenden esoterischen Charakter hat? Wenn Heidegger für den esoterischen Zirkel schrieb und explizit schreiben wollte, welches Recht haben dann Exoteriker, diese esoterischen Einsichten und „Winke“ ins Exoterische zu ziehen? Tun die Heidegger-Forscher und Heidegger-Interpreten dem Denker, der das Adyton hörte, mit ihren Arbeiten also einen Gefallen? Wenn ja, welchen?

COPYRIGHT auf diesem Text. Christian Modehn, Berlin. Religionsphilosophischer Salon Berlin. 10.August 2014. Jeglicher Nachdruck, selbst in Auszügen und wo auch immer, ist untersagt.

 

 

 

 

 

Religion ohne Gott. Hinweise zu dem neuen Buch von Ronald Dworkin

Religion ohne Gott. Ein Salongespräch am 25.7.2014

Hinweise von Christian Modehn

Das neue Buch von Ronald Dworkin „Religion ohne Gott“ ist in meiner Sicht ein kulturelles Ereignis. Man darf wohl einmal etwas vollmundig werden und sagen: Es gehört zusammen mit anderen philosophischen Veröffentlichungen der letzten Jahre zu den Büchern, die eine Korrektur, eine Wende, in den Debatten über Glauben und Nichtglauben, Theismus und Atheismus, signalisieren. Darin drückt sich etwas aus, was Hegel den „objektiven Geist“ (in Staat, Gesellschaft) nannte.

Ich nenne nur das viel zitierte Buch von Herbert Schnädelbach „Religion in der modernen Welt“. Schnädelbach drückt seine persönliche Trauer und den Schmerz aus, als Ungläubiger nicht glauben zu können.

Man denke an das äußerst inspirierende und sehr lebendig geschriebene Buch von Alain de Botton „Religion für Atheisten“, der in London die sehr bemerkenswerte School of life gegründet hat . Oder an Bruno Latour und sein Buch „Jubilieren. Über religiöse Rede“ wäre zu denken. Oder das für diese Thematik sicher bahnbrechende Buch von André Comte Sponville „Woran glaubt ein Atheist?“, französisch 2006.

Zu nennen wären auch die Studien von Thomas Nagel, der auf die geistigen Verbindungen hinweist, die zwischen der objektiven Natur und dem diese Natur erkennenden Menschen bestehen. (Vgl. das Buch Geist und Kosmos 2013) Es gibt also eine Verbindung geistiger Art zwischen Objekt und Subjektwelt. Das heißt, die rein materialistischen Erklärungen haben keine Gültigkeit mehr. Dabei versteht sich Nagel keineswegs als religiöser Metaphysiker. Aber er will das banale Denken des Materialismus und Naturalismus aufbrechen.

Die genannten Autoren bezeugen meines Erachtens eine bemerkenswerte „Synchronität“, es geht um ein tieferes Verstehen der Wirklichkeit in Richtung eines Erstaunlichen, Wunderbaren, vielleicht „Heiligen“.

Wenn man diese Titel und eben auch das Buch von Ronald Dworkin „Religion ohne Gott“ auf einen gemeinsamen Nenner bringen sollte: Da wird deutlich, dass es ausdrücklich Philosophen sind, die bekennen, nicht an eine göttliche Wirklichkeit, an Gott, glauben zu können! Diese Philosophen sind also, wenn man diese schlichte Etikette will, Atheisten; aber sie sind überzeugt: Es gibt eine Haltung im Denken und im Leben, die zwar ohne die Wirklichkeit Gottes auskommt, die aber doch tief spirituell ist, also geistvoll, menschlich im tiefen Sinne des vernünftigen Wesens. Diese Bücher sind sozusagen die andere Seite gegenüber dem polemischen, atheistisch – missionarischen Kampfbuch des Biologen Richard Dawkins, Der Gotteswahn, das 2006 erschien, und millionenfach verkauft wurde, weil die Werbung in den Medien entsprechend enthusiastisch war. Dieses Buch ist unter dem Schock des geistigen Erscheinungsbildes fundamentalistischer Kirchen und wahnhafter Lehren vor allem im amerikanischen Raum entstanden, so dass Dawkins ein aktuelles Interesse bediente. Aber sein Naturalismus ist einfach zu platt, zu grob, eben falsch.

Schnell wurden die Texte des Biologen Dawkins als vulgäratheistische Zeugnisse bewertet, wie der spirituelle Atheist Joachim Kahl sagt. Oder Dawkins wurde in die Gruppe der genannten Krawallatheisten eingereiht, wie der langjährige Leiter der Humanistischen Akademie Horst Groschopp sagte.

Vielleicht noch ein Hinweis zur Person des us – amerikanischen Philosophen ronald Dworkin: Geboren 1931, gestorben 2013. Er ist weltbekannt als Rechtsphilosoph und politischer Philosoph. Als solcher wehrte er sich gegen eine positivistische Rechtsphilosophie und trat ein für eine in der Menschenwürde und den Menschenrechten begründeten Rechtsordnung. Dworkin war ein Verteidiger der Gleichheit der Menschen, er kämpfte entschieden gegen alle Formen von Zensur, er verteidigte absolut die Meinungsfreiheit, trat für die religiöse Neutralität des demokratischen, liberalen Rechtsstaates ein.

Zum Buch „Religion ohne Gott“. Dabei muss man wohl von vornherein sehen: Dworkin hat den deutlichen Willen, praktisch zu wirken, er will als Philosoph sozusagen Mauern einreißen, ideologische Trennwände aufbrechen, ein unvermitteltes Gegeneinander von gläubig und atheistisch überwinden. Er will einen gemeinsamen philosophischen und spirituellen Boden bereiten, auf dem Gläubige und Atheisten gemeinsam friedlich und konstruktiv leben können. Das Buch will praktisch etwas bewegen.

Im Jahr 2011 hat Dworkin zu dem Thema an der Universität Bern Vorträge gehalten, sie sind in dem Buch Religion ohne Gott? Versammelt. Dworkin konnte die Vorträge nicht mehr bearbeiten, er ist am 14. Februar 2013 gestorben.

Für Dworkin ist“ Religion etwas Tieferes als Gott“ (S. 11). Gott ist sozusagen eine zweitrangige Vertiefung in der allen Menschen gemeinsamen religiösen Dimension.

Das Religiöse ist eine „grundlegende und umfassende Weltsicht, dass nämlich ein inhärenter, objektiver Wert alles durchdringt; dass das Universum und seine Geschöpfe Ehrfurcht gebieten; dass das menschliche Leben einen Sinn und das Universum eine Ordnung hat“ (S.11)

Es geht Dworkin um die absolute Hochachtung von Werten oder Idealen, die den Gläubigen wie den Atheisten gemeinsam sind. Sie sind verbunden in der Wertschätzung, ein (ethisch) gutes Leben zu gestalten, und zwar für sich selbst wie auch in Verantwortung für andere. Sie wollen fundamentale menschliche Entscheidungen für humane Werte in den Mittelpunkt stellen.

Dabei ist ausdrücklich die Frage nach Gott zurückgestellt. Nicht die Frage, ob ein Gott existiert, ist nach Dworkin zentral, sondern das Leben nach einem gemeinsamen humanen Ethos. Wer so lebt, kann „Religiöses“ erleben.

Dadurch, so Dworkin, könne die ideologische Zerrissenheit heutiger Gesellschaften ein Stückweit überwunden, wenn nicht geheilt werden. Man stelle sich ja tatsächlich einmal vor, die sich heute im Irak und anderswo totschlagenden Gott-Gläubigen würden auf den Begriff Gott/Allah verzichten, sie würden sich also Gottes und Allahs nicht mehr bedienen für die Begründung ihres Mordens: Sie würden vielmehr sich selbst „nur“ als spirituelle Menschen, also bloß als Menschen betrachten: Negative Power wäre damit sicher überwunden. „Wenn es gelingen sollte, Religion und Gott auseinanderzudividieren, könnten wir jenen Scharmützeln etwas von der Hitzigkeit nehmen, indem wir zwischen wissenschaftlichen Fragen und Wertfragen (an die alle Menschen gebunden sind CM) unterscheiden“ (S. 18).

Dworkin will zeigen: Es gilt, diese Einsicht unter allen Menschen zu pflegen, dass das Leben in der Welt nicht darauf verzichten kann, das grundlegende Geheimnis des Lebens wahrzunehmen.

Es gibt Lebenserfahrungen, die niemals angemessen mit der Begrifflichkeit der Naturwissenschaften erklärt und durchleuchtet werden können.

Das Buch von Dworkin „Religion ohne Gott“ wurde auch in Deutschland mit großem Interesse aufgenommen, d.h. es wurde in den Medien oft erwähnt. Dabei darf nicht verschwiegen werden, dass das Buch manchmal für Nichtphilosophen nicht gerade eine „leichte Lektüre“ ist. Explizit wird der Titel des Buches auch vor allem (nur) im ersten Kapitel des Buches behandelt. Das dritte Kapitel etwa behandelt Fragen rund um die Religionsfreiheit, dabei spürt man, dass Dworkin ursprünglich ein sehr starkes Interesse an Rechtsphilosophie hat und als solcher vor allem auch international geschätzt wird!

Es wird also die These zur Diskussion gestellt: „Religion ist etwas Tieferes als Gott“. Offenbar ist gemeint: Gott meint immer historisch gewordenen Gottesbilder, während Religion sich auf absolut geltende Werte bezieht.

Wichtiger noch ist die philosophische Kritik, dass Dworkin in seiner Konzeption die Werte in einer sehr objektivistischen Weise versteht. So, als würden die Werte aus dem Umfeld eines moralisch guten Lebens uns wie feste Bilder vor Augen stehen, also objektiv und immer „vor uns“ gegeben sein. Wir müssen diese objektiven Werte nur betrachten und ihnen dann bitte schön folgen.

Mit anderen Worten: Wir haben den Eindruck, dass Dworkin einer allzu objektivistischen (alten) Wertelehre folgt. Dabei hat er unseres Erachtens kein Gespür dafür, dass „die Werte“ spätestens seit Nietzsche auch ein Werk des schöpferischen Subjekts sind. Von Werten kann nur noch gesprochen werden, wenn man allen Nachdruck auf den Werte erlebenden Menschen, „das Subjekt“, setzt. Und auch auf die schöpferische Kraft der Menschen, Werte zu setzen. Diese können ja auch unbedingte Geltung haben, selbst wenn sie in einer bestimmten Kultur entstanden sind. Arnim Regenbogen schreibt in dem Lexikonbeitrag „Wert/Werte“ in dem dreibändigen Lexikon „Enzyklopädie Philosophie“ Band 3, Seite 2974: “Werthaftigkeit ist keine objektive Eigenschaft von Dingen, sondern muss als Beziehung bewertender Subjekte auf Gegenstände betrachtet werden. Durch eine Wertung wird ein Gegenstand menschlichen Handelns selbst zum Wert“.

Religionsphilosophisch gesehen ist es fraglich, ob ein religiöser Mensch beim Erleben des Erhabenen sozusagen aufhört, weiter zu fragen und sich etwa bloß an diese weltliche Erfahrung eines (angeblich) wunderbaren Kosmos hält und damit „begnügt“. Die Fragebewegung geht weiter, nicht in dem Sinne, dass klassisch metaphysisch nach der „ersten Ursache“ in Form eines alten Gottesbeweises gefragt wird. Aber in der Reflexion auf die Fähigkeit des menschlichen Geistes, Erhabenes und Wunderbares in dieser Welt zu erleben, wird die (vom Menschen unabwerfbare, „gegebene“) Kraft des menschlichen Geistes in neuem Licht erscheinen, als eine ständige, ruhelose Fragebewegung. Mit dieser Erfahrung und der ihr entsprechenden Aussage erlebt sich der Mensch neu, als hineingestellt in eine ständige geistige Bewegtheit ohne Ende (und unbekannter Herkunft). Dabei wird sozusagen dann „das Wesen des Menschen“ (um diesen klassischen begriff einmal zu verwenden) ganz neu gesehen. Nämlich: Der Mensch kann sich nie ganz umfassen und begrifflich durchsichtig machen. Er ist sich selbst der Unbekannte, das Geheimnis, das etwas Gegebenes ist, manche sagen eine „Gabe“. Von daher tasten sich dann einige Philosophen doch weiter zu Frage: Wie kann eine umfassende Anwesenheit eines unabwerfbar „Gebenden“ in der Gabe (also dem Menschen!) gedacht werden?

Mit anderen Worten: Die Thesen von Dworkin sind insofern inspirierend, als sie auf ein dringendes Thema aufmerksam machen und so im Denken über seinen Text hinausführen – in eine größere Weite. Es gibt dann ein Denken, in dem Gott in der Schwebe sozusagen bleibt, zwischen personal und a-personal gedacht. Eine Überzeugung, für die der protestantische Theologe Paul Tillich eingetreten ist, auf ihn weist Dworkin ausdrücklich hin (Seite 41). „Vielleicht sollte man davon ausgehen, dass Tillich beides war, ein religiöser Theist und ein religiöser Atheist, der glaubte, dass die ´numinose` Beschaffenheit der religiösen Erfahrung den Unterschied zwischen beiden (Theisten und Atheisten) zum Verschwinden bringt“: (ebd.). Diese Einschätzung wird von Dworkin leider nicht weiter vertieft. Daran aber sollte man weiter „arbeiten“.

Deutlich ist jedenfalls: Wir stehen in einem tief greifenden religiösen Wandel, der theologisch und religionsphilosophisch von aufmerksamen Denkern Ausdruck findet.

Zu diskutieren wäre etwa das häufige und immer wieder kehrende Eingeständnis von Literaten, Künstlern und Philosophen, sie könnten nicht glauben. Das wird oft mit dem Ton des Bedauerns gesagt. Etwa auch von Herbert Schnädelbach, er könne sich vorstellen, was Glauben wäre, aber er kann nicht glauben (In: Religion in der modernen Welt, S. 85). Auch von dem spirituell sehr sensiblen, christlich interessierten Dichter Antoine de Saint Exupéry (am 31. Juli 1944 als Pilot im 2. Weltkrieg abgestürzt) wird berichtet: Er habe in einem Brief ein Jahr vor seinem Tod geschrieben: „Hätte ich den Glauben, stünde es fest, dass ich, sobald dieser Job (des Fliegers) vorüber ist, nur noch das Kloster Solesmes (und die dortigen gregorianischen Gesänge) ertragen könnte. …Man kann nicht mehr leben ohne Poesie, ohne Farbe, ohne Liebe“ .

Die Frage ist also: Ist die Sehnsucht nach dem Glauben, die Suche nach ihm, das Auslangen nach ihm, das Verzweifeln an ihm, kurz: das Leiden darunter, nicht glauben zu können, nicht bereits die entscheidende Form des Glaubens? Ist denn der „eigentliche Glaube“ die totale Sicherheit, das Eingeschlossensein in eine fixe Glaubenswelt? Wer solcher Defionition folgt, entspricht der Lehre der Herren der Kirche, die bestimmen und verfügen wollen und eigenmächtig definieren, was glauben ist und was nicht. Die Definition wird hingegen von allen, auch den Suchenden, Fragenden, usw. festgelegt.

Also: Glauben ist immer nur als Sehnsucht (nach Erfüllung, Frieden, dem Göttlichen) möglich, selbst, dann wenn man meint zu glauben, “hat” man doch Gott oder den Glauben niemals. Sind dann also diese Suchenden und Fragen nicht bereits wesentlich Glaubende? Und wenn man es theologisch will: Sind diese Menschen, die nicht glauben können, nicht bereits schon Teilnehmer der Gemeinde, auch wenn sie das selbst nicht so sehen oder auch gar nicht wünschen. Aber aus dem theologischen „Innenblick“ sind sie Glaubende.

Wenn sich das jene eingestehen würden, die meinen, „sicher“ und „zweifelsfrei“ zu glauben, wäre die Teilname all der anderen, der Fragenden, Zweifelnden usw. eine große „Bereicherung“ für das Miteinander derer, die nach dem Sinn des Lebens suchen, also versuchen, Gemeinde zu sein. Wir brauchen also eine philosophische Debatte darüber, was Nicht-Glauben (Können) eigentlich bedeutet!

Ronald Dworkin, Religion ohne Gott. Suhrkamp, 2014, 146 Seiten, 19.95€.

 

 

 

 

“Religion ohne Gott”. Ein neues Buch von Ronald Dworkin

Religion ohne Gott. Ein Buch des Philosophen Ronald Dworkin.

Hinweise von Christian Modehn

Das Thema bewegt viele Menschen: Gibt es eine Religion ohne Gott, kann man also religiös sein ohne die Annahme einer personalen göttlichen Wirklichkeit? Dass sich die Identitäten in der breiten Bewegung, die sich atheistisch nennt, verändern, wurde ja schon mehrmals in letzter Zeit betont, man denke etwa an die Arbeiten von Herbert Schnädelbach oder Alain de Botton.

Der us – amerikanische Philosoph Ronald Dworkin hat also auch gespürt, dass sich für diese Frage viele Menschen in Europa und Amerika aus tiefer persönlicher „Betroffenheit“ interessieren: Einen personalen Gott können sie vor ihrem  intellektuellen Gewissen nicht rechtfertigen, und die totale Ablehnung religiöser (Erhabenheits-) Gefühle finden doch auch Atheisten zu banal. Im Jahr 2011 hat Dworkin zu dem Thema an der Universität Bern Vorträge gehalten, sie liegen nun als Buch vor. Dworkin konnte die Vorträge nicht mehr bearbeiten, er ist am 14. Februar 2013 gestorben.

Das Buch ist im wesentlichen ein Plädoyer für die religiöse Verbundenheit von unterschiedlichen Menschen, die sich gläubig bzw. ungläubig, „atheistisch“ nennen. Sie sind nach Dworkin verbunden in der absoluten Wertschätzung, ein (ethisch) gutes Leben zu gestalten, und zwar für sich selbst wie auch in Verantwortung für andere. Es gilt, fundamentale menschliche Entscheidungen für humane Werte in den Mittelpunkt zu stellen, an diese Werte fühlen sich Gläubige wie auch Atheisten gebunden. Nicht die Frage, ob ein Gott existiert, ist nach Dworkin zentral, sondern das Leben nach einem gemeinsamen humanen Ethos. Darin kann sich „Religiöses“ zeigen. Entscheidend auch: Dadurch, so Dworkin, könne die ideologische Zerrissenheit heutiger Gesellschaften ein Stückweit überwunden, wenn nicht geheilt werden. Man stelle sich ja tatsächlich einmal vor, die sich heute im Irak und anderswo totschlagenden Gott-Gläubigen würden auf den Begriff Gott/Allah verzichten, sie würden sich also Gottes und Allahs nicht mehr bedienen für die Begründung ihres Mordens: Sie würden vielmehr sich selbst „nur“ als spirituelle Menschen betrachten: Ein bisschen negative Power wäre damit sicher überwunden. „Wenn es gelingen sollte, Religion und Gott auseinanderzudividieren, könnten wir jenen Scharmützeln etwas von der Hitzigkeit nehmen, indem wir zwischen wissenschaftlichen Fragen und Wertfragen (an die alle Menschen gebunden sind CM) unterscheiden“ (S. 18).

Aber bleiben wir bei einem Beispiel aus dem europäisch- amerikanischen Bereich, den Dworkin vor Augen hat:  Fromme Christen kümmern sich zum Beispiel vermehrt um die Erfahrungen des Wunderbaren und Erhabenen, lassen dabei Gott Gott sein; Atheisten ebenso und lassen dabei ihre Ablehnung eines himmlischen, göttlichen „Herrn“ beiseite.

Dworkin will zeigen: Es gilt, diese Einsicht unter allen Menschen zu pflegen, dass das Leben in der Welt nicht darauf verzichten kann, den Begriff Geheimnis zu verwenden.

Es gibt Lebenserfahrungen, die niemals angemessen mit der Begrifflichkeit der Naturwissenschaften erklärt und durchleuchtet werden können. Von daher wendet sich Dworkin entschieden gegen die – als philosophische Mode schon längst wieder eingeschränkte – Überzeugung der so genannten (philosophischen) Naturalisten (man denke an Richard Dawkins).

Das Buch von Dworkin „Religion ohne Gott“ wurde auch in Deutschland mit großem Interesse aufgenommen, d.h. es wurde in den Medien oft erwähnt. Dabei darf nicht verschwiegen werden, dass das Buch manchmal für Nichtphilosophen nicht gerade eine „leichte Lektüre“ ist. Explizit wird der Titel des Buches auch vor allem (nur) im ersten Kapitel des Buches behandelt. Das dritte Kapitel etwa behandelt Fragen rund um die Religionsfreiheit, dabei spürt man, dass Dworkin ursprünglich ein sehr starkes Interesse an Rechtsphilosophie hat und als solcher vor allem auch international geschätzt wird!

Es wird also die These zur Diskussion gestellt: „Religion ist etwas Tieferes als Gott“. Offenbar ist gemeint: Gott meint immer historisch gewordenen Gottesbilder, während Religion sich auf absolut geltende Werte bezieht.

Wichtiger noch ist die philosophische Kritik, dass Dworkin in seiner Konzeption die Werte in einer sehr objektivistischen Weise versteht. So, als würden die Werte aus dem Umfeld eines moralisch guten Lebens uns so zusagen wie feste Bilder vor Augen stehen, also objektiv und immer „vor uns“  gegeben sein. Wir müssen diese objektiven Werte nur betrachten und ihnen dann bitte schön folgen. Mit anderen Worten: Wir haben den Eindruck, dass Dworkin einer allzu objektivistischen (alten) Wertelehre folg. Dabei hat er unseres Erachtens kein Gespür dafür, dass „die Werte“ spätestens seit Nietzsche auch ein Werk des schöpferischen Subjekts sind. Von Werten kann nur noch gesprochen werden, wenn man allen Nachdruck auf den Werte erlebenden Menschen, „das Subjekt“, setzt. Und auch auf die schöpferische Kraft der Menschen, Werte zu setzen. Diese können ja auch unbedingte Geltung haben, auch wenn sie in einer bestimmten Kultur entstanden sind. Arnim Regenbogen schreibt in dem Lexikonbeitrag „Wert/Werte“ in dem dreibändigen Lexikon „Enzyklopädie Philosophie“ Band 3, Seite 2974: “Werthaftigkeit ist keine objektive Eigenschaft von Dingen, sondern muss als Beziehung bewertender Subjekte auf Gegenstände betrachtet werden. Durch eine Wertung wird ein Gegenstand menschlichen Handelns selbst zum Wert“.

Religionsphilosophisch gesehen ist es fraglich, ob ein religiöser Mensch beim Erleben des Erhabenen sozusagen aufhört weiter zu fragen und sich etwa bloß an diese weltliche Erfahrung eines (angeblich) wunderbaren Kosmos hält. Die Fragebewegung geht weiter, nicht in dem Sinne, dass klassisch metaphysisch nach der „ersten Ursache“ in Form eines alten Gottesbeweises gefragt wird. Aber in der Reflexion auf die Fähigkeit des menschlichen Geistes, Erhabenes und Wunderbares in dieser Welt zu erleben, wird die (vom Menschen unabwerfbare, „gegebene“)  Kraft des menschlichen Geistes in neuem Licht erscheinen, als eine ständige, ruhelose Fragebewegung. Mit dieser Erfahrung und der ihr entsprechenden Aussage erlebt sich der Mensch neu, als hineingestellt in eine ständige geistige Bewegtheit ohne Ende (und unbekannter Herunft). Dabei wird sozusagen dann „das Wesen des Menschen“  (um diesen klassischen begriff einmal zu verwenden) ganz neu gesehen. Nämlich: Der Mensch kann sich nie ganz umfassen und begrifflich durchsichtig machen. Er ist sich selbst der Unbekannte, das Geheimnis, das etwas Gegebenes ist, manche sagen eine „Gabe“. Von daher tasten sich dann einige Philosophen doch weiter zu Frage: Wie kann eine umfassende Anwesenheit eines unabwerfbar „Gebenden“ in der Gabe (also dem Menschen!) gedacht werden?

Mit anderen Worten: Die Thesen von Dworkin sind insofern inspirierend, als sie auf ein dringendes Thema aufmerksam machen und so im Denken über seinen Text hinausführen – in eine größere Weite. Vielleicht könnte dann auch Gott neu ins Denken kommen, indem er nicht mehr naiv personal gedacht wird und nicht mehr naiv als absolut inexistent zurückgewiesen wird. Sondern es gibt dann ein Denken, in dem Gott in der Schwebe sozusagen bleibt, zwischen personal und a-personal gedacht. Eine Überzeugung, für die der protestantische Theologe Paul Tillich  eingetreten ist, auf ihn weist Dworkin ausdrücklich hin (Seite 41). „Vielleicht sollte man davon ausgehen, dass Tillich beides war, ein religiöser Theist und ein religiöser Atheist, der glaubte, dass die ´numinose` Beschaffenheit der religiösen Erfahrung den Unterschied zwischen beiden zum Verschwinden bringt“: (ebd.). Diese Einschätzung wird von Dworkin leider nicht weiter vertieft. Daran aber sollte man weiter „arbeiten“.

Ronald Dworkin, Religion ohne Gott. Suhrkamp, 2014, 146 Seiten, 19.95€

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Religion vor der Herausforderung der Vernunft. Zum 85. Geburtstag von Jürgen Habermas

Religiöser Glaube vor der Herausforderung der Vernunft

Hinweise zum 85. Geburtstag von Jürgen Habermas am 18. Juni 2014

Von Christian Modehn, veröffentlicht am 15. Juni 2014

Zum 80. Geburtstag (2009) wurden schon einige Hinweise zu den Auseinandersetzungen von Jürgen Habermas mit Religionen und Glauben publiziert. Wir weisen noch einmal auf diesen Text hin. Klicken Sie zur Lektüre hier.

1.

Aus dem umfassenden und grundlegenden Denken des Philosophen Jürgen Habermas möchte der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ erneut nur auf einen Aspekt seiner neuen Arbeiten hinweisen, auf die Rolle, die Religionen in den postsäkularen Gesellschaften Europas spielen können sowie auf die Frage, welche Form des Umgangs mit fundamentalistischen, also demokratiefeindlichen Religionen gelten sollte. „Postsäkular“  bedeutet, dass die von vielen (Soziologen) erwartete totale Säkularität nicht eingetreten ist. Religionen sind heute öffentlich sichtbar und auf vielfache Weise lebendig (und gefährlich).

2.

Dabei beziehen wir uns auf einen eher kurzen Aufsatz von Jürgen Habermas mit dem Titel „Politik und Religion“. Er ist in dem – insgesamt empfehlenswerten – Buch „Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart“ erschienen, Friedrich Wilhelm Graf und Heinrich Meier haben es im C.H. Beck Verlag 2013 herausgegeben. Ausgangspunkt für Habermas ist die Gesellschaft, die er postsäkular nennt, also eine Gesellschaft, die sich entgegen vielfacher Erwartungen nicht zu einer totalen Säkularität (oder bis hin zur umfassenden Gottlosigkeit) entwickelt, sondern in der das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften und religiösen Lebens offenkundig ist.

Seit mehr als 15 Jahren bietet Habermas Interpretationshilfen, um diese postsäkulare Gesellschaft zu verstehen. Einerseits ist für ihn unbestreitbar, dass der auf Vernunftgründen gebaute, also keiner bestimmten religiösen Tradition verpflichtete Staat, den man immer noch „säkular“ nennen muss (die Gesellschaft ist aufgrund der vorhandenen religiösen Vielfalt post – säkular, nicht der Staat!), gestärkt und verteidigt werden muss.

Religiösen Fundamentalismus kann der liberale Rechtstaat nicht zulassen. Er würde sich aufgeben, wenn eine bestimmte Religion ihre aus Offenbarungen entnommenen Weisungen unmittelbar ins politische und staatliche Leben übertragen würde. Das wäre das Ende eines auf Toleranz und Respekt vor den anderen Überzeugungen gegründeten liberalen Staates.

3.

Allerdings drängt Habermas auch in dem genannten Aufsatz/Vortrag auf eine differenzierende Haltung: In einem liberalen Staat müssen alle Bürger sich öffentlich und vernünftig äußern können, eben auch religiöse Bürger. „Religionsgemeinschaften dürfen, solange sie in der Bürgergesellschaft eine vitale Rolle spielen, nicht aus der politischen Öffentlichkeit in die Privatsphäre verbannt werden“ (S. 289 in dem genannten Buch von Graf/Meier). Das heißt konkret: Zu den in Staat und Gesellschaft heftig diskutierten Fragen wie Abtreibung, Sterbehilfe usw. dürfen sich selbstverständlich religiöse Bürger auch mit ihrer, aus der Religion stammenden Sicht zu diesen Themen äußern. Allerdings, und das ist für Habermas entscheidend: Wenn diese religiösen Beiträge von religiösen Bürgern auch in die „Agenden staatlicher Entscheidungsorgane Eingang finden“ (S. 290), dann müssen diese religiösen Beiträge, so Habermas wörtlich, ÜBERSETZT werden  in einen „allgemein zugänglichen (von Glaubensautoritäten unabhängigen) Diskurs“ (ebd.) Das heißt: Religiöse Inhalte, die politisch relevant werden sollten, müssen in die allgemeine Sprache aller Bürger und ihrer Gesetze gestaltet, übersetzt werden. Mit anderen Worten: Die esoterische Sprache der Religiösen muss ins Allgemeine, allen zugängliche Vernünftige, eben “Exoterische” übersetzt werden, um einmal mit den beiden Begriffen esoterisch und exoterisch zu spielen.

Jürgen Habermas betont abermals in aller Deutlichkeit: „Wenn die liberale Verfassungsordnung …Legitimität beanspruchen können soll, dann müssen sich grundsätzlich ALLE Bürger, auch die religiösen, von der Vernünftigkeit der Verfassungsprinzipien überzeugen können“ (ebd.) Das heißt: Den religiösen Bürgern wird in einer liberalen Demokratie zugemutet, dass sie die „allein auf Vernunft gestützten Grundsätze von Demokratie und Rechtsstaat jeweils auch aus ihrem Glauben heraus begründen“. (S. 291).

4.

Jürgen Habermas ist alles andere als fromm geworden, wie manche Beobachter etwa nach dem Münchner Gespräch mit Kardinal Ratzinger behaupteten und sich freuten, dass nun ein entschiedener Vertreter der (in kirchlicher Sicht) „bösen“ Aufklärungsphilosophie den Religionen und ihren Lehren entgegen kommt. Er kommt den religiösen Menschen allerdings entgegen. Und er wirbt sogar bei den säkularen Bürgern für ein Verstehen, dass sich die religiösen Bürger um ihre eigenen Offenbarungstraditionen kümmern und sorgen und diese Inhalte auch irgendwie staatlich geltend zu machen suchen. Aber religiöse Inhalte müssen für ihn, um staatlich wirksam zu sein, durch einen „Filter“ (S. 290), der religiöse Esoterik in allgemein nachvollziehbare vernünftige Sprachlichkeit führt.

5.

Es gibt für Habermas keinen Zweifel, dass die Idee von Demokratie und Menschenrechten über jeden Relativismus erhaben ist (S. 292). „Nicht zufällig bedienen sich heute Dissidenten in aller Welt der Sprache von Demokratie und Menschenrechten“ (ebd.). Habermas plädiert erneut für eine „selbstbewusste Verteidigung dieser universalistischen Ansprüche“ (S. 293), auch wenn er wohl weiß, wie diese humanen Prinzipien schnell missbraucht werden können und noch heute missbraucht werden in Gestalt etwa us-amerikanischer imperialer Politik oder einer europäischen “Entwicklungspolitik”, die arme Länder eher abhängig macht als zur Eigenständigkeit führt. Dabei weiß Habermas: Es gab falsche eurozentrische Verallgemeinerungen in Gestalt „imperialistischer Eroberungen und kolonialer Greuel“ (S. 292). Erst die Säkularisierung der Staatsgewalt hat für mehr Frieden gesorgt angesichts der religiösen Gewalt der Konfessionskriege.

6.

An den Prinzipen der Menschenrechte müssen die Menschen festhalten, trotz des offensichtlichen Missbrauchs im Namen dieser Menschenrechte. Was bliebe der Menschheit, wenn man die Menschenrechte fallenlassen und „verabschieden“ würde? Wohl nur das absolute Recht des Stärkeren ohne jegliche Perspektive des Besseren, ohne jegliche Chance, die Mörder usw. zu bestrafen.

7.

Dabei schärft Habermas immer wieder ein: Religiöse Bürger nicht nur als einzelne Bürger zu respektieren, „sondern als Teilnehmer an der gemeinsamen Praxis des öffentlichen Vernunftgebrauches von Staatsbürgern ernst zu nehmen“ (293). Vielleicht finden säkulare Bürger sogar in der religiösen Sprache „Resonanzen eigener verdrängter Intuitionen wieder“ (ebd.). Dadurch ist die Fremdheit zwischen Religiosität und Säkularität nicht so groß!

8.

Zum Schluss empfiehlt Habermas der Philosophie, „den Faden einer dialogischen Beziehung zur Religion nicht abreißen zu lassen“ (299). Dabei führt er zwei pragmatische – politische Argumente ins Spiel: Habermas sieht eine gewisse Schwäche der Vernunftmoral; er fragt, ob sie heute (allein) in der Lage ist, für die Integration vielfältiger Kräfte in der Gesellschaft zu sorgen. Er sieht zudem eine Schwäche der aufgeklärten, philosophisch vermittelten Moral, zu solidarischem Handeln umfassend zu verpflichten. Habermas fragt zudem, durchaus pessimistisch in unserer Sicht, ob die aufklärerische Philosophie nicht einen gewissen Defätismus verbreitet und deswegen als solche kaum in der Lage ist, dem, so wörtlich,  gefährlichen Kapitalismus Widerstand zu leisten, „der die Politik entwaffnet und die Kultur einebnet“ (300).

Dieser Pessimismus, geäußert am Ende des genannten Beitrags, darf wohl nicht so verstanden werden, als sehne sich Habermas nun doch wieder nach der ethischen oder gar politischen Macht der Kirchen und Religionen mit ihren aus den Offenbarungen stammenden Weisungen zurück, bloß weil die Kirchen möglicherweise 1000 Mutter Theresas anbieten könnten. Er will wohl nur ermuntern, die Vernunftmoral selbst stärker zu besprechen, zu hüten und zu pflegen. Kurz, die immer bedrohte Sache der Vernunft zur eigenen zu machen. Was haben wir denn sonst als Ordnungsprinzip in einer zunehmend „verrückt“ werdenden Welt?

9.

PS: Wir empfehlen in dem genannten Buch aus dem C. H. Beck Verlag den Beitrag des Münchner Theologen Friedrich Wilhelm Graf, der die „Einleitung“ zu den Beiträgen dieses Buches verfasste. Er plädiert für eine starke moderne liberale Theologie als Form des intellektuellen Widerstandes gegen alle Formen harter, verknöcherter, versteinerter Formen des Religiösen. „Die Bürgergesellschaft braucht argumentativ ausgetragenen Glaubensstreit“ (43). „Wer den dogmatisch Starren, Harten … nicht das religiöse Feld überlassen will, muss mit ihnen streiten, auch über Glaubensfragen“. Schließlich darf man die Deutung der  Religion nicht den antidemokratischen Kräften überlassen. (s. S 44). Die liberale, die vernünftige Religion ist der beste Gesprächspartner und Vermittler in der säkularen Kultur, von der Habermas spricht.

Aber diese liberale, vernünftige christliche Gestalt der Religion hat es schwer, etwa angesichts des esoterischen, in sich geschlossenen charismatischen und fundamentalistischen christlichen Glaubens. In der allgemeinen Verwirrung der Gegenwart, verursacht durch das Zerbrechen einer vernünftigen Ökonomie bei einem schwachen demokratischen Staat, wird Religion wieder eher als rauschhaftes Opium gesucht (und teuer angeboten, siehe die meisten Pfingstgemeinden in Lateinamerika) denn als Form vernünftigen Glaubens, der das Leben im Horizont des Ewigen vorsichtig und nachvollziehbar interpretiert und von Gott eben nicht alles weiß, wie einst und heute die Dogmatik.

10.

Sehr lesenswert ist ebenfalls der „Epilog“ des anderen Herausgebers Heinrich Meier, er arbeittet als Professor für Philosophie an der Universität München und auch in Chicago. Er erinnert u.a. daran, wie die Philosophie seit dem Mittelalter von der dominanten Theologie und Kirche „domestiziert“ und „neutralisiert“ wurde, und als „selbständige Lebensweise“ (S. 311) verloren ging. Aber das ist ein weiteres Thema, auf das der Religionsphilosophische Salon zurückkommen wird.

Zur weiteren Lektüre:  Wer noch einmal grundlegende, eher kürzere Texte zum Thema „Habermas und die Religionen im Zusammenhang der Vernunft“ lesen möchte: Die Rede von Jürgen Habermas anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2001 mit dem Titel „Glauben und Wissen“ ist im Suhrkamp erschienen und kostet nur 5 Euro! Fast eine Pflichtlektüre!

11.

In dem Buch „Über Habermas“ (hg. von Michael Funken) aus dem Primus Verlag (2008) ist ein schönes Interview mit Jürgen Habermas unter dem Titel „Ich bin alt, aber nicht fromm geworden“ (Seite 181-190) veröffentlicht. Diesen Titel sollte man im Kopf haben, wenn man an den Disput von Habermas in der Philosophischen Hochschule der Jesuiten in München (Februar 2007) denkt, der unter dem Titel „Ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ erschienen ist; ebenfalls in der edition suhrkamp.  In dem Buch „Über Habermas“ versucht übrigens der evangelische Theologe (und ehem. Ratsvorsitzende der EKD) Wolfgang Huber eine gewisse Nähe von Habermas zur „evangelischen Form“ (S. 134) des Glaubens herzustellen. Huber schreibt: „Ich bin auch skeptisch, ob das Max-Weber-Zitat vom -religiös Unmusikalischen-, das Habermas in seiner Friedenspreisrede aufgegriffen hat, so umstandslos auf ihn selbst passt“ (S. 133). Habermas dürfte dieser Behauptung von Wolfgang Huber wohl widersprechen.

Copyyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Mehr Licht, mehr Aufklärung: Zur aktuellen Diskussion in Frankreich

Lumières, Aufklärung, heißt die Antwort: Zur Diskussion über den Wahl-Erfolg des FN (Le Pen) in Frankreich

Von Christian Modehn

„Ich meine, durch die Konzeption einer auf sich selbst bezogenen und in sich verschlossenen Nation und ihres Kultes einer starken Macht, steht die Partei Front National mehr Vichy nahe als den Ideen der Demokratie, die von der Philosophie der Aufklärung begründet sind. Denn Demokratie bedeutet zuerst: Humanistische und universale Prinzipien, die die Partei FN zurückweist. Wenn die Partei FN in Frankreich die Macht ergreifen würde, dann handelte es sich um ein anderes Frankreich!“ So der (heute in Tel Aviv lebende, in Przemysl geborene) Historiker Zeev Sternhell. Er erinnert in seinem neuen Buch „Histoire et Lumières. Changer le Monde par la Raison“ („Geschichte und  Aufklärung. Die Welt verändern durch die Vernunft“), erschienen bei Albin Michel, Paris, 2014, einmal mehr an die Wurzeln rechtsradikalen Denkens in Frankreich.  Sternhell ist ein Spezialist für die Geschichte Frankreich im 20. Jahrhunderts: Er betont, dass sich das Vichy Regime nur deswegen so schnell etablieren konnte und sich dann so erfolgreich durchsetzte, weil der Geist, l ésprit, vieler Franzosen schon längst antisemitisch verdorben war, vor allem auch vieler so genannter Intellektueller. „Sie waren auch vergiftet vom Hass auf die Demokratie“, so Julie Clarini in “Le Monde” vom 30.Mai 2014. Es gab in Frankreich immer schon einen lang dauernden Kampf gegen die Ideen der Aufklärung und der Philosophie Kants, gegen alles, was das Allgemeine des Menschen, aller Menschen betont, wie die Toleranz usw. Im Katholizismus Frankreichs denke man etwa an die immer noch starke Bewegung der Traditionalisten und die in allen größeren Städten vorhandenen Gemeinden der Piusbrüder. Sternhell meint: Diesen Kampf zugunsten der Aufklärung gelte es jetzt, angesichts der Erfolge des Front National bei den Europawahlen 2014,  neu zu beleben. Es geht um die Demokratie, so gebrechlich sie auch erscheint, so tief reformbedürftig sie auch ist…

Wir haben vor kurzem auf die äußerst einseitigen, eher pro-FN wirkenden Äußerungen des Philosophen Alain Finkielkraut hingewiesen.

Jetzt schlägt der Soziologe, Politologe und Historiker der „französischen Ideen“ Pierre-André Taguieff  in seinem neuesten Buch „ Du diable en politique. Réflexions sur l’antilepénisme ordinaire“  (Über den Tuefel in der Politik. Reflexionen über den  gewöhnlichen Anti – Lepenismus), erschienen 2014 in Paris, bei den CNRS Éditions, eine ungewöhnliche Variante vor, den FN und die Ideen der Familie Le Pen zu „bekämpfen“. Pierre André Taguieff meint, die Verteufelung dieser rechtsextremen Partei in der Öffentlichkeit, in den Medien usw., sollte endlich aufhören zugunsten einer gründlichen Auseinandersetzung. Dass die kritische Auseinandersetzung verstärkt werden muss, ist keine Frage. Aber für Taguieff soll sie die Voraussetzung haben, diese rechtsextreme Partei als eine Partei wie alle anderen, als eine normale Partei, zu verstehen, zu deuten, zu behandeln!  In einem Interview mit der (rechten) Tageszeitung „Le Figaro“ weist Taguieff auf die eher schlichte Erkenntnis hin, dass derjenige, der einen Verteufelnden (also die FN) seinerseits wieder verteufelt, also „die“  Medien, sich auf derselben Ebene wie der Verteufelnde bewegt. Aber haben denn „die“ Le Pen Kritiker die Partei FN immer nur verteufelt, diabolisiert, wie er sagt? Gab es und gibt es nicht gründliche Analysen zu all den Themen, die der FN propagiert, wie Ausländer-„Reduzierung“,  möglichst wenige Muslime in Frankreich, Ausstieg aus dem Euro, gegen die Technokraten, für die gute alte Familie, gegen die Homorechts usw. Wurde da vonseiten der Vernunft wirklich nur ihrerseits wieder „verteufelt“? Was soll überhaupt dieses Wort „verteufeln“ in einer laizistischen Gesellschaft wie in Frankreich, wo selbst die Katholiken kaum noch an den Teufel glauben? Ist es nicht ein gefährliches Spiel, den FN jetzt wie eine Partei neben vielen anderen Parteien betrachten zu wollen? „Völlig ent-diabolisiert, könnte der FN einen großen Teil seiner Attraktivität verlieren“, schreibt hoffend und erwartungsvoll der Politologe. Man stelle sich nur einmal vor, in der Öffentlichkeit würde Antisemitismus nicht mehr als Schande und Verbrechen bewertet, also in gewisser Weise diabolisiert, was wäre da gewonnen? Würden die Antisemiten sich eines besseren besinnen und dann hübsche Humanisten werden?

Uns scheint der Vorschlag des gelehrten Herrn Taguieff doch etwas zu kurz gedacht. Es klingt fast, wie Jean Birnbaum in Le Monde vom 30. Mai 2014 schreibt, als wolle Taguieff „den FN (und die Le Pen Clique) reinwaschen von der schlechten Reputation“.

Wir halten uns lieber an seriösere Studien zu dem durchaus bedrohlichen Phänomen FN und des Le Pen Clan, etwa an das Buch der Historikerin Valérie Igounet, „Le Front National de 1972 a nos jours”. Erschienen bei Seuil, im Juni 2014. Auf dieses Buch werden wir noch zurückkommen. Die Schlussfolgerung der Autorin nach einer Studie von 448 Seiten: „Die Partei Front National ist eine Partei der extremen Rechten, die niemals ihr Wesen verändert hat“.

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