Christentum und Kirche im Kapitalismus.

Weiterführende Überlegungen, anlässlich eines Buches von Rainer Bucher
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Sehr viele verdrängen es, viele wissen es, wenige sagen es laut: Das Christentum ist seit dem Auftreten des Kapitalismus im 18. Jahrhundert („industrielle Revolution“) ein „Christentum im Kapitalismus“. Diese Erkenntnis erläutert jetzt der katholische Theologe Rainer Bucher (Universität Graz) in seinem neuen Buch genau mit diesem Titel: „Christentum im Kapitalismus“.
Ich werde dabei an die offizielle Selbstbezeichnung der evangelischen Kirche in der DDR, Mitte der neunzehnhundertsiebziger Jahre, erinnert. Der „Kirchenbund“ bezeichnete sich selbst mit Zustimmung von Erich Honecker als „Kirche im Sozialismus“. Dazu gab Bischof Albrecht Schönherr gleich die ausdrückliche Interpretationsanweisung: „Wir sind eine Kirche nicht gegen und auch nicht für, sondern Kirche IM Sozialismus“. Dass dabei die DDR – Herrschaft überhaupt als Sozialismus implizit anerkannt wurde, zeigt, dass diese Selbstbezeichnung de facto mehr war als eine Art geografische Ortsangabe, so, wie man sagen könnte: „Wir sind eine Kirche in Berlin“. Aber das ist ein anderes Thema, genauso wie die Tatsache, dass einige Pfarrer und Kirchenfunktionäre diesen Sozialismus à la DDR offenbar schätzten und deswegen „inoffizielle Mitarbeiter“ („IM“) der Stasi wurden.
2.
Rainer Bucher, Autor des Buches „Christentum im Kapitalismus“, würde seine Interpretation eines Christentums „im Kapitalismus“ niemals analog zur Formel Bischof Schönherrs verstehen, er würde nicht sagen: „Wir wollen ein Christentum nicht gegen, nicht für, sondern bloß im Kapitalismus sein“. Rainer Bucher sieht in „dem“ Kapitalismus vielmehr eine totale, also nicht nur eine ökonomische, sondern auch kulturelle Herrschaft, der die Kirchen unentrinnbar ausgesetzt sind. Der Kapitalismus ist für Bucher „der Souverän“, er „macht sich die anderen untertan, auch die Religion.“ (58). Insofern hat der Kapitalismus längst „gewonnen“, wenn er auch noch nicht ganz „allmächtig“ ist (29). Diese Ambivalenz zwischen einem Kapitalismus als „Sieger“ und noch „nicht ganz allmächtig“ wird vom Autor nicht aufgelöst.
Kann das Christentum sich vielleicht aus dem Kapitalismus befreien und ihn gar mit anderen überwinden? Bloß was kommt dann? Die hartgesottenen neoliberalen Kapitalisten, Millionäre, Milliardäre aller Länder schmunzeln wohl über diese Frage… Sie halten den Kapitalismus und Neoliberalismus für ewig, unersetzbar, zum Kapitalismus gibt es keine Alternative, predigte die neoliberale Zerstörerin des Sozialen, Madame Thatcher.
Trotzdem lohnt es sich beim Thema des Buches zu bleiben. Ohne ein Trotzdem lebt keine Philosophie und eine Theologie schon gar nicht.
3.
Will das Christentum, wollen die Kirchen, in diesem allumfassenden kapitalistischen System wenigstens überleben, müssen sie sich zu ihm kritisch verhalten, das betont der Autor. Er ist wohl schon froh, wenn Christen und Kirchen den Kapitalismus etwas einschränken, etwas bremsen, etwas humaner machen. Dies ist ja die Zielvorgabe der alten SPD. Sozial gesinnte Kreise der so genannten christlichen Parteien in Europa setzten und setzen ausschließlich auf einen inneren Bewusstseinswandel der Bürger: „Sollen die Konsumenten doch anders konsumieren, also etwa Fair-Trade – Bananen kaufen“. Das Wort fair-trade setzt ja automatisch die Erkenntnis frei: Alles andere Obst, Gemüse und Fleisch etc. ist nicht NICHT-fair gehandelt, sondern entstammt unterdrückerischen, also kapitalistischen Strukturen. Nicht-fair Gehandeltes kann zudem „Gammelfleisch“ sein oder das billige Gemüse ist hochgiftig . Wie viele „Rückrufaktionen“ etwa von nicht fair gehandeltem Käse melden die großen Supermärkte wöchentlich. Die Arbeiter auf den „nicht -fairen“ Bananen – Feldern erhalten einen Hungerlohn etc. Den dicken Profit streichen die United-Fruit-Companies etc. ein. Die Supermärkte in Europa sollten also bitte immer den Untertitel führen: „Hier werden vor allem NICHT- fair-gehandelte, also ungerecht gehandelte Waren verkauft“.
4.
Aber die LeserInnen dieser kleinen Buchbesprechung sollen nun bloß nicht meinen, dass in dem Buch „Christentum im Kapitalismus“ davon die Rede ist. Der Autor hätte ja auch zurecht darauf hinweisen können, dass bei kirchlichen Empfängen und in kirchlichen Akademien usw. fair- trade- Coffee (also anti-kapitalistischer Kaffee) serviert wird. Dieser beruhigt das fromme Gewissen. Fair gehandelter Kaffee beunruhigt aber nur ein ganz kleines Bisschen die nicht fair agierenden Groß-Unternehmen. aggressiven Praktiken des Kapitalismus/Neoliberalismus.
5.
Wenn man schon von Kapitalismus spricht, wäre es auch von der Sache her geboten, den alles entscheidenden Begriff zu besprechen, also vom Klassenkampf zu sprechen, auch vom Klassenkampf im Zusammenhang von Glaube und Kirche. Nur nebenbei: Der katholische Theologe und Philosoph Giulio Girardi hat diesen Zusammenhang von Kirche und Klassenkampf ausführlich reflektiert, er wurde deswegen als Priester aus dem Salesianerorden (SDB) ausgeschlossen und durfte nicht mehr an katholischen Fakultäten lehren. Früher hätte man ihn als Ketzer gern verbrannt, jetzt rettete ihn der liberale Rechtsstaat.
6.
Solche heißen Eisen („Klassenkampf und Kirche“) berührt Rainer Buch in seinem Buch „Christentum im Kapitalismus“ nicht. Er hätte ja dabei an die ganz wenigen katholischen Bischöfe erinnern können, die den Klassenkampf in ihren Ländern und Bistümern genau erkannten und sich bewusst der Klasse der Unterdrückten angeschlossen hatten, von Bischof Pedro Casaldáliga (Brasilien) wäre also zu sprechen gewesen oder von Erzbischof Helder Camara (Brasilien) oder dem heiliggesprochenen Erzbischof Oscar Romero (El Salvador). Auch Bischof Jacques Gaillot (Evreux/Partenia) hat sich mit den unteren Klassen solidarisiert. Gaillot wurde bekanntlich vom Papst als Bischof von Evreux abgesetzt, weil der damalige französische Innenminister Pasqua die Kritik Gaillots an der offiziellen Ausländerpolitik nicht ertragen konnte…
Rainer Bucher fasst also ein gewaltiges Thema an, aber er bietet eine viel zu knapp ausgefallene Studie. Sie hat zudem noch den milde klingenden Untertitel hat: „Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt“. Ist der Kapitalismus im Ernst „Verwaltung“ zu nennen? Verwaltung bewahrt ja wenigstens, Kapitalismus aber zerstört vieles um des Profites willen. Das ist evident.
Bucher übernimmt also mit dem Untertitel diese äußerst dürftige Kapitalismus – Definition des Philosophen Jean – Luc Nancy (S. 20). Später (S. 38) betont Bucher: Nancy fasse den Kapitalismus als „ökonomisches System“ mit der Bevorzugung individueller Eigentumsrechte, zweitens als das Zur-Ware-werden alles Lebendigen sowie als die absolute Geltung des Kapitals, um Gewinne in der Zukunft zu machen.
Die heute von einer überwältigenden Mehrheit der Soziologen und Philosophen gängige Beschreibung eines eher totalitären
Kapitalismus fehlt auch bei Bucher,. Die wesentliche Einsicht der führenden Kapitalismus -Kritiker lautet: Der Kapitalismus stößt an seine Grenzen hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit, die Anzahl der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten weltweit nimmt ständig zu, Millionen Menschen krepieren förmlich in ihren Slums, die Reichen haben sich an das Elend ihrer vielen Millionen Mitmenschen gewöhnt, sie sind bestenfalls noch zu Spenden bereit usw.. Der Kapitalismus als Neoliberalismus zerstört die Natur und die Umwelt mit seinem Wahn, alles Natürliche in Ware und damit in Geld zugunsten der Konzerne zu verwandeln. Der Kapitalismus mag es sehr, wenn autoritäre Regierungen etwa bei ihrer Naturzerstörung den internationalen Konzernen freie Hand lassen, wie etwa in dem verbrecherischen System zur Zeit in Brasilien. Der Kapitalismus als Ideologie des ständigen ökonomischen Wachstums ist wesentlich kriegerisch: Abwehr und Krieg, Waffenproduktion in Hülle und Fülle und Folter und Verfolgung und „Erzeugung“ von Millionen Flüchtlingen sind das Wesen des Kapitalismus/Neoliberalismus. Dass dann die von den Kapitalisten „erzeugten“ „Flüchtlingsströme“ keine menschenwürdige Aufnahme finden, gehört zum kapitalistischen Ungeist. Mit Unsummen von Geld aus Europa sollen ärmere Nationen (Türkei, Kenia, Uganda, Libyen, Niger usw.) diese vom Kapitalismus erzeugten „Flüchtlingsströme“ von den reichen Ländern bitte schön fernhalten. Und die Kirchen als Kirchen in diesem Kapitalismus bitten um Spenden für diese armen Menschen, sagen aber nicht den Regierenden klar und deutlich: Eure „christliche“ Politik ist nicht mehr menschlich, wir können sie nicht mehr unterstützen. Darüber wird nicht einmal diskutiert. Früher sprach die evangelische Kirche von politischen Situationen, in denen der „status confessionis“ gilt, ein alter Begriff, den man bitte weiter studiert in aktuellem Zusammenhang von „Kirche und Kapitalismus“
7.
Der große Soziologe Hartmut Rosa, wahrlich kein Marxist und „Klassenkämpfer“, beschreibt in seinem Buch „Resonanz“ treffend den Kapitalismus als dem ständigen Wachstum verpflichtet, mit seiner Steigerungslogik, der Sucht nach Profit, Gewinn, Rendite (Seite 725 f. in der Taschenbuchausgabe des Suhrkamp-Verlages 2019). Hartmut Rosa spricht von der „Ersetzung der blindlaufenden kapitalistischen Verwertungsmaschinerie“ (S. 726), von einer totalen Verwertungslogik, und er zitiert in einer Fußnote Karl Marx aus seinem Kommunistischen Manifest. Marx klagt den Kapitalismus an, weil er auch „alles Heilige entweiht“ (S. 680, Fn., 59). Dass sich hier auf Hartmut Rosa hinweise, geschieht sozusagen prophylaktisch, um allen konservativen Geistern zu zeigen: Die tiefgreifende und begründete Ablehnung des Kapitalismus/Neoliberalismus ist in der Welt der Wissenschaft wenn auch nuancenreich, aber universal und selbstverständlich.
8.
Der Ton in Buchers Buch bleibt moderat, der Autor meidet meines Erachtens die wirklichen heißen Fragen bei seinem Thema. Trotzdem lohnt es sich das Buch von Rainer Bucher zu lesen, schon allein deswegen, weil es über den Text hinaus zu weiterem Nachdenken anregt.
Das Buch bietet etwas Material zu den theologisch bislang kaum wahrgenommenen heutigen Marxisten wie Vattimo, Badiou, Zizek.
Das Buch von Rainer Bucher bleibt zudem inspirierend, weil klar gesagt wird: „Auch Religion und Glauben werden in Zeiten des Kapitalismus vom Kapitalismus geprägt, zutiefst und zuinnerst“ (46).
9.
Viele Themen, die das Buch nicht ausführlich behandelt, fallen dem Leser bei der Lektüre selbst ein: Ich nenne nur einige:
9.1.
Allein schon die Einbindung des europäischen Katholizismus in die Kolonialgeschichte wäre ein ganz dringendes Thema wie etwa auch die Frage: Warum glauben eigentlich die (von den Kolonialherren wie Untermenschen behandelten Afrikaner) dem christlichen Glauben, also der Religion der kapitalistisch – imperialistisch geprägten Kolonialherren? Wollen sie die kapitalistisch geprägte Denkform der europäischen Kirche nun ihrerseits übernehmen und eine afrikanisch – kapitalistische Kirche aufbauen? Wer einige Pfingstkirchen in Nigeria oder Brasilien studiert, kommt angesichts deren „Wohlstandsevangelium“ schnell zu dieser Überzeugung.
9.2.
Wenn die kapitalistische Mentalität des Verfügens und Beherrschens auch die kirchliche Spiritualität bestimmt, dann wären ganz dringende Themen zu bearbeiten: Das Festhalten an einer Hierarchie, an der pyramidalen Ordnung, entspricht den hierarchisch strukturierten Großunternehmen. Auch die miserable Rolle, die an führender Stelle Frauen in der katholischen Kirche oder der Orthodoxie spielen, gilt genauso für neoliberale Großunternehmen. Wenn der Kardinal von München jetzt ein Monatsgehalt von 12.526 Euro (B 10) erhält, entspricht diese Honorierung in etwa dem Gefälle der Gehälter in Großunternehmen zwischen Top-Leuten und kleinen Angestellten. Die Kirchen haben sich längst daran gewöhnt, sich wie Großbetriebe zu verhalten. Wenn zum Beispiel klerikales Personal nicht mehr zur Verfügung steht, um alle vorhandenen Pfarreien zu „bedienen“, werden einfach Gemeindehäuser geschlossen und die Kirchengebäude nur noch mit reduziertem Aufwand bedient. Genauso verhalten sich Unternehmen, die allein nach Gesichtspunkten des Profits ihre Filialen aufrechterhalten. Gibt es weniger Kirchenmitglieder, werden Pfarreien geschlossen. Gibt es weniger Kunden, werden Geschäfte dicht gemacht.
9.3.
Es wäre bei dem Thema dieses Buches angebracht, die innere Verdorbenheit der christlichen Glaubenslehre durch den Kapitalismus dreizulegen. Ich kann Aspekte dieses umfassenden und noch weiter auszuarbeitenden Themas hier nur andeuten:
Auch in den Kirchen gibt es die Herrschaft der großen Zahlen: Ein Gottesdienst, eine Predigt, waren dann gut, wenn sehr viele Leute im Gottesdienst waren und die Predigt hörten. Ich erinnere mich an die Klagen der Pfarrer: „Heute waren nur alte Damen im Gottesdienst“. Was ist daran schlimm? Alte Menschen haben – kurz vor Lebensende – ein gutes Recht, spirituelle Impulse zu erhalten. Und modern und jugendlich wollen die Gemeinden der schon äußerlich häßlichen Mega – Churches sein, in den USA, Nigeria, Korea oder Brasilien: Die Gottesdienste, die sie anbieten, sind als totales Show-Programm konzipiert, mit allerhand Singsang und körperlichen Verrenkungen frommer Tanz-Gruppen und den endlosen Monologen der Pastoren, die allen Erlösung versprechen, wenn sie ordentlich für den Pastor spenden. In diesen Mega – Churches wird das „Wohlstandsevangelium“ verkündet: Wer arm ist, der ist selber schuld. Das hätte der Ökonom Hayek, der Heilige der Neoliberalen, nicht besser formulieren können. Diese Mega-Churches sind religiös angehauchte kapitalistische Unterhaltungstempel.
9.4.
Aber damit wird die Frage wichtig: Wie weit ist die innere Glaubenswelt, also das Dogma, das Gebet, die Liturgie, die Kirchenlieder, von der kapitalistischen Mentalität bestimmt? Warum hält die katholische Kirche immer noch am Ablass fest und bietet ihn etwa zu Ostern sogar via Fernsehen, Radio, Internet an? Warum hält die katholische Kirche wie einst, so auch heute, daran fest, dass einfache Laien bei den Priestern Messen „bestellen“ können, gegen ein gutes Honorar freilich? Eine fremde Person betet also anstelle meiner, bloß weil ich diese Person, den Priester, dafür bezahle? Die katholischen Männerorden machen auf diese Weise immer noch ein „dickes Geschäft“. Für die Allmacht des Geldes, etwa im Katholizismus, ein weiteres Beispiel: Warum sind Heiligsprechungen so teuer? Viele tausend Euro, mindestens 50.000 Euro, müssen etwa Ordensgemeinschaften für die Heiligsprechung ihres Gründers der entsprechenden vatikanischen Bürokratie „für Heiligsprechungen“ bezahlen.
9.5.
Kapitalismus ist Egoismus: Das ist ein ganz banaler, aber immer noch treffender Basisaspekt kapitalistischer Mentalität. Der Egoismus der Beter wäre zu untersuchen, in den immer noch populären Bittgebeten: Zuerst und vor allem möge ich gerettet werden, heißt die Standardformel aller Bittgebete.
Auch von der Opfertheologie wäre zu sprechen, die in verschiedenen Konfessionen immer noch eine große Bedeutung hat, bis hin zu den grausigen Liedern am Karfreitag: Jesus Christus opfert sich am Kreuz leidend für die Erlösung der Menschen, weil es sein himmlischer, angeblich liebender Vater, dies so will. Opfert euch auf, rufen die Kapitalisten den Armen zu, gebt euch hin der Arbeit, es gibt keine Alternative für euch, ihr müsst bis zum Umfallen schuften in unseren Fabriken, vielleicht erlauben wir es dann euren armen Kindern, dass es ihnen etwas besser geht. Indem das Christentum den Wahn des Opfers in den religiösen Mittelpunkt stellt, öffnet es die Türen für die Opfer – Ideologie der kapitalistischen Herren-Menschen. Darüber hätte ich auch gern ein paar Zeilen gelesen in dem Buch „Christentum im Kapitalismus“.
10.
Lässt sich das Christentum wenigstens noch partiell in der PRAXIS vom Kapitalismus befreien? Eine schwierige Frage, auch zu dem Thema bietet das Buch „Christentum im Kapitalismus“ eher wenig. Man hätte doch sprechen können von den kleinen, aber wirksamen Gruppen innerhalb des kapitalistisch beherrschten Christentums, etwa den nicht nur in den USA, sondern weltweit präsenten Gruppen der „Catholic Worker“. Von christlichen anarchistischen (sic!) Gruppen wäre zu sprechen, von den “Religiösen Sozialisten” in der Schweiz, vor allem von den Basisgemeinden weltweit, die selbst die verheerende konservaive Pastoral-Politik des Vatikans nicht vernichten konnte. Es wäre zu denken an die Gemeinden, die wie etwa in Holland, aus dem Verbund mit den Bistümern ausgestiegen sind und unabhängige, selbst finanzierte Gemeinden sind, wie etwa die Dominikus – Gemeinde in Amsterdam (Spuistraat).
11.
Darüber hinaus wäre natürlich der enge theologische Blick zu überwinden, dass man Religion nur da vermutet, wo Religion draufsteht. Kurzum, es wäre zu fragen, ob die wahren Partner eines antikapitalistischen Christentums nicht bei den NGOs (Ärzte ohne Grenzen, Greenpeace, NABU, AVAAZ) zu suchen sind. Mit denen ließe sich dann die schwere Frage erörtern, wie denn ein Leben de facto zwar noch innerhalb, geistig/politisch/spirituell außerhalb des heute dominanten Kapitalismus aussehen kann.
12.
ZUR SPRACHE:
Nur eine kleine Kritik am Schluss: Bei einer weiteren Neuauflage würde ich herzlich bitten, um des erreichbaren Verständnisses willen, den tatsächlich aus 17 (oder sind es 18?) Druckzeilen bestehenden Satz auf Seite 49) in mindestens drei Sätze aufzulösen.
Und schlechterdings unverständlich, selbst für einen Theologen, ist dieser Satz auf Seite 152: „Ohne die Dynamik des Prozedierens petrifizieren die paradoxen Polaritäten des Christentums entweder an einem ihrer Pole oder diese Balance rastet ein…“ Eingerastet ist auch mein Begreifen als ich von einer „lokalen Entbettung“ (S. 65) las. „Einbetten“ und „Umbettung“ (auf Friedhöfen) geht ja noch. Aber „Entbettung“? Ist Entbettung vielleicht eine neue Strategie des Kapitalismus, uns sogar noch unsere Betten zu nehmen? Den Schlaf raubt der Kapitalismus einigen Leuten ja ohnehin schon.

Rainer Bucher, Christentum im Kapitalismus. Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt. Echter Verlag, Würzburg, 2.Aufl. 2020, 224 Seiten, 19,90€.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Weihnachten: „Christus, der Retter, ist da…“ Oder: „Jesus der Retter ist da” ?

….diese Frage ist alles andere als nur theologisch subtil…
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
In Krisenzeiten neigen Menschen dazu, sich in (angeblich) altbewährte Traditionen zu flüchten, wenn sie sich denn nicht gleich Wahnvorstellungen und Verschwörungstheorien hingeben.
Um beim Weihnachtsfest zu bleiben: Es gibt das Bedürfnis in unserer „durchrationalisierten“ und digitalisierten Welt der totalen Ernüchterung, in die „verzauberte“ Welt der Kindheit, der Märchen und Legenden einzutauchen, um dort – wie im Traum – etwas Halt und seelische Wärme zu empfinden: Weihnachten ist der Inbegriff der Ergriffenheit, der Traditionspflege, des „Einst war es doch so schön“. Der ganze Kommerz–Wahn zu Weihnachten hat diese Wunschvorstellung nicht nur nicht kleingekriegt, der Kommerz hat diffuse Sehnsüchte wohl noch beflügelt…

2.
Also bleiben wir realistisch: Man kann wirklich nicht sagen, dass die Weihnachtsgefühle inklusive der obligaten Weihnachtslieder tatsächlich eine spürbare Verbesserung der Lebensverhältnisse gebracht haben. Man hat „Christus der Retter ist da“ viele Male gesungen, vielleicht mit Tränen in den Augen voller Wehmut, der Kindheit gedenkend … und ist dann drei Tage später wieder in die übliche Alltagsroutine zurückgefallen, die Alltagsroutine aus Egoismus, Hass, Neid, Gier und Krieg, siehe die orthodoxe Kirche in Pution -Russland und ihres Patriarchen Kyrill…

Weihnachten mit seiner humanen Botschaft hat selten (und kaum nachzuweisen) zu einer Neuorientierung, zur Abkehr vom üblich gewordenen Inhumanen geführt. Das über alle Jahrzehnte und Jahrhunderte empirisch zu belegen, wäre eine tolle Aufgabe. Die Kirchen würden solche Forschungen bestimmt nicht unterstützen…Also: Wer will im Ernst der Erkenntnis widersprechen, dass Weihnachten (gefeiert und Weihnachtslieder gesungen) wenig spürbar zu einer menschlicheren Welt beigetragen hat. Das ist die traurige Bilanz einer Religion, die sich als Heil, als Rettung selbst versteht. Bestenfalls fand diese Erlösung, Rettung, dann im Innern der privaten Seele statt. Aber die Wirkungen nach außen, politisch, sozial im Sinne universaler Gerchtigkeit, blieben aus.

3.
Manche „Optimisten“ werden auf die Bereitschaft zum Spenden hinweisen für „Brot für die Welt“ oder „Adveniat“. Aber Spenden für die Armen sind der hilflose Ausdruck dafür, dass „wir Erlöste“ -angeblich – strukturell die Welt nicht verbessern können oder verändern wollen: Der Hunger von Millionen Menschen weltweit besteht weiter  seit Jahren, die Kriege sind Alltagsrealität, die Rüstungsindustrie floriert, die Zahl der Milliardäre nimmt zu, die Anzahl von diesen Leuten Armgemachten ebenso… Da sind Spenden ein Alibi für die Hilflosigkeit der Kirchen, wirklich praktisch und politisch und sozial spürbar durchzusetzen, dass „dieser Christus der Retter wirksam da ist“. Es blieb und bliebt also beim Singsang. Wirkungslos.

4.
Mein Vorschlag zu einer wirklichen wirksamen Bedeutung von Weihnachten: Singen wir und sagen wir nicht länger „Christus, der Retter ist da“, sondern „Jesus, der Retter ist da“. Das ist mehr als eine theologische Spitzfindigkeit. Da geht es um Wesentliches. Aber das muss erklärt werden.

5.
Mir geht es um ein Thema, das nicht nur religionsphilosophisch Interessierte bewegt: Wenn der christliche Glaube, auch im Falle von Weihnachten, im Leben des einzelnen noch eine Rolle spielen soll, dann ist Glaube sinnvoll nur zu definieren als eine Form der Lebensorientierung, als eine Gestalt einer Lebensphilosophie. Der christliche Glaube als Lebensphilosophie mit der entsprechenden Lebenspraxis: Dann ist immer – wie bei jeder Philosophie – gemeint das vernünftige Verstehen, das Reflektieren, also auch die Kritik der „Inhalte“ dieser Lebensphilosophie, die da als kirchlicher Glaube verbreitet wird.

6.
Wer die uralten Weihnachtslieder betrachtet oder singt und eben darin einen hilfreichen Ausdruck seiner Lebensphilosophie sehen will, sollte sich also fragen: Was singe ich da eigentlich, welche Inhalte singe ich oder summe ich dann mit? Wenn es mir auf den Inhalt, den „Text“ der Lieder gar nicht mehr ankommt und diese für mich verständlicherweise veraltet wirken, dann reicht es, einige Weihnachtslieder einzig instrumental zu inszenieren. Und ich kann beim Hören der Melodie mir meine eigenen Gedanken machen jenseits von „O Kindelein von Herzen“ und den „himmlischen Heeren, die Ehre jauchzen“ usw. Nebenbei: Eines der wenigen, auch vom Inhalt her noch singbare alte Weihnachtslied ist für mich noch das Lied von Paul Gerhardt: „Ich steh an deiner Krippen hier“…

7.
Das beliebte Lied „Stille Nacht…“ verdient eine besondere kritische Aufmerksamkeit. Da heißt es in der 2. Strophe: „Christus der Retter ist da“? Christus ist der Retter. Und er soll also „da“ sein.
Wer das singt, hat, irgendwie verschwommen, einen oder seinen „Christus“ vor Augen, eine Art hoheitlicher Heilsgestalt, einen Gottessohn, der sich am Ende seines Lebens blutend und leidend für die Sünden der Menschen hingibt und dadurch seinen zornigen Vater(gott) versöhnt. Ist diese Überzeugung von Christen aus dem Mittelalter heute noch glaubwürdig und nachvollziehbar? Wie viele andere Theologen und Religionsphilosophen sage ich Nein. Es geht Weihnachten um Jesus von Nazareth, geboren als Kind von Obdachlosen in der Krippe zu Bethlehem, im Stall, inmitten seiner Eltern Maria und Josef. Dann war Jesus in Nazareth als Tischler tätig, später als Prophet und Prediger. Und er wurde umgebracht und später wussten seine Freunde: „Dieser Mensch ist der „Auferstandene“.

8.
Und jetzt kommt in meiner Sicht – ein theologisches Ereignis! Ein spiritueller Umbruch. Dabei geht es nur dem Schein nach um etwas Subtiles für „Spezialisten“: Es geht um den Unterschied zwischen „Christus“ und „Jesus“. Christus wird kirchlich verkündet als der himmlische Herr, die zweite Person der Trinität oder der Sühne leistende Sohn Gottes. Dies gilt in den Kirchen, selbst wenn oft von „Jesus Christus“ die Rede ist: Da tritt aber die Gestalt des Menschen Jesus immer in den Hintergrund gegenüber dem allmächtigen Christus. Das Konzil von Nikäa (325!) und die folgenden Konzilien haben diese Tendenz absolut verstärkt. Leider!

9.

Jesus von Nazareth hingegen ist der jüdische Mann mit einer bestimmten Geschichte, mit einem Lebensentwurf, einer bestimmten Lebensphilosophie. Er ist ein Mensch mit einem Gesicht, einer Geschichte, er wird zum Propheten, den viele für einen Lehrer, einen Weisen, halten. Als ein solcher Weisheitslehrer mit einer bestimmten Lebensphilosophie kann er dann als der “Christus”  bezeichnet werden, der über den begrenzten jüdischen Raum hinausweist: Ein Weisheitslehrer für viele Menschen vieler Kulturen, für Menschen, die sich seinen Werten anschließen wollen. Jesus als Person, mit einem Gesicht, einer Geschichte, mit seiner Liebe zur Gemeinschaft, zum gemeinsamen Speisen, seiner Praxis der Meditation und des gelegentlichen Rückzugs in die Wüste, mit seiner Liebe für die Frauen, seiner Liebe zu seinem “Lieblingsjünger Johannes” usw.: Dieser Mann Jesus weckt neue Einsichten, inspiriert zum Leben in Gerechtigkeit.

10.
Man denke daran, dass der große katholische Theologe Edward Schilllebeeckx (Nijmgen, NL) von Jesus als dem erlösenden Vorbild sprach. Insofern befinde ich mich hier in bester theologischer Gesellschaft. Und Jesus als Vorbild führt weiter zu der argumentierenden Frage: Wo sind heute weitere Vorbilder? Wahrscheinlich Gandhi oder Martin Luther King? Oder Bonhoeffer? Oder Erzbischof Romero aus El Salvador? Oder bestimmte Werke der Musik, vielleicht die Missa Solemnis von Beethoven? Oder manches von Literaten oder von Malern, etwa von van Gogh? Wie auch immer: „Jesus der Retter ist – in gewisser Hinsicht – da“.

Rettung – dieses große Wort – erhält so ein Angesicht, eine historische Konkretheit. Rettung ist dann etwas anderes als ein transzendentes, als ein nur innerliches Geschehen der Versöhnung, das sich abstrakt „himmlisch-irdisch“ zwischen Gott – Vater und seinem „eingeborenen“ Sohn „abspielt“.

11.
“Rettung der Welt”, ökologisch, friedenspolitisch, im Sinn der Menschenrechte… wird zur Aufgabe der Menschen, die Weihnachten feiern. Aber dies nicht als Last, nicht als Fremdbestimmung, sondern als Form, das eigene menschloche Wesen zu leben, lebendig zu sein.

Weihnachten ist das „Eingedenken“ an Jesus von Nazareth, den universalen Lehrer der Weisheit, den Propheten.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Theologisches Denken gelingt nur im Miteinander

„Theologie aus Beziehung“ – ein neues Buch der Theologin Hadwig Müller
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
So war es Jahrhunderte lang: Die (Lehr)Bücher der katholischen Dogmatik, der Moraltheologie oder des Kirchenrechts usw. wurden an Schreibtischen verfasst, in Klöstern oder in Studierstuben von Priesterseminaren oder bischöflichen oder vatikanischen Palästen. Theologie, als Rede von dem Gott der Kirchen, entstand auf diese Weise in Europa. Und Europa war absolut, für alle Welt, maßgebend! Und es waren Männer, die „den“ Glauben „der“ Kirche den anderen „zum persönlichen Glauben“ vorsetzten. Katholische Theologie hatte, global betrachtet, im monologischen Denken einzelner oder gleichgesinnter Kleriker- Gruppen, ihren Ursprung und ihre Mitte. Das änderte sich nach 1970, also nach dem Ende des 2. Vatikanischen Konzils. Da fühlten sich auch Laientheologen berufen, ihre Ethikbücher oder ihre Fundamentaltheologie zu schreiben, meist aber auch als einzelne am Schreibtisch. Oft hatten die Autoren die Fragen ihrer Studenten noch im Hinterkopf.
Ich erinnere mich noch an eine zufällige Begegnung unterwegs in München – Schwabing mit dem mir bekannten ökumenisch aufgeschlossenen, also dialogfreudigen katholischen Laientheologen (und Ex-Dominikaner) Otto Hermann Pesch. Er erklärte mir stolz, er schreibe gerade an seiner katholischen Dogmatik. Als ich fragte, ob diese Dogmatik denn von München oder Bayern und den Menschen dort geprägt sei, sagte er mir eher verlegen: „Na ja, irgendwie schon“.
Die Bindung ans Universelle und die Methode des Monologischen überwiegt bei Theologen bis heute. Da und dort gab es früher wenigstens Vorbesprechungen der Sonntagspredigt von Pfarrern mit den Laien. Aber dafür haben die wenigen verbliebenen Priester keine Zeit mehr. Die Beispiele monologischer Theologie sind uferlos. Den nur mit einer monologischen Theologie glaubte die katholische Kirche viele Jahrhunderte lang ihre „Einheit“ zu retten.
Aber, wie gesagt, allmählich ändern sich die Verhältnisse – seit etwa 1970: Katholische TheologInnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Ozeanien melden sich mit eigenen Studien zu Wort, nicht immer zur Zufriedenheit der vatikanischen Glaubens-Behörde. Die Liste der Bestrafungen und Schreibverbote von TheologInnen aus den genannten Kontinenten ist lang. Einheit kann also Rom nur als Einheitlichkeit verstehen.
2.
Nur wenn man diese Situation vor Augen hat, kann man verstehen, welche Bedeutung die theologische Arbeit von Hadwig Müller hat, gerade dann, wenn sie ihrem neusten Buch den sehr knappen, wie ein Programm gemeinten Titel gibt „Theologie aus Beziehung“. Also, einmal ausführlicher formuliert heißt das: „Theologie als Versuch, von Gott zu sprechen, aber erlebt, erfahren, gedacht und formuliert aus Begegnungen und Dialogen … und nach Begegnungen und Dialogen und Auseinandersetzungen. Und erst danach geschrieben, aber voller Verunsicherung und Infragestellung des eigenen Lebens. Theologie also geprägt von der Anwesenheit der oft befremdlich Anderen“.
3.
Hadwig Müller meint in ihrem Buch immer die konstruktiven theologischen Beziehungen, die zwar auch konfliktreich sein können, die aber nicht in ein Verhältnis der Herrschaft und Willkür ausarten. Schließlich hatten die viele Priester, die des sexuellen Missbrauchs angeklagt wurden und werden, auch „Beziehungen“. Und auch die Beziehungen sind nicht gemeint, wenn Posten an theologischen Fakultäten oder Akademien nur aufgrund von „Beziehungen“ erreicht werden können.
4.
Theologie aus Beziehung also, entstanden im Dialog, im Hinhören und auch im emotionalen “Miteinanderschweigen”: Dies ist das Motto und wie ein Programm eigentlich für alle, die aus dem anstudierten und angelernten, dogmatisch exakten Floskelhaften des Sprechens von dem Göttlichen, von Gott, dem Ewigen, herausfinden wollen. 20 Aufsätze aus zwei Jahrzehnten hat Hadwig Müller unter diesem Titel versammelt. Wer genau in der Bibliographie (S. 327 – 342) hinschaut, wird auf viele weitere, aktuelle Aufsätze, Studien und Bücher verwiesen. Die meisten Beiträge in dem Buch „Theologie aus Beziehung“ sind aus Begegnungen als Lernprozessen in Brasilien entstanden oder in Frankreich. Nach ihrer theologischen Promotion über Lacan zog es Hadwig Müller erst einmal vor, Deutschland zu verlassen, und sich den Fremden, den anderen, auszusetzen, eben in Brasilien, dort lebte sie von 1983 – 1993 vor allem in Basisgemeinden. Sie wird förmlich hineingestoßen in die reale Lebenserfahrung, wie die Armen ihren Gott erleben, als eine Wirklichkeit, die allem Elend zum Trotz Sinn stiftet und Mut macht, die Misere der totalen Ungerechtigkeit zu überwinden. Hadwig Müller sagt von ihren brasilianischen Freunden und Freundinnen, es seien „Menschen, die mich leben lehrten“ (49). Die Gemeinschaft der Unterdrückten – also eine Schule des Lebens: Nicht, um sich in diesem Zustand zu fixieren, sondern um die Gerechtigkeit für alle Wirklichkeit werden zu lassen. Die Autorin erkennt während ihrer Gespräche mit Ausgegrenzten und Armen in Sao Paulo und in Crateus (Nordostbrasilien) in Gemeinschaft mit dem wegweisenden Bischof Antonio Fragoso: „Armut ist geraubtes Leben – und ich war nicht auf der Seite der Beraubten“ (29). Das führt zu weiteren Fragen, die eigentlich das herrschende System einer reichen Kirche erschüttern: „Die Kirche ruft Gläubige dazu auf, die Lebensbedingungen de Armen zu verbessern. Aber sie schweigt meistens darüber, wie sich ihre Beziehung zu den Armen auf ihre Identität als Kirche Jesu Christi auswirkt“ (51f.). Ein Bischof, der als single in einem Palast lebt (wie so viele “Oberhirten” in Deutschland usw.) und dann von der kirchlichen Solidarität mit Armen schwafelt, ist natürlich aprioi unglaubwürdig. Zu einem solchen Satz kann sich Hadwig Müller allerdings nicht aufraffen… Sie schreibt eleganter, aber nicht minder radikal: „Die Option für die Armen verlangt von den Reichen selbst ein anderes Bewusstsein: sich als Bedürftige zu wissen, die selbst aufs Empfangen angewiesen sind und die um nichts anderes als die Armut der Armen“ (55). Was das nun wieder in einer katholischen Kirche in Deutschland bedeutet, die ein Kirchensteueraufkommen im Jahr 2018 von 6,25 MILLIARDEN Euro hat, wird leider nicht erwähnt oder gar ausgebreitet. Dabei hatte ich immer geglaubt, dass durch die Befreiungstheologie sozusagen die Aufmerksamkeit auf die Gelder und Reichtümer der Kirche geschärft wird auch hierzulande…
Sehr eindringlich ist ihr Essay „Der Hunger nach Brot – das Begehren des anderen“. Im Hungern wie im Begehren äußert sich die gleiche Sehnsucht und Angewiesenheit, “nicht ohne andere“ leben zu können. Die viel besprochene Option der Kirche für die Armen ist für die Autorin das „Herzstück der Befreiungstheologie“ (58), aber sicher auch der Mittelpunkt jeder Theologie.
5.
Es wäre für ein weiterführendes Gespräch vielleicht interessant, wenn man auch kritisch die Befreiungstheologen befragen könnte, inwieweit sie in vielen ihrer Aussagen die Bibel fundamentalistisch, im Sinne von wortwörtlich, verstehen. Und inwieweit die einzelnen Verhaltensweisen und Lebensregeln Jesu von Nazareth zu unmittelbar als relevant für die (auch politische) Gegenwart eingesetzt werden. Diese Kritik wird nicht vorgebracht, um die Theologien der Befreiung zu diskreditieren, sondern um andere befreiungstheologische Möglichkeiten aufzuzeigen, die weniger im Verdacht des biblischen Fundamentalismus stehen. Alternativ wäre zu denken und mit den Betroffenen zu besprechen: etwa die Erfahrung und die daraus entstehende Weisheit, dass Gott Mensch wird in Jesus von Nazareth, wie er erlebt wird, dass nun alle Menschen göttliche Würde erhalten! Das ist – ultrakurz gefasst – auch ein Gedanke Hegels und der christlichen Mystiker, etwa Meister Eckarts. Von da aus ließe es sich auch sehr gut eintreten für eine politische Neu-Ordnung, die die Menschenrechte als oberstes „göttliches“ Gestaltungsprinzip anerkennt. Da wäre mehr vernünftige Argumentation möglich als im unvermittelten Verweis darauf, dass Jesus ein armer Handwerker war „wie wir“, dass er solidarisch war und die Frauen und die Armen liebte…Aus solchen biographischen Elemente wird dann unmittelbar geschlossen: „Also sollten wir auch solidarisch sein etc…“. Wenn hingegen jeder Mensch von unendlichem göttlichen Wert ist, kann viel besser argumentativ und vernünftig auch eine mögliche „Revolution“ zugunsten und mit den Armen eingeleitet werden.
6.
Nach Deutschland zurückgekehrt, konnte sich Hadwig Müller u.a dem deutsch-französischen Dialog widmen, aber immer unter der kaum beachteten, aber wichtigen Perspektive der Religion und der katholischen Kirche. Die Autorin hat u.a. die hochinteressanten und durchaus – leider – einmaligen Entwicklungen im Erzbistum Poitiers genau kennengelernt. Sie erlebte dort eine Kirche, die, wie bekannt, auch von dem zunehmenden Mangel an Priestern bestimmt ist. Die aber daraus, geleitet von ihrem mutigen Bischof Albert Rouet, neue Konsequenzen zog: Teams von Laien werden in den Dörfern – und Stadt-Gemeinden ohne Priester zu verantwortlichen Animateuren der Gemeinde. Deutsche Pfarreien, das weiß ich, haben sich das Projekt in Poitiers angeschaut, aber meines Wissens nichts davon als Modell für Deutschland „übernommen“. Die Fixierung auf den Klerus ist also in Deutschland nicht zu brechen. Und das Modell von Poitiers macht eben auch viel Arbeit – bei den Hauptamtlichen…
7.
Diese hier besprochenen Themen erscheinen sicher vielen philosophisch Interessierten, etwa in Berlin, der säkularen Stadt, wie Einblicke in eine ferne noch kirchlich bestimmte Welt. Aber deutlich wird: Wenn sich TheologInnen auf das Zuhören, das geduldige Mitsein, den Dialog einlassen, und sich dabei in Frage stellen lassen: Dann gibt es neue, ungeahnte Einsichten. Das gilt ja auch für die Philosophien.
8.
Ein gewisses Hemmnis für säkular, „bloß“ philosophisch Interessierte ist sicher der Untertitel des Buches: „Missionstheologische und pastoraltheologische Beiträge“. Diese speziellen Zuordnungen gelten wohl dem zweifellos begrenzten Lesepublikum innerhalb der Kirchenorganisation, die mit diesen Begriffen noch etwas anfangen kann. So aber werden mit diesen Begriffen förmlich sprachliche Barrieren aufgerichtet, die verhindern, dass säkulare und „bloß“ philosophisch Interessierte dieses Buch aufschlagen und einiges lesen. Aber das Thema „Theologie aus Beziehung“ ist bleibend inspirierend: Eine ganze Buchserie könnte unter diesem Titel erscheinen aus Beziehungen von Theologen mit Arm-Gemachten hierzulande oder mit Schwulen und Lesben und deren neuen Familien oder mit Flüchtlingen oder mit Opfern rechtsextremer Gewalt. In jedem Fall werden nun vermehrt Menschen fragen: Spricht da ein Bischof aus Beziehung mit anderen Menschen, spricht er aus dem Leben als Begegnung, der Verantwortung, der Irritation durch andere? Und man wird sicher in Zukunft noch mehr theologische Bücher beiseite legen, die nur altbekannte Begriffe dreimal hin- und herwenden und den Eindruck bestärken, vom einsamen Schreibtisch aus eine zeitgemäße Spiritualität oder Theologie entwickeln zu können. Falls diesen meinen Hinweis Theologinnen lesen, bin ich gespannt, wie sie mir plausibel machen, dass nicht allein Hadwig Müller Theologie aus wirklichen Beziehungen, Begegnungen und Lernbereitschaft gestaltet…

Hadwig Ana Maria Müller, „Theologie aus Beziehung. Missionstheologische und pastoraltheologische Beiträge“. 351 Seiten. Grünewald-Verlag, Ostfildern, 2020, 38 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

(Nebenbei: Das Thema Befreiungstheologie bewegt mich seit vielen Jahren: Ich habe 1973 in der Philos.-Theolog. Hochschule St. Augustin bei Bonn die erste große Tagung über die Befreiungstheologie in Deutschland organisiert. 1975, also zu Beginn der Debatten über die Befreiungstheologie in Deutschland, habe ich einen kleinen Essay als Broschüre veröffentlicht „Der Gott, der befreit“. 1977 habe ich zusammen mit Karl Rahner und Hans Zwiefelhofer das Buch „Befreiende Theologie“ herausgegeben…)

Mystik als Betrug? Die populäre katholische Seherin Marthe Robin (Frankreich) wird vom glorreichen Sockel gestürzt.

Über ein mittleres Erdbeben in der frommen katholischen Welt.
Ein Hinweis von Christian Modehn

Da lebte eine schwer kranke Frau ans Bett gefesselt. Geboren 1902, gestorben 1981, ernährte sie sich – angeblich – seit 1930 von nichts anderem als der täglichen Hostie; sie erhielt himmlische Visionen, sie soll die Wundmahle Christi an ihrem Körper gehabt haben; wurde deswegen zur Attraktion für Fromme aus aller Welt, die zu Tausenden zu ihr strömten in ihr Haus in Chateuneuf-de-Galaure im Département Drome. Es wurden in ihrem Geist „Heime der Liebe“ („Foyers de Charité“) errichtet. Sie sind weltweit zu finden, auch in Österreich, sowie in Gunzenbach bei Aschaffenburg, aber sehr viele in Frankreich (etwa in Ottrott, Alsace) und Afrika und Lateinamerika. Die neuen geistlichen Gemeinschaften, wie die Charismatiker (Gemeinschaft Emmanuel) oder die weltweit tätigen „Johannesbrüder“ verehren diese so genannte Mystikerin über alles…

Diese Seherin und Autorin viel gelesener mystischer Bücher heißt Marthe Robin. Ihre vielen VerehrerInnen setzten sich natürlich für die Seligsprechung ihrer Marthe ein, Papst Franziskus hatte ihr sogar schon einen „heroischen Tugendgrad“ bescheinigt. Nun sollte es bald so weit sein, dass sie vom Vatikan selig gesprochen werde, sozusagen als heiligmäßiges Vorbild auf die Höhe der Altäre gehoben, wie man so in katholischen Kreisen sagt.

Aber daraus wird nun nichts. Zumal auch die Priester, die so eng mit der Seherin verbunden waren, sexuellen Missbrauch praktiziert haben sollen: Der spirituelle „Vater“ der angeblichen Mysterikerin, Abbé Georges Finet, soll bei der Beichte die armen Sünder, vorwiegend Jugendliche, sexuell belästigt haben. Auch der Priester, der die Seligsprechung im Vatikan voranbringen sollte, Bernard Peyrous, musste erst mal zurückstecken, weil auch er angeklagt wird wegen der „gestes gravement désordonnés“, der schwer ungeordneten Verhaltensweisen also, im sexuellen Bereich, vermutlich.

Bislang war rund um Marthe Robin alles hübsch mit einem Heiligenschein umgeben. Nun kommt die große Ernüchterung: Und Beobachter sprechen von einem neuen, schweren Skandal, der in den kommenden Oktobertagen 2020 einmal mehr die katholische Kirche erschüttern wird: „Paris Match“ hat sich für den 8.Oktober schon mal exklusive Vorabdruck Rechte gesichert, berichtet die Pariser katholische Wochenzeitung „Témoignage Chrétien“,Paris, am 24.9.2020.
Am frühesten hat, ökumenisch sehr mutig, die bekannte protestantische Wochenzeitung „Réforme“ (Paris) am 20.9.2020 über die falsche Mystikerin berichtet. Und der Autor, Philippe Clanché, hat völlig recht, wenn er schreibt: „Die Mehrzahl der neuen spirituellen katholischen Bewegungen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden, sind heute beschmutzt (souillés) durch die Freilegung des Autoritarismus oder des abweichenden sexuellen Verhaltens (also des Missbrauchs) ihrer Gründer.“ Ich habe diese vielfältigen Verirrungen dieser von Papst Johannes Paul so hoch verehrten neuen geistlichen Gemeinschaften auf der website religionsphilosophischer-salon.de dokumentiert. Diese Kreise sollten die so genannte „neue Evangelisierung“ befördern, haben aber oft nur Probleme und Irritationen geschaffen.
Der Autor der Wochenzeitung „Réforme“ fährt fort: „Und wir erfahren heute, dass eine der am meisten populären Heldinnen des frommen Frankreich nun offenbar von ihrem Sockel gestürzt wird“: Marthe Robin, die Betrügerin, umgeben von einem Kreis von Betrügern, die die Seherin hoch puschten, zur Heldin machten …um davon zu profitieren.

Am 8. Oktober 2020 soll also in dem angesehenen Verlagshaus „Editions du Cerf“ in Paris, das von den Dominikanern geleitet wird, ein Enthüllungsbuch erscheinen, über das bisher sehr wenig enthüllt ist: Nur so viel: Die hoch verehrte Mystikerin Marthe Robin (1902 -1981) aus Frankreich war eine Betrügerin. Ihre bewunderten und so außergewöhnlichen Visionen, die sie niederschreiben ließ und die als Bücher erschienen, sind tatsächlich keine außergewöhnlichen himmlischen Einsichten, sondern ganz banal und etwas raffiniert: Eben Plagiate! Abschriften von spirituellen Texten aus dem 19. Jahrhundert. In mühevoller Jahrelanger Arbeit hat das Prof. Conrad de Meester aus Belgien herausgearbeitet, er ist im Dezember 2019 gestorben. Er war ein angesehener Fachmann für Fragen der Mystik und Mitglied in dem auf Mystik sozusagen spezialisierten Orden der Unbeschuhten Karmeliten. Das Manuskript dieses Buches fand man in seinem Kloster in Belgien post mortem in seinem Schreibtisch.
Prof. de Meester zeigt in seinem umfangreichen Buch, dass die angeblich seit Jugendzeit ans Bett gebundene, kranke Marthe Robin doch wohl nicht gelähmt war, wie ihre VerehrerInnen glauben: Der Professor hat z.B. die Hausschuhe von Marthe Robin untersucht, und da zeigten sich „usures inexplicables“, unerklärliche Gebrauchsspuren.
Sehr viel mehr hat „Réforme“ bisher mangels Kommunikation mit dem Verlag nicht publizieren können, lediglich vom Verlag du Cerf wurde für einige Tage eine Pressenotiz im Internet sehr bedeutungsvoll verbreitet: „Dies ist eines der Investigations/Forschungs- Büchern, deren Erkenntnisse ein davor und ein danach markieren. Denn dieses Buch enthüllt eine etablierte Lüge, indem es jedes geheim gehaltene Urteil („raison“) demontiert, auseinandernimmt und auch jedes versteckte Netzwerk freilegt, weil es dessen Autoren, Komplizen und den Opfern die Masken abreißt („démasquer“).
Bemerkenswert ist, dass diese Pressemeldung des Verlages du Cerf noch am 22.9. 2020 auf der Website des Verlages von mir gelesen wurde. Heute, am 24.9.um 15 Uhr, ist diese Pressemeldung von der Verlagswebsite verschwunden! Es kann schon sein, dass gegen dieses monumentale Buch (von ca. 400 Seiten) gerichtlich vorgegangen wird oder dass es in einem nicht-katholischen Verlag erscheinen muss, weil die Dominikaner mit der Angst zu tun bekamen.

Denn Marthe Robin zu entthronen, bedeutet: Mystik als Betrug: Das ist schon „ein Skandal“, den viele kritische Beobachter schon bei dem heiligen Scharlatan Pater Pio oder der Seherin Therese Neumann von Konnersreuth entdeckten. Aber die katholische Kirchenführung hält wider besseren theologischen Wissens an diesem Wunderglauben, diesen Stigmatisierungen und Visionen etc., fest. Die Kirche glaubt mit diesem „Zeug“ die Spiritualität, den Glauben, in der säkularen Welt retten zu können. Aber die Menschen wollen Argumente für Gott, nicht spinöse Wundermärchen und Lügen.
Klar ist schon jetzt: Ein ganzes Werk, diese „foyers de charité“, erscheint in anderem, finsteren Licht von Betrug und Machenschaften…
Und die Menschen nehmen hoffentlich Abstand von einem mysteriösen Glauben, der mysteriös aufgebauscht wurde.

Das Interesse an einer authentischen Mystik, die gibt es ja noch manchmal (!), dieses Interesse bleibt. Meister Eckart oder Theresa von Avila und Johannes vom Kreuz wird man wohl nicht des Betrugs überführen. Dafür sind ihre Texte echt.

Conrad de Meester, „La fraude mystique de Marthe Robin“. Editions du Cerf, Paris, soll, so Gott und der Vatikan wollen, am 8.10. 2020 erscheinen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Von den Abgründen der Seele und dem Wahnsinn der Politik: Francois Mauriac.

Die Abgründe der Seele und der Wahnsinn der Politik

Über den Schriftsteller Francois Mauriac
Hinweise von Christian Modehn

1.
Wer heute an den Schriftsteller Francois Mauriac erinnert, bezieht sich nicht auf eine Gestalt und ein Werk von vorgestern, wie dies jetzt gern behauptet wird! Mauriac ist doch erst vor 50 Jahren gestorben. Aber die Distanz – wie ist sie zu dieser nahen und doch fern wirkenden Zeit und ihrer Kultur mit dem Schriftsteller Mauriac zu verstehen? Unter den Jüngeren, zumal in Deutschland, ist Mauriacs Name kaum noch ein Begriff. Können Gedenktage wieder zur lebendigen Erinnerung, zum Denken, führen? Der Nobelpreisträger für Literatur (1952) Francois Mauriac wurde vor 135 Jahren, am 11. Oktober 1885 geboren und vor 50 Jahren, am 1.9.1970, ist er gestorben.
2.
Mauriacs Romane werden, selbst in seiner Heimat,in Frankreich, wie die Tageszeitung „La Croix“ (Paris) kürzlich schrieb, kaum noch gelesen, genauso seine Gedichte, auch seine Theaterstücke werden nicht mehr aufgeführt. Aus einem eher politischen Interesse werden seine berühmten, oft spitzen und polemischen, journalistisch – literarischen „Bloc-Notes“, seine „Notizblöcke“, neu herausgegeben, Notizen, die er über viele Jahre (von 1952 -1970) in verschiedenen Zeitungen veröffentlichte (jetzt im Verlag Laffont als „Bouquins“ neu herausgegeben).
3.
Mauriac gehört prominent zu einer Epoche der französischen Kultur, die etwa von den 1930 Jahren an einen Aufschwung ganz eigener Art erlebte: Es gab damals in Frankreich parallel und dialektisch – disputierend verbunden mit der vorherrschenden säkularen, agnostisch – atheistisch und politisch oft kommunistisch orientierten Kultur eine starke, sichtbare und durchaus auch respektierte intellektuelle katholisch geprägte Literatur und Philosophie. Und dies in einem Staat, der bekanntlich seit 1905 von der Trennung von Kirchen (Religionen) und Staat bestimmt war, mit einer einflussreichen antiklerikalen Mentalität und militanten atheistisch – freidenkerischen Organisationen. Diese stark wahrgenommene Präsenz katholischer Schriftsteller, Journalisten und Philosophen in Frankreich von etwa 1930 bis 1970 ist aus heutiger Sicht nichts anders als erstaunlich zu nennen: Da gibt es Intellektuelle, die sich dem katholischen Glauben anschließen, von Bekehrungserlebnissen sprechen, obwohl sie wissen, welche konservativ – reaktionären Positionen im Vatikan vertreten werden. Schriftsteller, wie Mauriac, haben in ihren Werken zentrale Themen des Glaubens und der katholischen Dogmatik literarisch bearbeitet und individuell geformt. Und das haben damals viele Leser begeistert aufgenommen. Mauriac hat die Bürokratie der Kirche, die Verlogenheit ihrer offiziellen Theologie, öffentlich kritisiert, aber an seiner Verbundenheit mit der Institution Kirche im allgemeinen hat er dennoch festgehalten. Aus einem vielleicht letztlich „kindlichen“ Glauben, den ihm seine fromme Mutter vermittelt hatte…
4.
Aber: Ich denke, es gehört einfach zum Verstehen „unserer“ Gegenwart, den tiefen Bruch hinsichtlich der religiösen Mentalitäten im 20.Jahrhundert wahrzunehmen. Ich habe vor einigen Jahren auf spirituelle Aspekte heutiger französischer Literaten hingewiesen, aber es sind eben „nur“ spirituelle Aspekte, keine direkt christlichen, geschweige denn katholische. (Siehe den LINk: https://religionsphilosophischer-salon.de/10014_auf-der-suche-nach-dem-verlorenen-gott-religioese-fragen-franzoesischer-schriftstellerinnen-von-heute_gott-in-frankreich)
Das ist eine Beschreibung von Tatsachen, keine Wertung, wobei natürlich zu fragen wäre: Welchen Anteil die katholische Kirchenführung über all die Jahre hat, dass sich eigentlich kaum noch ein französischer Intellektueller mit der Kirche und ihrer Lehre identifizieren kann. In Deutschland, ja in ganz Europa ist das genauso. Unter den großen französischen Historikern gab es bsi vor kurzem noch einige wenige bekennende Katholiken, wie Prof. Jean Delumeau, aber auch er hatte zur Kirche insgesamt ein gut begründetes kritisches Verhältnis.
Nebenbei: Das noch katholische Milieu Frankreichs ist heute geprägt von Angestellten und Beamten, Mitarbeitern aus der Wirtschaft und Technik … und sehr vielen Rentnern…
5.
Auch wenn nicht alle Romane Mauriacs explizit die Verbundenheit seiner ProtagonistInnen mit dem Thema Sünde, Gnade, Schuld, Strafe, Gottes Gericht bezeugen: Die innere Welt dieser „Mauriac-Menschen“ ist ohne die katholische Prägung des Autors nicht zu begreifen. Und das Erstaunliche ist ja, dass Mauriacs Romane damals auch außerhalb Frankreichs viel gelesen wurden, schließlich hat Mauriac 1952 für dieses sein katholisches Werk den Literatur Nobelpreis erhalten: „Für die tiefe spirituelle Reflexion und künstlerische Intensität, mit der seine Romane eingedrungen sind in das Drama des menschlichen Lebens“, wie es in der Begründung aus Stockholm heißt.
6.
Zu den Romanen: Der Theologe und hervorragende Kenner der Literatur, Pater Jean-Pierre Jossua aus dem Dominikaner – Orden in Paris, hat darauf hingewiesen: Es gibt nur wenige Romane Mauriacs, die nicht unmittelbar von Themen der christlichen Glaubenswelt und katholischen Tradition geprägt sind, dazu gehört wohl das Meisterwerk „Thérèse Desqueyroux“ (1927). Ein Roman, der die leere und moralisch miserable Welt in Mauriacs Heimat, Bordeaux und die Umgebung mit den großen Weingütern und deren Chateaux, beschreiDer Roman zeigt „la misère de l homme sans Dieu“, schreibt Mauriac und, wie Kritiker betonen, „die gefrorene Oberfläche der Seele“…Über die Protagonistin Thérèse Desqueyroux hat Mauriac später noch weitere Texte verfasst, wie „La fin de la nuit“ (1935)…
Als Meisterwerk gilt auch „Le Noeud de Vipères“ (Natterngezücht) von 1932, auch dieser Roman führt in das menschlich so zerstörerische bourgeoise Milieu, voller Bosheit, eine Welt, die Mauriac bestens kannte.
7.
Seine tiefe spirituelle Bindung an zentrale Dogmen der katholischen Kirche war für Mauriac überhaupt kein Hindernis, ausdrücklich für Reformen und Neuansätze in der französischen Kirche einzutreten. Insofern wird er durchaus zurecht als „linker Katholik“ dargestellt. Konflikte mit der Kirchenleitung scheute er nicht, sein literarisches, nicht exegetisches Jesus-Buch „Vie de Jesus“ (1936) zeigt den Mann aus Nazareth in seiner ganzen Menschlichkeit, was der auf „Göttlichkeit“ bedachten Hierarchie gar nicht gefiel und erwartungsgemäß Mauriac attackierte. Wichtig ist in dem Zusammenhang bis heute sein Vortrag „Die Nachahmung der Henker von Jesus Christus“, den er am 15. November 1954 vor der „Vereinigung katholischer Intellektueller“ (auch das gab es damals!) hielt und darin zeigte: Eigentlich sind die sich brav fühlenden Christen in ihrer rassistischen und kolonialistischen Haltung ebenfalls Henker („bourreaux“) wie die Misstäter, die Jesus Christus ans Kreuz geschlagen haben. Die sich katholisch nennenden Henker sah Mauriac damals in weiten Kreisen der französischen Politiker und Militärs, die etwa brutal den Freiheitswillen der Marokkaner niederknüppelten. Dieser Vortrag Mauriacs wurde erst 1984 als Buch veröffentlicht (bei Desclée de Brouwer).
Schon 1933 hatte sich der eigentlich konservativ geprägte Katholik Francois Mauriac aus großbürgerlichem Hause zum Verteidiger der Menschenrechte entwickelt, als er die Aggressionen Mussolinis in Äthiopien verurteilte und sich den links-katholischen und vatikankritischen Zeitschrift „Temps présent“ (ab 1937 mit einem Beitrag jede Woche auf der ersten Seite vertreten) anschloss. Heute werden diese Ideen fortgesetzt in der Revue „Parvis“ an der sich auch liberale Protestanten beteiligen. (https://www.reseaux-parvis.fr/)
8.
Ein eigenes Kapitel ist die Unterstützung Mauriacs für die in den 1940 bis 1950 Jahren „berühmten“, aber vom Vatikan letztlich verurteilten Arbeiterpriester. „Der Arbeiterpriester ist für Mauriac vor allem die Möglichkeit, das Christentum von der bourgeoisen Korruption zu befreien“ (zit. in dem großartigen von Jean Louis Schlegel u.a herausgegebenen Buch „A la Gauche du Christ“, ed. du Seuil, 2012, S.128 f). Mauriac kennt gut die Arbeiterpriester, etwa in der Wohngemeinschaft in Montreuil bei Paris mit André Depierre und Geneviève Schmitt. Er schätzt deren Versuch, einen nicht bürgerlichen Katholizismus mit den Arbeitern und den Armen zu leben. Aber, als Rom unter Papst Pius XII. im Jahr 1954 das „Experiment der Arbeiterpriester“ stoppt, ist Mauriac hin – und hergerissen zwischen der Treue zur Institution und dem von vielen anderen geforderten Widerstand gegen diese römische Entscheidung. Mauriac entschied sich dann doch für die Treue zur Institution. „Es ist ihm unendlich viel leichter, sein Talent zu entfalten im Namen der Caritas und der Gerechtigkeit, etwa in seinem Kampf gegen die Folter (von Franzosen ausgeübt) in Nordafrika als in der Anklage der katholischen römischen Bürokratie. In letzter Instanz führt ihn seine Gläubigkeit immer dazu, diese kirchliche Bürokratie zu rechtfertigen“ (a.a.O., S. 130).
9.
Mauriac, wie gesagt, großbürgerlicher, „bourgeoiser“ Herkunft und in einer letzten frommen Anhänglichkeit mit der Institution Kirche verbunden, war kein politisch militanter Verteidiger der Menschenrechte, sicher kein Linker, aber bekannt ist sein Einsatz zugunsten der Résistance. Wegen seiner Haltung in der Résistance gehörte er im Herbst 1945 zu dem „Conseil National des Ecrivains“ (CNE), der die Aufgabe hatte, mit dem Pétain Regime und mit dem französischen Nazis verbundene Schriftsteller zu überprüfen, zu „säubern“ und den Strafen zuzuführen, wenn sie denn Verbrechen der Okkupation begangen hatten. Mauriac gehörte zu diesem Kreis der mit den „Säuberungen“ Beauftragten neben Malraux, Camus, Sartre, Aragon und anderen. Er war in diesem Kreis des CNE eher ein Gemäßigter. Mit Claudel, Anouilh, Colette hatte er sogar ein – letztlich vergebliches – Gnadengesuch für den Nazi-Schriftsteller Brasillach unterschrieben. Brasillach wurde hingerichtet; ein anderer rechtsextremer Poet, Céline, konnte fliehen und wurde 1951 begnadigt. Unter de Gaulle wurde alles unternommen, Frankreich als Land der Résistance zu etablieren, was den Fakten nicht entsprach.
Interessant ist in dem Zusammenhang Mauriacs Beziehung zu Camus. Mauriac schätzte Camus, auch wenn es mit ihm Streit gab in der Einschätzung der épuration. Mauriac war überzeugt: Absolute Gerechtigkeit kann es in der Welt nicht geben. Anläßlich des plötzlichen Todes des großen Humanisten Camus konnte Mauriac nicht darauf verzichten zu sagen: „Schade, dass Camus kein Christ war“.
10.
Meine Hinweise haben nur an einige Aspekte im Werk Francois Mauriacs aufmerksam machen wollen. Über Mauriacs Verehrung für de Gaulle wäre zu sprechen genauso wie über die nun deutlicher diskutierte homosexuelle Neigung Mauriacs, die Jean Luc Barré in seiner „Biographie intime“ (im Verlag Fayard) ausführlich würdigt. Barré stellt auch die Frage, wie diese von Mauriac niemals öffentlich gemachte homosexuelle Neigung (er war bekanntlich verheiratet und hatte vier Kinder) das eigene Werk, die Romane etwa, verschwiegen, aber „strukturell“ auch prägt…Dass die tiefe Verbindung zum bourgeoisen Milieu und die von der Mutter vermittelte Abhängigkeit von der katholischen Lehre auch nicht gerade förderlich war für ein öffentliches Bekenntnis (Coming-out), ist auch klar. (vgl.: https://www.lemonde.fr/idees/article/2010/10/29/jean-luc-barre-mauriac-a-lutte-contre-le-feu-qu-il-portait-en-lui_1432937_3232.html)
11.
Um noch einmal an den Anfang dieser Hinweise zurückzukommen: Kulturwissenschaftlich betrachtet, ist das „Verschwinden“ katholischer Intellektueller (Schriftsteller, Philosophen usw.) in Frankreich, aber auch in vielen europäischen Staaten im 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ein philosophisch zu bedenkendes „Zeichen der Zeit“. In Paris wurde das schon erwähnte „Zentrum der katholischen Intellektuellen Frankreichs“ in der Rue Madame in Paris im Jahr 1977 aufgelöst… weil es so viele katholische Intellektuelle einfach nicht mehr gibt …Und vielleicht ist manch ein „säkularer“ Autor tatsächlich auch von „christlichem“, jesuanischen Geist geprägt…
Noch einmal: Für diesen hier nur angedeuteten kulturellen – religiösen Umbruch als Vertreibung Intellektueller aus der Kirche ist die katholische Kirchenführung, also der alles bestimmende Klerus, selbst mit verantwortlich: Sie hat sich über all die Jahre trotz mancher Reformen bzw. Reförmchen als hierarchisch-antidemokratische und letztlich auch Frauen- und Homosexuellen feindliche Institution etabliert. Sie hat die Kritik von Mauriac in seinem schon zitierten Vortrag über die „Nachahmung der Henker von Jesus Christus“ nicht beantwortet: „Ich bin wie besessen von all den Kreuzen, die immer noch errichtet werden von dieser blinden und tauben Christenheit…“(Seite 17). “Und der Lauf der Geschichte wurde nicht von Heiligen bestimmt. Sie haben zwar Herzen und Geist bewegt. Aber die Geschichte ist kriminell geblieben“ (Seite 21).
12.
Das Schloss und der Park der Domaine Malagar, Mauriacs „Landsitz“, ist heute das „Centre Culturel Francois Mauriac“ http://malagar.fr Oder: https://monumentum.fr/domaine-malagar-actuel-centre-culturel-francois-mauriac-pa00083896.html

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der Freund der Unterdrückten, ein Mystiker, ein Bischof. Über den ungewöhnlichen Pedro Casaldáliga

Ein Hinweis von Christian Modehn
Unter Position 10 dieses Beitrags werden einige Gedichte von Pedro Casaldáliga vorgestellt.

Casaldáligas Lebens-Motto, seine Maxime: „Nichts besitzen, nichts mit sich tragen, nichts verlangen, nichts verschweigen und, vor allem, nichts töten“.

1.
Warum erinnern so wenige Medien, in Deutschland fast keine, an Pedro Casaldaliga? Verstorben am 8. August 2020 in Brasilien? An einen Mann, der zugleich sein ganzes Leben für Unterdrückte, für Arme, einsetzte und es deswegen immer wieder der Gewalt der Herrschenden aussetzte… und ZUGLEICH ein Mystiker, ein Poet, war? Und er war, man glaubt es kaum, auch noch Bischof der römisch-katholischen Kirche! Warum wird dieser Bischof/Menschenrechtler/Poet/Mystiker nicht erwähnt in den frommen Worten der vielen Bischöfe heute? Sie schwadronieren lieber zum hundertsten Male über die „Himmelfahrt Mariens“ am 15. August und ähnliche Geschichten bzw. Wunder. Dabei ist es ein großes Wunder ganz realer Art, dass es einen Mann wie Pedro Casaldaliga gab.
Meine Vermutung: Es ist diesen Exzellenzen und Eminenzen, so nennen sich ja die Oberhirten, peinlich, sich an ihren Mitbruder Pedro Casaldaliga zu erinnern, der als Bischofspalast eine Hütte hatte, weil er so leben wollte, wie seine Mitmenschen in der ärmsten Region, der Hungerregion, Brasiliens.
2.
Hinzukommt: Corona macht Deutsche, macht Europäer, noch mehr zu Deutschen, noch mehr zu Europäern. Corona fixiert noch mehr als bisher auf Deutschland, auf Europa: Wenn die wirkliche globale Welt heute in den „großen Medien“ „vorkommt“, dann eher als Corona-Statistik in Indien, Brasilien oder Peru. Ist ja verständlich, aber darf nicht fast alles sein.
Auch wegen dieses Corona-bedingten Nationalismus haben „wir“ jetzt den Tod eines Menschen übersehen, der von denen, die ihn in Lateinamerika kannten, und das sind sehr viele, sehr zu recht als Prophet bezeichnet wurde. Als Prophet der Menschenfreundlichkeit, der Solidarität; als Prophet, der nicht etwa Zukunft voraussagt, sondern der, wie die Propheten der hebräischen Bibel, sein prophetisches Amt als kritische Anklage versteht. Und entsprechend auch lebt! Und zwar so, dass er selbst sich auf die Seite der Rechtlosen gestellt hat. Entschieden, radikal, politisch präzise.
3.
Die Rede muss also von Pedro Casaldáliga sein. Er war ein Mensch, ich möchte sagen „hingegeben“ für die Armen, auch für die indigenen Völker in Brasilien. Wo wagt man sonst noch dieses so menschliche Wort der Hingabe zu verwenden? Bestensfalls noch im erotischen Zusammenhang des Privaten. Casaldaliga war aber politisch hingegeben den anderen, weil er sie liebte, diese Vergessenen, diese für minderwertig Erklärten durch die politischen wie ökonomischen Gewalttäter, die als Verbrecher einfach so diese Armen auch abknallen können, wenn es um Landraub geht in Brasilien oder Rodungen des Waldes oder Tötung der Indigenen.
4.
Leider sind Bücher in deutscher Sprache von und über Pedro Casaldaliga nur noch antiquarisch zu haben, für ein paar Groschen möchte man sagen, werden sie verramscht, so, als wären ihr Inhalt, passé, unbrauchbar. Kein Verlag eines dieser vor Geld förmlich stinkenden Klöster in Deutschland oder Österreich bringt Bücher von und über Casaldaliga neu und aktualisiert heraus. Man veröffentlicht lieber zum hundertsten Male Bücher und Broschüren über Engel, nenen wir überspitzt einige künftige Titel: „Wie Engel den Schlaf schützen“ oder „Wie Engel helfen, das Privateigentum zu bewahren“. Mit Engeln verdienen Klöster sehr viel Geld, das weiß Anselm Grün, mit Casaldaliga Büchern oder Befreiungstheologie wohl nicht. Also: Lieber erfolgreich über Esoterik schreiben als politisch-theologische Analysen bieten. Gefühl contra Aufklärung, das ist auch „typisch“ katholisch.
5.
Pedro Casaldáliga, der Katalane, geboren 1928, kam 1968 als Priester des „Claretiner – Ordens“ nach Brasilien, in die entlegene und ärmste Gegend des Landes, nach Mato Grosso am Amazonas. Weil der Vatikan eine Art Struktur dort brauchte, wurde er 1971 zum Bischof einer „Prälatur“, also einer Kirchenprovinz schlichter Art, ernannt. Sein „Bischofssitz“ wurde der Ort Sao Felix de Araguaia.
Seinen „Bischofspalast“ hätten sich seine begüterten Kollegen in den reichen Städten Brasiliens ansehen sollen oder auch einmal eine Delegation aus Köln oder München: Das Palais war schlicht und einfach eine Hütte. Und die Tür stand offen, natürlich waren es die Armen der Umgebung, die da kamen und Rat suchten und Hilfe fanden. Der Bischof, eine „Exzellenz“ (das bedeutet ja „hervorragend“) als Mensch, nicht als Kirchenchef, empfing (immer schlank, fast erbärmlich dünn) alle in Jeans, T-Shirt und oft nur Plastiklatschen.
6.
Bischof Casaldaliga wollte nicht mit seiner Armut kokettieren, er meinte es ernst: Er war einer wie die Leute seiner Gegend. Er kämpfte mit den landlosen Bauern um die gerechte Verteilung der Ländereien gegen die Latifundien-Besitzer, die multinationalen Gesellschaften, die Beherrscher des Bergbaus, die Holz – Spekulanten usw. Und: Casaldáliga unterstützte die indigenen, „indianischen“ Völker in der Nachbarschaft, er förderte die Bildung, die Kultur, kümmerte sich um die Gesundheit der Armen. Für ihn konnte Predigt nur möglich sein, wenn sie zugleich für ein würdevolles materielles Leben sorgte. Die praktische und deswegen immer politische Sorge um die Überwindung des Hungers IST Predigt, ist Realisierung des Evangeliums. Insofern war Casaldáliga ein leiblicher, man möchte sagen „materialistisch“ engagierter „Seelsorger“. Dieses abstrakte Wort hat er nie verwendet. Er war kein „Seelsorger“, sondern schlicht Bruder seiner Mitmenschen dort, in der entlegenen, aber ausgebeuteten Ecke Brasiliens. Wegen dieser „materialistischen“ Seelsorge wurde er als Befreiungstheologe selbstverständlich von vielen sich nur „vergeistigt“ fühlenden Katholiken und Bischöfen verachtet und angeklagt; und von der Militärdiktatur verfolgt, die Brasilien terrorisierte und beherrschte, von 1964 – 1985. Seelsorger klassischer Art hat das Regime nie verfolgt, sondern begünstigt, man denke unter anderen klerikalen Kollborateuren etwa an den reaktionären Erzbischof Geraldo Sigaud svd von Dimantina und seine reaktionäre „Bewegung zur Verteidigung der Tradition, der Familie und des Privateigentums“…Die Diktatoren wollten Casaldáliga des Landes verweisen, mehrfach wurde er mit dem Tode bedroht, seine engsten Mitarbeiter erschossen… „In diesem Land Brasilien ist es leicht geboren werden und zu sterben, aber schwer zu leben“, erklärte 2012 gegenüber AFP anläßlich des TV – Programms „Nackte Füße auf der roten Erde“, von Francisco Escribano.
7.
Seine Erfahrungen im Kampf um die Menschenrechte konnte Casaldaliga in zwei landesweite Gremien übertragen, die er innerhalb der brasilianischen Kirche für die Landlosen und für den Schutz der indigenen Völkern mit anderen einrichten konnte.
Aber Casaldáliga ließ sich nicht beirren: Er blieb Befreiungstheologe. Das heißt: Für das materielle, das leibliche und kulturelle Leben der ausgehungerten Armen zusorgen, ist zentraler Auftrag der Kirche. Genauso wichtig wie die Liturgie. Und diese neue gerechte Gemeinschaft der Menschen wurde ansatzweise realisiert in den Basisgemeinden, für die er immer eintrat.
8.
Niemand wird sich wundern, wenn Casaldáliga erhebliche Schwierigkeiten mit dem Vatikan hatte, auch mit Kardinal Ratzinger damals, der von seinem barocken „grünen Tisch“ in den behüteten Palästen des Vatikans aus meinte, den spirituellen und theologischen Lebenskampf Bischof Pedro Casaldáligas beurteilen und möglicherweise verurteilen zu dürfen. Was für eine Unverschämtheit einer bestens versorgten Eminenz in ihrem Palazzo. Und erstaunlich, wie es ein offenbar leidenschaftlicher Katholik wie Casaldáliga aushielt, alle diese Erniedrigungen durch die römischen Behörden und Bürokratien zu ertragen. Vielleicht brauchte er so viel Wut oder Enttäuschung über alle diese Eminenzen und klerikalen Schreibtischtäter, um Wut und Enttäuschung in seinen Kampf für die Armen umzusetzen. Nach einem für ihn so enttäuschenden Aufenthalt im Vatikan, auch beim polnischen Papst, sagte er leicht ironisch: „Der Heilige Geist hat zwei Flügel, aber die Kirche hat stets Freude daran, eher den linken zu stutzen“. Johannes Paul II. war ja immer politisch, aber immer zugunsten der rechten Seite, siehe seine Freundschaft mit Reagan, seine Nähe zu Pinochet usw…Selbst die Gewerkschaft Solidarnosc war für ihn eine „rechte“ Bewegung..
Zurück zu den gestutzten linken Flügeln des römischen Katholizismus:
Und die wurden bekanntlich auch bei den wenigen anderen linken Bischöfen gestutzt, so dass der heilige Geist heute, nicht nur in Lateinamerika, so zusagen nur mit einem rechten Flügel herumstolpert, fliegen kann der heilige Geist ja ohne den linken Flügel nicht mehr, um im Bild zu bleiben: Man sieht in diesem treffenden Bild von Casaldáliga das für Kirche und Gesellschaft insgesamt Tödliche dieser ganzen administrativen „Maßnahmen“ der römischen Bürokraten bis heute.
9.
Und genauso bemerkenswert ist, dass dieser ausgemergelte und verfolgte Christ als Bischof so reich an spiritueller Erfahrung war und an poetischer Begabung. Casaldáliga war ein Poet. Wann wird man seine Poesie noch einmal entdecken? Wann wird man fragen: Wie konnte dieser Mann in seiner Bischofs – Hütte oder in als Gast in den Hütten der Atmen Poesie schreiben? Ist Poesie der Unterdrückten schon ein Forschungsprojekt in Deutschland?
Man lese also die noch greifbaren Casaldáliga Gedichte, die oft auch Poesie als Gebete sind. Wer Geduld hat, kann die Texte antiquarisch finden oder aus dem Spanischen, Porugiesischen oder Französischen sich übersetzen. Es könnte ja auch ein Bischof oder Kardinal hierzulande auf die Idee kommen, eine „Pedro Casaldáliga Stiftung“ zu gründen, mit der Herausgabe von Büchern zu beginnen und Konferenzen in den katholischen Akademien. Etwas Geld würden die Kardinäle schon abzweigen können von ihrem Monatsgehalt, das sich in Deutschland zwischen 10.000 und 12.000 Euro bewegt. Allein wenn man sich diese „ökonomische“ Differenz hinsichtlich des Geldvermögens von Bischöfen hier und in Sao Felix, Brasilien, zu Zeiten Casaldáligas ansieht: Man glaubt nicht, dass diese Bischöfe einer und derselben Kirche angehören. Für Casaldáliga wurde immer etwas gebettelt, über die Hilfswerke. Er war wirklich ein Bettler gegenüber seinen „Kollegen“ in Köln oder München. Aber: Casaldáliga wollte arm bleiben. Dafür nahm er die Gestalt Jesu von Nazareth zu ernst.
10.
Was bleibt? Es bleiben die Erinnerungen an seinen Lebenseinsatz, an seine Gedichte, Gebete, Erinnerungen an die Poesie von Pedro Casaldáliga:

Unsere Stunde

Es ist spät
Aber es ist unsere Stunde.

Es ist spät
Aber es ist die ganze Zeit
Die wir in Händen haben
Um die Zukunft zu gestalten.

Es ist spät
Aber es sind wirklich wir:
Diese späte Stunde.

Es ist spät
Aber es ist früher Morgen
Wenn wir darauf bestehen!

(in: Pedro Casaldáliga, „Hermano de los sin tierra“, Von J.L.Vázquez Borau, 2018, S. 98 f, Übersetzung von Christian Modehn.)

……..

Das Wort zähmen

Das Wort zu zähmen
Ist die schwierige Aufgabe
Der Stille,
des Hinhörens,
des Erwartens,
des Empfangens.

Man lernt nur sprechen,
wenn man schweigen lernt mit dem Volk.
Das Wort wird Fleisch
In der erlittenen Stille.

(zit. In Concilium, Dezember 2017, S. 612 in einem Beitrag von Emerson Sbardelotti).

……………

Die Stimme des Volkes, der Armen.

Die Stimme des Volkes,
Die Stimmen Gottes
Sie wurden verdammt.
Die Skalvenlager, sie werden beschützt,
vom Schweigen
Von Zustimmung
Vom Kartell.
Riesige Viehherden
Reiche Ackerböden
Große Straßen:
Die prächtige Zukunft Brasiliens
Wurde erbaut auf den Knochen der Tagelöhner
Vom Revolver der Ausbeuter niedergemetzelt
Vom Hunger ausgemergelt und den ständigen Lügen.

Ihr Sänger schreit,
Scheit zu Gott ihr Toten
Und heult vor Scham
Ihr armseligen Feiglinge

(Dieses Gedicht hat den Titel „Sehr eiliges Nachwort. Gegen die Sklavengesellschaft und gegen alle Großgrundbesitzer. Mit großer Wut. Aber mit noch größerer Liebe“. Aus: Pedro Casaldalga, Fleuve libre, o mon peuple, Paris 1978. Dieses Gedicht hatte ich 1979 in meinem Aufsatz für das Buch „Volksreligion“ verfasst, veröffentlicht, das von Christian Modehn zusammen mit Karl Rahner und Michael Göpfert herausgegeben wurde. Stuttgart 1979. Das Gedicht auf S. 23 f.).
……………….

Bischof Casaldáliga hat das Vater Unser neu formuliert, inspiriert von seinen Freunden, den Armen, den Menschen seines Landes rund um Sao Felix:
Vater unser der Armen.
Vater unser der Märtyrer und Folteropfer.
Geheiligt werde dein Name durch die, die im Kampf für das Leben sterben.
Geheiligt werde dein Name,
wenn die Gerechtigkeit das Maß der Dinge wird.
Dein Reich ist ein Reich der Freiheit, der Brüderlichkeit und des Friedens.
Bewahre uns vor der Gewalt, die das Leben verschlingt.
Wir werden deinen Willen tun.
Du bist Gott, der Befreier.
Wir weisen ein Denken zurück, das durch Macht korrumpiert ist.
Gib uns das Brot des Lebens, das Sicherheit schenkt,
das Brot für alle,
das Menschlichkeit bringt und die Waffen ächtet.
Verzeih uns, wenn wir voller Angst schweigen angesichts des Todes.
Lass nicht zu, dass die Korruption das Gesetz verdrängt.
Schütz uns vor der Brutalität und den Todesschwadronen.
Du bist auf der Seite der Armen.
du bist ein Gott der Unterdrückten.
Dein ist das Reich und die Herrlichkeit.
In Ewigkeit. Amen.
(Quelle: http://gebetssuche.de/vater-unser-der-armen/)
………………………….
11.
Bischof Casaldáliga hat viele Jahre unter der Parkinson – Krankheit gelitten, er hat versucht, diese Krankheit in sein Leben zu integrieren. Deswegen sprach er von „Bruder Parkinson“. Unter Schmerzen har er sich immer wieder noch zu Wort gemeldet, er hatte einen Freundeskreis weltweit, Menschen, Laien, einfache Leute, Ordensleute, die ihn schätzen, mit denen er korresponiderte. Am 8. August 2020 ist er in der Nähe von Sao Paulo, Brasilien, gestorben.
Aber noch Ende Juli 2020 unterzeichnete Casaldáliga mit 151 anderen brasilianischen Bischöfen einen kritischen Brief, bestimmt für den rechtsextremen, gleichzeitig katholischen wie evangelikalen Präsidenten Bolsonaro. Ihm wird „Unfähigkeit vorgeworfen, auf die gegenwärtige Corona-Katastrophe in Brasilien vernünftig und vor allem menschlich zu reagieren. Und vor allem die Indigenas mit seiner dummen Gesundheitspolitik zu gefährden.
12.
Die Filmsgesellschaft VERBO FILMS (geleitet von der Ordensgemeinschaft „Gesellschaft vom göttlichen Wort“, SVD) hat in Brasilien mehrere Filme über Bischof Casaldáliga realisiert und zugänglich gemacht:

Am 13., 20. und 27. Dezember 2014, also noch „vor“ Bolsonaro, strahlte TV Brasil in Partnerschaft mit dem spanischen Sender TVE und dem katalanischen Sender TVC eine dreiteilige Dokumentation (jeweils 52 Minuten) über Pedro Casaldáliga aus. Der Titel: „Barfuß über roter Erde“.
Für alle, die Spanisch lesen können, empfehle ich: „Pedro Casaldáliga, Hermano de Los Sin Tierra“. Von J.L. Vázquez Borau. 3. Auflage 2018, „independently published“. 115 Seiten. 9 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Über die Papstkirche und den absoluten Papst Pius IX.

Das neue Buch des Historikers Hubert Wolf „Der Unfehlbare“
Ein Hinweis von Christian Modehn

Unser Motto, noch einmal gesagt: Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist immer auch Religionskritik.

Die katholische Kirchenführung, also Klerus, Bischöfe, Papst, hat in gewisser Weise Glück gehabt: Im Juli standen dringende Probleme im Mittelpunkt öffentlichen Interesse, Probleme, die sich auf das Überleben der Menschheit beziehen, also Corona und Klimakatastrophen. Vom Überleben der katholischen Kirche war zwar auch die Rede, aber dabei ging es “nur” um den stetigen Mitgliederschwund in Deutschland. Aber ein großes „Überlebens“ – Thema wurde förmlich ausgeblendet: Die katholische Kirche im ganzen ist als Institution sozusagen „innerlich“, von der eigenen Lehre und Dogmatik, bedroht. Diesen Kampf ums geistige Überleben veranstalten nicht „Feinde“ von außen; sondern die Krise ist begründet am sturen Festhalten von befremdlichen, belastenden, nicht mehr eines modernern Glaubens würdigen Dogmen.

Dieser Gedanke drängt sich förmlich auf, wenn man das neueste Buch des Kirchenhistorikers Professor Hubert Wolf (Universität Münster) liest. Es hat den Titel „Der Unfehlbare“, der Untertitel nennt den Inhalt der Studie schon in Kurzform: „Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert“. Papst Pius IX., der von 1846 bis 1878 die Kirche beherrschte, hat die bis heute noch weithin gültige Gestalt des Katholizismus absolut eigenmächtig und mit aller egozentrischen Bravour festgelegt.

Diese Bewertung ist die Summe der sehr differenzierten Studie über Pius IX. von Hubert Wolf, die er ausdrücklich als Biographie versteht. Wegen des Dogmas von der “Unfehlbarkeit des Papstes”, formuliert vor 150 Jahren, im Juli 1870, von Pius IX., kämpft die katholische Kirche bis heute um ihr Überleben, d.h. um die geistige und spirituelle Akzeptanz von nachdenklichen, gebildeten Christen. Dieses Dogma liegt wie ein erratischer Fels in der “geistigen und religiösen Landschaft”.

„Man hat (durch Pius IX.) eine neue Kirche gemacht“. Mit diesen Worten eines Münchner Theologen und Zeitgenossen Pius IX. beendet Wolf sein Buch. Das heißt: Die katholische Kirche wurde als Papstkirche förmlich zementiert. Mit Pius IX. setzte sich das Bild eines charismatischen Papstes durch, dessen Person und Persönlichkeit ganz in den Mittelpunkt gerückt wurde. Die Verehrung und Bewunderung für die Person dieses obersten „Führers“ führte etliche fromme Leute, ja ganze Bewegungen, zu einem ungeahnten Personenkult. Dabei hatte Pius IX. sich in den ersten Monaten nach außen hin etwas liberal gezeigt, darauf weist Wolf hin, was angesichts seines reaktionären Vorgängers Gregor XVI.auch nicht so schwer war. Aber Pius IX täuschte die Leute: Schon seine erste Enzyklika war Ausdruck von Feindseligkeit gegen die moderne Welt. Den Fußkuss erwartete dieser Nachfolger des Fischers Petrus ganz selbstverständlich, kritischen Leuten gab er sogar nach dem Kuss noch einen leichten Tritt, auch dies ist überliefert.

Trotzdem galt er vielen, die ohnehin schon politisch konservativ bis reaktionär gestimmt waren, als ein „charismatischer Papst“.

Dieser Personenkult um eine „charismatische Papst-Persönlichkeit“ setzte sich in gewisser Weise fort, man denke an Papst Johannes XXIII. oder noch viel mehr an Johannes Paul II., der auch post mortem einen irrational wirkenden Kult etwa in Polen erlebt. An Papst Franziskus scheiden sich heute die Geister, aber für viele ist er trotz aller seiner theologischen Widersprüche eine absolute Lichtgestalt. Die Menschen brauchen – leider – immer wieder Führer, von denen sie förmlich Wunderbares erwarten…Und konservative Franziskus-Feinde sehen in ihm den charismatischen Führer in den Niedergang…

Hubert Wolf zeichnet als Biograph Papst Pius IX. nicht allzu ausführlich dessen aktuelle Wirkungsgeschichte bis heute nach, über die Absetzung von Hans Küng als katholischem Theologen an der Uni Tübingen (wegen seiner kritischen Studie zur Unfehlbarkeit) erfährt man nichts.
Aber Wolf stellt klar: Mit diesem Papst ist die Kirche anders geworden, noch autoritärer, noch distanzierter und feindlicher gegenüber der modernen, der liberalen und demokratischen Welt. Und im Innern ist die Kirche monolithisch geworden, intolerant gegenüber progressiven Theologen, alles auf einen angeblich zu kontrollierenden Einheitskurs trimmend.

Das zeigt Wolf ausführlich an den Debatten während des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870: Da setzte sich Pius IX. trotz heftigen Widerspruchs zahlreicher Bischöfe mit seiner Lieblingsidee durch, der Unfehlbarkeit des Papstes, die er zum Dogma erhob und für alle Katholiken als bindende Wahrheit verkündete. Dieses Dogma wurde vor 150 Jahren, am 18. Juli 1870, offiziell ausgesprochen. Der Papst konnte nun gegen die Überzeugung der Bischöfe, gegen die Einsichten von Konzilien, alles aus eigener Macht lehren und verfügen. Schon 1854 hatte Pius IX. die absolute Machtfülle förmlich schon mal vorgeführt, als er ebenfalls gegen den Widerspruch kompetenter Theologen und Bischöfe die „Unbefleckte Empfängnis Mariens“ zum Dogma erhob, also den frommen Glauben, dass Maria, die Mutter Jesu, „unbefleckt“, (was für ein Begriff ! ), also ohne die für alle Menschen sonst übliche Erbsünde empfangen und geboren wurde. Denn die Erbsünde werde, so meinen die Kirchenführer bis heute, durch den Sex, also auch durch Sperma, also durch „Flecken“, übertragen… Das ist, milde gesagt, problematisch, wenn nicht lächerlich. Zumal auch die „echten“ Eltern Marias gar nicht namentlich als historische Personen bekannt sind: Die Kirchenführer haben dann einfach als Mutter eine gewisse Anna (aber natürlich auch als imaginäre Gestalt heilig) konstruiert und als Vater einen imaginären Joachim. Über die hoch umstrittene Erbsünde will ich hier kein Wort verlieren…

Jedenfalls hat sich Pius IX. immer in seiner eigenen privaten theologsichen Liebhaberei und Meinung durchgesetzt. Er hat sich, auch das zeigt Wolf, mit untertänigen, eher unbegabten, wenn nicht korrupten Beratern umgeben. Auch in der ausdrücklichen Verurteilung der modernen Gesellschaft und des neuen italienischen Staates, vor allem in der Enzyklika „Quanta Cura“ und im „Syllabus errorum“ von 1864, profilierte sich dieser Papst als Feind der Freiheit, als Feind der Moderne.

Pius IX. hat die Kirche definitiv ins Getto bewusst führen wollen, das war sein starrsinniger Wille, auch wenn ihm viele Leute zujubelten, die gerade auch aus politisch – reaktionären Gründen diese kirchliche Sonderwelt in Form einer großen Sekte rühmten, wie der Erzreaktionär Joseph de Maistre. Die Jesuiten als Herausgeber der damaligen „Stimmen der Zeit“ (mit dem Titel „Hefte aus Maria Laach“) haben diesen Kurs offen unterstützt.
Und bis heute ist das offizielle katholische Gesetzbuch, der Codex Iuris Canonici, noch von diesem Ungeist des absoluten Papst-Fixierung geprägt: Wenn dieses Gesetzbuch, in der Neufassung aus dem Jahr 1983 !, das Kapitel „Papst und Bischofskollegium“ eröffnet, heißt es gleich am Anfang im § 331: „Der Papst verfügt kraft seines Amtes in der Kirche über höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann“. Das hätte der absolutistische Papst Pius IX. nicht besser sagen können. Wenn das auch heute so ist, dann wundert sich manch einer vielleicht, warum nicht der angeblich so progressive Papst Franziskus kraft seiner päpstlichen All-Gewalt das Zölibatsgesetz von heute auf morgen abschafft oder Frauen als Priesterinnen zulässt, all dies könnte er ja kraft seiner absoluten Gewalt des Kirchenrechts. Aber er tut das nicht…
Ich empfehle das Buch von Hubert Wolf ausdrücklich, es ist eine gut lesbare Biographie eines Mannes aus dem italienischen Adel. Geboren am 13.5.1792 als Giovanni Maria Mastai Ferretti macht er in der Kirche systematisch Karriere, obwohl er als junger Mensch schwer erkrankt (an Epilepsie) und mit etlichen Gönnern wird er Priester, Bischof, Kardinal. Seinen launischen und cholerischen Charakter mit Tobsuchtsanfällen (S. 313) hat er sich stets bewahrt und von vielen, die ihn als Papst dann kannten, wurde er als verrückt und geisteskrank beschrieben (S. 311) Die Lebensgeschichte dieser kranken, autoritären Person stellt Wolf in den größeren politischen Zusammenhang des Untergangs des Kirchenstaates und des mühevollen Entstehens des vereinten Italiens, dem sich Pius IX. auch widersetzte. Als sein Leichenwagen durch die Straßen von Rom fuhr, wurde er von wütenden Bürgern mit Steinen beworfen. Pius IX. hätte selbst dies noch gefreut, denn er wusste: Als Verteidiger der einen und einzigen absoluten Wahrheit hat er eben auch böse Feinde.

Und eigentlich ist es bei dieser Kirche normal, dass dieser Pius IX. dann vom polnischen Papst Johannes Paul II. „selig“ gesprochen wurde (2000), trotz erheblicher Widerstände von Historikern und Theologen. Unter Papst Paul VI. wurde diese Seligsprechung schon einmal inszeniert, aber vergeblich: Damals folgte der Papst den kenntnisreichen Warnungen der Historiker vor diesem seelisch offenbar kranken Papst (vgl. besonders S. 313).

Aber Pius IX und Johannes Paul II. waren geeint in ihrem exzessiven, fanatischen Glauben an die Wunderkraft Marias, der unbefleckt empfangenen! Pius IX. glaubte, dass die himmlische Jungfrau ihm so gar himmlische Heerscharen zur Rettung senden würde (vgl. S. 201). Und ohne Marias Beistand konnte sich Johannes Paul II. zum Beispiel den Untergang des Kommunismus auch nicht vorstellen. Und die Liebe des polnischen Papst zu den „Erscheinungen Marias“ in Fatima, wo sie höchstpersönlich zu einigen Kindern sprach, ist bekannt. Man darf sagen, durch solche infantilen religiösen Praktiken haben diese Päpste den christlichen Glauben eigentlich zur mysteriösen Story gemacht, man könnte auch sagen: „Warum ist eigentlich nicht auch im Himmel Jahrmarkt? Diese Flucht der obersten Kirchen-Führer, der Päpste und mit ihnen die devoten Bischöfe, ins Mysteriöse, hat Menschen aus der Kirche getrieben, die noch wertlegen auf die Gültigkeit des göttlichen Gabe, Vernunft genannt!

PS: Als Trost für alle Laien in dieser Kirche, die noch Nerven haben dieses wichtige Buch von Hubert Wolf zu lesen: „Selbst minimale politische Forderungen innerhalb des Kirchenstaates, wie die Mitverantwortung von LAIEN in der Verwaltung auf kommunaler Ebene, wurden von Pius IX. als verbrecherisch diffamiert.“ (S. 79). Da dürften doch heute im Verwaltungsbereich katholische Laien (nicht in der Gemeindeleitung) ein bisschen mehr tun… Der Fortschritt ist also auch katholischerseits nicht zu stoppen, er dauert nur Jahrhunderte. „Macht nichts“, denn die Kirchen-Führer denken in „Kategorien“ der Ewigkeit. Die einzelnen betroffenen und leidenden Katholiken können und wollen nicht so denken. Aber das ist den „geistlichen“ Herren und war den „geistlichen“ Herren immer schon egal. Es ist dieser den Geist-tötende egozentrische Klerikalismus, den das große Buch von Hubert Wolf einmal mehr freilegt als chronische Krankheit des Katholizismus.

Hubert Wolf, „Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert“. C. H. Beck Verlag München 2020, 431 Seiten, 28 €.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin