Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen: Ein neues Buch von Eva von Redecker

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Eva von Redecker, die als junge Philosophin durch Publikationen über Judith Butler und Hannah Arendt bekannt ist und die nicht nur an der Humboldt – Universität lehrte, sondern auch in Cambridge (UK) und New York, erörtert in ihrem neuen Buch in vielen Aspekten die Erkenntnis: Der Kapitalismus ist zerstörerisch und tödlich, nicht nur für die Natur, auch für die von ihm beherrschten, leidenden Menschen. Moderner Kapitalismus ist geprägt, so betont die Autorin, von der „Sachherrschaft“, die eine absolute Verfügungsgewalt des Eigentümers über seine eigenen Dinge bedeutet, bis hin zu dem Recht, diese eigenen Dinge (selbst Wasser, Wälder, Tiere, auch Menschen als Abhängige, als Sklaven usw.) nach eigenem Belieben zu vernichten.
Und diese Erkenntnis beweist sie in einer Sprache, die eine gewisse Eleganz hat und andererseits immer auch mit (eigenen) alltäglichen Lebenserfahrungen verbunden ist. Manchmal fühle ich mich an Walter Benjamin erinnert, etwa wenn Eva von Redecker vom „Sturm der Verwertung“ spricht, der „aus der Zukunft zurückbläst (S. 57): Man lese etwa Benjamins Text „Über den Begriff der Geschichte“, IX. Kapitel.
2.
Von Redeckers hat einen zentralen Focus: Der jetzt wieder lebhafte Widerstand gegen die kapitalistische Allmacht muss auch philosophisch ernst genommen werden. Könnte dies argumentativ gelingen, dann könnten sich viel mehr Menschen diesem Widerstand, also der „Revolution für das Leben“, anschließen, aus Einsicht und Denk- Notwendigkeit. Genauer gewürdigt werden etwa Aktionen wie die „Die-Ins“ etwa von „Extinction Rebellion“ (XR), oder die „Friday for future“. Eine große Bedeutung haben für die Autorin die Widerstandsformen indigener Völker, etwa in Nordamerika (269), dabei werden auch spirituelle Dimensionen des Widerstands deutlich. Indigene Völker, so von Redecker, treten in ihrem uraltem Wissen ein für die Weltbewahrung, sie kämpfen gegen den Profit, den Verbrauch und Verkauf der Natur, pflegen die „Gezeiten“, wie sie oft betont (etwa 284). Ein Begriff, der ausführlicher hätte erläutert werden sollen! In den letzten Kapiteln ihres Buch spricht die Autorin von der Utopie eines „umsichtigen Kommunismus“ (284), auch hier hätte der Leser sich gern weitere Erläuterungen und Differenzierungen gewünscht. Jedenfalls will die Philosophin keine esoterischen Erleuchtungen verbreiten, sondern argumentativ für eine neue Interpretation der alten Formel „Omnia sunt communia“ eintreten, was ja nicht heißt „Alles soll allen gehören“, sondern, wie sie betont: „Alles ist allen anvertraut. Alle sind einander anvertraut“ (282).
3.
Viele Erläuterungen im Buch zur Zerstörungswut des Kapitalismus sind bekannt (der Reale Sozialismus war bekanntlich auch in der Hinsicht des Umgangs mit der Natur zerstörerisch, dies wird leider von der Philosophin nicht ausführlich beschrieben). Aber in der Zusammenfassung und Deutlichkeit sollten diese Analysen immer wieder Beachtung finden: Die umfassende Zerstörungswut des Kapitalismus geschieht um des Profits willen und der Vermehrung des Eigentums einiger weniger. Bekanntlich haben Millionäre und Milliardäre an ihren täglich neu gewonnen Millionen kein vorrangiges Interesse, es geht um die Lust des Vermehrens als solcher. Dies wäre eher ein Fall für die Psychotherapie und vor allem für eine neue, gerechte Gesetzgebung, die Grenzen des Privateigentums setzen kann…Und dieser Kapitalismus ist kein neutrales, sozusagen naturwüchsiges Ungeheuer, sondern es sind Menschen, meist Männer, die um des „schnellen, konkurrenzgejagten Profits“ (S. 64) willen die lebendige Natur zerstören … und dabei noch unüberschaubare Berge von Schutt, Bruch, Schlamm, Überreste produzieren.„Die Erde wird als Schutthalde hinterlassen“. „Alles, worum es (der kapitalistischen Wirtschaft) geht, ist der Profit von ein paar Konzernen“ (S.238). Es droht so, Hannah Arendt folgend, der „Weltverlust“: „Alles wird in die (zerstörerische) Logik des Massenkonsums hineingezogen“ (S. 110).
4.
Ich finde den Titel des neuen Buches von Redeckers sehr treffend, weil er den wirklichen elementaren, also den politischen und ökonomischen Kampf um das Leben zeigt, und damit alle blamiert, die mit ihrem fundamentalistisch verdorbenen Tunnel-Blick nur auf das ungeborene Leben starren und förmlich im Schutz des ungeborenen Lebens ihren neuen Gott sehen, dem sie alles opfern, vor allem den eigenen, alle Güter abwägenden Verstand. Dieser neue Gott „Ungeborenes Leben Schützen“ ist die esoterische Inspirationsquelle aller reaktionären Leute in den USA, Polen, in ganz Lateinamerika und anderswo. Sie nehmen den Tod junger Frauen in Kauf, wenn diese ohne kompetente ärztliche Hilfe abtreiben müssen. Diese fundamentalistischen Pro-Life Fanatiker sehen in dieser brutalen Gesetzgebung, von Kirchen und Christen und Bischöfen und Päpsten unterstützt, den obersten Willen Gottes. Von einer Geburtenkontrolle spricht ohnehin niemand mehr. Und alle Pro Life-Leute meinen, die klassische Hetero-Familie sei für die Kinder und die Frauen ein heiler Ort wunderschöner Geborgenheit, was evident Unsinn ist…Aber dieses Thema wird leider in dem neuen Buch von Eva von Redecker nicht entfaltet!
5.
Im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin interessieren wir uns besonders für die Religionskritik auch in diesem Zusammenhang. Dazu bietet die Autorin knappe Hinweise. Dadurch dass christliche Institutionen (also Kirchen) „nur noch als Phantombesitz der Leitkultur fungieren, liefert die Esoterik der Bevölkerung diverse Opiate“ (S. 103). Esoterik also als Ersatz konfessioneller Kirchlichkeit…Unter „Phantombesitz“ versteht die Autorin „gegenstandslose Herrschaftsansprüche“ (S. 34), also den Glauben von Institutionen, sie hätten noch Besitz, wo dieser doch längst faktisch entschwunden ist. Für die Kirchen in Deutschland oder in weiten Teilen Europas mag das zutreffen: Die Kirchen haben keine – wie einst – „Verfügungsgewalt“ mehr über ihre Mitglieder, die zwar in Deutschland noch das enorme kirchlichen Eigentum und die Unsummen von Kirchensteuern erzeugen. Aber die meisten Kirchen-Mitglieder verhalten sich überhaupt nicht konform den Gesetzen „ihrer“ Institution gegenüber. Insofern ist die religiöse, die kirchliche Situation in Europa durchaus mit dem Stichwort „Phantom“ zu beschreiben.
6.
Das Buch „Revolution für das Leben“ passt gut in diese Corona-Zeiten. Es zeigt, dass es heute die -dringendste Aufgabe gibt, für die Rettung des Lebens der Menschen und der Natur im ganzen einzutreten. Was nützt eine hoffentlich bald Corona – freie Welt, wenn sehr viele Menschen keine saubere Luft mehr atmen und kein sauberes Wasser mehr trinken können, wenn ArbeiterInnen in den großen neoliberal gesteuerten Firmen nicht als Menschen, sondern wie ausrangierbare, wegwerfbare Dinge behandelt werden und so weiter und so weiter….
7.
Die Überwindung dieses undemokratischen Systems, das diese Unmenschlichkeit erzeugt und fortsetzt, ist, ganz elementar gesprochen, ein ethisches Gebot. Ein kategorischer Imperativ! Dem soll der einzelne mit viel frustrierender Mühe und viel intelligenter Menschlichkeit entsprechen und dabei die Schönheit der Gruppen erleben, die sich nicht unterkriegen lassen und die die universalen Menschenrechte als ihr vernünftiges Glaubensbekenntnis betrachten. Ob sich dafür die meisten nun erschöpften und sowieso ausgehungerten Menschen weltweit noch einsetzen (wollen/können), ist eine Frage. Aber die Hoffnung darf nicht getötet werden.

Eva von Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. 2020, 316 Seiten, 23 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Leo Tolstoi als Philosoph. Anläßlich seines Todestages am 20. November 1910

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Ist Leo Tolstoi (1828–1910) ein Philosoph? Was für eine Frage! Sie kann nur mit einem Nein beantworten, wenn als Philosoph nur gelten kann, der an einer Universität oder Hochschule lehrt und ein möglichst perfektes Denk – System errichtet. Aber, unnötig zu betonen: Philosophie ist zunächst Philosophieren, lebendiges, selbstkritisches Frgen. Und diese Praxis des kritischen Denkens und Zweifelns findet überall statt, z.B. auch in der Literatur, unter den Schriftstellern.
Natürlich ist Leo Tolstoj ein Philosoph, der in seinem äußerst umfangreichen Werk sich voller philosophischer Vorschläge äußert, selbst wenn er Philosophie sozusagen als „wissenschaftliche und strenge Disziplin“ dann doch eng findet.
2.
Immerhin widmet Wilhelm Goerdt in seinem umfangreichen Buch „Russische Philosophie“ (Karl Alber Verlag, Freiburg, 2002, 686 Seiten) fünf Seiten dem „Philosophen Tolstoi“ (S. 534 ff.). Goerdt betont gleich am Anfang, dass man die politischen und sozialen Überzeugungen Tolstois in die Nähe des Anarchismus stellen könnte. Tolstois zentrale Einsicht ist: Gewalt(herrschaft) verschwindet nicht, wenn neue Gewalttäter die Herrschaft übernehmen. Die Erneuerung des „inneren Menschen“, also die Veränderung des Bewusstseins in Richtung Liebe und Gewaltverzicht, ist die Voraussetzungen einer gelingenden humanen Welt.
Tolstoi hat sich mit vielen Lebensentwürfen auseinandergesetzt, z.B. mit dem Glauben an den Fortschritt oder dem Glauben an die dogmatischen Kirchenlehren oder dem populären Glauben der einfachen Bauern: Übrig bleibt für ihn nach all dem Suchen die Frage: Wozu ist das alles sinnvoll? Und für Tolstoi die entscheidende Frage: Was ist der Tod, was kommt nach dem Tod?
3.
In Tolstois Leben und Denken geht es darum: Das beständige Hinterfragen zu üben, das Verlassen vertrauter Positionen, die Bindung an Eigentum, an Wohlstand, es geht ihm um das ewige Weitersuchen, das Misstrauen gegen schnelle Lösungen…Letztlich, so Tolstoi, muss die wahre, das ist die an allem zweifelnde Philosophie, ihr Nichtwissen eingestehen. Hier deutet sich an, dass Tolstoi in eine Haltung gerät, die man nur Glauben nennen kann. Aber es ist ein Glaube, der in sich selbst die Kraft der Vernunft bewahrt. Mit der Vernunft verwirft Tolstoi die Lehren der Kirche, die Macht der Kirche bekämpft er ohnehin. Übrig bleibt bei der vernünftigen Religionskritik die Hochschätzung der Bergpredigt Jesu (Siehe dazu etwa Tolstois Werk „Worin besteht mein Glaube, 1883, auf deutsch: https://www.projekt-gutenberg.org/tolstoi/glaube/chap001.html)
4.
Wichtig ist der Text: „Das Reich Gottes ist in euch!“ Damals in Russland verboten, 1894 in Deutschland erschienen, meines Wissens leider auf deutsch jetzt nicht greifbar. Hier wird wohl die Mitte seines christlichen Denkens erreicht, freilich in einer wörtlichen Interpretation der Bibel-Texte. Aber diese bezieht sich auf die politisch relevanten Texte des Neuen Testaments. Auf andere Weise meinte Tolstoi wohl kaum, die umstürzlichere, die „anarchistische“ Kraft des Evangeliums deutlich machen zu können, oder besser: praktisch werden zu lassen. Sein Buchtitel bezieht sich auf das Lukas Evangelium, Kap. 17, Vers 21. Die Orthodoxe Kirche deutete Tolstoi richtig als Staatskirche, die nichts für den Frieden tut und die jesuanische Forderung der Gewaltlosigkeit ignoriert.
Tolstois Grundsätze heißen: „Du sollst nicht zürnen. Du sollst deine Frau nicht verlassen. Du sollst nie, nichts und niemandem schwören. Du sollst dem Bösen nicht gewaltsam Widerstand leisten. Du sollst Menschen anderer Völker nicht für deine Feinde halten“.
5.
Gandhi kannte dieses Buch Tolstois: „1908 schrieb Tolstoi einen Leserbrief an eine indische Zeitung (A Letter to a Hindu), in dem er die Meinung vertrat, dass das indische Volk die britische Kolonialherrschaft nur durch passiven Widerstand auf der Basis von Nächstenliebe zu Fall bringen könne. Im Jahr darauf schrieb Gandhi an Tolstoi mit der Bitte um Rat und für die Genehmigung, A Letter to a Hindu in seiner eigenen Sprache Gujarati zu veröffentlichen. Tolstoi antwortete und es folgte eine andauernde Korrespondenz bis zu seinem Tod im Jahr 1910. Die Briefe enthalten unter anderem praktische und theologische Anwendungen der Gewaltlosigkeit.[4] Tolstois Idee wurde schließlich durch Gandhis Organisation landesweiter gewalt freier Streiks und Proteste in den Jahren 1918–1947 realisiert“ (wikipedia, gelesen am 19.10.2020). Tatsache ist, dass Tolstoi Gandhi hochschätzte, wenn nicht bewunderte. (vgl.: https://www.asthabharati.org/Dia_Oct%20010/y.p..htm)
6.
Zentral bleibt für den freien Denker und Philosphen Tolstoi: Er war trotz – oder wegen – seiner Vorliebe für einzelne Aussagen des Neuen Testaments (das er auch auf Altgriechisch lesen konnte) ein Kritiker der Kirche, er lehnte die verfasste Institution Kirche ab. „Die kirchlichen Riten wurden in Tolstoijs Beschreibung zur Farce, zu einer Lüge, auf der das gesamte menschenfresserische System gründete“ (Lew Tolstoj, Rowohlt Monographie, 2010, S. 111). Und er lebte seine eigene Spiritualität, wobei er traditionelle Dogmen (wie die „Göttlichkeit Jesu“) ablehnte.
7.
Tolstoi hatte schon als junger Mann im Jahr 1855 in sein Tagebuch geschrieben, was er als seine Lebensaufgabe ansehen will: „Die Idee ist die Gründung einer neuen Religion, die der Entwicklung der Menschheit zum Segen gereicht, eine Religion Christi, die jedoch gereinigt ist von Aberglaube und Geheimnis, eine praktische Religion, die nicht künftiges Heil verspricht, sondern Heil auf Erden zu geben vermag“ (zit. in „Lew Tolstoj“, Rowohlts Monographie, von Ursula Keller und Natalja Sharandak, S. 69).

Hinweise zu „Tolstoi und der christliche Anarchismus“ finden sich auch in dem Sammelband „Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung“, hg. on Sebastian Kalicha, Verlag Graswurzelrevolution, 2013, 192 Seiten.

Copyright: Christian Modehn.www.Religionsphilosophischer-Salon.de

Mit Hegel über Hegel hinausdenken – Für eine vernünftige christliche Spiritualität.

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 20.9.2020

(Dieser Hinweis ist eine Zusammenfassung eines Vortrags, den ich kürzlich in Berlin gehalten habe)

Ein Vorwort:
Warum sollen wir uns heute mit Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie befassen und von ihr Inspirationen erwarten für unser Leben? Diese Frage lässt sich nicht in einem Halbsatz beantworten.
Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, wie sie u.a. in seinen Berliner Vorlesungen zur Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie deutlich wird, „entspringt“ einem praktischen „Bedürfnis“, also einer aus dem Leben selbst stammenden Fraglichkeit, wie er selbst immer wieder betont.
Hegel hatte die damalige religiöse Situation (also im ersten Drittel des 19.Jahrhunderts) im sich christlich nennenden Europa vor Augen. Diese Religiosität war bestimmt von einer ganz aufs Gefühl setzenden Frömmigkeit, die über alles das Diffuse, Beliebige, Subjektivistische, Verschrobene, Esoterische liebte und deswegen den „begriffsfeindlichen“, also den nachvollziehbare Argumentationen ablehnenden Glauben empfahl. So wurde der christliche Glaube auch gesellschaftlich und politisch hilflos, weil er ohne Argumente dastand gegenüber der Allmacht der sich immer mehr durchsetzenden reaktionären Politik im „Vormärz“. Auch die heutige „religiöse Situation“ wird als postmoderne Beliebigkeit, als Sieg des Charismatischen und Evangelikalen, der wortwörtlichen, also gedankenlosen Wiederholung von Sprüchen der Bibel oder des Koran beschrieben.
In einer unserer Situation also in gewisser Hinsicht verwandten Problematik entwickelt Hegel seine Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie.

Und gleich zu Beginn dieser Überlegungen muss betont werden: Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie zeigt uns einen „einfachen“, aufs „Wesentliche“ befreiten, vernünftigen, also wissenden christlichen Glauben. Darum sollten wir uns mit Hegel befassen!
Dieser Glaube, wie Hegel ihn zeigt, ist eine Entwicklung der Tatsache, dass der Mensch im Unterschied zu den Tieren wesentlich vom Geist bestimmt ist. Dieser Begriff des menschlichen Geistes „ist eben selber das Göttliche im Menschen“, wie der Hegel – Forscher Walter Jaeschke in seinem Buch „Hegels Philosophie“ (Hamburg, 2020, Seite 285) schreibt. Eine Grundeinsicht, die sozusagen zum Standard jeglicher Hegel Lektüre gehört … und diese Grundeinsicht Hegels ist keineswegs obsolet geworden ist… Die philosophisch sich gebenden Propagandisten, die „Naturalisten“ oder „Materialisten“ , werden kaum noch philosophisch ernst genommen.

Das heißt: Ohne den Mitvollzug der Erkenntnis, dass der Mensch für Hegel wesentlich Geist ist und dieser Geist die Teilhabe am göttlichen Geist ist, bleiben die folgenden Hinweise unverständlich. Dass der Mensch Geist ist und dieser mit dem göttlichen Geist in gewisser Hinsicht eins ist, hat Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“, der „Enzyklopädie“ und der Logik gezeigt. Dies wird hier vorausgesetzt.

Und grundlegend ist auch: Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie als „Rettung der Vernunft des Christentums“ ist alles andere als eine „christliche Philosophie“, wie sie von Friedrich Schlegel und anderen damals entwickelt wurde. Diese „christliche Philosophie“ wollte die Sprüche der Bibel nicht nur, wörtlich verstanden, als Leitlinien des individuellen Lebens propagieren, sondern auch unmittelbar der staatlichen Ordnung als Prinzip vorsetzen. Solche unmittelbare Geltung religiöser Texte kam für Hegel nicht in Frage!

1.
Die Erkenntnis nach Hegels Tod war für seine Schüler verwirrend und wohl erschütternd, aber vorauszusehen: „Eigentlich hat Hegel mit seiner Philosophie alles gesagt, was er in (s)einer Philosophie sagen konnte“. Das gilt, selbst wenn er es noch vorhatte, einige seiner Vorlesungen etwa über Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie selbst zu publizieren oder schon veröffentlichte Werke mit neuen Vorworten zu versehen. Dazu kam Hegel nicht mehr wegen seines plötzlichen Todes 1831.
2.
Wenn man nur die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Hegels betrachtet, die ja bekanntlich eine zentrale Dimension seines Denkens überhaupt ist, dann ergeben sich aus der Beobachtung: „Alles hat Hegel eigentlich gesagt“, doch noch weitere Perspektiven … und mit Hegel denkend über Hegel hinaus.
Diese Perspektiven können hier nur skizziert werden. Das Problem ist: Wenn von Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie die Rede ist, dann muss, seinem Denken folgend, notwendigerweise auch von Gott die Rede sein, ein Name, ein Begriff, der damals noch selbstverständlich war, wenn denn von dem Unendlichen, dem Ewigen, dem schlechthin Schöpferischen philosophisch gesprochen werden sollte. Hegel wusste, wie viele Philosophen auch heute wissen, dass von dieser Dimension des Ewigen im geistvollen Leben gesprochen werden muss, wenn denn das Leben als geistiges Leben umfassend erkannt
werden soll.
3.
Grundlegend für alles ist die Erkenntnis Hegels: Gott ist Geist. Gott als Geist: Was denn sonst sollte Gott sein, wenn man denn den Begriff Gott ernst nimmt? Hegel hat nie religiöse Menschen vergangener Zeiten verachtet, die ihren Gott in den Bäumen, in Naturgewalten usw. sahen oder Bildnisse der Götter als deren reale Repräsentanten über alles verehrten. Hegel wusste aber: Diese Formen der Gottesverehrung waren „nur“ notwendige Entwicklungsschritte hin zu einem Gottesbegriff, der in dem Begriff (und damit für Hegel in der Wirklichkeit) absoluter Geist seinen unübertrefflichen Ausdruck findet. Das Höchste kann nur Geist sein. Noch einmal: Was denn sonst? Denn selbst wenn man, nur einmal spielerisch angenommen, eine chemische Substanz für das Höchste und alles Begründende hält, wäre diese als solche in dieser Bedeutung doch wieder über den Geist erkennend und seine Begriffe vermittelt. D.h. ohne den Geist und seine Begriffe gäbe es diese chemische Substanz als solche gar nicht.
4.
Zu diesem göttlichen Geist steht der Mensch als Wesen des Geistes nicht nur in Verbindung, sondern er ist mit dem göttlichen Geist – bei bleibender Differenz – eins. Diese Erkenntnis wird in Hegels Werken lang und breit entwickelt und braucht hier nicht wiederholt zu werden.
Entscheidend ist das Wissen: Jeder Mensch ist durch seinen Geist eins mit Gott. Im Geist ist diese Einheit da.
Hegel erschließt mit dieser Erkenntnis ja nicht etwas „bloß Philosophisches“, also etwas eher „gedanken-spielerisch Spekulatives“. Seine ganze Philosophie ist vielmehr eine Antwort auf „praktische Probleme im Leben“, auf die Zerrissenheit des modernen Menschen, den Bruches zwischen religiöser Welt und Alltagswelt, die Herrschaft der abstrakten Verstandes-Kategorien.
5.
Wenn Hegel betont: Der Mensch ist mit Gott – in gewisser Hinsicht – identisch: Dann erschließt diese Erkenntnis auch etwas Spirituelles, „Hilfreiches“. Der Mensch weiß sich hineingenommen in den absoluten Geist, also hineingenommen in Gott. Dies hat Konsequenzen für die ganze Lebensgestaltung, weil der Geist Vernunft ist und diese Vernunft ist Freiheit.
(Dieser Zusammenhang ist zentral, hier nur einige Hinweise: Die menschliche Vernunft bezieht sich auf sich selbst, weiß sich selbst in dem Selbstbewusstsein, das immer zugleich auch Bewusstsein des anderen (in der Welt der Objekte) ist. Darin weiß sich die Vernunft frei, weil sie immer auch bezogen ist auf mögliche andere Objekte und sich dabei immer auch frei weiß in der Beziehung auf sich selbst. In dem Zusammenhang entwickelt die Vernunft Begriffe, die sich auf die Objektwelt beziehen. Diese Begriffe haben für Hegel -bei der Identität von Denken und Sein – keinen unbestimmten Inhalt, sondern sie haben auch, etwa bei dem Begriff Mensch, Gesellschaft, Staat, Religion, Kirche usw., einen normativen Inhalt. Nicht jeder Staat ist von vorherein schon ein wahrer Staat, bloß weil er den Begriff Staat für sich selbst verwendet; ein den Menschrechten entsprechender Staat z.B. als Norm muss erst noch entwickelt werden… Insofern also kann man sagen: Geist ist Vernunft, und Vernunft ist Freiheit)
Freiheit als Freiheit des Menschen hat nur Sinn, wenn sie Freiheit aller Menschen ist, sanktioniert in den universal zur Geltung zu bringenden Menschenrechten.
6.
Wer also bewusst im Zusammenhang des göttlichen Geistes lebt, ist ständig mit der Freiheit befasst und aufgerufen, für die politische Freiheit wie für die individuellen Selbstbestimmung einzutreten. Dieser Zusammenhang war Hegel sehr deutlich! Dieser Zusammenhang, also die Verbindung von ewigem, göttlichen Geist und Geist im Menschen, hat viel mit der Frage zu tun hat: Was ist nach dem/meinem Tod – angesichts der Einheit mit dem Ewigen.
7.
Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie hat den Anspruch, begriffliche Erkenntnis also Wissen von Gott zu sein. Dadurch wird die Frage: Was ist Glauben? neu beantwortet: Die Beziehung zu Gott, zum Göttlichen, wird eher in der Form des Wissens erreicht, wobei diese Beziehung eine bestimmte Praxis verlangt, siehe den 5. Hinweis. Und dieses Wissen kann zwar seinen Ausgang nehmen in (religiösen) Gefühlen, die aber nur dann ernst genommen werden, also allgemein erhellend sein können, wenn diese aus der Unklarheit und Diffusität befreit und zur Sprache gebracht, also begrifflich gefasst werden. (Nebenbei: Psychotherapien sind ja erst dann hilfreich, wenn nach Freilegung der Gefühle diese sprachlich gefasst werden).
8.
Und dieses Wissen von Gott ist eigener Art: Es ist nicht das herrschaftliche, selbstherrliche Wissen als Verfügen über die Dinge, etwa sogar über einen als ein „Ding“, „Objekt“, interpretierten Gott. Dieses Wissen von der Einheit mit dem Göttlichen weiß sich selbst als ein verdanktes Wissen: Es verdankt sich letztlich dem alles „gründenden“ unendlichen Göttlichen, dem Gott als Geist. Diese Geist -Philosophie, das muss nicht eigens betont zu werden, ist keine spinöse „Geister-Philosophie“, nichts Esoterisches, sondern Resultat von Argumenten und Beweisen. Hegels Philosophie ist eine Analyse und eine Kritik des Endlichen, also der Dinge der Welt, die der Geist des Menschen als Endliche erkennt. Und dabei weiß der endliche, aber stets über das Endliche hinaus denkende Geist: Der Geist geht über das Endliche stets hinaus, und diese Qualität ist darin begründet, dass das Unendliche selbst wirksam ist in ihm, dem Endlichen. Es ist also der unendliche Geist, der alles Endliches als endlich erkennt und es je neu überschreitet…Es geht also zentral um den unendlichen Gott, „immanent“ im Endlichen.
9.
Das Wissen vom Christentum ist für Hegel vor allem ein Wissen von den Grundlagen der christlichen Lehre. Die historischen und zufälligen Details der biblischen Geschichten stehen nicht im Mittelpunkt seines Interesses. Hegel will diese Lehren des Christentums, die sich sozusagen als objektiver Geist literarisch verfestigt haben, in philosophische Begriffe überführen, in Begriffe, von denen Hegel meinte, dass sie allgemein verstanden werden und die deswegen das Christentum als relevant für die Moderne erweisen. So glaubte er, das Christentum aus der Nische der esoterischen Abgesondertheit, der Welt nur der frommen Gemüter, befreien zu können und zur Sache aller und damit zur weltgestaltenden vernünftigen Kraft zu machen.
10.
Damit vollzieht Hegel eine Konzentrierung der Fülle der christlichen Lehren (etwa im Neuen Testament und im Alten Testament) auf wenige zentrale Begriffe, diese sind Geist Gottes, Geist Gottes im Menschen, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, Kreuz, Auferstehung und Sendung des Geistes als ein einziges Geschehen.
11.
So ist auch klar, dass Hegel in seinen Berliner Zeiten sich ganz auf diese genannten Begriffe (von den Kirchen als Dogmen verstanden) bezieht und damit die sich irgendwie biographisch gebende Vielfalt der Erzählungen, etwa vom „irdischen Leben“ Jesu von Nazareth, beiseite legt. Diese Abwehr des Historischen, Individuellen, Persönlichen, etwa bei Jesus oder den Gestalten des Alten Testaments, mag heute problematisch erscheinen, weil ja für viele die sehr persönliche Lebensgeschichte Jesu von Nazareth faszinierend sein kann, sofern man denn viele Details als historisch bezeugt überhaupt erkennt. Man lässt sich halt von einer konkreten Person und deren Lebensschicksal eher berühren als von der philosophischen begrifflichen Einsicht: Dass in diesem Jesus als dem Gottmenschen die Einheit Gottes mit dem Menschen sichtbar wurde.
12.
Aber diese Einsicht Hegels kann auch „berühren“ und „bewegen“, weil sie, wie er meint, allgemein nachvollziehbar begründet ist, und nicht mehr abhängig ist von einzelnen Wundergeschichten oder einzelnen Ereignissen im Alltag Jesu. Dass dabei aber auch Hegel auf eine Art politisches Porträt des Menschen Jesus von Nazareth verzichten muss, ist auf den ersten Blick klar. Oder doch nicht? Denn, wie schon betont, führt das Wissen von der Einheit des Menschen mit dem Göttlichen in der einen gemeinsamen Vernunft auch zu politischem Einsatz zugunsten der Freiheit aller…
13.
Welche praktischen Hinweise für eine christliche Spiritualität ergeben sich aus der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie Hegels? Die folgenden Überlegungen, sozusagen Konsequenzen aus seinem Denken, können hier nur angedeutet werden:
Das Wesentliche ist und bleibt die Erkenntnis für den einzelnen: Er/sie ist mit dem göttlichen Geist verbunden.
14.
Was wäre eine Gemeinde?
Eine Gemeinde ist die Versammlung der Menschen, die sich auf diesen göttlichen Geist gesprächsweise und feiernd beziehen und im praktischen Tun zugunsten der Freiheit /der Menschenrechte/ sich verabreden, als Engagement in der Gesellschaft und im Staat. Dabei werden, wie schon einmal betont, nicht unmittelbar religiöse Prinzipien durchgesetzt, sondern allgemein geltende, vernünftige.
In dieser christlichen Gemeinde selbst, in ihrer inneren Gestaltung, ist selbstverständlich die Gleichheit aller Mitglieder. „Es gibt keine Hierarchie“, wird von Hegel mehrfach betont. In der heutigen Zeit ist damit auch die völlige Gleichberechtigung der Frauen gemeint.
15.
Damals wie heute aktuell ist die heftige Kritik Hegels am Katholizismus, als einer letztlich im mittelalterlichen Geist fixierten und insofern „stehen gebliebenen“ christlichen Kirche. Hegel nennt viele Grundsätze des Katholizismus wesentlich korrupt.
16.
Über den „Kultus“, also die Gottesdienste der Gemeinde, hat Hegel gesprochen, aber immer in Bezug auf die real bestehenden lutherischen Gemeinden.
Hegel hat weitere Konsequenzen nicht beschrieben, wie denn Gemeinden, die sich aufgrund der Verbundenheit mit dem göttlichen Geist versammeln, sich weiter praktisch gestalten.
Man könnte meinen:
Diese Gemeinden aber haben alle Freiheit, auch religiöse Traditionen von einst reflektiert mit zu vollziehen, sofern sich diese Gemeinden nicht an die alten Bräuche klammern oder diese gar für wesentlich halten: Also etwa Wallfahrten, die meditative Spaziergänge, sind kommunikativ wichtig, aber nicht mehr „heilswirkende“ Unternehmungen. Oder das Hören von alten, warum nicht auch lateinischen Messen als Form der „Erhebung“ zum Göttlichen kann anregend sein oder die Feier von Brot und Wein als Form der sinnlichen Gegenwart Jesu von Nazareth (die er selbst empfohlen hat) usw.
17.
Und das Gebet? Es ist ein auch sprachliches Sichbeziehen auf den umfassenden göttlichen Geist. Es ist eine Form des Innewerdens, auch in der Form des sprachlichen Austausches mit anderen. Aber Bittgebete im klassischen Sinn werden überflüssig, weil sich der glaubende Mensch in dem göttlichen Geist bereits geborgen weiß (und diese Geborgenheit meditativ pflegt) und gar nicht egozentrisch um besondere Wunder Gottes zu des eigenen, individuellen Nutzens erbittet.
Gebete sind dann Ausdruck meiner spirituellen Poesie, in die meine Lebensgeschichte einfließt. Diese explizite Poesie kann mir selbst Klarheit über mich selbst bringen. Gebet ist auch das geistige Verbundenheit mit anderen, den Freunden, den Menschen in Not usw: Gebet ist dieses DENKEN AN DICH/EUCH, das keine Wunder bewirkt bei den anderen. Das aber das Wunder des Betenden/Meditierenden/Sprechenden/ wirkt, aus der Verkapselung des Ego herauszutreten.
18.
Was also ist eine Spiritualität, die sich von Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie inspirieren lässt?
Es ist eine einfache Spiritualität, die die Macht der großen Kirchen-Institutionen nicht mehr als zentral einschätzt und sich an der oft nur noch sinnlos erscheinenden Reform der großen „Volkskirchen“ (des Katholizismus zumal) auch nicht mehr abarbeitet. Diese Spiritualität hat Sinnvolleres zu tun, als etwa gegen die Mauern des Vatikans ad aeternum anzurennen.
19.
Diese hier nur skizzierte „einfache“, philosophische Spiritualität, inspiriert von Hegel, hat Chancen, eine Spiritualität der Zukunft sein, weil sie auch Menschen aus „anderen“ Religionen anzusprechen vermag. Und vor allem, weil sie von der Last und dem Ballast der Berge von Dogmen und kirchlichen Vorschriften befreit. Nur die geistvollen, freien und befreienden Impulse des Christentums werden für die Moderne gerettet. Und die Menschen werden eingeladen, Wesentliches zu leben: Dies ist die Beziehung zu Gott als dem die Menschheit, alle Menschen, verbindenden einen, gemeinsamen Geist. Und die Verbundenheit mit anderen Menschen, mit der Pflicht, für die Freiheit und Gleichheit aller einzutreten… und die Welt vor der drohenden Klimakatastrophe, wenn es denn noch möglich ist, zu retten…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der heilige Rummelplatz der guten Bürger: Über den Maler Hans Baluschek

Ein Hinweis von Christian Modehn
Hans Baluschek wurde am 9.Mai 1870 geboren; er starb am 28.9.1935 in Berlin

Ergänzung am 28.8.2024: Im Bröhan Museum in Berlin (-Charlottenburg) findet bis zum 1. Sept. 2024 wieder eine Ausstellung einiger wichtiger Arbeiten von Hans Baluschek statt. Wer diese Ausstellung nicht mehr besuchen kann, sollte sich in jedem Fall das wichtige Begleitbuch zu dieser Ausstellung besorgen mit dem Titel “Geheimcodes. Hans Baluscheks Malerei NEU LESEN!” (hg. von Tobias Hoffmann und Fabian Reifferscheidt.) Das Buch ist über das Bröhan Museum zu beziehen. Es umfasst 136 Seiten, (16 €) , mit etlichen Wiedergaben von Baluschek Gemälden und vor allem: Es bietet weiterführende Bild – Interpretationen: Baluschek ist eben mehr als “nur” ein sozialkritischer realistischer Maler…Das Bröhan Museum sorgt dafür, dass Baluschek allmählich immer “bekannter wird”…

………………

1.
Kaiser Wilhelm II. liebte über alles den schönen Schein, also die Ignoranz der Wahrheit. Er sagte in seiner berühmten „Rinnsteinrede“ 1901: „Kunst soll erheben und erbauen…und nicht das Elend noch scheußlicher darstellen“. Dass das soziale Elend vieler tausend Menschen in Berlin scheußlich war, wusste der Kaiser also. Nur sollten bitte die Künstler davon ablenken und nur Erbauliches, Erhebendes zeigen, also das gute Bürgertum und das Militär beruhigen. Künstler sollten also wohl ins Religiöse ausweichen. Das Religiöse bzw. das offiziell Christliche verstand das protestantische Kirchenoberhaupt, der Kaiser also, eher als etwas Beruhigendes, Marx sprach treffend von Opium.
Mit der offiziellen „schönen“ Kunstpolitik waren etliche Maler nicht einverstanden, sie opponierten und gründeten 1898 die Berliner Secession, unter ihnen Käthe Kollwitz und Hans Baluschek.
2.
Hans Balluschek hat sein ganzes Werk der Darstellung der inhumanen sozialen Realität gewidmet.
Bis zum 27. September 2020 gibt es noch die Chance, ein breites Spektrum seines Werkes im Bröhan Museum in Berlin – Charlottenburg zu betrachten und zu studieren. „Zu wenig Parfüm, zu viel Pfütze“, ist der Titel der Ausstellung.
Baluschek ist für viele, die nicht gerade Kunsthistoriker sind, auch heute eher noch eine Entdeckung! Und was für eine! Betrachter seiner Bilder werden sich die Frage: stellen: In welcher Weise hat sich die soziale Realität des Lebens der Armen in Europa, vor allem aber in den Ländern der sogen. „Dritten Welt“ verbessert? Die Antwort wird sicher alles andere als euphorisch ausfallen.
3.
Ich habe schon 2018 auf eine Ausstellung ebenfalls im Bröhan – Museum hingewiesen und dabei an Baluschek erinnert. „Das unsoziale Berlin“ war der Titel. LINK:
4.
Hier will ich nur auf ein Meisterwerk Baluscheks aufmerksam machen: „Berliner Rummelplatz“, gemalt 1914, also im unmittelbaren Umfeld des 1. Weltkrieges. Die feinen Bürger bzw. fein gemachten Leute mit prächtigen Hüten und Kleidern im „Sonntags-Staat“ stehen voller Staunen und Ergriffenheit vor einem grell erleuchteten Pavillon. Er erscheint wegen seiner dominanten goldenen Farben wie ein Tempel, wie ein mysteriöses Heiligtum, hinter dem allerhand überweltliche Dinge passieren könnten.
Zwei Posaunen-Bläser stehen wie Engels-Gestalten auf der Bühne, sind sie die Engel des Gerichtes oder die Boten guter Nachricht? Deutsche Flaggen in den damals üblichen Farben Schwarz Weiß Rot umrahmen den „Tempel“. Im unmittelbaren Vordergrund des Gemäldes sitzen zwei Jungen aus der armen Welt, die zu diesem Gold – und Glanztempel eigentlich keinen Zugang haben und von der feinen Welt ignoriert werden.
5.
Es ist kein billiger Rummelplatz für das kurze Vergnügen, den Baluschek da malt, sondern eine Art säkularer heiliger Ort, zu dessen Empore die Bürger aufschauen wie in einer Kirche, in der die Gläubigen bekanntlich ihre Augen auf den Altar oder die Kanzel hingebungsvoll fixieren.
Dies ist also die faktische, die „religiöse“ und auch die ethische Bindung der Bürger, der Reichen: Sie blicken wie fasziniert auf Zaubereien in einem vergoldeten Kitschtempel. Diese Interpretation legt Baluschek selbst nahe: Links an einer anderen Bude (an einem anderem Haus?) ist in Großbuchstaben das Wort MYSTIK zu lesen: Mystik, also die höchste Form der Verbundenheit mit dem Göttlichen, ist auf dem Rummelplatz gelandet, als billiger vergoldeter Kram, umgeben von den Flaggen des deutschen „heiligen“ Nationalismus. Diese Menschen verehren letztlich den goldenen Zirkus, ihr Kirchplatz ist der Rummelplatz.
6.
Hans Baluschek hat diese religiösen Dimensionen eher nur angedeutet. Sein Hauptinteresse war auch ein politisches im Rahmen der SPD. Deswegen wurde er von den Nazis verfolgt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Glauben ist die Lust zu denken! Sowie: „Hegel und der Rassismus“

Von Christian Modehn

Veröffentlicht in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM am 28.08.2020

Vor 250 Jahren wurde der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel geboren. In seinem umfassenden Werk sind die Religionen zentrales Thema. Kann Hegel auch eine christliche Spiritualität für heute inspirieren?

Der christliche Glaube ist wie ein Sprung, hinein ins göttliche Mysterium«. Diese Weisheit wird viel zitiert und prominent verteidigt, etwa von dem Philosophen Søren Kierkegaard oder den Theologen Karl Barth und Joseph Ratzinger. Letzterer schreibt in seiner »Einführung in das Christentum«: »Immer schon hat der Glaube etwas von einem Sprung an sich.« Das Gegenteil betont der Philosoph Hegel: »Jeder Mensch wird durch seine Vernunft, also im Denken, Schritt für Schritt zu Gott geführt. Was wäre auch sonst der Mühe wert zu begreifen, wenn Gott unbegreiflich ist?«
Hegel hat nie geleugnet, dass seine Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie nicht nur sehr anspruchsvoll, sondern auch anstößig ist. Als Philosoph will er wesentliche Überzeugungen des Christentums für die moderne Welt nicht nur darstellen, sondern geradezu »retten«. Hegels Vorschläge für eine zeitgemäße christliche Spiritualität befreien von der Last, sich an »Wundersames«, »Mysteriöses« zu binden. Hegels Spiritualität hat einen praktischen Zweck: Sie zeigt, wie Menschen versöhnt mit sich selbst und friedlich mit anderen in einem Staat leben können, der den Menschenrechten entspricht. Hegel als Lehrer philosophischer Spiritualität zu begreifen ist ein Wagnis. Denn als Mensch des 19. Jahrhunderts ist er in die damalige Welt eingebunden. Aber warum sollen seine Erkenntnisse zur Spiritualität weniger wert sein als die der »großen Mystiker« aus dem 16. Jahrhundert oder dem Mittelalter? Friedrich Nietzsche, der Gottesleugner, hat schon recht, wenn er in seiner »Fröhlichen Wissenschaft« Hegels Leistung beschreibt: »Er hat den Sieg des Atheismus noch einmal verzögert, und zwar par excellence.«

Hegel wurde am 27. August 1770 in Stuttgart geboren. Philosophie und Theologie hat er in Tübingen studiert, unter den Kommilitonen sind Hölderlin und Schelling seine inspirierenden Freunde. Die damalige Theologie erlebt er entweder als eine abstrakte und spröde Ideologie oder als Ausdruck überschwänglicher Charismatiker und Pietisten. Davon distanzierte er sich immer. Hingegen bleibt ihm die Gestalt Jesu Christi seit seiner Studentenzeit wichtig. Aber später, als »reifer Philosoph«, interessiert er sich immer weniger für alle Details der »Biografie Jesu«: Entscheidend wird ihm die Gestalt des Gottmenschen Jesus Christus: Sie deutet er philosophisch als den Höhepunkt der nach den Prinzipien des Geistes verlaufenden Religionsgeschichte. Jesus wird so zur maßgeblichen Verkörperung der Einheit von Göttlichem und Menschlichem! Jesus als historische Glaubensgestalt wird »aufgehoben«, das heißt: »verändert bewahrt«, in einem nun für alle zugänglichen Denken. Hegel bezieht sich also auf überlieferte Glaubensinhalte, aber er übersetzt sie ins begriffliche Denken. Das ist seine spirituelle Provokation für die Moderne. Gott und Mensch im Geiste eins.
Nach dem Studium muss er als Hauslehrer seinen Unterhalt verdienen, später arbeitet er als Zeitungsredakteur, schließlich als Direktor eines protestantischen Gymnasiums in Nürnberg. Dort heiratet er Maria Tucher »aus gutem Hause«, zwanzig Jahre jünger als er … Erst als Professor in Heidelberg kann er sich ganz auf die Philosophie konzentrieren. In Berlin lehrt er von 1818 bis zu seinem Tod 1831 mit großem öffentlichen Interesse und viel Widerspruch. Kein anderer Philosoph hat einen so vielfältigen Schüler-Kreis hinterlassen. Prominent sind Feuerbach und Marx. Und kein anderer Philosoph hat wie Hegel durch sein Werk Weltgeschichte mitgestaltet. Immer ist seine Philosophie verbunden mit den Problemen seiner Zeit. Er kritisiert die Allmacht reaktionärer Politiker, wenn sie die Menschenrechte ignorieren, er weist die Ansprüche des katholischen Klerus zurück, die das Gewissen der Gläubigen bestimmen oder kirchliche Gebote bei der Gestaltung eines Rechtsstaates durchsetzen wollen. In Berlin hält sich Hegel, der Republikaner, in Distanz zum königlichen Hof: Als gut situierter Bürger liebt er die Oper, die Matthäuspassion von Bach lernt er schätzen. Er ist gern gesehen in den damals beliebten literarisch-philosophischen Salons. Zu den protestantischen Theologen an der Universität hält er einen polemischen Abstand. Ein eifriger Kirchgänger ist der Lutheraner Hegel nicht gewesen, aber seine Kinder lässt er konfirmieren. Hegel geht seinen eigenen Weg, er lebt in einer »Frömmigkeit des Denkens«. Diese ist die Basis seiner philosophischen Spiritualität, wie er sie in seiner »Phänomenologie des Geistes« und in seiner »Logik« entwickelt: Der menschliche Geist, so zeigt er, kann sich in mühevollen Reflexionen zum göttlichen Geist erheben. Hegel ist überzeugt: »Der Mensch gehört dem göttlichen Wesen an.« Gott und Mensch sind wesentlich eins. Zwar weiß sich der Mensch immer auch als eine endliche, begrenzte Person, aber als Geschöpf Gottes handelt er wesentlich mit Gottes Geist verbunden. Böse wird der Mensch, wenn er egozentrisch diese Verbundenheit aufgibt … und dadurch sich selbst und andere schädigt. Das gilt auch für die Geschichte der Menschheit. Auch sie ist vom Zusammenwirken göttlichen und menschlichen Geistes als einem einzigen Geist bestimmt. Hegel spricht vom »Weltgeist«, im Detail betrachtet sicher einer seiner umstrittensten Begriffe. Wenn er von den großen Individuen spricht, etwa Napoleon, bewundert er ihn nicht nur, sondern nennt ihn auch »Koloss«, der dann endlich gestürzt wurde. Es ist letztlich eine zwiespältige Bewertung. Im Hinblick auf die Spiritualität heißt es provozierend: Die ganze Weltgeschichte ist vom Geist bestimmt. Negatives, wie Kriege oder auch Schmerzen und Leiden der Einzelnen, leugnet Hegel überhaupt nicht! Leitend ist aber die heilsame Erkenntnis: Menschen sollen in allen negativen Situationen wissen, dass der Geist, der göttlich-menschliche, trotz allem die stärkste Kraft ist. »Nur die philosophische Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit versöhnen, dass das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott geschieht, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist.«

Diese eine Frage lässt Hegel nicht los: Wer also ist der Gott der Christen? Seine Antwort befreit von allen Begrenzungen anschaulicher Bilder: »Gott ist Geist, absoluter ewiger Geist.« Als allumfassendem Geist gehört auch das Andere seiner selbst, also Welt und Menschen, zu ihm. Wären Welt und Mensch außerhalb des Göttlichen, dann wäre Gott, so Hegel, nicht mehr allumfassend. Er hätte dann sozusagen »natürliche Konkurrenten«. Aber das Verhältnis dieser grundlegenden Einheit bei aller Verschiedenheit ist ein Verhältnis der Liebe der Verschiedenen Einen. So weit geht die philosophische Spekulation!

Wo also hat der Glaube seinen alles entscheidenden Mittelpunkt? In der Selbsterfahrung des Geistes, der heilig ist: »Denn wir Menschen wissen im Geist unmittelbar von Gott. Dies ist die Offenbarung Gottes in uns«, sagt Hegel 1830 in einer Vorlesung. Natürlich sind Christen auch mit Weisheiten und Lehren konfrontiert, die ihnen von außen, etwa von der Institution Kirche, begegnen. »Aber diese religiösen Lehren kann der Mensch nur ernst nehmen, weil sie den eigenen Geist treffen, »erregen«, wie Hegel sagt. Alle Religionen sind zudem selbst nichts anderes als sich immer deutlicher entwickelnde Produkte des Geistes. Diese Entwicklung findet im Christentum ihren Höhepunkt, weil nur hier Gott als Geist gewusst und verehrt wird! Darüber sollten sich heute Religions-Theologen streiten … Hegel spitzt seine Spiritualität der Einheit von Gott und Mensch noch weiter zu, wenn er provozierend sagt: »Die Philosophie ist der wahre Gottesdienst«. Er weiß aus eigener Erfahrung: Wenn der Mensch sich auf seine Vernunft bezieht, dann erhebt er sich aus seiner engen, begrenzten Welt, er verbindet sich mit der Unendlichkeit Gottes und kann nur staunen über diese ihm zugänglichen Dimensionen. Und dieses Erleben ist der entscheidende »Dienst an Gott«, also Gottesdienst. Um dahin zu gelangen, plädiert Hegel für eine Askese, eine geistige Übung, also eine Art privater Andacht: »Gott ist nur für den denkenden Menschen, wenn der sich still für sich zurückhält«: Das heißt: Der sich zurückziehen kann, aber auch sein eigenes Ego »zurückhält«. Von der Einheit von Gott und Mensch haben früher schon Mystiker gesprochen. Daher schätzt Hegel den Dominikanermönch Meister Eckhart oder den schlesischen Denker Jakob Böhme. Aber er meint durchaus unbescheiden: Erst seine eigene Philosophie zeige begrifflich klar: Gott und Mensch sind füreinander keine Fremden. In diesem einen göttlichen Geist lebt alles und sind alle – bei bleibendem Unterschied – geborgen. Das ist kein »Pantheismus«, für den alles ohne Unterschied göttlich ist, sondern sehr nahe am Apostel Paulus. Dieser schreibt im ersten Korintherbrief: »Uns aber hat Gott die Weisheit Gottes enthüllt durch den Geist. Der Geist ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes.« Das könnte Hegel nicht besser sagen. Als lebendiger Geist ist Gott Liebe. Auch dies sagt Hegel ausdrücklich. Gott zeigt sich Menschen wie ein Freund, der seine Sonderstellung, seine »abstrakte Ferne« aufgibt und sich mit dem anderen im Geist vereint. Sogar über den Tod hinaus. Hegel selbst hielt es für egozentrisch, an die eigene leibliche Auferstehung zu glauben. Von der Unsterblichkeit der Seele war er jedoch überzeugt: »Der Tod hat den Sinn, dass das Menschliche abgestreift wird und die göttliche Herrlichkeit hervortritt.« Denn Gott habe als absoluter Geist die Negativität des Todes besiegt, das werde in der Auferweckung Jesu von Nazareth sichtbar und gelte für alle. Hegel macht es als spiritueller Lehrer den Christen auch heute nicht einfach, weil er auch die Kirchen nach den Maßstäben seiner Vernunft bewertet. Grundsätzlich hält er die Prinzipien der protestantischen Kirche besser geeignet, die Lehre von der Einheit Gottes mit dem Menschen zu akzeptieren. Denn schon Luther habe alle Bindungen der Christen an »äußerliche Frömmigkeit« aufgegeben, die Wallfahrten und die Heiligenverehrung, die Verehrung von Reliquien und die Leidenschaft, Wunder zu erleben. Der protestantische Glaube kenne prinzipiell (!) die Hochschätzung der Innerlichkeit. Und er passt in die Zeit der sich mühevoll durchsetzenden Menschenrechte, weil er die wesentliche Gleichheit aller Kirchenmitglieder lehrt: »Laien« gibt es nicht im Protestantismus. Ebenso wenig einen Klerus, der das »Heil« vermittelt. Hegel geht so weit zu sagen: »Der Protestantismus ist wesentlich Bildung des Geistes, seine wahren Tempel sind Schulen und Universitäten.« Die katholische Lehre fördere dagegen nicht den reifen, selbstbewussten Glauben, sondern die Haltung von Untertanen. Der Katholizismus ist für Hegel, trotz mancher Reformen im 16. Jahrhundert, auf dem geistigen Niveau des Mittelalters stehen geblieben. Sonst würde man nicht die Hierarchie so sehr in den Mittelpunkt stellen, die Menschenrechte für eine Irrlehre erklären und nach wie vor am Ablass festhalten. Trotzdem hat Hegel nie für Übertritte zum Protestantismus geworben. Hellsichtig sah er, dass es auch dort Widersprüche zwischen dem Ideal und der Realität gab. Letztlich, so Hegel, rettet allein die Philosophie eine vernünftige Spiritualität.

Hegel hat darunter gelitten, dass er als Philosoph naturgemäß vom Allgemeinen, vom Wesentlichen, sprechen muss und viel zu wenig vom bunten Leben der vielen einzelnen Menschen sprechen konnte. Aber er tröstet sich und seine Leser: Der einzelne Mensch ist immer auch im allgemeinen Menschen. Insofern ist auch eine Spiritualität hilfreich, die sich aus der Reflexion des allen Menschen gemeinsamen göttlichen Geistes ergibt!

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Von Sklaven und Afrikanern
Von Christian Modehn (PUBLIK FORUM vom 28.08.2020)

Obwohl Hegel Sklaverei vehement verurteilte, hat er sich dem Rassismus seiner Zeit nicht ganz entzogen.

Hegels Philosophie ist von der Hochschätzung der Französischen Revolution bestimmt. Er hat sie »als herrlichen Sonnenaufgang« gepriesen, weil »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« nun grundsätzlich als höchste Prinzipien für jede staatliche Ordnung gelten sollen. Aber sein republikanischer Enthusiasmus wird gebremst durch die Erfahrung der Gewaltexzesse seit Robespierre und auch durch reaktionäre Ideologien, die in Preußen seit 1818 die freie Meinungsäußerung einschränken.

In der Hochzeit des Kolonialismus war Rassismus allgemeine Ideologie, die auch an den Universitäten Einzug hielt. Die »Schädellehre«, »Cranioskopie«, wollte wegen der Größe des Kopfes die »Weißen« zu den wertvolleren Menschen erklären. Als einer der wenigen widersprach der Anthropologe Johann Blumenbach. Seiner Kritik schloss sich Hegel an und schrieb in seiner »Rechtsphilosophie«: »Das Sein des Geistes ist doch kein Knochen.« Auch zum Thema Sklaverei äußert sich Hegel pointiert. Über den Aufstand der Sklaven auf »Saint Domingue«, heute Haiti, war er gut informiert. Seine Sympathie galt der ersten Republik der einstigen Sklaven, die die Kolonialherrschaft bereits 1804 überwunden hatten. Als die neuen Herrscher dann aber ebenfalls blutige Gewalt ausüben, modifiziert Hegel seine Meinung. Die Befreiung von Sklaverei sollte nur moderat, schrittweise, geschehen. Dennoch sieht er klar: »Sklaverei ist an und für sich Unrecht. Denn das Wesen des Menschen ist die Freiheit. Der Besitz an einer anderen Person ist ausgeschlossen. Dass keine Sklaverei sei, ist eine sittliche Forderung.« 1822 schreibt er: »Was den Menschen zum Menschen macht, Freiheit und Vernunft, daran haben alle Menschen gleiches Recht.« Gegen Ende seines Lebens passt sich Hegel allerdings doch der allgemeinen, rassistischen Ideologie an – vielleicht weil die staatlichen Repressionen ihm gegenüber immer größer werden. In seinen »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte« nennt er Afrika einen Kontinent der »Wildheit und Unbändigkeit«, der keine Bedeutung für den Fortschritt in der Weltgeschichte habe. »Hegel wird – in politischer Hinsicht – dümmer«, meint die Philosophin Susan Buck-Morss.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Von den Abgründen der Seele und dem Wahnsinn der Politik: Francois Mauriac.

Die Abgründe der Seele und der Wahnsinn der Politik

Über den Schriftsteller Francois Mauriac
Hinweise von Christian Modehn

1.
Wer heute an den Schriftsteller Francois Mauriac erinnert, bezieht sich nicht auf eine Gestalt und ein Werk von vorgestern, wie dies jetzt gern behauptet wird! Mauriac ist doch erst vor 50 Jahren gestorben. Aber die Distanz – wie ist sie zu dieser nahen und doch fern wirkenden Zeit und ihrer Kultur mit dem Schriftsteller Mauriac zu verstehen? Unter den Jüngeren, zumal in Deutschland, ist Mauriacs Name kaum noch ein Begriff. Können Gedenktage wieder zur lebendigen Erinnerung, zum Denken, führen? Der Nobelpreisträger für Literatur (1952) Francois Mauriac wurde vor 135 Jahren, am 11. Oktober 1885 geboren und vor 50 Jahren, am 1.9.1970, ist er gestorben.
2.
Mauriacs Romane werden, selbst in seiner Heimat,in Frankreich, wie die Tageszeitung „La Croix“ (Paris) kürzlich schrieb, kaum noch gelesen, genauso seine Gedichte, auch seine Theaterstücke werden nicht mehr aufgeführt. Aus einem eher politischen Interesse werden seine berühmten, oft spitzen und polemischen, journalistisch – literarischen „Bloc-Notes“, seine „Notizblöcke“, neu herausgegeben, Notizen, die er über viele Jahre (von 1952 -1970) in verschiedenen Zeitungen veröffentlichte (jetzt im Verlag Laffont als „Bouquins“ neu herausgegeben).
3.
Mauriac gehört prominent zu einer Epoche der französischen Kultur, die etwa von den 1930 Jahren an einen Aufschwung ganz eigener Art erlebte: Es gab damals in Frankreich parallel und dialektisch – disputierend verbunden mit der vorherrschenden säkularen, agnostisch – atheistisch und politisch oft kommunistisch orientierten Kultur eine starke, sichtbare und durchaus auch respektierte intellektuelle katholisch geprägte Literatur und Philosophie. Und dies in einem Staat, der bekanntlich seit 1905 von der Trennung von Kirchen (Religionen) und Staat bestimmt war, mit einer einflussreichen antiklerikalen Mentalität und militanten atheistisch – freidenkerischen Organisationen. Diese stark wahrgenommene Präsenz katholischer Schriftsteller, Journalisten und Philosophen in Frankreich von etwa 1930 bis 1970 ist aus heutiger Sicht nichts anders als erstaunlich zu nennen: Da gibt es Intellektuelle, die sich dem katholischen Glauben anschließen, von Bekehrungserlebnissen sprechen, obwohl sie wissen, welche konservativ – reaktionären Positionen im Vatikan vertreten werden. Schriftsteller, wie Mauriac, haben in ihren Werken zentrale Themen des Glaubens und der katholischen Dogmatik literarisch bearbeitet und individuell geformt. Und das haben damals viele Leser begeistert aufgenommen. Mauriac hat die Bürokratie der Kirche, die Verlogenheit ihrer offiziellen Theologie, öffentlich kritisiert, aber an seiner Verbundenheit mit der Institution Kirche im allgemeinen hat er dennoch festgehalten. Aus einem vielleicht letztlich „kindlichen“ Glauben, den ihm seine fromme Mutter vermittelt hatte…
4.
Aber: Ich denke, es gehört einfach zum Verstehen „unserer“ Gegenwart, den tiefen Bruch hinsichtlich der religiösen Mentalitäten im 20.Jahrhundert wahrzunehmen. Ich habe vor einigen Jahren auf spirituelle Aspekte heutiger französischer Literaten hingewiesen, aber es sind eben „nur“ spirituelle Aspekte, keine direkt christlichen, geschweige denn katholische. (Siehe den LINk: https://religionsphilosophischer-salon.de/10014_auf-der-suche-nach-dem-verlorenen-gott-religioese-fragen-franzoesischer-schriftstellerinnen-von-heute_gott-in-frankreich)
Das ist eine Beschreibung von Tatsachen, keine Wertung, wobei natürlich zu fragen wäre: Welchen Anteil die katholische Kirchenführung über all die Jahre hat, dass sich eigentlich kaum noch ein französischer Intellektueller mit der Kirche und ihrer Lehre identifizieren kann. In Deutschland, ja in ganz Europa ist das genauso. Unter den großen französischen Historikern gab es bsi vor kurzem noch einige wenige bekennende Katholiken, wie Prof. Jean Delumeau, aber auch er hatte zur Kirche insgesamt ein gut begründetes kritisches Verhältnis.
Nebenbei: Das noch katholische Milieu Frankreichs ist heute geprägt von Angestellten und Beamten, Mitarbeitern aus der Wirtschaft und Technik … und sehr vielen Rentnern…
5.
Auch wenn nicht alle Romane Mauriacs explizit die Verbundenheit seiner ProtagonistInnen mit dem Thema Sünde, Gnade, Schuld, Strafe, Gottes Gericht bezeugen: Die innere Welt dieser „Mauriac-Menschen“ ist ohne die katholische Prägung des Autors nicht zu begreifen. Und das Erstaunliche ist ja, dass Mauriacs Romane damals auch außerhalb Frankreichs viel gelesen wurden, schließlich hat Mauriac 1952 für dieses sein katholisches Werk den Literatur Nobelpreis erhalten: „Für die tiefe spirituelle Reflexion und künstlerische Intensität, mit der seine Romane eingedrungen sind in das Drama des menschlichen Lebens“, wie es in der Begründung aus Stockholm heißt.
6.
Zu den Romanen: Der Theologe und hervorragende Kenner der Literatur, Pater Jean-Pierre Jossua aus dem Dominikaner – Orden in Paris, hat darauf hingewiesen: Es gibt nur wenige Romane Mauriacs, die nicht unmittelbar von Themen der christlichen Glaubenswelt und katholischen Tradition geprägt sind, dazu gehört wohl das Meisterwerk „Thérèse Desqueyroux“ (1927). Ein Roman, der die leere und moralisch miserable Welt in Mauriacs Heimat, Bordeaux und die Umgebung mit den großen Weingütern und deren Chateaux, beschreiDer Roman zeigt „la misère de l homme sans Dieu“, schreibt Mauriac und, wie Kritiker betonen, „die gefrorene Oberfläche der Seele“…Über die Protagonistin Thérèse Desqueyroux hat Mauriac später noch weitere Texte verfasst, wie „La fin de la nuit“ (1935)…
Als Meisterwerk gilt auch „Le Noeud de Vipères“ (Natterngezücht) von 1932, auch dieser Roman führt in das menschlich so zerstörerische bourgeoise Milieu, voller Bosheit, eine Welt, die Mauriac bestens kannte.
7.
Seine tiefe spirituelle Bindung an zentrale Dogmen der katholischen Kirche war für Mauriac überhaupt kein Hindernis, ausdrücklich für Reformen und Neuansätze in der französischen Kirche einzutreten. Insofern wird er durchaus zurecht als „linker Katholik“ dargestellt. Konflikte mit der Kirchenleitung scheute er nicht, sein literarisches, nicht exegetisches Jesus-Buch „Vie de Jesus“ (1936) zeigt den Mann aus Nazareth in seiner ganzen Menschlichkeit, was der auf „Göttlichkeit“ bedachten Hierarchie gar nicht gefiel und erwartungsgemäß Mauriac attackierte. Wichtig ist in dem Zusammenhang bis heute sein Vortrag „Die Nachahmung der Henker von Jesus Christus“, den er am 15. November 1954 vor der „Vereinigung katholischer Intellektueller“ (auch das gab es damals!) hielt und darin zeigte: Eigentlich sind die sich brav fühlenden Christen in ihrer rassistischen und kolonialistischen Haltung ebenfalls Henker („bourreaux“) wie die Misstäter, die Jesus Christus ans Kreuz geschlagen haben. Die sich katholisch nennenden Henker sah Mauriac damals in weiten Kreisen der französischen Politiker und Militärs, die etwa brutal den Freiheitswillen der Marokkaner niederknüppelten. Dieser Vortrag Mauriacs wurde erst 1984 als Buch veröffentlicht (bei Desclée de Brouwer).
Schon 1933 hatte sich der eigentlich konservativ geprägte Katholik Francois Mauriac aus großbürgerlichem Hause zum Verteidiger der Menschenrechte entwickelt, als er die Aggressionen Mussolinis in Äthiopien verurteilte und sich den links-katholischen und vatikankritischen Zeitschrift „Temps présent“ (ab 1937 mit einem Beitrag jede Woche auf der ersten Seite vertreten) anschloss. Heute werden diese Ideen fortgesetzt in der Revue „Parvis“ an der sich auch liberale Protestanten beteiligen. (https://www.reseaux-parvis.fr/)
8.
Ein eigenes Kapitel ist die Unterstützung Mauriacs für die in den 1940 bis 1950 Jahren „berühmten“, aber vom Vatikan letztlich verurteilten Arbeiterpriester. „Der Arbeiterpriester ist für Mauriac vor allem die Möglichkeit, das Christentum von der bourgeoisen Korruption zu befreien“ (zit. in dem großartigen von Jean Louis Schlegel u.a herausgegebenen Buch „A la Gauche du Christ“, ed. du Seuil, 2012, S.128 f). Mauriac kennt gut die Arbeiterpriester, etwa in der Wohngemeinschaft in Montreuil bei Paris mit André Depierre und Geneviève Schmitt. Er schätzt deren Versuch, einen nicht bürgerlichen Katholizismus mit den Arbeitern und den Armen zu leben. Aber, als Rom unter Papst Pius XII. im Jahr 1954 das „Experiment der Arbeiterpriester“ stoppt, ist Mauriac hin – und hergerissen zwischen der Treue zur Institution und dem von vielen anderen geforderten Widerstand gegen diese römische Entscheidung. Mauriac entschied sich dann doch für die Treue zur Institution. „Es ist ihm unendlich viel leichter, sein Talent zu entfalten im Namen der Caritas und der Gerechtigkeit, etwa in seinem Kampf gegen die Folter (von Franzosen ausgeübt) in Nordafrika als in der Anklage der katholischen römischen Bürokratie. In letzter Instanz führt ihn seine Gläubigkeit immer dazu, diese kirchliche Bürokratie zu rechtfertigen“ (a.a.O., S. 130).
9.
Mauriac, wie gesagt, großbürgerlicher, „bourgeoiser“ Herkunft und in einer letzten frommen Anhänglichkeit mit der Institution Kirche verbunden, war kein politisch militanter Verteidiger der Menschenrechte, sicher kein Linker, aber bekannt ist sein Einsatz zugunsten der Résistance. Wegen seiner Haltung in der Résistance gehörte er im Herbst 1945 zu dem „Conseil National des Ecrivains“ (CNE), der die Aufgabe hatte, mit dem Pétain Regime und mit dem französischen Nazis verbundene Schriftsteller zu überprüfen, zu „säubern“ und den Strafen zuzuführen, wenn sie denn Verbrechen der Okkupation begangen hatten. Mauriac gehörte zu diesem Kreis der mit den „Säuberungen“ Beauftragten neben Malraux, Camus, Sartre, Aragon und anderen. Er war in diesem Kreis des CNE eher ein Gemäßigter. Mit Claudel, Anouilh, Colette hatte er sogar ein – letztlich vergebliches – Gnadengesuch für den Nazi-Schriftsteller Brasillach unterschrieben. Brasillach wurde hingerichtet; ein anderer rechtsextremer Poet, Céline, konnte fliehen und wurde 1951 begnadigt. Unter de Gaulle wurde alles unternommen, Frankreich als Land der Résistance zu etablieren, was den Fakten nicht entsprach.
Interessant ist in dem Zusammenhang Mauriacs Beziehung zu Camus. Mauriac schätzte Camus, auch wenn es mit ihm Streit gab in der Einschätzung der épuration. Mauriac war überzeugt: Absolute Gerechtigkeit kann es in der Welt nicht geben. Anläßlich des plötzlichen Todes des großen Humanisten Camus konnte Mauriac nicht darauf verzichten zu sagen: „Schade, dass Camus kein Christ war“.
10.
Meine Hinweise haben nur an einige Aspekte im Werk Francois Mauriacs aufmerksam machen wollen. Über Mauriacs Verehrung für de Gaulle wäre zu sprechen genauso wie über die nun deutlicher diskutierte homosexuelle Neigung Mauriacs, die Jean Luc Barré in seiner „Biographie intime“ (im Verlag Fayard) ausführlich würdigt. Barré stellt auch die Frage, wie diese von Mauriac niemals öffentlich gemachte homosexuelle Neigung (er war bekanntlich verheiratet und hatte vier Kinder) das eigene Werk, die Romane etwa, verschwiegen, aber „strukturell“ auch prägt…Dass die tiefe Verbindung zum bourgeoisen Milieu und die von der Mutter vermittelte Abhängigkeit von der katholischen Lehre auch nicht gerade förderlich war für ein öffentliches Bekenntnis (Coming-out), ist auch klar. (vgl.: https://www.lemonde.fr/idees/article/2010/10/29/jean-luc-barre-mauriac-a-lutte-contre-le-feu-qu-il-portait-en-lui_1432937_3232.html)
11.
Um noch einmal an den Anfang dieser Hinweise zurückzukommen: Kulturwissenschaftlich betrachtet, ist das „Verschwinden“ katholischer Intellektueller (Schriftsteller, Philosophen usw.) in Frankreich, aber auch in vielen europäischen Staaten im 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ein philosophisch zu bedenkendes „Zeichen der Zeit“. In Paris wurde das schon erwähnte „Zentrum der katholischen Intellektuellen Frankreichs“ in der Rue Madame in Paris im Jahr 1977 aufgelöst… weil es so viele katholische Intellektuelle einfach nicht mehr gibt …Und vielleicht ist manch ein „säkularer“ Autor tatsächlich auch von „christlichem“, jesuanischen Geist geprägt…
Noch einmal: Für diesen hier nur angedeuteten kulturellen – religiösen Umbruch als Vertreibung Intellektueller aus der Kirche ist die katholische Kirchenführung, also der alles bestimmende Klerus, selbst mit verantwortlich: Sie hat sich über all die Jahre trotz mancher Reformen bzw. Reförmchen als hierarchisch-antidemokratische und letztlich auch Frauen- und Homosexuellen feindliche Institution etabliert. Sie hat die Kritik von Mauriac in seinem schon zitierten Vortrag über die „Nachahmung der Henker von Jesus Christus“ nicht beantwortet: „Ich bin wie besessen von all den Kreuzen, die immer noch errichtet werden von dieser blinden und tauben Christenheit…“(Seite 17). “Und der Lauf der Geschichte wurde nicht von Heiligen bestimmt. Sie haben zwar Herzen und Geist bewegt. Aber die Geschichte ist kriminell geblieben“ (Seite 21).
12.
Das Schloss und der Park der Domaine Malagar, Mauriacs „Landsitz“, ist heute das „Centre Culturel Francois Mauriac“ http://malagar.fr Oder: https://monumentum.fr/domaine-malagar-actuel-centre-culturel-francois-mauriac-pa00083896.html

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Über universale Werte, die alle Menschen respektieren sollen: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“.

Das neue Buch des Philosophen Markus Gabriel
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Warum ist ein philosophisches Buch, also ein Buch zum Philosophieren, wichtig und bedeutend? Wenn es die LeserInnen zum Nachdenken, Weiterdenken, Erstaunen, Kritisieren und schließlich auch zur Anerkennung überraschender Erkenntnisse führt … und dann eine Erschütterung hinterlässt, z.B.: Wie sehr man als LeserIn bisher hinter dem philosophisch klar bewiesenen Guten zurückgeblieben ist… und eigentlich zum neuen Handeln aufgerufen ist: Also der Erkenntnis folgend, man müsste Neues zu tun, auch in der eigenen Lebenspraxis, die ja nie nur privat, sondern immer auch politisch ist.
2.
Ich bin überzeugt, das neue Buch des inzwischen bekannten Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel erfüllt die oben genannten Kriterien. Schon der Titel weist in die politische Gegenwart: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“, und dies ohne Fragezeichen. Dass die Zeiten dunkel sind, dürfte allgemeine Zustimmung finden. Erst der UNTER – Titel macht den philosophischen Ansatz dieser Gegenwartsphilosophie von vornherein brisant:„Universale Werte für das 21. Jahrhundert“. Eine provozierende Formulierung! Provozierend für alle, die noch in der postmodernen Beliebigkeit und dem totalen Relativismus befangen sind und nun zur Erkenntnis universaler Werte geführt werden sollen. Und diese universalen Werte werden nicht religiös begründet oder in den Rahmen einer politischen Ideologie gestellt: Sie werden aus der Vernunft, der allgemeinen, begründet. Markus Gabriel geht von der These aus: Die Menschen als von der Vernunft bestimmte Wesen haben eine gemeinsame, allgemeine Vernunft, aus der sich selbst bestimmte universale Werte ergeben. Damit wird eine elementare Einheit der in sich pluralen Menschheit anerkannt. Rassismus in welcher Form auch immer ist also definitiv als vernunftwidrig ausgeschlossen.
Problematisch mag der Anspruch des Autors erscheinen, wenn er pauschal vom „21. Jahrhundert“ spricht, wo doch dieses 21. Jahrhundert gerade mal erst mit allen Problemen begonnen hat und mancher befürchtet: Wenn alles politisch (populistisch, antidemokratisch), ökologisch und damit neoliberal so weitergeht wie bisher, ist es vielleicht das letzte Jahrhundert für einen Teil der Menschheit.
Die philosophischen Erkenntnisse Markus Gabriels sind zudem von Gewicht, weil sie auch deutlich auf die Corona – Pandemie bezogen sind. Diese hat einerseits Solidarität wachgerufen, andererseits schwierige ethische Fragen, wie die Triage aufgeworfen.
3.
Im Zentrum seiner Argumentation steht also der Hinweis auf „moralische Tatsachen“, die, wie Gabriel betont, „einzig in der universalen Menschenvernunft begründet werden können und müssen“ (343)..
Diese universal für alle Menschen geltenden moralischen, also das geistige Wesen des Menschen auszeichnenden, „Tatsachen“ sind für Gabriel identisch mit einigen universalen Werten. An diese zu erinnern und sie zu beleben ist der Zweck des Buches, das sich nicht zuletzt wegen der leichten „Lesbarkeit“ an weite Kreise richtet.
Es erstaunt dabei, dass Markus Gabriel mit aller Vehemenz auf den allgemein geltenden universalen Werten beharrt. Er sieht die ganze Menschheit unter die Aufforderung gestellt, universale Werte zu realisieren, also das jeweils gebotene Gute zu tun und das durch die Vernunft deutlich gewordene Böse zu unterlassen. Dass sich dabei das Gute bzw. das Böse jeweils inhaltlich auf konkrete Situationen bezogen bleibt, also alles andere als abstrakt bleibt, ist klar.
Wenn das Gute immer mehr realisiert wird, dann wird auch der moralische Fortschritt befördert, von dem Gabriel überzeugt ist. Moralischer Fortschritt ist eine eigene Realität, ist grundlegend, der allen selbständigen Fortschritt in Wissenschaften und Technik und Naturbeherrschung wie eine Art Leitplanke bestimmen sollte.
Aber dieser dringende moralische Fortschritt gelingt nur in der Kraft der Reflexion. „Gegen dunkle Zeiten hilft (philosophische) Aufklärung. Sie setzt das Licht der Vernunft und damit moralische Einsicht voraus…Moralischer Fortschritt besteht darin, dass wir besser erkennen, was wir tun bzw. was wir unterlassen sollen“ (19).
4.
Moralische Tatsachen sind die Normen fürs Handeln der Menschen, sie zeigen differenziert, aber doch allgemein, „was erlaubt ist“ (12). Deutlich wird dabei das Gute und das Böse, aber auch der Bereich dazwischen, den Gabriel „das Neutrale“, das „Indifferente“, nennt (43, auch 103). Also jenen Bereich des alltäglichen Handelns, in dem wir uns oft routiniert bewegen und tun, was nicht moralisch von Bedeutung ist, etwa das Aufräumen oder das Säubern der Wohnung, wobei ein übermäßiger Wasserverbrauch wieder in den Bereich des moralisch Verwerflichen führen kann: man sieht, es gibt Übergänge auf der Skala „Gut-neutral-böse“…
5.
Es überrascht angesichts der Debatten über Relativismus und Postmoderne sicher, mit welcher Bravour Gabriel von den objektiv bestehenden moralischen Tatsachen spricht. “Es gibt moralische Tatsachen, die vorschreiben, was wir tun und was wir unterlassen sollen“ (39). Diese Tatsachen erkennt die Vernunft als solche mit absoluter Gewissheit: Etwa: „Keine Kinder quälen“ (40, noch einmal 91); „die Umwelt schützen“, alle Menschen möglichst gleich behandeln“, also allen die gleichen elementaren Lebensrechte zugestehen (40). Diese moralischen Tatsachen sind universal, gelten kulturübergreifend. Man möchte sagen, sie gelten ewig, wenn damit nicht ein Anklang an religiöse Maßstäbe wach würde, die Gabriel zurecht als Begründung ablehnt, weil sie eben einer bestimmten Tradition entstammen und nicht von der allgemeinen Vernunft erzeugt sind.
6.
Diese moralischen Tatsachen, diese Maßstäbe zur Beurteilung von gut und schlecht, nennt Gabriel WERTE“ (44).
Wie im einzelnen die universal geltenden Werte tatsächlich Schritt für Schritt aus der Vernunft entwickelt werden, zeigt Gabriel meines Erachtens nicht deutlich. Er setzt sie gleich am Anfang als gegeben voraus: „Die Geltung moralischer Aufforderungen liegt vielmehr in ihnen selbst begründet“ (92). Sie zeigen ihre Lebendigkeit und ihre Kraft im Gewissen. Erst später erinnert Gabriel an die Formen des „Kategorischen Imperativs“ von Kant als den Maßstab moralischer Orientierung (144 ff). Aber es hätte meines Erachtens noch deutlicher gezeigt werden können, dass aus dem kategorischen Imperativ die von Gabriel universal geltenden moralischen Tatsachen entwickelt werden können.
7.
Gabriel nennt praktische Forderungen, die sich aus seiner Erkenntnis ergeben: „Wir brauchen eine neue Aufklärung. Jeder Mensch muss ethisch ausgebildet werden, damit wir die gigantische Gefahrenlage erkennen, die darin liegt, dass wir moralisch verblendet fast ausschließlich Naturwissenschaft, Technik und der neoliberalen Marktlogik folgen“ (311).
Gabriel nennt es einen Skandal, dass die Mehrheit der Deutschen ethische Analphabeten sind (339). Es gilt also, die „rationale Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens zu lernen“ (342)
Gabriels Kritik richtet sich gegen Darwin ( „seine Schriften sind gelinde gesagt, keine besonders geeignete Quelle moralischer Einsicht“ (317) oder gegen Peter Singer (322): Gabriel betont gegen Singer: „Der Mensch ist mehr als ein wenn auch komplexer Zellhaufen“ (322)
Politisch deutlich und sehr treffend ist Gabriel, wenn er über neoliberale Weltordnung schreibt: „Sie beruht auf asymmetrischer Verteilung materieller und symbolischer Ressourcen“ (333), sie „versetzt letztlich sehr viele Menschen in extreme Armut. Und dieser elende Zustand so vieler widerspricht den obersten Werten, die nur „eigentlich“ (also bloß in Sonntagsreden etc.) anerkannt werden…
8.
Gabriel argumentiert durchaus kosmopolitisch:
„Es kann prinzipiell keine Ethik geben, die sich exklusiv damit befasst, was Einwohner eines einzigen Nationalstaates tun bzw. unterlassen sollen“ (335).
9.
Ich finde es bedauerlich, dass sich Gabriel in seiner Ethik ausschließlich auf den Begriff der Werte bzw. der moralischen Tatsachen bezieht und dabei die Fragen und Ansätze einer Tugendethik außer acht lässt, die ja viel älter ist als die „Wertethik“. Und eine etwas breite kritische Debatte über die Werte-Philosophie, prominent vertreten etwa durch Max Scheler, fehlt ohnehin in dem Buch. Aber Gabriels Leistung ist es in diesem Buch, Pflichtethik mit einer bestimmten Wert-Ethik zu verbinden.
10.
Das Problem philosophischer Erkenntnisse in ihrer Beziehung auf die Lebenspraxis ist natürlich auch Markus Gabriel nicht verborgen. Bezeichnend sind deswegen die letzten Worte seiner Studie: „Hören wir den (also Gabriels, CM) Weckruf? Oder fallen wir bald wieder übereinander her wie raffgierige Raubtiere? Es liegt an uns. Der Mensch ist frei“ (344).
Der Philosoph kann also offenbar nur appellieren, kann nur einen „Weckruf“ loslassen, an die unabweisbare Tatsache erinnern, dass wir Menschen eben im allgemeinen frei sind, das Gute zu tun. Also etwa den im Buch beschriebenen Werten in der eigenen Lebenspraxis zu folgen.
Natürlich hängt alles Handeln von der Freiheit des Menschen ab. Aber bei Gabriel werden philosophische Erkenntnisse (Werte, moralische Tatsachen) wieder einmal, so mein Eindruck, als zunächst dem Menschen bloß gegenüberstehend und damit fremd und befremdlich entwickelt. Es ist dies die Position der puren „Sollens-Forderung“. Anders gesagt: Es könnt doch auch alternativ gezeigt werden: Indem man zuerst eine Lebenspraxis beschreibt, in der „immer schon“ Werte jeweilig gelebt werden, vielleicht unthematisch und fragmentarisch…um aber dann von diesem Immer-Schon-Gelebten zu einer vertieften Erkenntnis zu gelangen, auch zur umfassenden Erkenntnis der immer schon (etwas) gelebten Werte. Mit allen den möglichen Korrekturen, um sich von Un-Werten zu lösen und sich den wahren Werten zuzuwenden. So wäre der Übergang zu einer „umfassenderen Werteerkenntnisse“ harmonischer und „vermittelter“, würde Hegel sagen. Von einem solchen Ansatz bei den de facto immer schon gelebten Werten verspreche ich mir eine größere praktische Wirksamkeit. Theorie und Praxis werden und sind eins.
11.
Nebenbei: Über die Kritik einer nur auf Werte fixierten Lebenshaltung – also ohne Einbezug der Pflichtethik im Sinne Kants – hat bekanntlich der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich das hoch interessante Buch „Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur“ (Wagenbach Verlag) geschrieben.
12.
Im ganzen möchte ich aber das Buch von Markus Gabriel empfehlen, auch als Grundlage für philosophische Gesprächskreise.

Markus Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Ullstein Verlag, 3. Auflage 2020, 368 Seiten, 22 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin