Zu viel Luther? Einige Fragen zum (Bücher) Kult um den Reformator

Eine Art  Luther (- Bücher -) Boom hat gewisse Bereiche des kulturellen und religiösen Lebens in Deutschland erfasst: Claudia Keller hat im “Tagesspiegel” vom 23. August 2016 (Seite 6) für den Herbst etwa 50 neue Bücher über Luther gezählt, es werden nicht die (zeitlich gesehen) letzten sein. Der Reformator aus Wittenberg in allen nur denkbaren Variationen wird da “behandelt”. Nur einige Beispiele: “Luther für Eilige”, “Luther für Neugierige”, “Mensch Luther”, Luther der Rebell” und so weiter. Bald werden wohl diese Titel folgen: “Luthers liebstes Bier”, “Luthers Geheimrezepte”, “Luthers unbekanntes Liebesleben”  usw. Man muss sich fragen: Haben die Autoren und die möglichen LeserInnen keine anderen Sorgen, als alle Details zum Reformator Luther zu verbreiten und zur  Kenntnis zu nehmen? Soll ein neuer, aber ganz alter, nämlich spätmittelalterlicher  “Nationalheld” etabliert werden? In Zeiten, in denen “die Nation” leider in sehr rechtslastigen Kreisen wieder zu wichtig genommen wird? Schwappt wieder einmal die Vorliebe für Sekundärliteratur über und vernichtet alle Lust, Luthers eigene Werke selbst zu lesen? Und vor allem: Welche geistigen und theologischen Energien werden fest gelegt, wenn sich im Reformationsgedenken 2017 dann doch offenbar alles um Martin Luther dreht? Erwartet die Welt, um es einmal großspurig zu sagen, erwartet die Welt heute inmitten von Kriegen, Aggressionen, von Mord und Todschlag und Verhungernlassen ganzer Städte, von Erdulden der Herrschaft von Diktatoren, von Verzweiflung weiter Kreise der Menschheit usw. usw. wirklich, dass sich große Verlage und viele tausend Leser so hyper-intensiv mit Luther befassen? Da sage “man” bitte nicht, alle diese großen entsetzlichen Probleme der Menschheit von heute fänden doch in Luthers Büchern eine Antwort. Etwa gar in seiner eher grausigen augustinischen Lehre von der Erbsünde und der angeblich daduch total verdorbenen menschlichen Vernunft? Zudem: Ist der massive, kommerziell bedingte Bücherboom zu Luther vielleicht eine umgekehrte Fortsetzung des Ablasshandels? D.h. Wollen sich Autoren (und Verlage) frei kaufen von der Notwendigkeit und in unserer Sicht der Pflicht, einen einfachen, einen elementaren, modernen und nachvollziehbaren und berührenden Glauben zu formulieren – jenseits der alten Formeln und dogmatischen Floskeln, die heute selbst sehr nachdenkliche Menschen beim besten Willen nicht mehr verstehen und mitvollziehen können. So versteckt man sich in Theologenkreisen angstvoll in der ewigen Luther-Interpretation, anstatt einen modernen christlichen Glauben neu vorzuschlagen; selbstverständlich auch in einer neuen, entstaubten Kirche. Darum macht man es sich mit dem Bücher-Boom und den bevorstehenden Festivals im Reformationsgedenken 2017 wohl zu einfach, zu bequem. Wem ist damit gedient, d.h.spirituell “geholfen”? Ist das nicht alles Spektakel? Wer fragt, inwiefern und warum die römische Kirche immer noch – 500 Jahre nach der Reformation – an den “Skandalthemen” Luthers festhält, wie Ablasswesen, Klerikalismus, Ablehnung einer synodalen Struktur der Kirche, Zölibat, Unfehlbarkeit des Papstes usw.? Gibt es da Grund zum Feiern? Anstatt diese Fragen zu stellen: Schreibt man lieber Bücher, die Luther als den “Propheten der Freiheit” feiern, vielleicht bloß der inneren, der geistigen Freiheit? Wer schreibt über die grausigen Kämpfe und Attacken zwischen Lutheranern und Calvinisten bis ins 18. Jahrhundert? Merkwürdig ist zudem, dass bis heute der Augustinerorden, dem Luther bekanntermaßen angehörte, nicht die minimalste Äußerung zu seinem “Mitbruder” Martinus publiziert hat? Ist dem Augustinerorden dieser Mitbruder Martinus nur peinlich? Stört er das Ordensleben? Wenn ja, wie? Dazu würde man doch gern etwas vernehmen: “Katholisches Ordensleben heute trotz Luther”

Wenn man sich schon als philosophischer Religionskritiker mit Reformatoren von einst befassen will, dann empfehlen wir zwei unterschiedliche Reformatoren, die im Luther-Rausch der offiziellen Kirche natürlich, möchte ich fast sagen, untergehen und ins Vergessen gedrängt werden. Ich meine den Reformator und Theologen Thomas Müntzer und den Reformator und Theologen Jacob Arminius. Sie können den Namen klicken und werden zu weiterem kritischen Fragen und Nachdenken weiter geführt… über Luther hinaus, natürlich.Und dann wird man doch auch wieder sich Erasmus von Rotterdam zuwenden, dem moderaten, philosophisch gebildeten Theologen, der genau wusste: Auf eine kluge, man möchte sagen, vernünftige Reduzierung dieses ganzen Dogmen-Balastes des Christentums kommt es, also auf ein zeitgemäßes “Wesen des Christentums”. Dieses Projekt wird in Deutschland, von der “neuen liberalen Theologie” abgesehen, nicht bearbeitet. Wäre aber der wichtigste Beitrag im Luther-Jahr.

PS: Zu einem leider wenig beachteten Aufsatz über Erasmus: “Erasmus und sein Gott” des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski, 1965 erschienen. Noch nachzulesen in: L.K.: “Geist und Ungeist christlicher Traditionen”, dort S. 44 bis 58. Merken wir uns, im Blick auf den in dieser Hinsicht völlig verstörten Luther, der der Vernunft und damit der Philosophie nichts zutraute: Kolakowski schreibt über Erasmus` Lehre: “Es ist nicht wahr, dass die Natur und die natürlichen Fähigkeiten (also die Vernunft) durch den Satan monopolisiert sind…Ein durch Gott geschaffener Mensch kann nicht einfach nur böse sein” (S. 51). Das Böse, vorhanden, muss nicht über die Erbsünde im Sinne Luthers verstanden werden. Solche Mythen braucht der heutige Mensch nicht, der weiß, dass Freiheit immer “böse Dimensionen” hat…Wie sehr Luther mit seiner Polemik das allgemeine “Licht” der Kultur  verdunkelt hat, mit unabsehbaren Folgen:  DARAN muss man sich erinnern im berühmten Reformationsgedenken 2017!  Und sich von diesem Aspekt Luthers befreien.

copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die reaktionären Piusbrüder sind bald wieder offiziell römisch-katholisch.

Die Reaktionären setzen sich durch: Die Piusbrüder sind bald wieder offizieller Teil der katholischen Kirche.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Ein aktueller Hinweis am 17.10.2016: Oberster Traditionalist beim Chef der Glaubenskongregation: So berichtet die Tageszeitung La Croix am 14.10.2016:  Le supérieur de la Fraternité S. Pie X. a rencontré le préfet de la Congrégation pour la doctrine de la foi. Mgr Bernard Fellay, supérieur de la Fraternité sacerdotale Saint-Pie-X (FSSPX), a été reçu jeudi 13 octobre pour la deuxième fois par le cardinal Gerhard Ludwig Müller, préfet de la Congrégation pour la doctrine de la foi. Peu avant cette rencontre, le chef de file des lefebvristes a brièvement rencontré le pape François, a indiqué la fraternité.

Die Versöhnung macht also Fortschritte!

Am 12.5. 2017 veröffentlichte ich einen Beitrag, der sich auf den Besuch von Papst Franziskus in Fatima bezog:

Piusbrüder und Traditionalisten mit Rom versöhnt?

Ein Hinweis von Christian Modehn am 12. Mai 2017

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Wir beziehen uns auf den aktuellen Beitrag in La Croix vom 12.5. 2017: http://www.la-croix.com/Religion/Catholicisme/France/En-France-FSSPX-releve-fonctions-pretres-resistants-rapprochement-Rome-2017-05-12-1200846684

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Wird sich Papst Franziskus bei seinem Aufenthalt am 13.Mai 2017 im portugiesischen Wallfahrtsort Fatima mit den Traditionalisten offiziell versöhnen? Das ist die viel diskutierte Frage. Wird diese Versöhnung dann förmlich Maria gut geschrieben, die dort genau vor 100 Jahren, angeblich persönlich, ausschließlich drei Hirtenkindern vom Himmel herab erschien und allerlei Geheimnisse hinterließ, die peu à peu von den Päpsten veröffentlicht werden.

Die katholische Tageszeitung „La Croix“ aus Paris, oft sehr gut informiert über römische Interna, hält diese Versöhnung Roms mit den Erzreaktionären (den Piusbrüdern und ihren Gemeinden) am 13. Mai 2017 für möglich, so in einem Beitrag vom 12. 5. 2017. Der Papst denkt daran, diese Herrschaften in die Kirche wieder als volle Mitglieder aufzunehmen und ihnen den kirchenrechtlichen Status eines „Prälatur“ zu verleihen, die direkt dem Papst unterstellt ist und in die Bischöfe vor Ort nicht hineinreden dürfen. Diese exklusive rechtliche Struktur gilt auch seit Jahren schon für den internationalen mächtigen Geheimclub OPUS DEI.

Die Annäherungen der offiziellen römischen Kirche und der eigenständigen, schismatischen Traditionalistenkirche dauern schon einige Zeit, wir haben auf dieser website darüber berichtet. Papst Benedikt XVI. hat die vier Traditionalistenbischöfe von der Exkommunikation befreit. Papst Franziskus, der angeblich progressive oder auch der Taktierer mit den reaktionären Kräften im Vatikan, wer weiß, hat erst kürzlich noch erlaubt, dass die Eheschließungen durch Pius-Brüder-Priester auch vom Vatikan als gültig anerkannt werden. Das sind Kleinigkeiten für Außenstehende, haben aber einige Bedeutung als Gesten der Annäherung. Bezeichnenderweise haben sich einige Hardliner unter den Piusbrüdern gegen diese Vereinnahmung durch Rom ausgesprochen, auch darüber berichtet La Croix.

Diese Versöhnung von Vatikan und reaktionären Piusbrüdern ist keine politische und theologische Kleinigkeit. Denn deutlich wird: Im Vatikan gibt es viele einflussreiche Kardinäle usw., die mit diesen Piusbrüdern sympathisieren und deren Theologie, die im Jahre 1950 abbricht, richtig finden. Das wirft ein bezeichnendes Bild auf die Verfassung der römischen Kirche. Sie ist viel konservativer als alle Ökumene Dokumente der wenigen aufgeschlossenen Vatikan-Herrscher ahnen lassen. Rom bleibt Rom, da hat sich seit Luther fast nichts verändert. Man glaubt an Marien-Erscheinungen wie in Fatima und findet die alte Messe aus dem 16. Jahrhundert, wie sie die Piusbrüder still vor sich hin lesen, manche sagen brabbeln, ebenfalls toll. Man darf auch nicht vergessen, dass Rom seit 30 Jahren versucht, die Traditionalisten zu spalten: Rom hat eine eigene, mit dem Papst versöhnte Priestergemeinschaft gegründet, sie heißt bezeichnender weise Petrusbruderschaft: Ihre Mitglieder denken wie die Traditionalisten, bekennen sich aber formal zum Papsttum und zu einigen Aspekten des 2. Vatikanischen Konzils. So haben reaktionäre Traditionalisten längst Einfluss in Rom und der ganzen Kirche.

Aber wird es nun wirklich zur Versöhnung mit den Leuten kommen, die ihren Führer in Erzbischof Marcel Lefèbvre sehen? Denjenigen, der die Konzilsbeschlüsse nicht akzeptierte (etwa die Anerkennung der Religionsfreiheit und die Ablehnung der Kirche, Juden zu missionieren) und mit der unerlaubten Weihe von Bischöfen eine eigene Kirche schuf? Genaues wird wie üblich auch jetzt nur angedeutet. Journalisten fühlen sich in dieser Pressepolitik des Vatikans etwas an den Hof Ludwig XIV. erinnert.

Der Vatikan und die schismatischen Piusbrüder als Anführer der traditionalistischen Theologie und damit verbunden der Vorliebe für reaktionäre Politik (Marine Le Pen ist mit der Traditionalisten-Gemeinde St. Nicolas du Chardonnet in Paris als Mitglied verbunden) lieben das dunkle Reden, das Vermuten, das Andeuten, wenn es um die Frage geht: Wann integriert denn der Papst den zahlenmäßig eher überschaubaren Kreis der Traditionalisten mit der römischen Weltkirche? Seit 1988 bilden die unabhängigen Gemeinden der Piusbrüder förmlich eine eigene katholische Kirche, trotz aller Behauptungen der Piusbrüder, nur 100prozentig katholisch zu sein.

Wenn es zur Integration der reaktionären Piusbrüder in die katholische Kirche kommt, rückt diese römische Kirche noch mehr nach rechts und entfernt sich von der Ökumene und dem Dialog mit der modernen Welt. Man denke daran, dass Bischof Lefèbvre in seiner pauschalen Verurteilung immer “die Protestanten, die Liberalen, die Demokraten, die Freimaurer, die Sozialisten” explizit und ständig giftend verurteilte. Rom, mit den Traditionalisten vereint, entzieht sich dem Respekt einer kritischen demokratischen Öffentlichkeit noch mehr. Ob das Papst Franziskus weiß? Warum will er diese Brüder um sich haben? Die Antwort ist in dem klerikalen System der römischen Kirche klar: Diese Piusbrüder haben in Europa noch viele junge Priester, im Unterschied zu offiziellen römischen Kirche. Von Polen abgesehen, will fast kein junger Mann in Europa noch Priester werden. Die Piusbrüder garantieren die Vorherrschaft des Klerus, wie dies schon die konservativen Neokatechumenalen Priester, die Legionäre Christi und andere alles andere als moderne Kreise und Orden tun.

Katholizismus und Moderne passen überhaupt nicht zusammen. Das begreifen leider nicht sehr viele. Aber das bestätigen diese Vorgänge, selbst wenn es in Fatima jetzt noch nicht zur Versöhnung kommen sollte.

Copyright: Christian Modehn

Der Beitrag von  September 2016:

Religionen verändern heute – wie immer schon – auch inhaltlich ihre Schwerpunkte. Religiöser Wandel ist niemals nur Wandel im äußeren Erscheinungsbild. Diese „inneren“ religiösen Entwicklungen betreffen dann aber auch das Zusammenleben in der Gesellschaft. Jetzt ist es absehbar, dass die theologisch reaktionäre, auch politisch, ethisch, philosophisch reaktionäre, „Priesterbruderschaft Sankt Pius X.“ wieder offiziell in die römisch-katholische Kirche integriert wird. Das ist auch politisch und sowieso auch religionsphilosophisch eine wichtige Neuigkeit, die das „Gesicht“ der römischen Kirche langfristig verändern wird. Deswegen lohnt es sich auch für philosophisch Interessierte, sich mit dieser bevorstehenden Integration der Reaktionären auseinanderzusetzen. Wir gehen in unserem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon davon aus, dass die Grundbegriffe und die wichtigen Daten zu den Piusbrüdern bekannt sind bzw. leicht nachgelesen werden; beschränken uns also weitgehend auf die aktuelle Entwicklung (Stand 3.8.2016). Die populäre, aber naive Meinung, der Katholizismus sei doch „modern“ bzw. werde immer „zeitgemäßer“, wird nun einmal mehr als Irrtum erscheinen. Das wahrzunehmen, gehört zu den Aufgaben religionsphilosophisch Interessierter. Denn Philosophien und Religionswissenschaften in ihrer Distanz zu den katholischen Institutionen sind viel mehr als die institutionell nun einmal von Amts wegen immer kirchen/obrigkeits-abhängigen Theologen in der Lage, eine freie und objektive Analyse zu bieten.

Der Zeitpunkt ist interessant: Im Vorfeld der Reformationsfeierlichkeiten und hoffentlich umfassenden theologisch-philosophischen Besinnungen auf Luther und die anderen Reformatoren stellt die katholische Kirche jetzt deutlich wieder ihr konservativ- römisches Profil in den Mittelpunkt. Dass es wieder Ablässe gibt und dafür ganz ausdrücklich geworben wird, dass der Marienkult blüht und die Heiligenverehrung auch unter Papst Franziskus, ist allgemein bekannt. Nun aber geht es um die Integration (das ist mehr als „Versöhnung“) der Piusbrüder in die offizielle Kirche: Es ist jene inzwischen international verbreitete traditionalistische Gemeinschaft, die sich auf Erzbischof Marcel Lefèbvre (1905 – 1991) als „Gründergestalt“ beruft.

Zur Erinnerung: Erzbischof Lefèbvre hatte drei Feinde der Religion und des Staates (an Demokratie dachte er nicht!) immer wieder benannt: „Die Protestanten, die Sozialisten, die Freimauer bzw. die Liberalen“. Religionsfreiheit war für ihn, den Päpsten bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts treu folgend – ein Wahnsinn, der zur Zerstörung der menschlichen Kultur führe genauso wie auch die Ökumene und der Dialog der Religionen schädlich seien. Daran halten die Piusbrüder und ihre weltweiten Gemeinden bis heute selbstverständlich fest.

Lefèbvre wurde aber 1988 exkommuniziert, nicht etwa wegen seiner Lehren, sondern weil er ohne päpstliche Erlaubnis vier seiner Priester zu Bischöfen weihte. Ungehorsam gegen den Papst wiegt also schwerer als Verdammung der Religionsfreiheit und Demokratie…

Die Kreise, die sich um ihn international scharten, es sind wahrscheinlich 150.000 weltweit, wurden –bis vor einigen Jahren – von Rom eher wie eine Sekte außerhalb der römischen Kirche behandelt und eben eher rechts liegen gelassen. Rom gründete die konservative Konkurrenz „Petrusbruderschaft“ (Wigratzbad) wohl in der Meinung, dass die Leute um Lefèbvre für Rom sowieso wohl für Rom „verloren“ sind… Über die Nähe etwa der französischen Traditionalisten bzw. Piusbrüder zu den Parteien des Rechtsextremismus (Le Pen und co.) ist viel, auch im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon geschrieben worden. Interessant ist auch immer noch der Beitrag von 2009, der auf Verbindungen Lefèbvres zu Pinochet, Franco, Salazar hinweist: „A l extreme droite de Dieu“,http://www.resistances.be/fsspx01.html

Aber Papst Benedikt XVI. selbst sehr konservativ, meinte es gut mit den Reaktionären und hob die Exkommunikation der Lefèbvre Bischöfe auf. Und jetzt? Seitdem Papst Franziskus Erzbischof Guido Pozzo als Sekretär für den Dialog mit dieser traditionalistisch-reaktionären Gemeinschaft bestätigt hat, wird die Intergration betrieben. Zwischendurch hatte Papst Franziskus schon für einen gewissen „Dialog“ gesorgt, als er seinen Katholiken die Beichte bei einem eigentlich schismatischen Lefèbvre- Priester als gültiges Sakrament gestattete. Zudem hat er den Chef der Bruderschaft, Bischof Bernhard Fellay, in Privataudienz empfangen. Papst Franziskus will ausdrücklich einen freundschaftlichen Dialog mit den Traditionalisten, wie Bischof Pozzo in einem ausführlichen Interview mit der Zeitung „Christ und Welt“ vom 28. Juli 2016, Seite 5, darlegt.

Nur so viel aus dem ausführlichen Interview, das Julius Müller-Meiningen führte: Es werden jetzt gezielt in Rom Schritte unternommen, die „zur vollen Aussöhnung mit den Traditionalisten“ führen, so Pozzo. Rom scheint beruhigt zu sein, dass der bekannte antisemitische traditionalistische Bischof Richard Williamson aus der der Pius-Bruderschaft 2012 (von dieser) ausgeschlossen wurde. Ob antisemitische, xenophobe und homophobe Kreise – etwa in Frankreichs traditionalistischen Gemeinden – noch bestehen, scheint den Vatikan nicht zu interessieren. Zentraler Punkt in der Integration der Reaktionären ist die Deutung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Es wurde bisher von ernstzunehmenden Theologen immer als Reformkonzil, als Neubeginn, wenn nicht als „Einschnitt“ in der theologischen Entwicklung gedeutet. Diese Theologen, wie Küng, Schillebeeckx, Rahner usw. sahen darin vernünftigerweise einen Ausdruck von Leben und geistvoller Lebendigkeit. Früher verdammten Päpste die Religionsfreiheit, im Konzil wird sie gelobt. Früher verdammten Päpste die Reformation, nun wird Ökumene offiziell gepflegt. Wenn das kein Einschnitt, kein Bruch, kein Neubeginn ist? Aber Rom liebt heute wieder das Starre und Ewige, das Depositum, den uralten Text usw. mehr als die Lebendigkeit und die zum Leben immer gehörende Veränderung. Über die psychischen Strukturen solcher erstarrter Bürokraten hat Erich Fromm Wichtiges geschrieben und sie treffend als Nekrophilie, Liebe zum Toten und Erstarrten, gedeutet…

Aber Pozzo und mit ihm wohl auch der Vatikan behaupten stur: Das Zweite Vatikanische Konzil liegt ganz auf der Linie der früheren Konzilien und der Tradition, die ja bekanntlich das römische Lehramt festlegt. Also: Ökumene, Religionsfreiheit, Toleranz gehören gar nicht ins Zentrum katholischen Glaubens. Deswegen können die Piusbrüder auch guten Gewissens dieser römischen Kirche wieder beitreten. Denn sie halten – wie gesagt – gar nichts von Ökumene, Religionsfreiheit, Toleranz…Vielleicht gelingt dann eine hübsche Ökumene der Piusbrüder mit den fundamentalistischen Muslims und den Wahabiten… Dies als kleiner, nicht ganz falscher Scherz zur Auflockerung dieser trübsinnigen Entwicklung.

Wenn die Integration der Piusbrüder also zustande kommt, und wenig spricht in römischer Sicht dagegen, dann wird also Profil der römischen Kirche selbst unter Papst Franziskus wieder reaktionärer. Denn er will ja diese Piusbrüder wie eine Art katholischer Sondergemeinschaft, als „Prälatur“, wie das ähnlich organisierte Opus Dei, IN die römische Kirche integrieren. Noch einmal: Für Erzbischof Pozzo vom Vatikan sind die Lehren vom Dialog und der Religionsfreiheit, die das Zweite Vatikanische Konzil einschärfte, „nicht Glaubenslehren oder definitive Aussagen, sondern bloß Anweisungen oder Orientierungshilfen für die pastorale Praxis. Über diese pastoralen Aspekte kann auch nach der kanonischen Anerkennung (der Piusbrüder, also ihrer definitiven Integration in die römische Kirche) weiter diskutiert zu werden, um sie einer Klärung zuzuführen“. Soweit Pozzo. Nebenbei: “Pastoral” heißt in vatikanischer Bedeutung immer: “weniger wichtig”, “relativ”…Diese Worte Pozzos muss man sich förmlich auf der Zunge zergehen lassen: Sind denn nicht Religionsfreiheit und Ökumene ein für allemal beschlossene Sache auch unter Katholiken? Was soll denn da noch weiterdiskutiert werden mit den reaktionären Piusbrüdern? Ja, es kann weiter diskutiert, damit auch relativiert werden zur Ökumene und Religionsfreiheit, so Pozzo… Hingegen, so meint er, darf überhaupt nicht im entferntesten “die Sakramentalität der Bischöfe” (also die Klerus-Vorrangstellung) und “die Lehre über den Primat des Papstes und des Bischofskollegiums” diskutiert werden, so in der 3. Spalte des genannten Artikels in „Christ und Welt“. Noch einmal: Katholisch ist für diesen Herrn, wer an den Primat des Papstes glaubt und an den gottgewollten Vorrang des Klerus. Alles andere, Menschlichkeit, Toleranz, Religionsfreiheit, Liberalität, Ökumene ist verhandelbar, also auch einzuschränken. Kann man im Ernst theologisch so tief sinken, fragen Mitglieder des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons? Welche Schande auch, wenn Pozzo ausdrücklich eine „Anpassung an irgendeine Kultur der Gegenwart“ zurückweist  (5. Spalte im genannten Artikel). Die Anpassung an sein Luxusleben im Vatikan und anderswo wird er wohl gern genießen…Dass Papst Johannes XXIII. bei der Eröffnung des Konzils immer wieder zustimmend vom aggiornamento der Kirche sprach, wird unterdrückt von diesen Klerikern. Aggiornamento heißt ja wohl Anpassung. Papst Johannes XXIII. ist wohl nun ein Ketzer, wenn er ausdrücklich Anpassung der Kirche wünschte.

Das Zweite Vatikanische Konzil ist nun in römischer Sicht eines von vielen Konzilien, Teil einer großen Tradition, die sich Erzbischof Pozzo allerdings hütet, genauer zu beschreiben: Denn dann würde er das ganze Grauen dieser Tradition sehen: Päpstliche Macht in einem korrupten Staat, Hexenverfolgung, Ketzerverbrennung, aggressive Mission, Frauenunterdrückung usw.

Was sind die tieferen Gründe für das Versöhnungsbedürfnis des Papstes mit diesen Kreisen? Eine praktische Antwort: Bei einer immer noch auf den Klerus fixierten römischen Kirche gelten alle Kreise sehr viel, die noch viele junge Priester „stellen“ können, das sah man etwa, als der hoch umstrittene Orden „Legionäre Christi“ mit seinem verbrecherischen Gründer Marcial Maciel eben NICHT aufgelöst wurde. Warum? Weil die Legionäre Christi immer noch viele junge Priester haben. Zur Piusbruderschaft gehören heute 600 (meist jüngere) Priester und 200 Seminaristen. Diese könnten doch den allgemeinen Mangel an Priestern gut „beheben“ und man bräuchte nicht über eine Aufhebung des Zölibates nachzudenken.

Eine theologische Antwort: Es ist für den Vatikan unerträglich, dass es noch eine weitere (kleine) Kirche gibt, die sich auch katholisch nennt und das Papsttum als solches so liebt und die Traditionen, die Rosenkränze, die Sühneandachten, das Sich Aufopfern für Maria usw… Diese Konkurrenz ist für eine große Kirche, die alles auf Uniformität und Einheit setzt, unerträglich.

Journalisten und Theologen sollten sich wirklich mal die Mühe machen und das offizielle Mitteilungsblatt der Piusbrüder etwa in Deutschland lesen, das „Mitteilungsblatt Omnia instaurare in Christo“ („Alles in Christus wieder aufrichten“). In der Ausgabe vom Juli 2016 ist ein Vortrag des Piusbruderchefs Bischof Bernard Fellay vom 1. Mai 2016 publiziert. Darin bestätigt Fellay die Aussagen des vatikanischen Erzbischofs Pozzo. Fellay betont: „Kürzlich durften wir in Rom zum ersten Mal hören, dass wir das (Zweite Vatikanische) Konzil nicht mehr akzeptieren müssen. Stellen Sie sich das vor: das ist enorm. Man sagte uns: Sie dürfen bei Ihrer Meinung bleiben…Man sagt uns: Das Konzil ist nicht verpflichtend, man muss niemanden zur Annahme des Konzils zwingen, um katholisch zu sein...Man sagt uns: Das Konzil ist nicht doktrinal (von der Lehre her maßgebend), es ist pastoral. Das ist ungefähr das, was wir selbst immer gesagt haben…“ (Seite 24 f. in dem genannten Heft der Piusbrüder). Aber: Für die Piusbrüder ist diese Entwicklung noch kein „Triumph, „es handelt sich um eine neue Phase im Krieg (mit Rom)“, so der Traditionalisten Chef Fellay wörtlich (Seite 25)

Die Traditionalisten fühlen sich nach wie vor so stark und selbstbewusst, dass sie in ihren Heftchen und Publikationen heftig Papst Franziskus kritisieren, etwa sein Schreiben „Amoris laetitia“. Dieses stelle „einen Dammbruch dar, der die gesamte katholische Morallehre in Frage stellt“, so der Piusbruder Pater Matthias Gaudron, im Mitteilungsheftchen vom Juni 2016, Seite 33.

Aber im Vatikan selbst gibt es bedeutende Stimmen machtoller Kleriker, die ähnlich denken. Von daher sind solche Attacken der Piusbrüder gegen den Papst nicht hinderlich für die bevorstehende Integration.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Die Macht des Todes überwinden. Auferstehung für Aufgeklärte

Die Macht des Todes überwinden: Auferstehung für Aufgeklärte

Von Christian Modehn

Dieses Manuskript ist die Grundlage für eine Ra­dio­sen­dung im RBB Kulturradio am Ostersonntag 2016. Die Sendung selbst bezieht sich auf ein gekürztes und leicht verändertes Manuskript. Das Manuskript der Sendung kann bestellt werden: religion@rbb-online.de

Mein Text ist der Versuch, wie der Untertitel sagt, auf Möglichkeiten hinzuweisen, wie „Aufgeklärte“, also (selbst-) kritische und eben nicht “traditionell – religiöse” Menschen von heute die Auferstehung Jesu und die eigene Form des “Über den Tod hinaus” verstehen können und möglicherweise für sich selbst als Impuls und Orientierung ergreifen. Es kommt ja bekanntlich darauf an, auch und gerade im christlichen Glauben bei Vernunft zu bleiben oder, wie man früher sagte, “den Verstand eben nicht an der Kirchentür abzugeben”.

Die Macht des Todes überwinden. Auferstehung für Aufgeklärte:

Musikal. Zuspielung, Mozart, Quintett g Moll, Adagio.

Das Adagio aus dem g moll Quintett von Mozart – eine Musik zum Osterfest: Wer den Klang in Worte fassen möchte, wird wohl sagen: Inmitten der Dunkelheit wächst die Hoffnung. Diese Erkenntnis hat den Mozart-Kenner und Theologen Karl Barth immer tief bewegt:

“In dieser Musik geschieht eine Wendung, in deren Kraft das Licht aufsteigt. Der Schatten fällt, ohne zu verschwinden. Die Freude überholt das Leid, ohne den Schmerz auszulöschen. Da kommt das Ja stärker als das Nein zum Klingen”.

Musikal. Zuspielung, Mozart, Quintett g Moll, Adagio. Noch einmal 0 05“ freistehen.

Ostern ein Fest des Lebens, das jeder auf seine Art begehen kann: Der Osterspaziergang wird zur spirituellen Erfahrung, weil sich die Natur wieder voller Leben zeigt. Und wer Ostern als das Fest des Friedens feiert, erinnert sich an die Verse des schweizerischen Dichters Kurt Marti:

„Das könnte manchen Herren so passen,

wenn mit dem Tode alles beglichen:

Die Herrschaft der Herren,

die Knechtschaft der Knechte

bestätigt wäre für immer.

Aber es kommt eine Auferstehung,

die anders, ganz anders wird, als wir dachten.

Es kommt eine Auferstehung, die ist

der Aufstand Gottes gegen die Herren….

und gegen den Herrn aller Herren: den Tod“.

Ostern … ein Fest, das Mut macht, weiter zu sehen, weiter zu gehen, aufzubrechen, meint die Dichterin Marie Luise Kaschnitz:

„Manchmal stehen wir auf,

Stehen wir zur Auferstehung auf,

Mitten am Tage.

Mit unserm lebendigen Haar

Mit unserer atmenden Haut…

….. Manchmal stehen wir auf. …“

Ostern hat seinen Ursprung in außergewöhnlichen Erfahrungen der ersten Christengemeinden. Sie haben ihre Einsichten im Neuen Testament aufgezeichnet. Wer die Erzählungen von der Auferstehung Jesu liest, ist verwirrt von der Fülle außergewöhnlicher Begebenheiten: Da treten Engel auf und Jünglinge in weißen Gewändern; Jesu Grab, so heißt es, sei leer; dann erscheint der Auferstandene seinen Getreuen in einer Art überweltlichen Leiblichkeit. Aber es wäre falsch, diese Texte als nebulöse Phantastereien beiseite zu legen. Denn Ostern wird zwar in der Sprache der Poesie beschrieben, aber im Hintergrund stehen wirkliche Erfahrungen. Die Osterberichte beziehen sich auf eine Tatsache: Jesus von Nazareth wurde als Rebell zum Tode verurteilt, er ist einsam am Kreuz gestorben. Und seine Getreuen, die Jünger, sind vor Angst davon gelaufen.

„Was ist eigentlich geschehen zwischen dem historisch bezeugten Jesu Tod am Kreuz und den späteren Erscheinungen des Auferstandenen, also zu Ostern? Was ist in dieser Zeit mit den Jüngern geschehen? Die Antwort heißt: Ihr Selbstverständnis war zutiefst erschüttert, sie waren traumatisiert“, betont der Theologe Christoph Türcke. „Aber nach etlichen Tagen, vielleicht auch Wochen oder Monaten, wir wissen es nicht genau, kam der Umschwung. Die abtrünnigen, untergetauchten Gefolgsleute Jesu traten als seine anhänglichsten Gewährsleute hervor. Die Panik war von ihnen abgefallen“.

Von der Angst befreit, erinnern sich die Jüngerinnen und Jünger an das gemeinsame Leben mit Jesus, an seine Worte und Taten: Wie sie Jesus als den Gerechten erlebten, den Freund der Menschen; den spirituellen Meister, der Gott als grenzenlose Liebe bezeugte. So kommen sie zu der Überzeugung: Dieser Jesus kann nicht im Tod versinken, war er doch so eng mit Gott verbunden. Diese Erkenntnis der Jünger sollte ernst genommen werden, betont der religionskritische Philosoph Kurt Flasch:

„Dass an der Entstehung der christlichen Bewegung intensive seelische Erfahrungen beteiligt waren, ist historisch plausibel, genauso wie es plausibel ist, dass die christliche Bewegung später kaum durch Lügen von Theologen oder durch den Diebstahl des Leichnams Jesu entstanden ist“.

Wie in einer Art Geistesblitz, einer Erleuchtung, wird den Jüngern Jesu die Einsicht von der Auferstehung Jesus zuteil. Mit wenigen Worten, in einer Art Kurzformel, bekennen sie schon wenige Monate nach Jesu Tod ihren gemeinsamen Glauben: „Jesus von Nazareth wurde von Gott zum Leben erweckt, er ist von den Toten auferstanden“.

Eines der ältesten – und schönsten – Osterlieder, aus dem 11. Jahrhundert, bezeugt diesen elementaren Glauben:

Musikal. Zuspielung, Lied: „Christ ist erstanden“.

Die historisch-kritische Bibelwissenschaft hat in den letzten Jahrhunderten viel Klarheit zur Auferstehung Jesu gebracht. Eine naive Bibellektüre, die jeden Vers wie einen Zeitungsbericht deutet, hat keine Berechtigung mehr. Warum sollten auch wissenschaftliche Erkenntnisse in der Religion und den Heiligen Texten weniger gelten als in der Medizin, der Physik oder der Psychologie? Die wichtigste Erkenntnis fasst Christoph Türcke, sozusagen stellvertretend für viele andere Theologen, kurz und bündig zusammen:

„Es gibt keine neutralen Beobachter der Auferstehung Jesu. Es gibt keinen Historiker, der das Auferstehungsgeschehen beobachtetet hat“.

Aber es ist auch eine Tatsache, dass sich unter den Jüngern Jesu die gemeinsame Überzeugung durchsetzte: Jesus von Nazareth lebt auf neue, bislang unbekannte Weise. Er hat den Tod überwunden. Und davon sprechen die ersten Christen voller Symbole und Metaphern. Vierzig oder fünfzig Jahre sind seit dem Tode Jesu vergangen, als die vier Evangelisten die Überzeugung der Gemeinden von der Auferstehung niederschreiben. Und die Autoren weichen dabei inhaltlich stark von einander ab, nennen etwa eine unterschiedliche Anzahl der Engel, die am Grab die Auferstehung verkünden. Aber diese Vielfalt sei doch ganz normal, betont der Philosoph Kurt Flasch:

„Dass Erzählungen mit der Zeit anwachsen und sich verändern, das ist auch heute noch die Regel. Erzähler fügen zunehmend etwas hinzu, was nach ihrer Ansicht gesagt werden muss, um die Botschaft gegen neue Zweifel zu sichern. So wuchsen die Erzählungen eben auch im orientalischen Alltag“.

In den Evangelien sind es Frauen, Jüngerinnen Jesu, die als erste voller Sorge zu seinem Grab eilen. Dort vernehmen sie von einem Engel, also dem Symbol für die innere Erkenntnis, dass die Macht des Todes besiegt ist, also eine neue Welt begonnen hat. Der Evangelist Matthäus lässt den Engel sagen: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Ich weiß, ihr sucht Jesus den Gekreuzigten. Er ist nicht hier. Denn er ist auferstanden“.

Und diese Überzeugung haben Christen schon im 6. Jahrhundert in ihren Gesängen zum Ausdruck gebracht. Die katholische Ordensfrau und weltbekannte Sängerin Marie Keyrouz aus dem Libanon interpretiert einen uralten Oster-Hymnus in arabischer Sprache:

Gesang Soeur Marie Keyrouz, aus dem Libanon:  „Der Engel sagte zu Maria, der Mutter Jesu: Freue dich, dein Sohn ist auferstanden. Er lebt!“

„Ostern ist ein Fest, das so viel den Frauen verdankt“, betont der Theologe und Psychologe Eugen Drewermann: „Denn allein die Frauen sind offenbar fähig und würdig, den Sieg des Lebens über den Tod zu sehen und sichtbar zu machen. Die Wirklichkeit des Ostermorgens kann man nur mit den Augen des Herzens wahrnehmen. Frauen scheinen seit alters her die berufenen Priesterinnen dieser Geheimnisse des Unsichtbaren zu sein“.

Feministische Theologinnen haben diese Hinweisen weiter vertieft und politisch aktualisiert. Doris Strahm aus Zürich meint: „Von der Auferstehung der Frauen reden, bedeutet, von der Auferstehung der gebrochenen Körper der Frauen reden, von Frauen, die dürsten nach einem Leben in Würde und Gerechtigkeit. Das heißt aber auch die Heiligkeit des weiblichen Körpers zu bestätigen, der seit Jahrhunderten abgewertet, ausgebeutet, vergewaltigt und nach Männerwünschen zurechtgebogen wird und sich nach Heilung, nach Selbstbestimmung und Befreiung sehnt. Von der Auferstehung zu reden, bedeutet für mich, auch von der Schönheit des Frauenkörpers seiner Lust und erotischen Leidenschaft zu reden, sie als Teil der Heiligkeit des menschlichen Lebens zu bejahen“.

Mit besonderer Aufmerksamkeit berichten die Evangelisten von Maria Magdalena, sie geht als erste zum Grab Jesu und vernimmt dort die Auferstehungsbotschaft. Einst war Maria von Magdala seelisch erkrankt, von bösen Geistern beherrscht, wie man damals sagte. Sie wandte sich an Jesus, als er in Galiläa wie ein Prophet und Heiler umherzog: Und er hat, so wird berichtet, Maria von Magdala angehört, er hat sie respektiert und in liebevoller Zuwendung geheilt. Wer so viel verwandelnde Kraft und positive Energie von Gott her hat, der kann nicht sterben. In dieser Überzeugung sagt ihr der strahlende Engel am Grab: Jesus lebt. Von diesem Bild lässt sich Eugen Drewermann inspirieren: „Die Wahrheit unseres Lebens liegt in dieser Vision des Engels, der bekleidet ist mit dem Lichtglanz des Himmels, angetan mit dem Strahlengewand der Sonne und der Wolken. Dies ist das Bild, das wir in uns tragen, mitten in der scheinbaren Hoffnungslosigkeit. So können wir einander wahrnehmen, dass nicht Alter und Verfall die letzte Auskunft über unser Leben ist, sondern etwas Unvergängliches in uns aufleuchtet, etwas Nie – Verlöschendes, eine Vision von Liebe. Wir folgen seit Ostern den Fußspuren einer unzerstörbaren Hoffnung“.

Die Ostererzählungen haben die Phantasie späterer Generationen nicht zur Ruhe kommen lassen. Beliebt war seit dem 2. Jahrhundert zum Beispiel das so genannte Petrusevangelium: Dem Autor zufolge, schweben zwei Jünglinge vom Himmel hernieder auf das Grab Jesu zu, und die Wächter sind machtlos: Das Grab öffnet sich … und dann geschieht etwas Wundervolles:

„Die beiden himmlischen Jünglinge verlassen wieder das Grab und stützen dabei einen weiteren Mann, und ein Kreuz folgt ihnen hinterher. Der Kopf der ersten beiden Jünglinge reichte bis zum Himmel. Das Haupt dessen aber, der von ihnen gehalten wurde, überragte sogar den Himmel. Und eine Stimme hörten sie vom Himmel her fragen: Hast du von dem Entschlafenen verkündet? Und die Antwort kam vom Kreuz: Sie lautete: Ja“.

Diese Erzählung wirkte auf viele Christen schon damals wie ein mysteriöses Märchenbuch. Deswegen wollten sie das Petrus-Evangelium nicht als einen maßgeblichen, „kanonischen“ Text im Neuen Testament betrachten.

Trotz der vielfältigen und überschwänglichen Erzählungen vom Ostergeschehen haben die ersten Christen doch ihren klaren Verstand bewahrt. Man muss nur genau hin schauen, wenn man ihre Antworten sucht auf die so Frage: War denn das Grab Jesu leer? Oder befand sich sein irdische Körper noch darin? Tatsächlich ist es so: Die Botschaft der Engel, also das Vernehmen einer inneren göttlichen Stimme, steht im Mittelpunkt der Evangelien. Übereinstimmend sagen die Engel: Jesus lebt, er ist auferstanden. Die Botschaft vom leeren Grab ist demgegenüber zweitrangig. Der katholische Theologe Hans Kessler und Autor einer umfassenden Studie schreibt:

„Wenn vom leeren Grab gesprochen wird, so ist dies nur eine Veranschaulichung der Auferstehung Jesu, ein Bild, ein Symbol, das die Erzählung farbiger machen soll. Der Osterglaube wird nicht vom leeren Grab begründet. Der Gedanke des leeren Grabes ist kein notwendiger Bestandteil des christlichen Auferstehungsglaubens. Eine im Grab aufgestellte Video-Kamera hätte den Auferstehungsvorgang nicht aufgenommen. Wer als religiöser Mensch auf einem leeren Grab besteht, leugnet das Menschsein Jesu Christi. Aber dass Jesus ganz Mensch ist, bleibt eine unaufgebbare Einsicht der Christenheit“.

Jesus hat als Mensch wie alle anderen Verstorbenen mit seinem toten Körper im Grab gelegen. Trotzdem gilt die Überzeugung: Er ist er auferstanden, er lebt. Denn er wurde schon zu Lebzeiten als die menschliche Verkörperung des Göttlichen erlebt. Natürlich gehörte schon für die ersten Christen ein Stück Mut dazu, diese Überzeugung öffentlich zu äußern. Aber sie wussten: Wenn es um die so genannten letzten Fragen geht, also um den Tod und das Überschreiten dieser Grenze, stehen alle vor einer Alternative: Entweder Ja oder Nein zur Überwindung des Todes zu sagen. Von dieser Einsicht ist der Philosoph und Naturwissenschaftler Carl Friedrich von Weizsäcker überzeugt:

„Wenn der dunkle Engel kommt, werden wir in unserem je eigenen Tod uns entschieden haben müssen: Zwischen der Verzweiflung vor der abgrundtiefen Nacht des Nichts. Oder der Hoffnung auf ein unvorstellbares Licht“.

Von diesem unvorstellbaren Licht waren die ersten Christen so berührt, dass sie sogar von Erscheinungen des Auferstandenen in ihren Häusern berichten. Sie projizieren dabei ihrem Glauben nach außen, sie erschaffen förmlich eine gott-menschliche Gestalt, sprechen gar von leibhaftigen Begegnungen. Aber diese Erzählungen dürfen – wieder einmal – nicht wörtlich verstanden werden, betont der katholische Theologe Karl Rahner: „Der Auferstandene darf als einer, der den Tod überwunden hat, nicht unserem menschlichen Stoffwechsel untertan sein; er darf nicht wieder in der Zeitlichkeit sein; er darf nicht von physikalischen Größen, wie dem Berührtwerden, abhängig sein“.

Aber die ersten Christen haben eigene Interessen, wenn sie von den Erscheinungen des Auferstanden in ihrer Mitte sprechen: Denn, so heißt es, Jesus sendet die Jünger in die Welt, zur Predigt, im Rahmen einer Kirche. Darauf weist der bekannte katholische Theologe Edward Schillebeeckx hin: „Diesen Berichten geht es unverkennbar um die Begründung und die Legitimierung der Kirche, die sich langsam bildet. Es geht um die Begründung der kirchlichen Sendung in der Welt. Die Gemeinde legt Jesus die Worte in den Mund, dass die Kirche nun Jesu Mission fortführen soll“.

Musik, Gesang Iegor Reznikoff,

Ein einziges Wort, das Ostern ausdrückt: Das Alleluja… Gesungen von Iegor Reznikoff, dem französischen Sänger. Wenn er in gotischen Kathedralen auftritt, kommen nicht nur kirchlich gebundene Menschen zusammen.

Das Alleluja haben die ersten Christen nie als eine bloße Floskel verstanden. Ihr Alleluja hatte einen konkreten Inhalt: Weil Jesus auferstanden ist, werden die Menschen als die Söhne und Töchter Gottes ebenfalls auferstehen. Der Apostel Paulus hat diese Einsicht seiner Gemeinde in Korinth einschärfen wollen:

Wenn Tote überhaupt nicht auferweckt werden, dann ist auch Christus nicht auferstanden. Er ist der Erste der Entschlafenen, die auferstanden sind.

Dieser Gedanke bewegt bis heute die Theologen, Giuseppe Barbaglio von der Universität Mailand betont: „Jesus Christus ist als der Auferstandene unser älterer Bruder. Was ihm widerfuhr, wird uns widerfahren. Seine Auferstehung ist das Anheben unseres neuen Lebens … und unserer Auferstehung“.

Aber das neue, das „auferstandene“ Leben geschieht bereits jetzt, mitten im Alltag. Die christlichen Mystiker weisen mit Nachdruck darauf hin, der mittelalterliche Dominikaner-Mönch Meister Eckart sagt:

„Wer Gottes Nähe, also den göttlichen Funken in sich selbst spürt, ist dem Strom der Zeit, also schon der Welt, enthoben“.

Er braucht den Tod keineswegs als Absturz ins Nichts zu fürchten… Für Meister Eckart ergibt sich daraus eine praktische Lebenseinstellung: Der Mensch konzentriert sich nun auf Wesentliches, bevorzugt alles, was sinnvolles Leben reicher macht. Er lebt im Abstand von den Dingen, lässt das Klammern und Besitzenwollen. Meister Eckart sagt: “Ein solcher Mensch findet zur Gelassenheit und inneren Ruhe. Er ist frei”.

Musik Intermezzo, Gesang Iegor Reznikoff,

Christen weisen jede Ideologie zurück, die da meint: Der Mensch könne durch eigenes egoistisches Tun den Eintritt in die göttliche Welt beschleunigen, etwa durch ein Selbstmordattentat, Dieser mörderische Jenseitsfanatismus hat nichts mit Glauben zu tun..

Wer Auferstehung heute mitten im eigenen Leben erfahren will, wird von den ersten Christen ganz schlicht aufgefordert, zu lieben. Im Ersten Johannesbrief des Neuen Testamentes heißt es: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinüber gegangen sind, weil wir die Brüder und Schwestern lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod“.

Mit Liebe ist erotische Liebe genauso gemeint wie selbstlose Nächstenliebe. In der Liebe stehen die Menschen aus dem Egoismus auf; sie wachsen über sich hinaus. Es gibt diese Menschen, die schon jetzt wie Auferstandene leben. Sie haben sich von allen Ängsten um ihr eigenes kleines Leben befreit und handeln zum Wohl der Leidenden und werden so transparent fürs Gott. Zum Beispiel gehört Erzbischof Oscar Romero im zentralamerikanischen Staat El Salvador zu diesen „Auferstandenen“. Mitten im Bürgerkrieg seines Landes kämpfte er leidenschaftlich gegen die Militärs zugunsten des verarmten indianischen Volkes. Kurz vor seiner Ermordung durch die Militärs im Jahre 1980 sagte Oscar Romero: „Ich bin schon oft mit dem Tod bedroht worden. Ich muss Ihnen sagen, dass ich als Christ nicht an einen Tod ohne Auferstehung glaube. Sollte ich umgebracht werden, so werde ich im salvadorianischen Volk auferstehen. Ich sage Ihnen dies in aller Bescheidenheit. Als Bischof bin ich aufgrund göttlichen Auftrags verpflichtet, mein Leben hinzugeben für jene, die ich liebe. Sofern Gott das Opfer meines Lebens annimmt, dann möge mein Tod zur Befreiung meines Volkes dienen und ein Zeugnis der Hoffnung auf die Zukunft sein“.

Dorothee Sölle, die feministische und politische Theologin, hat oft Zentralamerika besucht. Dort konnte sie erleben, wie der Auferstehungs-Glaube unter den Armen alles andere als beruhigendes Opium ist: “Die vielen tausend Menschen, die in Lateinamerika jährlich am Todestag Oscar Romeros Gottesdienste feiern, rufen immer wieder einander zu: Oscar Romero lebt. Er ist bei uns. Er ist auferstanden in seinem Volk, er ist presente, anwesend. So werden die Auferstehung Jesu und die Auferstehung ihres Bischof Oscar Romero eins”.

Auferstehung jetzt heißt das Motto der Menschen, die sich nicht der Verzweiflung aufgeben in einer offenbar unheilbar zerrisenen Welt. Die Theologin Doris Strahm hat beobachtet:  „In der ganzen so genannten Dritten Welt sind es vor allem die Frauen, die aufstehen für das Leben, die täglich für das Überleben ihrer Kinder kämpfen müssen und mit ihrem Körper für das Leben sorgen, es nähren und schützen. Überall auf der Welt sind es in der Mehrzahl Frauen, denen die Erhaltung und Bewahrung des Lebens aufgebürdet wird; die, wie die Frauen am Grab Jesu, Zeugnis ablegen von der Auferstehung, von neuem Leben inmitten von Verzweiflung und Erfahrungen des Todes“.

Längst ist die Auferstehung Jesu ein Symbol, das weit über die Kirchen hinaus die Menschen bewegt. Künstler der Moderne lassen sich davon inspirieren, wie Vincent van Gogh. In einem Brief aus dem Jahr 1888 schreibt er:

„Christus allein bekräftigt unter allen Philosophen das ewige Leben als eine fundamentale Gewissheit. Er bekräftigt die Nichtigkeit des Todes und deswegen auch die Notwendigkeit und die Berechtigung heiterer Gelassenheit und Aufopferung. Er hat in heiterer Ruhe gelebt, er war sozusagen auch der größte aller Künstler: Denn er hat den Marmor, den Ton und die Farbe verschmäht und stattdessen in lebendigem Fleisch, also mit Menschen, gewirkt“.

Den auferstandenen Christus wollte van Gogh nicht figürlich malen, aus Respekt vor der heiligen gott-menschlichen Gestalt. Darum malte van Gogh die Sonne als das universell gültige Symbol des Auferstandenen: In der mittelalterlichen Gertrauden Kapelle von Güstrow, Mecklenburg, ist die Skulptur „Das Wiedersehen“ von Ernst Barlach ausgestellt. 1926 geschaffen, wird die Begegnung des ungläubige Thomas mit dem auferstanden Jesus gezeigt. Thomas, so berichten die Evangelisten, will nur an die Auferstehung glauben, wenn er die Wunden des Gekreuzigten berührt hat. Barlach zeigt, wie sich dieser Thomas an dem aufrecht stehenden Christus festhält, vor Angst noch erstarr und erkrümmt. Der Auferstandene gibt ihm das Rückgrat wieder, er wirkt gesammelt, von erstaunlicher Schlichtheit. Der Kunstkritiker und protestantische Theologe Horst Schwebel sagt: „Die Augen des Christus gehen jedoch über den Gebeugten Thomas hinweg ins Leere. Christi Gesicht drückt Mitgefühl und Teilnahme aus. Er wird dem Gebeugten zur Stütze…Es ist Christus, der als Bruder dargestellt wird, der dem anderen hilfreich zur Seite steht“.  So wird anschaulich, welchen Sinn das alte, fast abgegriffene Wort Erlösung hat: Ostern als Fest der Erlösung bringt Licht in die Dunkelheit, ein Licht, das nicht erlöschen kann, weil es göttlich ist. Die Auferstehung fördert also eine Lebensphilosophie. Sie beschreibt die Theologin Elisabeth Moltmann-Wendel: „Wenn wir aufmerksam werden auf die verwandelnden Kräfte, die schon hier unser Leben verändern, die uns anders sehen, fühlen, hören, schmecken lassen, dann können wir auch erwarten: Solche Kräfte werden nicht mit unserem biologischen Leben zu Ende sind. Wir können dem Schöpfersein Gottes zutrauen, dass es Energien gibt, die über unseren eigenen Lebenshorizont hinausreichen“.

COPYRIGHT: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.

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Ein Hinweis auf die hier zitierte LITERATUR:

Albert Boime, Vincent van Gogh, Die Sternennacht. Fischer Taschenbuch, 1989.

Katharine Ceming u.a. Die Verbotenen Evangelien, Apokryphe Schriften. Marxis Verlag, 2010.

Concilium, Internationale Zeitschrift für Theologie, Themenheft Auferstehung, Dezember 2006.

Kurt Flasch, Warum ich kein Christ bin. C.H.Beck Verlag 2013.

Hans Kessler, Sucht den Lebenden nicht bei den Toten. Die Auferstehung Jesu Christi, 2011, Topos Taschenbücher. 2011, 526 Seiten.

Hans Küng, Musik und Religion, Piper Verlag München, 2010.

Elisabeth Moltmann- Wendel, Mit allen Sinnen glauben. Stimmen der Zeit 2005.

Karl Rahner Lesebuch. Herder 2014. 475 Seiten.

Horst Schwebel, Die Kunst und das Christentum, Geschichte eines Konflikts. Verlag C.H.Beck, München 2002.

Doris Strahm: http://www.doris-strahm.ch/Strahm_1_03.pdf –

 

 

 

Modern im Mittelalter: Thomas von Aquin, gestorben am 7. März 1274

Modern im Mittelalter: Thomas von Aquin, gestorben am 7. März 1274

Er wurde im 19. Jahrhundert der “doctor angelicus”, also der “engelgleiche” Theologe und Philosoph genannt. Der Dominikanermönch Thomas von Aquin, gestorben am 7. März 1274, geboren 1224 oder 1225 in der Nähe der Stadt Aquino. Im Mittelalter war er modern und deswegen hoch umstritten. Vieles verdankt er den philosophischen Textsammlungen des Aristoteles. Sie stellten muslimische Philosophen (etwa Ibn Ruschd bzw. Averroes) in Europa, vor allem in Andalusien, zur Verfügung. Eine kulturelle Leistung muslimischer Wissenschaftler, für die Europa höchst dankbar sein sollte. Fast das gesamte Werk des Aristoteles wurde zuerst in arabischer Sprache nach Europa gebracht! Und durch diese Aristoteles-Rezeption wurde Thomas von Aquin zu einem damals modernen Philosophen und Theologen. Denn die weltliche Wirklichkeit  in ihrer ganzen Fülle und Vielfalt sollte vernünftig erforscht werden, das ist seine Grundhaltung;  die bis dahin übliche neuplatonische Einstellung, die in allem Weltlichen sofort die Symbolik des Göttlichen spürte, wurde überwunden. Das Argument galt, die Vernunft, der Glaube sollte nicht total die Erkenntnis bestimmen. Und dadurch machte sich Thomas von Aquin viele Gegner. Die übliche Angst ging um, die Klarheit der Vernunft und des Argumentes vernichte den (neuplatonisch gedeuteten) Glauben. Thomas von Aquin hat Licht ins Mittelalter gebracht!

Spätestens seit dem 18. Jahrhundert setzte sich seine Lehre als DIE katholische Theologie (und vom Papst einzig erlaubte Philosophie) durch. Seine Leistungen in der Aristoteles-Rezeption und sein Bemühen, ein “System” der katholischen Lehre zu schaffen, bleiben bedeutend wie umstritten. Aus dem offenen Denken des Thomas von Aquin wurde eine starre Lehre gemacht, die sich in Handbüchern als Neothomismus präsentierte. Der Schaden, den dieses totalitäre, engstirnige Denken anrichtete, ist innerhalb der Kirche enorm, Ketzerprozesse, Abwehr der Menschenrechte durch die Päpste usw. gehören dazu…Erst vor ca. 50 Jahren war es möglich, dass sich katholische Theologen und katholische Philosophen aus dem erstarrten Denken des “Neo-Thomismus” befreiten.

Aber die Vorstellungen einer machtvoll herrschenden Kletrus-Hierarchie, ein Gedanke des Thomas, sind bis heute gültig. Auch die Vorstellung, dass das “höchste Sein” Gott selbst ist oder die Lehre, dass sich Gott “beweisen” lässt, sind immer noch lebendige Ideen des Thomas von Aquin, des Heiligen. Aber wenn heute in der katholischen Ethik die Überzeugung gilt, dass Moral aus der autonomen Vernunft begründet werden muss und nicht als unmittelbares Nachsprechen biblischer Weisungen möglich ist, dann ist das eine ferne Wirkung des Thomas von Aquin: Für ihn war – grundsätzlich – die Vernunft des Menschen nichts Verdorbenes und Böses, sondern eine der wichtigsten und schönsten Gaben des Schöpfers der Welt.

Interessant ist die Einführung in das Denken des Thomas von Aquin, die der einstige Dominikaner und spätere hervorragende katholische Lutherforscher Otto Hermann Pesch verfasst hat. Sein Buch “Thomas von Aquin. Grenze und Größe mittelalterlicher Theologie” ist im Matthias-Grünewald-Verlag in Mainz 1988 erschienen, es hat 452 Seiten.

 

Camilo Torres: 50 Jahre tot und lebendig

Camilo Torres: 50 Jahre tot und lebendig

Ein Hinweis von Christian Modehn.  Siehe auch ein Interview mit dem Soziologen Juan Camilo Biermann LINK

Der Beitrag wurde am 1. März 2016 ergänzt mit einem Hinweis zu dem bislang nicht beachteten Thema: “Camilo Torres in Berlin“, mitgeteilt von dem columbianischen Historiker Juan Biermann Lopez. Den interessanten Beitrag finden Sie weiter unten.

Und eine weitere wichtige Ergänzung am 11.8.2024: Der katholische Bibelwissenschaftler Prof. Fridolin Stier (Uni Tübigen) versucht das Auferstehungs”ereignis” Jesu von Nazareth deutlich zu machen, indem er an die Bedeutung und Erfahrung des “Fortlebens” des Befreiungstheologen und Revolutionärs Camilo Torres (3.2.1929 – 15.2.1966), Kolumbien) erinnert. Und zwar in dem Buch “Vielleicht ist irgendwo Tag” (Herder 1993), Seite 49. In dem kurzen Essay schreibt Stier u.a. “Es bildet sich nach dem Tod Camilo Torres eine Gemeinde, die durch sein Wesen, seine Tat und sein Wort bewegt ist, die Leute wissen sich eins mit ihm… Der Toteist gar nichtganz tot…” Fridolin Stier schrieb diese Zeilen, um die Auferstehung deutlich zu machen, er kannte Camilo Torres Leben, vier Jahre nach dem Tod (dem Erschossenwerden) von Camilo Torres an Ostermontag 1970 notiert!!

………….

Am 15. Februar 1966, vor 50 Jahren, wurde ein Priester als Guerillero im kolumbianischen Urwald erschossen, in „Patio Cemento“ im Nordosten des Landes. Er hatte sich als Theologe und Soziologe, der Befreiungsbewegung ELN erst ein paar Tage zuvor angeschlossen. Camilo Torres ist sein Name, er ist einer der ersten lateinamerikanischen Theologen des 20. Jahrhunderts, der das bestehende Elend der Massen als – von den Herrschenden- gewolltes und gemachtes Elend begriffen hatte und anklagte. Viele Menschen in Europa aber haben von ihm nur „irgendwie“ „etwas Schlimmes“ gehört, zumeist durch die abwertenden Urteile, wenn nicht Verteufelungen seiner Person durch katholischen Erzbischöfe, Kardinäle und Rom-ergebene Theologen im Rahmen des „Anti-Kommunismus“… als Ergebenheit gegenüber dem Imperiuim, den USA. Diese Kirchenführer sahen in Camilo Torres vor allem einen Gewalttäter, einen Revoluzzer, einen üblen Burschen, der zu den Waffen griff usw. usw. Dabei wurde und wird verschwiegen, dass Camilo Torres als einer der ersten Theologen in Lateinamerika, und noch dazu in dem ultra-konservativen Katholizismus in Kolumbien damals, die Verpflichtung der Christen deutlich formulierte: Es gilt nicht zuerst, fromme Seelen zu bilden und treue und gehorsame Kirchenschäfchen zu formen, sondern mündige Bürger, die im Geist des armen Jesus von Nazareth die Sache der Armen praktisch vertreten, und deswegen fordern: Nicht mehr caritative Hilfe, sondern bessere und gerechterer politische und soziale Strukturen in einem Staat, der den Namen Demokratie verdient. In Kolumbien damals wechselten sich Konservative und Liberale in der Regierung ab, eine dritte Möglichkeit war ausgeschlossen. Wenn es gerecht zuginge, müßte Camilo Torres, der hochbegabte Theologe und Soziologe, ein Prophet genannt werden. Gerecht geht es aber nicht zu…

Inzwischen wissen jedoch viele Menschen in Kolumbien und Lateinamerika sehr viel besser, wer Camilo Torres war: Er war Theologe und Soziologe; er war einer der ersten, der Erlösung, dieses spiritualistisch verwendete Wort, als reale Befreiung, als soziale Befreiung, als Gültigkeit der universalen Menschenrechte, verstand und selbst lebte. Er wollte zum Schluss erst dann die Messe wieder feiern, wenn die Gerechtigkeit wenigstens elementar gilt und real ist in Staat und Gesellschaft. Vorher muss eben aufgeklärt, diskutiert und informiert werden… Wohl aus Verzweiflung griff dann Camilo Torres zu den Waffen und wurde, kaum kämpfend, erschossen. Eine Tragik, die bisher keine Erklärung gefunden hat.

Camilo Torres wurde am 3. Februar 1929 in Bogotá geboren, die biografischen Daten lassen sich leicht finden. Erste Übersichten bietet wikipedia. Wichtig ist die Erkenntnis, dass die “Radikalisierung” des Studentenpfarrers Camilo Torres (zum Priester geweiht 1954) vor allem durch die “Blockadehaltung der kolumbianischen Bischöfe” verursacht wurde, davon spricht Hubert Frank in seiner Kolumbien-Studie in “Kirche und Katholizismus seit 1945, Band 6, Seite 312, 2009 Paderborn). Das heißt: Es waren die Kirchenfürsten selbst, in ihrem blockierten Denken, die einen klugen Theologen wie Camilo Torres zur politischen Radikalität führten! 1965 verzichtete er auf den offiziellen priesterlichen Dienst, hatte aber immer das Bewußtsein, weiterhin “priesterlich” (d.h. für die anderen lebend) zu wirken. In Kolumbien galt für engagierte Leute nur die abstrakte Gegenüberstellung, entweder die Mitwirkung in der Kirche (und dem Staat) in der gegebenen korrupten Form oder eben in der Guerilla. Von dem damaligen Kardinal von Bogotá, Luis Concha, wird berichtet, dass er die völlig abwegige und falsche Lehre vertrat, das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) verpflichte nur zu liturgischen, nicht aber sozialen Reformen im Land. (siehe Hubert Frank, ebd.). Solche Bischöfe haben den Status quo der himmelschreienden Ungerechtigkeit nur verlängert. Sie waren Ideologen, und was Kardinal Conchas Meinung zum Konzil betrifft, eben Irrlehrer, Irrlehrer im Bischofsamt.

Interessant ist, dass sich Camilo Torres schon als Kind in BERLIN aufhielt, sein Vater war Kolumbianischer Konsul; ein zweites Mal war er im Jahr 1959 für einige Wochen in BERLIN. Von diesem Berlin-Aufenthalt hier ist meines Wissens fast nichts Näheres bekannt. Jedenfalls kehrte er danach wieder nach Bogotá zurück. Es wäre eigentlich für eine Religions – und Theologie-Geschichte Berlins doch hoch bedeutend, darüber mehr zu wissen. Berlin, ein bißchen auch die Camilo Torres Stadt, warum denn nicht? Wäre ein Thema für eine sich katholisch, also „allumfassend“ nennende Akademie hier… Oder für den neuen Titel einer Kirche, vielleicht anstelle des kriegerischen Kaisers Wilhelm? Und seiner „Gedächtniskirche“ (An welche vorbildliche Haltung soll man bei diesem Kaiser eigentlich spirituell denken?, … aber das ist ein anderes Thema). “Camilo Torres Gedächtniskirche”: Warum sollte es solche Kirchen nicht geben? Vielleicht in Berlin, wo es mindestens schon 10 mal Luther- oder 5 mal Herz-Jesu-Kirchen usw. gibt…

Inzwischen, dank Papst Franziskus wieder mal und möglicherweise, wer weiß es, wird selbst in der römschen Kirche Kolumbiens etwas objektiver über die große humane Gestalt, den großen Theologen Camilo Torres anders, nämlich objektiver, gedacht. Der Erzbischof von Cali, Dario de Jesus Monsalve, meint gar, Camilo Torres sei heute ein „Symbol der Versöhnung für diese Zeiten des Friedens in Kolumbien“. Die Prälaten erinnern sich an das zentrale Projekt ihres neu entdeckten Helden, an die von Camilo mehrfach besprochene „amor eficaz“, die wirksame Liebe, also jene Nächstenliebe, die gerechtere Strukturen tatsächlich schafft und nicht nur bespricht.

Heute gibt es – außerhalb Deutschlands – bereits zahlreiche Orte, Häuser und Studienzentren, die nach Camilo Torres  benannt sind, in Kolumbien sogar schon und in Santander, Spanien, in Louvain, Belgien, wo Torres studierte,  ist ein Studentenheim der katholischen Uni nach ihm benannt. Inzwischen gibt es ein Studienzentrum Camilo Torres (Mitarbeiter dort ist der Historiker und Camilo Torres Spezialist Juan Biermann), das Theater La Candelaria in Medellin, Kolumbien, führt ein Torres Stück auf.

Man merke also: Die üble Anti-Torres-Propagada, vertreten durch das allmächtige Opus Dei in Kolumbien und ihren CIA-Freund, den kolumbianischen Kardinal Lopez Trujillo, (Medellin, später im Vatikan,) all diese Verleumdungen haben nicht den Sieg errungen: Camilo Torres lebt heute, sein theologisches Denken inspiriert, abgesehen von seinem späten Gang zu den Waffen. Das war eine Verzweiflungstat, der kein Verzweifelter nachfolgen darf.

Aber Camilo Torres hat schon unmittelbar nach seinem Tod inspiriert, als sich in der Kirche kritische Gruppen bildeten: So trafen sich 1968 auf dem Landgut Golconda (Kolumbien) viele Priester (mit dem Bischof von Buenaventura) zur Gründung einer eigenen Priestergruppe, die später als „Golconda-Gruppe“ internationale bekannt wurde. Sie hatte auch bis nach Argentinien gewirkt und wurde von dem damaligen Erzbischof von Buenos Aires, Bergoglio, und dem insgesamt konservativen Episkopat dort, attackiert…

CAMILO TORRES UND BERLIN: Als Camilo Torres in Berlin war….

Hinweise von Juan Biermann, Bogota.

Der Historiker und Spezialist für Camilo Torres, Juan Biermann Lopez, Bogotá, schreibt dem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en am 1. 3. 2016 über den bislang völlig unbekannten Aufenthalt von Camilo Torres in Berlin.

„Camilo Torres hat sich in Ost-Berlin aufgehalten, für mich vom Datum her noch nicht genau zu sagen, irgendwann in den Jahren 1957 bis 1959; er besuchte Luis Villard Borda, der damals der letzte kolumbianische Botschafter war in der DDR.

Die Begegnung mit Luis Villard Borda war darin begründet, dass beide alte Freunde waren, sie studierten am Liceo Cervantes in Bogotá. Camilo Torres besuchte Berlin, um eine Gruppe junger Kolumbianer zu bilden, die gemeinsam die sozialen Probleme des Landes studieren wollten. Es bildete sich dann auch die Gruppe „Equipo Colombiano de Investigación Socio-Económica“ (ECISE), die wohl ein Jahr existierte, aber keine große Bedeutung erreichte.

Andererseits ist es wichtig, daran zu erinnern, dass Camilos Mutter, Isabel Restrepo Gaviria, zuerst mit einem Deutschen verheiratet war, mit Herrn Westendorp, mit ihm hatte sie zwei Kinder, Edgar und Gerda. Dann heiratete die Mutter Calixto Torres, und mit ihm hatte sie die beiden Söhne Fernando und Camilo. Mit Gerda und Edgar lernte Camilo Deutsch auf dem Colegio Aleman, bevor er zum Liceo Cervantes überwechselte“.

……………………..

Ein weiteres Thema, das wir intensiver bearbeiten sollten, heißt: „Camilo Torres und Thomas Müntzer“ bzw. „Die lateinamerikanische Befreiungstheologie und Thomas Müntzer“. Christian Modehn hat in seinem 30 Min. Feature fürs Erste, ARD, 1989, über den Reformator Thomas Müntzer auch Camilo Torres vorgestellt mit einem O – Ton in deutscher Sprache.

Copyright: Christian Modehn

Zur Vertiefung:
http://www.unperiodico.unal.edu.co/dper/article/camilo-torres-restrepo-mucho-mas-que-un-cura-guerrillero.html

http://razonpublica.com/index.php/cultura/8665-en-los-zapatos-de-camilo-torres

1986 veröffentlichte die Züricher Zeitschrift des Jesuiten-Ordens ORIENTIERUNG einen sehr informativen Beitrag über Camilo Torres, leider wurde diese kritische Zeitschrift des Jesuitenordens eingestellt! “Stimmen der Zeit” der Jesuiten in Deutschland blieb erhalten…. Aber den Beitrag von Mario Calderon kann man noch und sollte man  nachlesen, klicken Sie bitte hier.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon. .

 

 

Kardinal Gerhard L. Müller in Rom: Er hat die Wahrheit. Er verteidigt sie kompromisslos. Zu einem Interview in “Die Zeit”.

Er hat die Wahrheit. Er verteidigt sie kompromisslos: Kardinal Gerhard Ludwig Müller, Vatikan.

Zu einem Interview in „Die Zeit“ mit Evelyn Finger vom 30. Dezember 2015, Seite 54.

Hinweise von Christian Modehn

Aktualisiert am 8.10.2016: Grundsätzliches zur Erinnerung: Lebendige Philosophie muss –wegen des Zustandes der Religionen heute – auch Religionskritik sein.

Ein Beispiel: Das Thema “Die politische Theologie” des obersten Glaubenschefs in Rom,Kardinal Müller, begegnet uns immer wieder. Diese Aspekte im Denken und Handeln Müllers werfen noch einmal ein Licht auf die von ihm so oft genannte Freundschaft mit dem peruanischen Befreiungstheologen Gustavo Gutierrez OP. Diese Freundschaft wird tausendmal beschworen. Sie bedeutet jedenfalls nicht, dass Müller irgendetwas von der Befreiungstheologie gelernt hat, wie die folgenden Informationen zeigen. Am 6. Oktober 2016 hat Kardinal Müller ausgerechnet bei einem Orden zur Eröffnung des Akademischen Jahres 2016/17 gesprochen, der als erklärter Feind der Befreiungstheologie in Lateinamerika gilt: Bei den Legionären Christi, in deren Universität Regina Angelorum in Rom. Über diese Ordensgemeinschaft haben wir auf dieser website Vieles berichtet, auch über den verbrecherischen Ordensgründer, Pater Marcial Maciel, einen Vertrauten des heiligen Papstes  Johannes Paul II.

Aktualisiert am 1.10.2016: “Die Botschaft der Hoffnung” wurde sinnvollerweise bei der Fürstin vorgestellt: Das neueste Buch (bei Herder erschienen) des obersten römischen Glaubenswächters Kardinal Gerhard Ludwig Müller erläuterten illustre Gäste wie Peter Gauweiler, Martin Mosebach und Henryk Broder in Müllers heimatlichem Gefilde, also in Regensburg. Georg Ratzinger, der berühmte “Bruder” und einst oberster Domspatz, war auch noch dabei. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis, die Schloßherrin und Gastgeberin und Freundin des Herrn Kardinal, machte zur Begrüßung den gebotenen Hofknicks aus barocken Zeiten und küsste den anulus epicopi, also den Bischofsring, bevor sich der Hochadel und die Hochkirche und ihre feuilletonistischen Mitläufer den feinen Speisen hingaben. Ob sie dabei an die Armen in Peru dachten, gar an die letzten, von der römischen Glaubensbehörde nicht verfolgten Befreiungstheologen, ist nicht bekannt und in diesem erlesenen Rahmen eher unwahrscheinlich. Bekanntlich hat ja Kardinal Müller eine ganz intime Zuneigung zu den Armen in Peru, die er früher öfter besucht hat und dort Vorlesungen der klassischen europäischen Art den jungen Theologen dargeboten hat. Schon möglich, dass man etwas bei der Fürstin für die Armen in Peru gespendet hat, Spenden gehören sich ja so ein bißchen…(Weitere Informationen in “Christ und Welt” vom 22.9.2016, Seite 2,Beitrag von Patrick Schwarz)

Ergänzt am 2.3.2016: Inzwischen hat Pater Klaus Mertes SJ in einem Interview mit dem “Kölner Stadtanzeiger” (am 1.3.2016) den Rücktritt von Kardinal Gerhard Müller gefordert, wegen dessen offenkundiger  Verschleierungspraxis im Umgang mit  sogenannen pädophilen Tätern zu einer Zeit, als Müller Bischof in Regensburg war (Die Opfer: Etliche “Domspatzen”). Es bleibt abzuwarten, wie der oberste Chef der Glaubensbehörde mit dem berechtigten Hinweis von Pater Mertes umgehen wird.  Die entscheidende Passage aus dem Interview können Sie am Ende dieses Beitrags lesen. 

Das Interview mit Kardinal Gerhard Ludwig Müller in „Die Zeit“ offenbart die Denkweisen und damit auch die Art, mit Gläubigen umzugehen, die in der Glaubensbehörde im Vatikan heute gültig sind. Leider ist zu befürchten, dass sie nach dem Tod von Papst Franziskus verstärkt fortgeführt werden.

Es lohnt sich, aus dem Text in der „ZEIT“ einige Behauptungen Müllers der Deutlichkeit wegen herauszustellen. Sie offenbaren den geistigen, den theologischen Zustand des römischen Katholizismus im Vatikan. Sie zeigen, wie dort eine von mehreren theologischen Überzeugungen zu „der“ Lehre „des“ Katholizismus hochgespielt werden, ungeachtet jeglicher theologischer Sensibilität für andere, bessere und wissenschaftlichere Formen des Denkens. Müllers Theologie soll als katholische Welt-Theologie gelten.

Zum Titel des Beitrags: Ein Zitat von Kardinal Müller: „Die Kirche ist kein Philosophenclub“.

Ich meine: Wäre die römische Kirche wenigstens annährend auch so etwas wie ein Philosophenclub, würden die Fragen und die Fraglichkeit, das Suchen und das Zweifeln, also die elementare Lebendigkeit des Geistes und der Vernunft, nicht unterdrückt werden wie in einem vatikanischen Club, der sich der absoluten Wahrheit total gewiss ist und diese Gewissheit einem einzelnen Herrn, dem Kardial Müller, zu schützen anvertraut hat. Ohne Fragen gibt es kein geistiges Leben! Das wussten schon die antiken Philosophen. Es gab frühchristliche Theologen, die die Kirche zurecht als “philosophische Schule“ verstanden. Man denke an Clemens von Alexandrien. Und man lese nur die Bücher des großen Philosophen und Philosophiehistorikers Pierre Hadot.

Kardinal Müller muss sich von Amts wegen, so wörtlich in „Die Zeit“, um die „Delikte gegen den Glauben oder die Heiligkeit der Sakramente kümmern“.

Ich frage: Was heißt das nette, das caritative Wort „kümmern“? Bis heute werden katholische Theologen von Müllers Behörde, besonders gern auch Theologinnen, angeklagt wegen Irrlehren… Dann aber ohne offenen, menschenwürdigen Prozess, sie werden abgesetzt und ins Abseits gedrängt. Das bedeutet also „kümmern“. Müller spricht von „Delikten“ gegen den Glauben und gegen die Sakramente. Ich meine: Delikte begehen Verbrecher. Sind denn jene Theologen Verbrecher, die gegen die totalitäre Sprachgewalt der Dogmatik rebellieren? Sind sie Verbrecher, weil sie wissen, dass diese römische Dogmatik in ihren Formulierungen schon fast steinzeitmäßig veraltet ist?

Wie kommt eigentlich jemand dazu, sich als absoluter Herr „der“ Wahrheit aufzuführen?

Irritierend ist ferner, dass Müller davon spricht, für beide Päpste, also Benedikt XVI. und Franziskus, „die Arbeit zu koordinieren“, das Wort koordinieren wird im Präsenz, als Gegenwart, verwendet. Das heißt: Müller koordiniert auch noch die Arbeit des pensionierten Papstes Benedikt XVI., den – geografisch gesehen – Nachbarn von Franziskus im Vatikan. Welche dogmatischen Fragen werden zwischen den Freunden Müller und Ratzinger besprochen?

Die 20.000 Euro, die vatikanische Ermittler, keineswegs also Polizisten Italiens, in Müllers Büro in einer Wiener – Würstchen-Büchse kürzlich entdeckten, werden von Müller als „Fantasterei der Yellowpress“ abgetan. Interessant, wie der oberste vatikanische Wahrheitshüter (der gegen „Delikte“ vorgeht) mit Wahrheit umgeht, wenn sie ihn bzw. sein Büro selbst betrifft. „Die Fahnder hätten daraufhin im Schreibtisch von Müllers Verwaltungsleiter Monsignore Mauro Ugolini 20 000 Euro Bargeld gefunden, versteckt hinter einer alten Dose Wiener Würstchen. Das Geld sei beschlagnahmt, der Verwaltungsleiter vorübergehend suspendiert worden“. So die SZ am 9.Dezember 2015. „Vatikansprecher Federico Lombardi wies allerdings eine Verwicklung Müllers zurück. Lombardi erklärte am Mittwoch, es seien vor einiger Zeit “einige Unregelmäßigkeiten” in der Verwaltung der Glaubenskongregation festgestellt worden“, so die „Rheinische Post“ am 9.Dezember 2015. Als Chef der Büros ist dann aber Müller doch mit-betroffen, verantwortlich für solche Delikte. Aber offenbar zählen im Vatikan dogmatische Delikte mehr als finanzielle. Sind SZ und “Rheinische Post” „Yellowpresses“? Dann ist der „Osservatore Romano“ Super-Yellow.

Kardinal Müller identifizert sich als Chef der Glaubenskongregation, einst die Heilige Inquisition“, offenbar völlig mit dieser Behörde: „Als wir im Jahre 1542 entstanden…“ Mit „Wir“ meint Müller die Heilige Inquisition, heute Glaubenskongregation genannt. Er reiht sich gern ein in diese grausige Tradition.

Schwerwiegender und für alle ökumenischen Initiativen bedrückend ist die Aussage des Glaubenshüters Müllers in “Die Zeit“: „Volle Einheit der Kirche ist nach katholischem Verständnis nur mit dem Bischof von Rom als Nachfolger Petri möglich“. Also: Die protestantischen Kirchen müssen den Papst anerkennen. Welchen Sinn hat dann noch die Ökumene als Weg zur Anerkennung der verschiedenen Kirchen in ihrer Verschiedenheit? Welchen Sinn hat dann noch die Einladung des Papstes nach Wittenberg anlässlich der Reformationsfeiern 2017? Wann werden das die Manager des Protestantismus in Deutschland begreifen? Offenbar denkt Müller genauso wie Ratzinger, der sich auch als Kardinal schon die Einheit der getrennten Kirchen nur vorstellen konnte, wenn alle Kirchen den Papst anerkennen.

„Der” Glaube wird von Müller verteidigt: Die Lektüre der Bibel durch die Vatikan-Behörden gilt als die einzige mögliche. Für den Theologieprofessor, der Müller einmal war an staatlichen Fakultäten (die, von Steuergeldern bezahlt, eigentlich der kritischen Forschung dienen sollten), gilt: Es gibt nur „das objektive“ vorgegebene Wort Gottes, wie eine Art feste Gesteinsmasse, die ewig unveränderlich im Vatikan ruht und nur angeschaut werden muss, um ewige Antworten zu bekommen. Diese objektivistische Sicht „des“ „Wortes Gottes“ ist ein Hohn auf alle theologische Forschung der letzten Jahrzehnte.

Dem entspricht, wenn Müller sagt, dass „Jesus der einzige Retter der Welt ist“. Wie wenig ist eigentlich der Theologe Müller von den Erkenntnissen moderner Theologen weltweit berührt, die Gott nicht so klein-römisch machen wollen, dass er nur in Jesus Christus die Welt retten will? Kann man Glaubenschef einer Weltkirche sein, ohne die Vielfalt der Theologien heute auch annähernd zu kennen? Das sind die Tatsachen, gegen selbst die progressiven Katholiken nichts, aber auch gar nichts bewirken können. Sie stehen dem System absolut rechtlos gegenüber. Wie Luther, damals.

Die hymnenähnlich Preisung der Hetero-Ehe durch Kardinal Müller ist etwas zum Schmunzeln: „Die Begegnung von Mann und Frau als höchste Verwirklichungsform des Schöpferwillens“ usw., Sprüche, die man schon tausendmal gehört in Rom und bischöflichen Residenzen hat. Die Frage ist nur: Warum verzichtet Gerhard Ludwig Müller persönlich auf diese höchste Verwirklichungsform, wo doch dann, nach den Gesetzen der Logik, der Zölibat etwas Zweitklassiges gegenüber dieser höchsten Verwirklichungsform ist? Warum wählt Herr Müller das Zweitklassige, den Zölibat, den doch eigentlich Paulus für etwas Besonderes hielt? Warum lässt er, warum lässt nicht auch der Papst, verheiratete Männer als Priester zu, die, so heißt es, die höchste Verwirklichungsform des Schöpferwillens in der Hetero-Ehe leben? Es ist der Wille, die klerikale Macht der “Zölibatären” unter allen Umständen zu verteidigen und bewahren. Diese Überzeugung wurde seit dem Mittelalter grundgelegt. Sie ist die Basis des römischen Systems.

Zur Freundschaft Kardinal Müllers mit dem prominenten Befreiungstheologen, Gustavo Gutierrez aus Peru: Über diese Freundschaft ist eigentlich bisher wenig in der theologischen Literatur geschrieben worden.

Müller präsentiert sich gern, offenbar von Gutiérrez inspiriert, als Förderer der (armen) Gemeinden in Peru. Und Müller verdient Respekt, wenn er, wie er berichtet, als Theologieprofessor damals über 15 mal in Peru „pastoral“ tätig war. Es ist erstaunlich, dass Müller in seinem Buch „Armut. Die Herausforderung für den Glauben“ (München 2014) betont, wie prägend die Begegnungen mit dem Befreiungstheologen Gustavo Gutiérrez seit 1988 für ihn gewesen sein sollen. Da spielte sich für ihn, den europäischen Theologen, wörtlich „eine Umkehrung des Denkens“ ab. Gemeint ist dabei ausdrücklich, dass in der Befreiungstheologie drei „Schritte“ entscheidend sind: Nämlich zuerst das Sehen, unvoreingenommen als Wahrnehmung der Wirklichkeit. Diese umfassende Wahrnehmung wirkt sich dann (zweitens) auch aufs theologische Urteilen aus, will man denn wirklich und wahrhaftig zeitbezogen, „sehend“ und „wahrnehmend“ theologisch argumentieren. Und aus dieser zeitbezogenen, die heutige soziale, kulturelle und politische Realität wahrnehmenden Haltung folgt dann (drittens) das Handeln, das Handeln der Kirchen, der Gemeinden, bezogen auf die wahrgenommene Realität. (Siehe dazu in dem genannten Buch die Seite 35 f.)

Es muss bezweifelt werden, dass Müller als Chef der Glaubensbehörde diesen ersten, alles entscheidenden Schritt des Sehens, der Wahrnehmung der Menschen, auch heute leistet. Dass er also die vielfältigen Situationen der Menschen (etwa im Blick auf die Vielfalt der zu respektierenden Formen der Liebe und Ehe) überhaupt als solche wahr-nehmen kann und will. Das muss auch nach der Lektüre des Zeit-Interviews bezweifelt werden. Mit anderen Worten: Was Müller angeblich in Peru seit 1988 gelernt haben will, hat keine sichtbaren Auswirkungen auf seine Stellungnahmen als römischer Glaubens-Chef. Da wird viel frommer Nebel verbreitet, die Gläubigen sollen staunen über ihren Kardinal Müller…

In seinem politischen Denken wurde Müller, wohl durch die Erfahrungen unter den Armen in Peru, zu einer deutlichen Kritik am Kapitalismus geführt, davon spricht er in einem Interview mit dem Magazin „alle Welt“ von Missio Österreich (siehe: https://www.missio.at/fileadmin/media_data/xx/sonstiges/Presse/Kardinal_Mueller/interview_kardinal_mueller_alle_welt.pdf).   Darin sagt Müller im Blick auf den Kampf der Armen, also der von den USA und Europa arm gemachten Klassen in Lateinamerika: „Der Klassenkampf entspringt aus dieser Konfliktsituation, aus der Kluft zwischen Arm und Reich. Dass große Teile der Gesellschaft so elend sind, hängt auch damit zusammen, dass die Besitzenden und politisch Mächtigen ihre Macht und ihren Besitz zur Selbstbereicherung ausnützen. So entstehen Hass- und Neidkomplexe oder die Abwehrhaltung der Reichen gegenüber den Armen. Sowohl die Struktur wie die Mentalität müssen hier verändert werden, damit ein Solidaritätsbewusstsein entstehen kann“.

Auffällig ist, dass im Zeit-Interview davon keine Rede ist. Müller gibt sich völlig unpolitisch. Interessanter noch ist, dass eine Glaubensbehörde, die sich als Hüterin „der“ Wahrheit sieht, eine Tatsache nicht wahrnimmt: Sie selbst steht aufseiten der herrschenden westlichen kapitalistischen Gesellschaft. Diese offizielle römische Theologie lässt z.B. die Pluralität indischen, japanischen, afrikanischen katholischen Theologie und Liturgien nicht gelten, sie zeigt sich darin als Teil der herrschenden „wahren“ westlichen Kultur. Indem Müllers Behörde sich als Hort „der“ Wahrheit definiert, also der europäischen Wahrheit, und sich, so wörtlich, um Delikte gegen den Glauben kümmert, verbleibt sie selbst, diese Behörde, befangen im europäischen Machtdenken. Man hat den Eindruck, dass die von Kardinal Müller viel beschworene Freundschaft mit dem Gründer der Befreiungstheologie, Gustavo Gutierrez, etwas „Abgespaltenes“ bleibt. Es fehlt bei Müller auch der Mut, Kardinal Juan Luis Cipriani, offen zugegeben Opus-Dei-Mitglied, und reaktionärer Erzbischof von Lima, auch nur zu erwähnen, das ist bezeichnend: Cipriani ist und war es, der dem Müller-Freund Gutiérrez das Leben sehr schwer gemacht hat. Manche sagen, seinetwegen habe sich Gutierrez in hohem Alter in den Dominikanorden als Mitglied „geflüchtet“.

Gustavo Gutiérrez hat sich merkwürdigerweise bis jetzt gar nicht, für mich bis jetzt nicht auffindbar, zur Freundschaft mit Müller geäußert. Wer entsprechende Freundschaftsbekenntnisse von Gutierrez findet, möge sich bitte melden.

Nachtrag am 21. 1. 2016: Nun wurde mir berichtet, dass sich Gutiérrez kurz und knapp zu Müller, so wörtlich, “als einem guten, als einem sehr guten Freund” geäußert hat, klicken Sie hier. Wer die wenigen Zeilen liest, stellt fest: Die Äußerungen von Gutiérrez zu dieser Freundschaft sind sehr allgemein, eigentlich nichts-sagend. Gutierrez erläutert nicht, in welcher Weise sich denn nun Müller für ihn und darüberhinaus für die in Peru hoch bedrohte Befreiungsthologie einsetzt oder eingesetzt hat. Man hat den Eindruck, dass Gutiérrez den Schutz durch “Freund” Kardinal Müller immer noch braucht, wahrscheinlich hat er eine furchtbare Angst vor dem maßlos konservativen Kardinal von Lima, Cipriani, erklärtermaßen Opus Dei-Mitglied. Ich halte diese Freundschaftsbekundung von Gutiérrez für eine Taktik; falls das nicht der Fall ist, sondern echte tiefe Sympathie von “Herz zu Herz”, von einem armen peruanischen Mönch und einem bestens ausgestatteten Kurien-Kardinal, dann weiß Gutiérrez nicht oder will nicht wissen, was sein Freund Herr Müller alles so “Hübsches” in Regensburg als Bischof mit der “Basis” gemacht hat.  Ich finde, Gutierrez spricht in dem “Freundschafts-Interview” höchst moderat, wenn nicht ängstlich, er entschließt sich sogar zu einer für einen kritischen Theologen seltsamen Aussage: “pero la teología no es sinónimo de la doctrina cristiana, simplemente es una manera de tratar sobre ella”. Er meint also, dass die “christliche Lehre”, wie sie im Vatikan vertreten wird, nicht ihrerseits selbst eine Variante von Theologie ist. Wenn also Rom und Müller “die” christliche Lehre vertreten und lehren in der Sicht von Gutiérrez, dann kann doch Müller nur happy sein über diesen peruanischen Befreiungs-Freund.

Nebenbei:Die Süd-Anden Region in Peru ist kirchlich fest in reaktionärer Hand (“Sodalitium”, Opus Dei, Neokatechumenale), der Dialog mit den indigenen Religionen ist durch diese Gruppen sehr bedroht. Dagegen konnte (und wollte) der Freund des Peruaners Gutiérrez, also Kardinal Müller, offenbar nichts tun. Nicht thematisiert wird auch von Gutiérrez, welche Theologie denn Freund Müller im Priesterseminar von Cuzco bei seinen “Gastauftritten” dort gelehrt hat? Die Befreiungstheologie oder die in den hübschen Studierstuben von München und Regensburg niedergeschriebene und publizierte mehrbändige Dogmatik? Alles spricht dafür, dass dort die alte europäische Schulbuchweisheit verbreitet wurde!

Soweit ein Exkurs in die aktuelle Religionskritik, bedingt durch den Zustand der Religionen. Dieser Zustand wird sich wahrscheinlich alsbald nicht bessern. Darum wird Religionskritik dringend nötig bleiben. Und sie wird viel zu selten betrieben.

Noch zwei Ergänzungen:

1. Über die Wohnung Kardinal Müllers in Rom berichtete der Journalist Gianluigi Nuzzi:

“Müller beteuert, er lebe in Rom bescheiden, so wie seine Eltern, die aus Mainz-Finten stammen – bis auf die Bibliothek, die ein Uni-Professor eben habe. Wer allerdings die jüngste Veröffentlichung des Vatikan-Insiders Gianluigi Nuzzi liest, kann daran durchaus zweifeln. Demnach bewohnt Müller laut internen Dokumenten eine knapp 300 Quadratmeter große Wohnung im Zentrum Roms. Sie ist dem Leiter der Glaubenskongregation vorbehalten und gehört dem Vatikan. Für viele dieser Wohnungen ist keine oder geringe Miete fällig.  Quelle: http://www.wochenblatt.de/nachrichten/regensburg/regionales/Nach-Wuerstchendosen-Affaere-im-Vatikan-Lebt-Kardinal-Mueller-auf-300-Quadratmetern-;art1172,344162vom 30.12.2015

In dem von Müller und Gutiérrez gemeinsam herausgegebenen Buch “Armut – Die Herausforderung für den Glauben” (2014!, siehe hinweise weiter oben) heißt es in einem Text, den, soweit ersichtlich, Josef Sayer offenbar verfasst hat: Dass Müller in den Anden wochenlang arm lebte, so dass dies “zu einem äußerst einfachen, elementaren Lebensstil anleitet” (Seite 103). Eben auch in Rom…

2.Über die Umgangsformen Müllers mit kritischen Laien im Bistum Regenburg, das Müller von 2002-2012 leitete, siehe z.B. die Auseinandersetzung mit dem Laien-Vertreter Johannes Grabmeier: http://www.sueddeutsche.de/muenchen/katholische-kirche-gespaltenes-bistum-regensburg-1.930270      vom 19. Mai 2010

Aus dem KÖLNER STADTANZEIGER am 1. 3. 2016: Müller soll zurücktreten, fordert Pater Klaus Mertes SJ.

Strafe müsse weh tun, haben Sie mit Blick auf die Höhe der Opferentschädigung gefordert.

MERTES: Die Strafe muss den Tätern, aber auch ihren Beschützern und der dahinter stehenden Institution weh tun. Das ist bei den Entschädigungen bis heute nicht der Fall. Aber Geld ist nicht alles, und darum gilt  auch für die disziplinarischen Folgen: Sie dürfen nicht auf die Täter im engeren Sinn beschränkt bleiben.

Sondern?

MERTES: Bischöfe, die an Vertuschungen beteiligt waren, sollten ihr Amt verlieren oder zurücktreten. Aber stattdessen klettert ein Bischof Müller, der in Regensburg an höchster Stelle vertuscht und  vernebelt hat,  mir nichts dir nichts auf der römischen Karriereleiter nach oben.

Gerhard Ludwig Müller ist heute Präfekt der Glaubenskongregation und wird demnächst Kardinal.

MERTES: Da sitzt er als Nummer drei im Vatikan und fabuliert immer noch ständig von irgendwelchen „böswilligen Pressekampagnen“ gegen die katholische Kirche. Von Reue keine Spur, und erst recht nicht von der Bereitschaft, sich auf Strukturprobleme der Kirche im Zusammenhang mit Missbrauch einzulassen. Müller macht einfach weiter, als wäre nichts gewesen. Er tut so, als hätte es da halt ein paar böse Kleriker gegeben, aber sonst wäre in der Kirche alles in Ordnung und könnte so bleiben, wie es immer war.  Ich halte das für unerträglich. Unerträglich vor allem auch für die Opfer. Wie will dieser Mann ausgerechnet als Chef der Behörde, die ja nicht zuletzt für das Thema Missbrauch zuständig ist, eigentlich je wieder glaubwürdig sein

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Babylon-Mythos und Wirklichkeit. Zu dem neuen Buch von Frank Kürschner-Pelkmann

„BABYLON – Mythos und Wirklichkeit“

Herr Kürschner-Pelkmann, Sie haben gerade jetzt wieder ein Buch veröffentlicht, das der kritischen Information, der Aufklärung, dient. Diesmal wollen Sie die LeserInnen mit den wahren Verhältnissen in der so vielfach gescholtenen Groß-Stadt BABYLON konfrontieren und Vorurteile in Frage stellen. Darum hat Ihr Buch BABYLON den treffenden Untertitel: „Mythos und Wirklichkeit“. Beginnen wir beim Mythos: Was ist denn der wichtigste, der extrem falsche, möchte ich sagen, Mythos unter den vielen Mythen, bezogen auf Babylon?

Viele Menschen glauben immer noch, dass die biblischen Geschichten vom sündigen Babylon und seiner Zerstörung einen historischen Hintergrund haben. Das ist problematisch, denn ein solches Verständnis dieser biblischen Geschichten verbaut den Zugang zu dem, worum es in der biblischen Botschaft geht.

Die Geschichten über Babylon können als Glaubensgeschichten verstanden werden, die gläubige Menschen vor Jahrtausenden aufgeschrieben haben, um ihren israelitischen Mitmenschen das Wunderbare der Existenz des einen Gottes nahe zu bringen. Im babylonischen Exil mussten sie mit den traumatisierenden Erfahrungen der Verschleppung und des Exils fertig werden. Wen kann es da wundern, dass sie auf göttliche Rache und die Vernichtung der Feinde hofften und dies auch aufschrieben? Aber wir sollten heute unsere Hoffnungen nicht auf einen brutalen und rachsüchtigen Gott setzen, sondern können diese biblischen Texte historisch einordnen und in ihrer Zeitgebundenheit verstehen.

Der “Turmbau zu Babel” ist ein weit verbreiteter Mythos, möchte man meinen. Was ist Ihrer Meinung die Wahrheit über den Mythos Turmbau zu Babel?

Wir müssen uns dafür die Situation der aus Jerusalem verschleppten Israeliten bewusst machen. Als sich ihr Zug der Stadt Babylon näherte, erblickten sie gewaltige Stadtmauern und einen riesigen Turm, der alles überragte. Dann kamen sie in eine fremde Stadt, in der ein verwirrend buntes Leben herrschte und viele Sprachen zu hören waren. Das musste die Neuankömmlinge zutiefst verunsichern. Bald waren sie selbst Teil dieser multikulturellen Gesellschaft, und viele von ihnen fürchteten, ihre Identität als Volk und als religiöse Gemeinschaft zu verlieren. Die Geschichte vom unvollendeten Turmbau sollte der realen Macht der Babylonier die Glaubensüberzeugung entgegenstellen, dass diese Großmacht nicht von Dauer sein würde und ihre Machtsymbole nicht in den Himmel reichten.

Das Gegenüber bzw. Gegeneinander von Jerusalem und Babylon, also von der gottesfürchtigen und der heidnischen, gewalttätigen Stadt, hat ja auch in der christlichen Theologie und Predigt eine lange anhaltende Beliebtheit. Wie erklären Sie sich die gedankenlose Gegenüberstellung?

Es ist in Predigten immer effektvoll, Gut und Böse einander schroff gegenüberzustellen. Und die Rolle des Bösen übernimmt dabei allzu häufig das „sündige“ Babel mit dem „Bösewicht“ König Nebukadnezar. Nicht nur Archäologie und Altorientalistik haben längst nachgewiesen, dass dies ein Zerrbild der Stadt am Euphrat und seines bedeutenden Herrschers ist, sondern auch die theologische Wissenschaft hat dieses Bild korrigiert. Aber leider ist die Versuchung weiterhin groß, in Predigten bei Schwarz-Weiß-Gegenüberstellungen stehen zu bleiben.

Sie zeigen in Ihrem Buch ausführlich, dass Babylon zwar keine Musterstadt war, welche Stadt ist das schon, sondern eine lebendige multikulturelle, durchaus kreative Kultur-Stadt, was verdanken wir heute denn noch Babylon?

Auch andere Völker beobachteten Naturphänomene wie den Lauf der Gestirne. Aber die Babylonier haben dank ihrer Jahrhunderte langen systematischen Beobachtungen und deren Notierung auf Keilschrifttafeln erkannt, wie die Sterne sich auf berechenbaren Bahnen bewegen. Sie waren auf dieser Grundlage zum Beispiel in der Lage, eine Sonnenfinsternis lange vorher anzukündigen. Die heutige Astronomie und Astrologie haben ganz eindeutig babylonische Wurzeln.

Die griechische Wissenschaft hat sehr stark von den Erkenntnissen babylonischer Gelehrter profitiert. So beruht zum Beispiel der Satz des Pythagoras auf mathematischen Berechnungen, die schon Schulkinder in Babylon gebüffelt haben. Übrigens geht auch unsere Aufteilung der Stunde in 60 Minuten mit je 60 Sekunden auf babylonischen Festlegungen zurück. In der babylonischen Rechenkunst hatte die Zahl 60 eine zentrale Stellung.

Offenbar ist die Unkenntnis über das wahre, frühere Babylon immens. Sie berichten in Ihrem Buch, dass westliche Soldaten jetzt achtlos mit den Resten des alten Babylon umgehen. Was ist da passiert?

Als amerikanische Truppen im Irakkrieg das Land eroberten, richteten sie ausgerechnet in den Ruinen von Babylon eines ihrer Hauptquartiere ein. Rücksichtslos fuhren sie mit gepanzerten Fahrzeugen kreuz und quer zwischen den antiken Ruinen herum. Auch legten sie auf archäologisch noch gar nicht untersuchtem Gelände Schützengräben an. UNESCO-Experten waren entsetzt, als sie die Spuren dieses Zerstörungswerkes zu Gesicht bekamen. Das amerikanische Vorgehen war Ausdruck einer völligen Missachtung fremder Kulturen und Religionen.

Und die Keilschrifttafeln, können die noch gerettet werden?

Viele Keilschrifttafeln befinden sich heute in europäischen oder irakischen Museen. Aber es gibt einen florierenden illegalen Markt für solche Tontafeln, und Raubgräber nutzen die Bürgerkriegssituation, um ihre Funde an ausländische Sammler zu verkaufen. Auch der „Islamische Staat“ mischt hier mit. Dadurch gehen der Wissenschaft viele Informationen verloren, die es ermöglichen würden, das Leben in Babylon noch besser zu verstehen.

Wer die Reste des alten Babylon heute zerstört, etwa die IS, der will das Bild, wenn nicht das Vorbild, einer uralten (!) multikulturellen Stadt zerstören?

Babylon selbst ist noch nicht durch den Bürgerkrieg zerstört worden, wohl aber Ruinen in anderen irakischen und syrischen Ausgrabungsstätten. Für den IS spielt dabei eine wichtige Rolle, dass Kulturen wie die in Babylon dadurch geprägt waren, dass Menschen aus unterschiedlichsten Völkern und Religionsgemeinschaften friedlich zusammenlebten. Vielfalt war geradezu das „Erfolgsgeheimnis“ Babylons. Genau eine solche Vielfalt wollen Gruppierungen wie der IS bekämpfen und vernichten.

Sollten sich religiöse Menschen, auch Christen, heute zu Babylon bekennen und sagen: Die uralte Kulturstadt wollen wir ehren und respektieren?

Viele Christinnen und Christen haben inzwischen gelernt, anderen Weltreligionen mit Respekt zu begegnen. Das ist schon deshalb wichtig, weil wir mit Menschen dieser Glaubensgemeinschaften heute Tür an Tür leben. Aber es ist auch für die Menschen im Irak von Bedeutung, wenn wichtige historische Persönlichkeiten wie Nebukadnezar immer wieder diffamiert oder die babylonische Kultur und Religion herabgewürdigt werden. Babylonien und Assyrien sind von immens großer Bedeutung für ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein und eine gemeinsame Identität des zerrissenen und zerstörten Landes. Für uns alle gilt: Von Babylon lernen heißt, Vielfalt zu schätzen und als Reichtum zu begreifen.

Der “Religionsphilosophische Salon Berlin” empfiehlt sehr für private Lektüre und Studium, aber auch für die Gruppenarbeit das neue, spannend zu lesende, vielseitige und aktuelle Buch von Frank Kürschner-Pelkmann:

„Babylon. Mythos und Wirklichkeit“. Steinmann Verlag, Rosengarten bei Hamburg. 2015, 239 Seiten, 24,80 Euro.

ISBN: 978-3-927043-65-7