Theresa von Avila 500. Geburtstag: Mystik bricht aus dem religiösen System aus

Theresa von Avila und „Die mystische Fabel“

Ein Hinweis zum 500. Geburtstag der Mystikerin und eine Erinnerung an Michel de Certeau SJ

Von Christian Modehn

Theresa von Avila ist eine große Autorin, eine inspirierende Mystikerin, wohl auch heute.

Aber was heißt eigentlich „Mystik“? Welcher Sprache begegnen wir dann? Welche Lebenserfahrungen sind prägend? Wer darf sich Mysteriker, Mysterikerin, nennen oder darf so von anderen genannt werden?

Fragen, die anlässlich des 500. Geburtstages der Karmeliter-Nonne Theresa von Avila (28.3.1515 – 1582) wichtig sind, aber unseres Wissens im Umfeld dieses Gedenktages nicht (so oft) behandelt werden. Wie umfassend darf an kirchlichen (römischen) Gedenktagen gedacht werden?

Hilfreich sind immer die Studien des französischen Intellektuellen und Jesuiten Michel de Certeau (1925-1986). Wenn jemand die französische Ehrenbezeichnung „Intellektueller“ verdient, dann wohl er, der Historiker, Psychoanalytiker, Linguist, Theologe. Er hat unter anderem das (auch auf Deutsch vorliegende) Buch veröffentlicht “La Fable Mystique“, 1982 erschienen. 2013 wurde dann ein 2. Band publiziert: La Fable Mystique, II, Édition établie et présentée par Luce Giard, erschienen bei Gallimard, 392 p., 22,90 €. Luce Giard ist eine hervorragende Kennerin des Werkes de Certeaus.

Certeau spricht von „Fabel“, um das Sprechen und Briefe-Schreiben der Mystiker des 16. und 17. Jahrhunderts zu bezeichnen, und er meint damit: Es gibt bei den Mystikern eine bemerkenswerte Erfindungsgabe der Sprache. Sie sagen alles, „von dem man sagt, es nicht sagen zu können“ (so Johannes vom Kreuz, ein Mitstreiter und Freund Theresas, auch er ein Meister der Sprache, ein Poet). De Certeau zeigt, dass die Mystik (ein Wort, das vor dem 16. Jahrhundert unbekannt war, meint er) eine Art „paradoxe Wissenschaft“ sei, weil sie in neuer Sprache, befreit von der Last der klassischen Theologie und ihrer Systeme, wieder unverbraucht Wesentliches sagt. Die Welt der Mystiker dieser beiden Jahrhunderte ist erschüttert: Politischer Absolutismus, neue Welten („Amerika“), Wissenschaften, rationale Philosophie, Übersetzungen der Bibel etc…

Die Mystiker erleben diese neue Welt und wollen als Glaubende dieser erlebten neuen Welt Ausdruck geben. Es ergibt sich so eine „Befreiung der Stimme der Frauen“, ein Gespür für die Bedeutung der Subjektivität. Die alte Welt wird als untergehende erlebt, von der neuen Welt wird in neuer Sprache gesprochen, nicht in einer Geheimsprache, betont de Certeau. Es wird mystisch das NEIN gepflegt, das Nein zum alten System-Denken, es wird der alte religiöse Raum leer geräumt, zugunsten des NICHTS (vor allem bei Johannes vom Kreuz). Alte Sicherheiten zerbrechen, das Gehaltensein im Nichts als „dennoch“-Gehaltensein kann zum Glaubensausdruck werden.

Wer würde diese Gedanken nicht modern, also zeitgemäß finden? Bloß wo sind die Mystiker heute? Gibt es sie noch etwa unter den vielen tausend Nonnen der Unbeschuhten Karmelitinnen, also jenes Ordens, den Theresa unter Leiden und Not (drangsaliert von den reformunwilligen Nonnen) gegründet hat? Der Katholizismus hat „MystikerInnen“  in seinen Reihen, bloß die kommen nicht zu Wort, melden sich nicht, schweigen. Weil sie nichts zu sagen haben? Weil die Orden ihre beste Tradition aufgegeben haben und nicht mehr mystisch sind und bestenfalls historische Studien publizieren? Oder weil sie ihre vielleicht provozierende mystische Einsicht nicht sagen dürfen? Etwa: Dass wir vielleicht mehr an das Nichts, die Leere, als an den so lieben und allmächtigen und gerechten Gott denken sollten? Dass wir die Sprache des Schweigens üben und hören sollten als das viele religiöse Gerede, diese routinierte Fortsetzung von frommen Sprchen und Floskeln.

Vielleicht noch ein Hinweis zu dem empfehlenswerten Buch „Michel de Certeau“, herausgegeben von Marian Füssel, erschienen UVK Verlagsgesellschaft, 2007.

Aus dem Beitrag von Koenrad Geldof nur einige markante Sätze, immer bezogen auf das Werk de Certeaus selbst, als Einladung weiterzuforschen:

„Der Geburtsort der Mystik ist die Ruine“ (S. 138). „Die Mystik existiert gerade dank des Fehlens ihres Objektes Gott. Sie sehnt sich nach dem Abwesenden, aber ihre Sehnsucht kann und wird nie erfüllt werden: Diese Unmöglichkeit ist der Grund, aus dem die Mystiker sprechen und schreiben“ (S. 139).

„Der Mystiker ist dazu verdammt, ICH zu sagen, um im Namen seiner selbst sprechen zu können“ (S. 141).

Und Daniel Bogner schreibt in dem genannten Buch: “Wahrheit gibt es für die Mystiker nicht mehr als eine von der kirchlichen Institution treuhänderisch verwaltete und abrufbar bereitgestellte Wahrheit“ (S. 312). Wird man solche Sätze hören bei den nun einmal nicht ausbleibenden Jubelfeiern und Festgottesdiensten zu Ehren der Theresa von Avila. Papst Paul VI. hat 1970 diese unbequeme Frau und Kritikerin gar zur offiziellen Kirchenlehrerin ernannt. Wollte er diese radikale Theologin und Nonne besänftigend „eingemeinden“? Oder rechnete er damit, dass radikale Worte der Gottesferne und des Nichts wirklich in die Mitte des christlichen Glaubens und der römischen Institution gehören?

Dieser Beitrag bedarf einer Ergänzung:

Ich habe als Hörfunk und Fernseh-Journalist (RBB) im Karmelitinnen Kloster Regina Martyrum in Berlin Ordensfrauen getroffen, die durchaus von einer Weite des Denkens und des mystischen Erfahrens geprägt sind und dies auch so sagen. Ob alle Karmelitinnenklöster in Deutschland von diesem offenen Geist geprägt sind, ist eine andere Frage.

Einige Zitate aus verschiedenen Ra­dio­sen­dungen von mir.

Schwester Maria Theresia sagt zum Beten für andere Menschen: „Für andere beten, das heißt zunächst einmal von anderen wissen. Und nicht nur theoretisch, sondern auch direkt, persönlich, und auch die Lage von anderen Menschen, sich selbst unter die Haut gehen lassen. Es ist eine gewisse Solidarisierung. Das ist so etwas wie das Halten einer Hand, wenn wir sagen: Ich denke an dich“.

Die Gründerin des Karmelitinnenklosters in Berlin ist Schwester Gemma Hinricher, zuvor lebte sie im Karmel am Rande des ehem. KZs Dachau: Schwester Gemma ist 1990 verstorben, sie war in Berlin als geistliche Lehrerin sehr angesehen, ie sagte mir in einem Interview in Plötzensee:

„Es ist für die Karmelitinnen ganz wesentlich die Ausrichtung auf Gott und zugleich die Ausrichtung auf die Menschen. Ich glaube, dass wir teilnehmen an der Glaubensnot unserer Epoche. Dass wir ja in welcher Form auch immer auch ein Stück Gottferne erfahren. Es ist wichtig zu betonen, dass es uns da nicht besser geht, dass wir auch angefochtene Menschen sind und verletztliche Menschen, dass uns nicht alles zufliegt mit Heiterkeit“.

Gelegentlich besuchen auch Agnostiker und Atheisten den Berliner Karmel, so etwa Gita Neumann, Psychologin und Mitarbeiterin des Humanistischen Verbandes im Rahmen eines Filmes, den ich fürs ERSTE drehte. Gita Neumann fragte Schwester Maria Theresia:. „Betet man irgendwie zu Gott, zu Jesus, zu einer übergeordneten Instanz? Sind Sie der Meinung, dass da auch Wünsche auch irgendwo ankommen?“ Darauf die Karmelitin Schwester Maria-Theresia: :

„Ich muss gestehen, ich teile diese Frage auch. Für mich ist dieses Beten in eine gewisse Leere hinein wie ein Gottesbeweis. Weil ich mir sage: Eine fassbare Antwort, das ist nicht mein Gott. Es muss immer etwas bleiben, was geheimnisvoll ist, was scheinbar sogar das Gegenteil sogar von dem Erbeteten ist. Dieses durchkreuzende Moment von Gebeten führt mich, wenn ich ehrlich bin, letztlich weiter. Ich möchte darauf hin leben, dass ich Gott größer sein lasse als meine Gebete.“

In einem Beitrag über die spirituellen Dimensionen der Nacht konnte ich auch Schwester Maria Theresia zu dem Thema befragen: „Das beste Nachtgebet ist für mich, das, was am meisten mich selbst einsammeln kann, wo ich am meisten drin bin. Das ist überhaupt kein Gebet im üblichen Sinn. Das ist vielleicht ein Fallenlassen, ein Loslassen. Eine Einwilligung, in das, was jetzt gerade mein Leben ist, weil ich jetzt mal gerade so ganz zu mir kommen kann. Und ich denke, dass ist dann beste Gebet, auch wenn ich in dem Moment gar nicht merke, dass ich bete”.

Copyright: Christin Modehn Berlin

 

Vom Glauben sprechen: Aber in homöopathischen Dosierungen

Vom Glauben in homöopathischer Form sprechen. Zur Aktualität eines „mondainen“ Priesters in Paris: Abbé Arthur Mugnier

Von Christian Modehn

Am 13. Juli 1920 notiert der Pariser Priester, Abbé Arthur Mugnier, (1853-1944), in seinem Tagebuch: „Nach einem Mittagessen bei Madame Fitz-James mit Bischof Lemaistre von Carthago sagte dieser: Man solle sich in den Pariser Salons bemühen, die Leute, die Gäste, im strengen katholischen Sinn auszubilden“. Diese Meinung lehnt Abbé Mugnier, eine Art Dauergast/Freund in den Salons, absolut ab: Er meint: Wenn man dieses klerikale Programm anwenden würde, hätten die charmanten Mittagessen und Diners in den Salons keinen Sinn mehr, wo man doch dort frei sprechen kann, jeder kann seine Meinung vortragen. „Ich glaube nur an das kirchliche Apostolat, also die „Seelsorge“, in homöopathischer Form“.

Sanft und in homöopathischen Dosierungen vom Glauben sprechen in einer bunten und vielfältigen intellektuellen Welt der Schriftsteller und der Welt der Künstler und Schauspieler in Paris: Das konnte sehr gut Abbé Mugnier, er ist eine ungewöhnliche, gebildete, wenn man so will: eine einmalige Gestalt unter den Priestern und Theologen in Paris: Er war der gern gesehene Gast und Gesprächspartner in zahlreichen Salons. In einem umfangreichen „Journal“ (erschienen bei Mercure de France, Paris 1985) hat er von diesem ungewöhnlichen Leben berichtet, mit Menschen ins spirituelle Gespräch zu kommen, die sonst eher nicht einen christlichen Theologen respektieren, geschweige denn regelmäßig zum Essen einladen. Das lag daran, dass alle diese Literaten und Künstler, die oft gar nicht so christlich, schon gar nicht katholisch waren, sich einfach von Abbé Mugnier verstanden und ernst genommen fühlten.

Der Pariser Historiker, Autor und Übersetzer Charles Chauvin hat vor kurzem eine Biographie dieses ungewöhnlichen Abbés vorgelegt: „L Abbé Mugnier. L aumonier des Lettres“ erschienen bei Mediaspaul, Paris, 2015. 182 Seiten, 18 Euro. Charles Chauvin zeichnet genau den Lebensweg dieses dialogfreudigen Pfarrers nach, der kein Missionar war, sondern ein Gesprächspartner. Chauvin spricht von seinem frühen Engagement in verschiedenen Pariser Gemeinden, von seinen Schwierigkeiten mit den Bischöfen, schließlich von dem Freiraum, den er erlangen konnte: Endlich unter denen zu leben und zu wirken, denen er sich zugehörig fühlt: Eben den Schriftstellern und Schauspielern. Er ist in Verbindung mit Marcel Proust, mit Jean Cocteau, aber auch mit Paul Claudel. „Er war als guter Unterhalter („Causeur“) der Freund und der Vertraute von denen allen“ (S. 129). Er war der „libérale Abbé“ (S: 62) „Praktisch war Mugnier in seinem Engagement vom übrigen Klerus in Paris isoliert und von den Bischöfen nur toleriert“ (S. 130).Charles Chauvin berichtet von den Reisen Mugniers nach Deutschland, er war in Bayreuth und Berlin, besuchte in Röcken den geistig umnachteten Friedrich Nietzsche (S. 79). In seinem neuen Roman „Unterwerfung“ erwähnt Michel Houellebecq mehrfach den Schriftsteller Joris -Karl Huysmans: Mit ihm war der weit denkende und vernünftig fühlende Mugnier befreundet.

Mugnier war eine Ausnahmegestalt: großzügig, tolerant, entschieden antisemitisch in den Zeiten eines allgemeinen katholischen Antisemitismus, ein Mann der Verständigung auch mit den Deutschen, ein Theologe, der Sinne hatte für Ästhetik und Kunst.

Eine solche freie Gestalt gibt es selten im römischen Katholizismus, und wenn, dann eher in Frankreich als im eher bürokratisch geprägten deutschen Katholizismus. Charles Chauvin hat das große Verdienst, an diesen ungewöhnlichen Abbé zu erinnern, der sanft und verständnisvoll, hörend und lernend vom Glauben sprechen konnte, ohne Wahrheitsansprüche, und schon gar nicht mit dem “dogmatischen Hammer”, der zu der Zeit selbstverständlich war.

Wer die Biographie und die Tagebücher selbst liest, kann sich kaum vorstellen, dass solch eine Gestalt jemals auf neue Art wiederkehren könnte in den Kirchen Deutschlands oder Frankreichs. Dort hat sich längst der enge, der fundamentalistische Geist herrschend durchsetzen können. Liberale theologische Geister haben da kaum noch eine Chance.

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Thomas Merton zum 100. Geburtstag: Mystiker, Philosoph, Kritiker … und offene Fragen

Thomas Merton zum 100. Geburtstag am 31. Januar 2015: Und offene Fragen.

Mystiker, Philosoph, Kritiker

Von Christian Modehn

Der „Religionsphilosophische Salon Berlin“ erinnert an einen Trappisten-Mönch, der auf das Philosophieren nicht verzichten konnte, als Mystiker und Autor zahlreicher Bücher und Tagebücher; er war ein anregender, ein provozierender und deswegen guter geistlicher Meister, auch mit dem Zen verbunden. Er setzte sich leidenschaftlich für die Friedensbewegung (also gegen den Vietnamkrieg) ein und kritisierte heftig die westliche Wohlstandsgesellschaft: Als philosophisch leidenschaftlicher Mensch wollte er nicht zulassen, dass die Weisheit stirbt in der westlichen Zivilisation. Sein Name : Thomas Merton. Er sagte noch ein Jahr vor seinem Tod: Er habe keine Antworten, sondern „er fange erst an, die Fragen zu suchen. Und wie heißen die Fragen: Kann der Mensch sein Dasein mit Sinn erfüllen?“ (zit. in Thomas Merton, Zeiten der Stille, S. 119).

Biographisches

In den USA wird er gerühmt als „der religiöse Prophet des 20. Jahrhunderts“, so der spirituelle amerikanische Erfolgsautor Richard Rohr. Dort gibt es gut ausgebaute Thomas-Merton-Studienzentren, zahlreiche Publikationen über ihn, viele Tagungen und Konferenzen und vor allem eine Fülle, auch posthum veröffentlichter Schriften. Thomas Merton wurde am 31. Januar 1915 in Prades, bei Perpignan, Frankreich, geboren. Am 10. Dezember 1968 starb er durch einen Unfall (Stromschlag, heißt es offiziell) in Bangkok. 1941 wurde er Mönch (sein Ordensname: Bruder Louis) in einem der allerstrengsten (manche sagen: rigidisten) Orden der katholischen Kirche, den Trappisten im Kloster Gethsemani, Kentucky. 1955 wurde er für die Ausbildung der damals noch sehr zahlreichen Novizen zuständig, eine ungewöhnliche Ehre für diesen Mann mit einer sehr bewegten „Vorgeschichte“ (siehe weiter unten).

1966 zog er sich auf dem Klostergelände in eine Art Eremitage zurück. Der Autor Stephan Richter berichtet, dass sich Merton auch um einen Eintritt in den Franziskanerorden (vergeblich) bemüht hatte und später, als Trappist, ernsthaft überlegte, in den Kartäuser Orden überzuwechseln: „Weil er dort –in dem Einsiedlerorden- eine bessere Möglichkeit zur totalen Versenkung zu finden hoffte“( so in „Christ in der Gegenwart“, 1979, S. 89). Offenbar fühlte sich Thomas Merton in dem großen Kloster der Trappisten, das z.B. nur gemeinsame Schlafsäle kennt, das Sprechen fast total verbietet und damals (nur damals?) seine Mitglieder privat kontrollierte, etwa den Briefverkehr der Mönche, überhaupt nicht „zuhause“, (siehe dazu Mertons Schrift „Day of a Stranger“, 1965). Jedenfalls hat Merton auch als „Einsiedler“ und Mönch eine sehr umfangreiche Korrespondenz führen können, abgesehen von der Tatsache, dass noch posthum, wenn wir uns nicht verzählt haben, 28 Bücher von ihm bis jetzt veröffentlicht wurden, hoffentlich als kritische Studienausgaben ohne Zensur, was zu überprüfen wäre. (Quelle: http://merton.org/chrono.aspx#Posthumous)

Zu Publikationen in deutscher Sprache

In Deutschland und Frankreich ist von einem lebhaften Interesse an den Arbeiten Mertons wenig zu spüren. Es gibt hier keine wirkliche – wenigstens literarische – „Merton-Begeisterung“, wie man sie in den USA auch außerhalb des Katholizismus kennt. Als Wunibald Müller und Detlev Cuntz das Buch „Kontemplativ leben. Erinnerungen an Thomas Merton“ (Vier Türme Verlag) planten, hatten sie 120 verschiedene Klöster im deutschsprachigen Raum gebeten, zur Bedeutung von Thomas Merton fürs eigene Mönchsleben Stellung zu nehmen. „Leider war, was den Umfang der Rückmeldungen betraf, das Resultat eher dürftig“ (S. 13), schreiben Wunibald Müller und Detlev Cuntz. Die Nonnen und Mönche haben also Besseres zu tun, als zu einem vielseitig begabten, immer wahrhaftig schreibenden, kritischen und politischen Mönch und Einsiedler Stellung zu nehmen. Wie viele Klöster tatsächlich auf die Frage antworteten, verraten die Herausgeber leider nicht, wäre aber der Wahrhaftigkeit wegen sehr angebracht. Solche „halben”, d.h. bloß angedeuteten Fakten kennen Journalisten aus dem katholischen Raum seit langem.

Merton – der Philosoph

Thomas Merton ist für (religions)philosophisch Interessierte anregend. Er ist provozierend, denn er zeigt, wie auch ein spiritueller Denker nicht ohne das Philosophieren auskommt, also kritisches, in die Tiefe gehendes Fragen. Merton hat einem seiner Texte den Titel gegeben „Notes for a Philosophy of Solitude, (1960). Darin setzt er sich mit der von Blaise Pascal besprochenen Ablenkung und Zerstreuung des (modernen) Menschen auseinander. Mertons Kritik erinnert an Heideggers Darstellung der Verfallenheit an das „Man“ in „Sein und Zeit“ oder an Aussagen von Adorno in seiner „Negativen Dialektik“. Merton sieht, wie die westliche Gesellschaft den Menschen alles bietet, „an sich selbst vierundzwanzig Stunden täglich VORBEIZULEBEN….Niemand wird durch Zerstreuung im Sinne des divertissement zur Persönlichkeit“( S. 70 f. in Zeiten der Stille).

Wer aber die Zerstreuung aufgibt, der hat auch nicht das pure Glück der Sorglosigkeit und Freiheit. Der Mensch blickt dann in die Abgründe des eigenen Daseins, er schaut in Dinge, „die unbegreiflich sind“. Erst wer diese philosophische Erfahrung gemacht hat, kann im Sinne Mertons zum authentischen Glauben finden! Ohne Philosophie also kein Glaube, könnte man zugespitzt sagen. Merton betont: „Im übrigen wird echter Glaube erst möglich, wenn man sich kompromisslos der offenkundigen Absurdität des Lebens gestellt hat. Sonst neigt der Glaube dazu, ein geistlicher Zeitvertreib zu sein, bei dem man anerkannte übliche Floskeln sammelt und sie zum gängigen Erklärungsmuster zusammensetzt, ohne wirklich ihren Sinn zu erfassen…“ (ebd. 72)

Thomas Merton ist provozierend in seiner dargestellten (!) Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit, die er auch, so die starke Gewissheit der Lesenden, ungefiltert und ungeschützt, also ohne Angst und innere Zensur, ausdrückt. Thomas Merton ist ein hoch gebildeter Autor, er kennt die Welt der Dichtung, ist eine Art Rilke-Spezialist, vertieft sich in das zenbuddhistische und taoistische Denken, setzt sich mit dem Vietnam Krieg auseinander usw. Er ist ein vielseitiger Mensch mit verschiedenen Lebens-Aspekten und einer großen poetischen Begabung. Und vor allem: Er spricht wirklich von sich selbst, von seinem eigenen Ringen, seinem eigenen Zweifel und Verzweifeltsein. Er schreibt – im Unterschied zu deutschen spirituellen Erfolgsautoren – nicht bloß objektiv-distanziert lehrmäßige Sätze. Er lässt die LeserInnen teilhaben an dem eigenen (!) Leben. Das macht ihn so inspirierend!

Nur einige Stichworte, die weiter zum Lesen und zur kritischen Auseinandersetzung ermuntern können:

Uns gefallen seine Beschreibungen der Erlebnisse mit der Natur, die ihn in ganzer Fülle auf dem Klostergelände umgab. (für weitere kritische Hinweise in dem Zusammenhang siehe Fußnote 1)

Merton spricht etwa von dem „point vierge (also dem reinen, unberührten Punkt CM), der Morgendämmerung unter einem Himmel, der noch ohne wirkliches Licht ist, ein Augenblick der Scheu und der unaussprechlichen Unschuld, wenn der Vater (also Gott, CM) in vollkommenem Schweigen ihre Augen öffnet…“ (77) Diese viel ausführlichere, behutsame Beschreibung des Naturereignisses ist immer noch lesbar, vielleicht als eine “Prosa-Form” von Haikus ?

Auf den „point vierge“ kommt Merton in einem Text zurück, der stark an Meister Eckart erinnert: Was der mittelalterliche Philosoph den göttlichen Funken nennt, ist bei Merton „der Punkt der lauteren Wahrheit, ein Punkt oder Funke, der ganz Gott gehört. Nie können wir über diesen Punkt verfügen, sondern Gott fügt von diesem Punkt aus unser Leben…“ (79). Damit spielt Merton an auf das Gnadengeschehen, dem er sich aus religiöser Mensch ausgesetzt sah.

Gesellschaftskritik

Gesellschaftskritisch hoch interessant ist Mertons Plädoyer für den kontemplativen Lebensstil, der ja durchaus auch einmal zur philosophischen Existenz in Griechenland und Rom gehörte, man denke etwa an die Stoa. Dabei ist für Merton entscheidend: Das kontemplative Leben ist eine Form des Widerspruchs und Widerstands gegen die heute übliche Selbstverständlichkeit, „dass sich der individuelle oder kollektive Wille zur Macht durchsetzen müsse“ (85). Für den Menschen, bestimmt vom Willen zur Macht/Herrschaft (vgl. Nietzsche), steht das individuelle Selbst des einzelnen absolut im Mittelpunkt; der einzelne sieht sich in einer Welt als einem „Sammelsurium begrenzter Wesen, die miteinander im Konflikt sind… Wenn man das durchschaut, bietet sich die ganze Welt als ein einziger riesiger Kriegsschauplatz dar, auf dem der einzig mögliche Friede dadurch zustande kommt, dass der Starke siegt“ (85 f.) Dabei klagt Merton (1966) die USA besonders heftig an: „Die reichste und bestentwickelte Kultur auf der Welt… verwendet ihre ungeheure Macht und ihren Reichtum nicht darauf, Fruchtbares zu leisten, sondern Vernichtungswaffen herzustellen…Solche Menschen (in den USA) leben in immerwährender Selbstverteidigung“ (S. 102).

Hingegen befreit die Kontemplation, die hier durchaus überkonfessionell, allgemein-menschlich, also philosophisch gemeint ist, aus diesen Verhaftungen. Kontemplation lässt wahrnehmen: „Das, was uns in Wirklichkeit vorgegeben ist, ist das Sein selbst, das in allen existierenden Wesen ein und dasselbe ist und sich durch sie offenbart“ (87). Dann folgen die entscheidenden, auch philosophisch wichtigen Sätze: „Das Ziel des Kontemplativen ist im Allertiefsten das Wahrhaben dieser Herrlichkeit des Seins und der Einheit“. (ebd.)

Kirchenkritik

Thomas Merton ist sehr skeptisch in der Einschätzung, ob dieses Kontemplative in der Moderne noch eine Chance der Geltung und des Respekts finden wird. Denn der moderne, stressgeplagte, gehetzte Mensch findet „in seinem Herzen keinen Platz zum Ausruhen mehr“, weil auch das Herz des Menschen leer ist. Aber wenn denn der Mensch bloß diese Leere als Leere annehmen könnte: „Wenn er doch wüsste, dass die Leere selbst, sofern der Geist über ihr schwebt (!), ein Abgrund voller schöpferischer Fülle ist“ (92). Gegen Ende seines Lebens nimmt wohl der Pessimismus zu, selbst apokalyptische Perspektiven/Ängste sind ihm nicht fremd (etwa in „Day of a Stranger, 1967, siehe „Zeiten der Stille, S. 109: “Doch wie alle anderen Menschen lebe ich (als Mönch) im Schatten des apokalyptischen Cherubs. Ich werde von ihm überwacht, ganz sachlich und nüchtern“. Das Bewusstsein, ÜBERWACHT zu werden, war schon bei Merton lebendig, er ist 2015 unser Zeitgenosse! Die Flugzeuge, die über seinen Kopf hinweg mit Bomben beladen Richtung Vietnam flogen, nennt er den „metallenen Cherub der Apokalypse in den Wolken“ (S. 118)

Aber letztlich hat Merton auch von der Kirche keine Hilfe für das alles Entscheidende, die Stärkung der Kontemplation als Lebensform, erwartet. Die Kirche hat „einen Gott aus Marmor gepredigt, der den Menschen sich selbst entfremdet, einen Gott, der sich grimmig, wie ein unverträgliches Objekt im Herzen des Menschen ansiedelt und den Menschen verzweifelt die Flucht vor sich selbst ergreifen lässt“ (S. 92). Auch zum Zölibat hat er Stellung genommen, obwohl ihn diese kleinlichen und im letzten, objektiv gesehen, lächerlichen Themen theologisch kaum interessierten (lebensmäßig war er diesen Gesetzen ja offenbar ausgeliefert, auch wenn er am Ende wieder opponierte!) Aber, es gibt in ihm den Zwiespalt noch als Mönch: „Ich sehe keinen Grund, warum ein Mann nicht zu gleicher Zeit Gott und eine Frau lieben können sollte“, geschrieben 1967, also im Erleben der großen Liebe zu M. (S. 113) Weitere kritische Hinweise siehe Fußnote 2.

Thomas Merton bleibt philosophisch und theologisch wichtig, weil er Mut macht zu einem neuen Stil des religiösen Lebens innerhalb wie außerhalb der etablierten dogmatischen Kirchen mit ihrem schrecklichen „Marmorgott“, wie ihn Merton nannte: Er lehrt hingegen ganz Einfaches, so Menschliches, so Friedliches, nämlich auf die Gegenwart zu achten, d.h. auf das Gegenwärtigsein im langen Augenblick; er lehrt, still zu werden, nicht um der Stille wegen, sondern um die Quelle des Daseins zu erfahren. Darauf kommt es zu allererst im Leben an! Merton weiß, dass die offiziellen religiösen Worte erstarrt sind und Floskeln werden. Faszinierend seine Worte: „Statt etwas zu tun, lebe ich. Statt zu beten atme ich“ (111). Und weiter: „Hier in den Wäldern (beim Kloster) liegt das Neue Testament offen da: Das heißt: Der Wind weht durch die Bäume, und du atmest ihn ein“ (ebd.)

Die späte Liebe. Das wunderbare Lieben mit „Frau M“

In seinen letzten Lebensjahren hatte der Mönch und Einsiedler das für ihn wahrlich wundervolle Geschenk erlebt, mit einer Frau, die er in seinen Tagebüchern immer nur „M“ nennt, intensiv Liebe zu erleben, zweifellos auch körperlich. Frau M wird in den Publikationen über Merton Krankenschwester (oft auch als eine wesentlich jüngere Frau) genannt. Mark Shaw hat ihre Identität erfahren. Dass auf Deutsch die wunderbaren Liebesgedichte Merton für M nicht mehr gedruckt erscheinen dürfen, darauf wurde in Fußnote 1 hingewiesen. Wer kann das noch ertragen? Im 20. Jahrhundert erlaubt sich eine religiöse Institution, das Kloster in Kentucky und sicher auch die Kirchenführung, wer weiß das genau, Zensur und Verbot noch auszusprechen, sondern auch in dem (katholischen) Herder Verlag erfolgreich durchzusetzen.

In dem vergriffenenen Buch „Zeiten der Stille“ sind noch einige Zeugnisse veröffentlicht; Wunibald Müller schreibt über „Anima-Erfahrungen im Leben von Thomas Merton und Karl Barth“ in seinem Buch „Kontemplativ leben“. Der Klarname von Frau M. wird in dem ganzen Buch nicht genannt. Dabei ist längst bekannt, dass es sich um die junge Krankenschwester Margie Smith handelte. Ihr wurde wohl von entscheidender Seite nahegelegt, nach dem Ende der “Liebesaffäre” mit dem berühmten Pater Merton doch besser zu schweigen. Was sie dann auch gemacht hat. Margie Smith lebt heute verheiratet in Ohio. Warum diese Heimlichtuerei in Deutschland? Oder hat man nicht ausreichend recherchiert?

Merton war ein Liebender, selbstverständlich auch ein sexuell Liebender, das macht ihn bei vielen LeserInnen so sympathisch. Ob man dann Mertons Entscheidung gegen Frau M. und für die Fortsetzung des Klosterlebens auch noch sympathisch findet, ist eine andere Frage. Merton selbst hat wohl unter dieser Entscheidung gelitten. Denn Erotik und Sexualität waren ihm sehr vertraut: Schon vor seinem Ordenseintritt „zeugte Merton wie Augustinus ein außereheliches Kind“, schreibt der Benediktiner Otto Betler (St. Ottlien) in dem Buch „Kontemplativ leben“, wobei der Hinweis „wie Augustinus“ erstaunt: Soll damit Merton in den Schatten der Heiligkeit gestellt werden? Bei Augustinus kennt man wenigstens den Namen des Kindes, nämlich Adeodat, das er dann um seiner Berufung und Karriere willen verlassen hatte, seine Geliebte nennt Augustinus hingegen nicht. Aber wer ist das Kind von Herrn Merton?

Eigentlich ist es ja ein Ausdruck von Liberalität, dass 1941 ausgerechnet ein wahrlich für Liberalität gar nicht bekanntes Trappisten-Kloster diesen Herrn als Novizen aufnahm, bei der Rigidität der damaligen kirchlichen Regeln. Wie sehr war das Kloster „unter Druck“, dass man einen bekanntermaßen sehr intelligenten Mönch “brauchte”?

Die Frage bleibt offen: Wer hat sich um Mertons Kind gekümmert? Solche Hinweise wären wichtiger als der Satz Pater Betlers OSB, dass mit Merton doch endlich mal ein Heterosexueller den Mönchsstand erwählt hat. Pater Betler, so wörtlich, findet dies gerade „irgendwie erfrischend in einem Jahrhundert, in dem männliche Zölibatäre ständig dem Verdacht der Homosexualität ausgesetzt sind“ (45). Die Ärmsten, möchte man beinahe zynisch bemerken, was müssen diese wenigen heterosexuellen Mönche leiden, wenn sie auch noch als (offenbar minderwertige) Homosexuelle öffentlich verdächtigt werden? Vielleicht outet sich gar ein als Hetero eingetretener Mönch später im Kloster als Homo. „Furchtbar“ ist eine solche Schande im keuschen Kloster!

Man darf wohl sagen, dass solche Hinweise des katholischen Priesters Pater Betler irritieren, der zudem als analytischer Psychologe am C G Jung in Zürich ein Diplom erhalten hat. (S. 49, Kontemplativ leben).

Aber abgesehen davon: Das Buch „Kontemplativ leben“ bleibt für philosophisch und religionskritisch Interessierte doch noch etwas lesenswert, vor allem wegen der Beiträge von Detlev Cuntz über „Merton und Rilke“ und von David Steindl-Rast „Gedanken über das Gebet“.

Letzte Gedichte, Liebesgedichte

Momentan, so scheint es, ist weit und breit kein spiritueller Autor innerhalb des Katholizismus zu sehen, der dieses Format eines Thomas Merton hat. Er schreibt selbstkritisch als Mitglied eines religiösen Systems, dass damals für ihn das Kloster eher eine Hölle war. Zur Zeit seiner großen, wundervollen Liebe zu „M“ notiert Merton: :

„Ich bin ein Häftling

In einer Theologie des Wollens…

Ich bin vermauert

Ich baue zehn steinernde Theorien

Von einer Steinmauer umschlossen mein Eden“ (S. 139, Zeiten der Stille“.

Oder noch eindringlicher ein anderes Gedicht von Thomas Merton:

„Wir sind zwei halbe Menschen und wandern

In zwei verlorenen Welten.

Wir haben die Hörer beiseite gelegt. Vorbei

Dass die Liebe

Wenigstens leise in den langen Drähten

Singt…

Wie elend verlassen liegt nun die Liebe

Da selbst unser Schluchzen nun schweigt.

(S. 133f., Zeiten der Stille)

Ob Frau „M“, die so innig Geliebte noch lebt und wenn ja, wie sie lebt, was sie denkt von der Trennung von ihrem geliebten Mönch, erfährt man in deutschsprachigen Publikationen bisher nicht. In amerikanischen auch nicht so richtig. Die Kirchen/Klosterführung hat ein Interesse daran, den viel gelesen Autor Merton nicht allzu “sinnlich”, erotisch, verliebt erscheinen zu lassen. Aber: Die Geschichte der „so inniglich geliebten Frau M“ wäre doch einmal ein hübsches Buch…

Der plötzliche Tod „durch Stromschlag“ (siehe auch Fußnote 3 unten)

Wunibald Müller schreibt in einem Beitrag für die „Herder Korrespondenz (Heft 1/2015) über Thomas Merton mit dem Titel „Der Nonkonformist“ auf Seite 31 über die letzten Stunden des Mönchs, die er in Bangkok bei einem spirituellen Kongress verbrachte. „Er hält einen Vortrag (den Titel nennt Müller nicht, CM), in dem er öfters die Formulierung „I dissapear“ und am Schluss „I am finished“, also ich bin ans Ende gekommen, gebraucht. Wenige Stunden später starb er an einem Stromschlag“.

Nähere Umstände des Stromschlages werden nicht genannt. Oder dürfen die wahren Gründe und Umstände nicht genannt werden? Stephan Richter schreibt deutlich: “Am 10. Dezember 1968 hatte Merton seine Thesen über „Marxismus und Perspektiven des Mönchslebens“ (dies ist also der Titel !) vorgelegt, als ihn wenig später der Tod ereilte. Eine Ergänzung am 30.1.2015: Wer sich wirklich um Fakten und nicht um spirituelle, relativ faktenfreie Auferbauungen über Thomas Merton bemüht, entdeckt immer wieder Neues: So berichtet die us-amerikanische Theologin Sheila T. Harty auf ihrer Website, dass Merton viel spezieller als von Pater Richter angegeben über “Die monastischen (= klösterlichen) Implikationen von (Herbert) Marcuse”  sprach und damit sehr wenig Verständnis ernete bei den versammelten Mönchen. Merton war eben dicht “dran” am Thema des Jahres 1968, er war Zeitgenosse! Ich zitiere auszugweise, welche Aussagen Thomas Merton in dem Moment wichtig waren: “The monk is essentially someone who takes up a critical attitude toward the worldand and ist structures….The monk is somebody who says, in one way or another, that the claims of the world are fraudulent. This view puts the monk on the same plane as the Marxist… The difference between the monk and the Marxist is fundamental insofar as the Marxist view of change is oriented to the change of economic substructures and the monk is seeking to change man’s consciousness”. (Quelle: http://sheila-t-harty-speaker-editor.com/Thomas%20Mertons%20Last%20Talk%20in%20Bangkok%201968.pdf)

Zu seinem Tod:  Im Bad des Zimmers, das er während des Mönchskongresses bewohnte, traf ihn der elektrische Schlag des Rasierapparates“. Komisch, 9 Jahre nach Mertons wird noch das Märchen mit dem Rasierapparat erzählt. Tatsächlich aber, so sagt der so genannte “offizielle Biograph” (Was ist denn das?), John Howard Griffin, , Merton sei durch die Flügel eines großen Ventilators verletzt worden und so wurde sein Körper z.T. verbrannt, siehe: /www.ralphmag.org/FB/mertons-death.html.

Wie konnte das passieren, war Merton so ungeschickt, so müde usw, wie behauptet wird? J.H. Griffin berichtet weiter, dass ausgerechnet eine österreichische Nonne, die zufällig (!) da war und vor ihrem Kloster-Eintritt als Ärztin arbeitete, den Tod Mertons sofort den Tod als Unfall festgestellt hat: „and she determined (!) that he died from the effects of electric shock“.

Offene Fragen, in den USA offen debattiert

Jedenfalls verweist Wunibald Müller in seinem Aufsatz im Zusammenhang des Todes Mertons noch darauf hin, dass Merton beim Anblick des riesigen Buddhas in Polonnaruwa auf Ceylon sozusagen die letzte, tiefste Wahrheit kurz vor seinem Tod noch wahrnehmen konnte und dies auch so aussprach. Müller beschließt seinen Aufsatz – im Blick auf den plötzlichen Tod – mit den merkwürdigen Worten: „Jetzt erfüllte sich sein (Mertons) Primizspruch endgültig: =Er wandelte mit Gott, dann war er nicht mehr. Denn Gott ihn hinweg genommen= Genesis, 5, 24). Mit „er“ ist übrigens Henoch gemeint, der seinen Weg mit Gott gegangen war und „entrückt wurde“. Diese seltsame Entrückung Henochs wurde Thema vieler esoterischer Spekulationen…

Darf man diese Andeutungen Wunibald Müllers mysteriös nennen? Wahrscheinlich! Wird da ein unheimliches göttliches Walten im Leben Mertons beschworen, gar etwas Schicksalhaftes? Oder wird schlicht und einfach verschwiegen, wie abgrundtief die Trauer, die Verzweiflung, über die beendete, so wunderbare Liebe zu Frau M ist? Und: Warum wäre es denn schlimm zu sagen, dass Merton voller Deprimiertheit („Ich bin am Ende“, sagt er kurz vor seinem Tod selbst) Suizid begangen hat? Wäre Merton an einem Suizid gestorben, wären er und sein Werk dann etwa weniger wertvoll? Sicher würde in der Sicht eher bescheiden denkender Menschen das Bild eines modernen Mönchs ins Wanken geraten. Und vielleicht ließen sich dann seine Bücher nicht mehr gewinnbringend für Kirche/Kloster verkaufen.

Noch ist vieles unklar: Schon 1979 schrieb Stephan Richter über die Qualität der veröffentlichten Tagebücher Mertons: „Was die klösterliche Zensur in seinen Tagebüchern alle gestrichen haben mag, erahnen wir nur“…

Jetzt muss man das alles nicht mehr alles erahnen, man bräuchte nur einige kritische Studien beachten, wie die von Mark Shaw. Er publizierte im November 2009 im seriösen Palgrave Macmillan Verlag das Buch “Beneath the Mask of Holiness: Thomas Merton and the Forbidden Love Affair that Set Him Free”. In diesem Buch wird der Klarname von Frau M. genannt und eine weitere heftig wirkende Vermutung zum plötzlichen Tod Mertons in Bangkok ausgebreitet, die wir hier nicht mehr weiter verfolgen können. Siehe: http://www.huffingtonpost.com/mark-shaw/the-thomas-merton-book-th_b_415367.html

Interessant ist, dass etliche unabhängige Denker in den USA das kritische Buch von Mark Shaw loben, so etwa der Psychologe Prof. Lewis Rambo: “This book will provide people with a new view of the deeply human, but transcendent, love story of Thomas Merton–loving God and loving a woman. [It will be] a great contribution to the spiritual journey of thousands of people.” Dr. Lewis Rambo, Professor of Pastoral Psychology at San Francisco Theological Seminary, and conversion expert.

Warum wird von diesen Themen in Deutschland nicht gesprochen, wenn schon ein neues großes Buch über Thomas Merton erscheint?

……………..

Fußnote 1:
In dem Herder Taschenbuch „Zeiten der Stille“ (1992) hat Bernhardin Schellenberger auf knappen Raum zentrale Texte versammelt; wie schon erwähnt, alle folgenden Zitate stammen aus dem sehr empfehlenswerten Buch! Es ist leider nur noch antiquarisch zu haben. Eine Neuauflage des Buches liegt unter dem gänzlich anderen Titel „Ein Tor zum Leben ist überall“ vor. Für die dritte Auflage im Jahr 2008 (!!) „kam aus den USA der Bescheid“, so der Übersetzer und Herausgeber Schellenberger, „das vorletzte Kapitel (also „Das Wagnis, eines Menschen zu bedürfen“), also 5 Seiten mit Liebesgedichten Mertons für (seine Freundin) M. dürfte nicht mehr publiziert werden, so dass diese Ausgabe gekürzt werden musste“. Der Übersetzer und Mertonkenner Bernardin Schellenberger fügt dann scheinbar hilflos hinzu: “Ich weiß nicht, wie ich das deuten soll“. Weiß Schellenberger das wirklich nicht, wo er doch ein exzellenter Kenner der us-amerikanischen Spiritualität und auch Mertons ist?

Fußnote 2:
Thomas Merton wird sehr viel beachtet, zumindest in den USA, dort ist sein Buch von 1949 „The Seven Storey Mountain“ (=SSM) ein absoluter Bestseller, wenn man das sagen darf, hoch gerühmt, von der Kirche gepriesen als das große Buch einer wirklichen Bekehrung. Damit will die Kirche glänzen! Der Merton Spezialist Mark Shaw etwa hat aber herausgefunden, dass dieses Buch tatsächlich von der klösterlich-kirchlichen Zensur bearbeitet wurde. Shaw schreibt: „Merton himself wanted to revise his book, but was not permitted to do so, telling brother monk Father John Eudes, “it doesn’t belong to me anymore…. The fact that SSM was heavily censored is a given. Its editor, Robert Giroux, admitted it; official Merton biographer Michael Mott corroborated it; and fellow monk Father Basil Pennington, with apparent direct knowledge, confirmed it. Most important, longtime Merton friend and confidant Edward Rice criticized the publication of SSM by questioning its legitimacy when he exposed the cover-up in 1970, two years after Merton died. He reported that after Merton’s draft was submitted for publication, “Then came the immense job of editing–and castrating– the manuscript. During the year before publication a large portion, perhaps as much as one third, was either seriously altered or literally thrown away on the insistence of the Trappist censors.” (Quelle: http://www.huffingtonpost.com/mark-shaw/famous-merton-book-must-b_b_424440.html)

Fußnote 3:

Zum Tod Thomas Mertons: Sein plötzliches Sterben in Bangkok halten kompetente Beobachter nach wie vor für ungeklärt und damit für mysteriös:

Nur wenige Hinweise, die leider in Deutschland keine Beachtung finden

1. Der Benediktiner und kompetente Forscher des Dialogs zwischen östlicher, buddhistscher, und westlicher Spiritualität Dom Jean Leclercq OSB schreibt 1969:

„How exactly did his death come about? We will never know exactly and with certitude. There are already a number of scenarios circulating—the sort of thing you expect when an extraordinary person dies. Some have begun spreading the rumor that the last moments of his life were in the presence of a statue of the Buddha. Others have suggested that he was assassinated like Martin Luther King had been. On the evening of his death two different versions were already being put forth by the media of Thailand and the United States. Papers in the United States only made mention of electrocution; those in Thailand spoke only of a heart attack. On both sides there was a desire to explain his death in such a way as to forestall certain hypotheses, none of which are all that significant. In all probability the death of Thomas Merton was due in part to heart failure, in part to an electric shock. Neither one nor the other alone would normally be fatal. The disproportion between the cause of his death and its consequences—the loss that it represents for the Church—is what makes his death both a mystery and a sign—more precisely, a God-given mysterious sign whose meaning we must strive to understand. What is certain is that God wanted him to die there and then: in Asia, at work, at the service of monasticism, of interreligious dialogue, of all humanity, of God.

Quelle: https://web.archive.org/web/20081212155450/http://monasticdialog.com/a.php?id=873

2. Andere Autoren sind deutlicher: „No autopsy was conducted on Merton’s body because of the desire to bury him on the grounds of Gethsemani“.

Quelle: http://boatagainstthecurrent.blogspot.de/2008/12/this-day-in-religious-history-contested.html

3. Schon Stephan Richter hat 1979 voller Verwunderung darauf hingewiesen, dass der „linke“ Gegner des Vietnamkrieges, Thomas Merton, “einfach so”, möchte man sagen, als Leiche ausgerechnet mit einem Militärflugzeug der USA in sein Kloster in Kentucky zurückgebracht wurde, Richter schreibt: „Und die Ironie der Geschichte wollte es, dass Merton mit einem Militärflugzeug aus dem Kampfgebiet Vietnam in seine Heimat überführt wurde- Am frühen Nachmittag des 17. Dezember kam der Leichnam in der Abtei an“. (Christ in der Gegenwart 1979, Seite 90.) Am 10. Dezember war er in Bangkok verstorben. Leider werden die Fragen nicht diskutiert:

Wie konnte der Orden das zulassen, dass ausgerechnet ein US amerikanischer Kriegsbomber den Leichnam des Friedensaktivisten Thomas Merton zurücktransportierte. Wie konnte die Ordensleitung diese doch öffentlich sichtbare Blamage ertragen? Wollte der Orden Geld sparen, indem man keine Linienmaschine, sagen wir Bangkok –New York, engagierte? Wollte der Orden ihn möglichst schnell aus Bangkok wegschaffen? Und warum? Hat sich das amerikanische Militär angeboten, den Leichnam mit einem eigenen Flieger – vielleicht gratis?_ zurückzuschaffen und vor allem fortzuschaffen, damit keine Obduktion geschieht.

4. In seinem Buch „Christian Mystics“ wiederholt der Theologe und Mystik-Spezialist Matthew Fox auf Seite 383 seine von ihm mehrfach ausgebreitete Hypothese: „Some say he (Merton) was murdered“. An anderen Stellen schreibt Fox: Vermutlich auch vom CIA… Bis heute wird Fox zu offiziellen Merton-Konferenzen in den USA als Referent eingeladen, er ist alles andere als ein Panikmacher etc…

Was bedeuten diese Hinweise:

Eine den Namen verdienende kritische Aufarbeitung des Lebens und Sterbens sowie eine kritische Herausgabe seines  Werkes haben eigentlich noch nicht stattgefunden. Zu viele Manipulationen von offizieller Seite werden sichtbar. Und neue (deutschsprachige) Publikationen verschweigen viele Themen und machen hübsch “auf spirituell”, d.h. harmlos und bloß erbaulich. Das ist üblich im katholischen Raum bzw. in katholischen Publikationen. Gerade das Oberflächliche, das Ignorieren der Fakten, aber verachtete Thomas Merton. Und nicht nur er. Allein um der Aufklärung willen befasst sich der Religionsphilosophische Salon Berlin mit solchen eher religionswissenschaftlichen Fragen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

Die Erfindung des Landes Israel. Ein neues Buch von Shlomo Sand

Die Erfindung des Landes Israel: Ein neues Buch von Shlomo Sand

Erschienen im List Verlag Berlin. 396 Seiten. 11,99 €

Von Christian Modehn

Eine Rezension für die Zeitschrift PUBLIK FORUM, erschienen am 19. 12. 2014.

Wer den Staat Israel verstehen will, sollte sich von Mythen und Märchen befreien, die über das „Land des jüdischen Volkes“ machtvoll verbreitet werden. Diese Position begründet ausführlich der weltweit angesehene Historiker der Universität von Tel Aviv. Jüdisch-polnischer Herkunft, will er mit seinem Buch anregen, den „entschwindenden Traum“ festzuhalten, dass Israel die Errichtung eines palästinensischen Nachbarstaates doch noch zulässt. Nur so kann Friede möglich werden auf einem Territorium, das, so Sand, im Rahmen eines maßlos agierenden Zionismus besetzt wurde. Die Schuld Europas und Amerikas an diesem Zustand wird nicht verschwiegen. Die Vorstellung, dass Juden ein fest strukturiertes „Volk“ sind, wird von dem Historiker zurückgewiesen. Judentum ist für Sand „nur“ eine Religion; das „verheißene Land“ ist wesentlich ein „religiöses Symbol“, aber kein politisches Projekt. Unter den heutigen politischen Bedingungen hält Sand an dem Existenzrecht eines allerdings umfassend friedfertigen (!) Staates Israel fest.

 

Glücklich sterben? Hinweise zum Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 31. 10.2014

Glücklich sterben? Hinweise zum Gespräch im

Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon am 31.10.2014

Von Christian Modehn

Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf das Problem: Warum muss es tatsächlich schwerstkranken Menschen ohne Aussicht auf eine Form der Genesung und Schmerzfreiheit in Deutschland per Gesetz verboten sein, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, um auf selbst bestimmte Art (und ohne sich selbst Gewalt anzutun, wie Sich-Erschießen, Sich-Erhängen usw.) aus dem schwersten Leiden zu treten.

Diesen Schritt des ärztlich assistierten Suizids deuten viele Schwerstkranke selbst als Form der Erlösung. Hans Küng, der katholische Theologe, schreibt in seinem neuen „Glücklich sterben?“ (2014), dass die von ihm angestrebte selbst bestimmte Form des Sterbens mit Hilfe der schweizerischen Organisation EXIT ein Weg zu Gott ist, in der frommen Hoffnung, bei Gott Gnade und Heil zu finden. Für Küng kann es also durchaus dem Willen Gottes entsprechen, wenn ein Christ bei starkem Leiden sich selbst, ärztlich assistiert, definitiv verabschiedet. Für Küng kommt diese Möglichkeit selbst bei „beginnender Demenz“ (S. 23) in Betracht. „Man kann aus Gottvertrauen heraus freiwillig sterben“ (S. 29). „Ich sage immer, das ist für mich die Wahl“ (S. 38).

Dann folgt der Satz, der zu denken gibt: “Es liegt an den Deutschen, die keine Gesetze machen können, damit solch ein Sterbetourismus (in die Schweiz) nicht notwendig ist“ (S. 39). Wobei Deutsche die Hilfen der Organisation EXIT nicht in Anspruch nehmen können; sie ist auf Schweizer Bürger begrenzt, für Nichtschweizer gibt es den –immer wieder umstrittenen- Verein „Dignitas“.

Es sieht allerdings nicht so aus, als würden neue Gesetze für ein selbst bestimmtes Sterben in größter Not der Schmerzen in Deutschland alsbald möglich sein. Da ist die gegenwärtige Regierung viel zu verbissen in der üblichen Abwehr, in der Verbreitung diffuser Ängste (“Dammbruch“), wobei sicher der Blick auf die Macht der Kirchen politisch eine Rolle spielt. Keine Regierung in Deutschland wagt es, mit den Kirchen in einen offenen Streit und Widerspruch zu treten, das gilt auch für Fragen zur tatsächlichen Trennung von Kirchen und Staat oder bei Fragen zur Kirchensteuer und den staatlichen Zuwendungen an die Kirchen gemäß der Gesetze von 1803 usw. Dabei ist allen Beobachtern natürlich klar, wie schwach tatsächlich die Kirchen in Deutschland bereits sind, schaut man nur auf die stetig sinkenden Mitgliederzahlen, auf den stetigen Rückgang in der Teilnahme an den Sonntagsgottesdiensten (außer am Heiligen Abend). Dabei sind die Kirchen in Deutschland finanziell opulent ausgestattete Organisationen mit Milliarden Euro Einnahmen allein durch die Kirchensteuer.

Zum Thema „aktive Sterbehilfe“ wollen wir einige weiter führende, durchaus unbequeme Fragen stellen (nur die ewig gleichen Fragen sind bequem), in dem Bewusstsein, dass dieses Thema niemals leichtfertig besprochen werden darf. Es darf aber auch nicht sein, die seit Jahrzehnten bekannten Vorbehalte und Verbote, auch der Kirchenleitungen, bloß gehorsam nachzubeten und zu wiederholen. Im Gegenteil, es gilt, die legitimen Forderungen der Patienten in ihrer Not endlich zu respektieren und den Forderungen eine rechtliche Form zu geben.

Eine kritische philosophische Prüfung, also in der Distanz von konfessionellen Bindungen, ist nötig. Dabei immer im Blick auf ein ethisches, vernünftiges Leben, um etwas klarer zu sehen und hoffentlich Neues zu erkennen. Dabei müssen wir das weite Umfeld des Themas erst einmal in den Blick nehmen und dabei vielleicht zu überraschenden Erkenntnissen kommen.

Die Kirchen haben seit dem 4. Jahrhundert immer – von ganz wenigen kritischen, oft häretischen Theologen abgesehen – das Töten der Feinde im Krieg für ethisch richtig und geboten gehalten. Sie haben die Waffen gesegnet, mit denen die Soldaten in den Krieg zogen, Christen gegen Christen, in dem festen Wissen, bloßes Kanonenfutter zu sein; die politischen und die mit ihnen verbündeten kirchlichen Herrscher haben also den Tod ihrer armseligen Untertanen, die sich nicht wehren konnten, direkt gern in Kauf genommen, einzig aus nationalistischen, machtpolitischen Gelüsten heraus.

Bis heute sind fundamentalistisch Fromme, Evangelikale und pfingstlerische Kreise die entschiedenen Verteidiger der Todesstrafe, etwa in den USA. Diese Christen haben keine Skrupel, einem anderen Menschen, auch ein Verbrecher ist ein Mensch, den Tod zuzufügen. Diese Menschen, die anderen den Tod zufügen, bedenken nicht die Dialektik, die darin besteht: Wer andere bewusst tötet, der tötet auch seine eigene Seele und seinen Verstand. Insofern ist die Tötung anderer im Krieg oder auf den Elektrischen Stuhl immer auch eine bewusste oder unbewusste Selbsttötung der Tötenden. Das Töten der Seele hat bekanntlich Jesus von Nazareth als viel schlimmer denn das Töten des Leibes betrachtet (Mth 10,28). Insofern ist ein breiter Strom der blutigen Geschichte und der Kirchengeschichte eine lange Geschichte des seelischen Selbstmordes.

Die Märtyrer der frühen Christenheit haben sich oft fröhlich, wie berichtet wird in den Heiligenberichten, in den Arenen Roms und anderswo den Löwen zum Fraß vorgeworfen. So wollten es die heidnischen Kaiser, weil sich diese Christen weigerten, bestimmte einfache Formen der heidnischen Herrscherkulte mit zu vollziehen. Diese dann offiziell hoch gepriesenen christlichen Helden und Heilige kann man durchaus als „begeisterte Selbstmörder“ verstehen, um den Titel eines Buches von Dries van Collie (1960, bezogen auf die Christenverfolgung in China unter Mao) aufzugreifen.

Dieses Verhalten der heiligen, begeisterten Selbstmörder der frühen Kirche hat nie ein Herr der Kirche auch nur ansatzweise kritisiert. Diese Heiligen gelten als gute Selbstmörder, weil sie einer guten Sache dienten, nämlich der Standfestigkeit der christlichen Kirche.

Schlechte Selbstmörder sind jene, die in größter Qual um ärztliche Hilfe zum Tod bitten. Dabei vertreten sie doch eine gute Sache, nämlich den grenzenlosen Respekt vor der subjektiven Freiheit, die ja bekanntlich die klassische Tradition als „der Güter Höchstes“ bewertet.

Wir nehmen uns selbstverständlich die Freiheit, auch zu fragen, ob die Entschiedenheit Jesu von Nazareth, seinen Weg der Gerechtigkeit und Treue seinem eigenen Gottesbild gegenüber nicht auch eine Dimension des Suizids hat: Wir wissen, diese Frage ist ketzerisch und wurde so selten öffentlich gestellt. Tatsache ist: Jesus von Nazareth weiß im Laufe seines Prozesses genau, dass er sich freiwillig dem Tod überliefert, wenn er bei Gericht nicht widerruft. Und er hat nicht widerrufen, ist also freiwillig in den – vorzeitigen, also nicht natürlichen, äußerst schmerzlichen Tod gegangen. Diese Deutung des Todes Jesu überrascht viele orthodox fixierte Christen, die sich nur der Deutung Jesu durch die späteren Theologen anschließen: Jesus habe sozusagen sterben müssen, um Gott mit der Welt zu versöhnen. Dies ist eine theologische Behauptung aus einem alten Weltbild, das heute der kritischen Betrachtung nicht standhält. Jesus von Nazareth ist freiwillig in den Tod gegangen, er hat am Kreuz geschrieen: Mein Gott, warum hast du mich verlassen. Das ist die Basis, auf der man ernsthaft theologisch diskutieren kann. Alle anderen Bilder und Dogmen, die sich durchgesetzt haben, wie Sühnetod, Versöhnung mit dem zornigen Gott usw. haben für aufgeklärte religiöse Menschen eine sehr geringe Relevanz.

Viele andere Menschen, die den eigenen Tod gezielt anstrebten und annahmen, etwa Widerstandskämpfer, haben sich auch bewusst dem eigenen Tod ausgesetzt. Gilt ihr Tun als Wahl des eigenen Todes deswegen nicht als verachtenswerter Suizid, weil ihr Handeln einem „guten Zweck“ diente? Gibt es also gute und selbst von Christen verteidigte gute Suizide und eben schlechte Suizide derer, die nichts anderes anzielen, als endlich keine unerträglichen Schmerzen mehr zu haben. Diese Menschen möchten in ihrem Leiden nichts anderes als sich auch friedlich verabschieden, mit ärztlicher Hilfe wollen sie gern möglichst schmerzfrei sterben, so wollen sie einen Beitrag leisten für eine neue Kultur des Sterbens (!) Noch einmal: Diesen ärztlich assistierten Suizid ziehen sie der üblichen Zwangspraxis vor, vom Staat diktiert, die sie nötigt, sich irgendwo im Wald eine Pistole in den Mund zu stecken und sich abzuknallen wie einen Verbrecher.

Entscheidend ist: Wir sollten die Diskussion über Suizidbeihilfe und über aktive Sterbehilfe in den großen Rahmen stellen der europäischen Emanzipationsgeschichte: Dies ist die Geschichte des Kampfes um Freiheit, um individuelle Freiheit wie Freiheit in Staat und Gesellschaft. Nur einige wenige Beispiele: An dem Kampf um die Rechte der Frauen wäre zu erinnern, an den Kampf um das Frauenwahlrecht oder die schlichte Tatsache, dass Frauen auch ohne Zustimmung des Gatten ein Bankkonto eröffnen können; an den Kampf um den Respekt für Homosexuelle bis hin zu Homoehe und Homo-Elternpaaren mit ihren Kindern wäre zu erinnern; an den Kampf um die „Pille“ oder an den Kampf um die legitimen Forderungen nach Abtreibung in bestimmten gesetzlichen Grenzen usw.

In allen diesen erfolgreichen Kämpfen wurde die individuelle Freiheit durchgesetzt, die Machthaber mit ihrer eigenen rigiden Moral der Unterdrückung der subjektiven Freiheiten wurden sozusagen entthront.

Das heißt aber nicht, dass mit jeder neuen gesetzlichen Regelung im Rahmen der Reformen auch immer rundherum alles Bestens läuft. Eine Gesetzesreform, die rundherum total nur Gutes bringt, gibt es nicht. Dies auch von den bevorstehenden neuen Gesetzen zur Suizidbeihilfe und zur aktiven Sterbehilfe zu verlangen, wäre naiv. Aber die oben genannten Beispiele der Emanzipation zeigen, dass doch die Befreiung gegenüber dem alten Zustand der Unterdrückung und Verfolgung (etwa der Schwulen) ungleich besser und wertvoller ist.

Warum also sind die Kirchenführer und die meisten ihnen gehorchenden Theologen gegen die gesetzliche Neuregelung von Suizidbeihilfe und aktiver Sterbehilfe? Wir vermuten: Weil sie mit dieser Reform tatsächlich ihre aller letzte noch verbliebene Bastion verlieren könnten, von der aus sie die Gewissen lenken und leiten können … und auch die Gesetze. Mit anderen Worten: Der Kampf gegen die neue gesetzliche ärztlich assistierte Suizidbeihilfe ist auch der Kampf der Kirchen um die letzte noch verbliebene gesellschaftliche Macht.

Wir fördern und fordern mehr Hospize, keine Frage, sie sind hilfreich und sinnvoll, auch wenn sie nur eine Minderheit erreichen. Im vergangenen Jahr starben in stationären Hospizen Deutschlands 9.000 Menschen. In ambulanten Hospizen, also in den Wohnungen der Sterbenden, starben 37.000 Menschen. Aber Palliativstationen und Hospize sind aber nicht die absolut beste und einzige Antwort. Selbst katholische Ärzte in Palliativstationen und Hospizen bestätigen das, etwa die katholische Ärztin Corinne van Oost aus Belgien in der neuen Ausgabe der Zeitschrift „Le Monde des Religions“ (Paris, November 2014, Seite 22 f.) Sie betont in dem Interview, aus Mitleid zu handeln, wenn sie Schwerstkranken hilft, durch die in Belgien gesetzlich mögliche Euthanasie sterben zu können. „Es ist die Gewissheit mit meiner ganzen ärztlichen Equipe, dass es keine andere Möglichkeit mehr gibt“. Die übliche Lösung, den Kranken mit hohen Opium Dosen total in den Schlaf zu schicken, hält sie für keine gute Lösung. „Denn da ist der Kranke total von seiner Umgebung abgeschnitten. Die gibt es dann keine Begleitung mehr“.

Philosophisch entscheidend ist ein weiterer Hinweis: Ich muss nicht leben. Es gibt keinen Zwang, dass ich leben muss. Ich darf leben, will leben, kann leben, aber niemals gilt: Ich muss leben: Bestenfalls im Blick auf andere, die mich unbedingt brauchen, für die ich leben will bloß aus Mitleid mit ihnen. Aber das ist die Ausnahme.Nur Diktatoren reden mir ein, ich müsste unter allen Umständen leben. Fidel Castro z.B. war empört, als sich ein Companero selbst tötete. Totalitäre Staaten wollen Menschen zwingen zu leben zwingen, sie wollen sie sozusagen binden an den Aufbau des eigenen Staates usw.

Der zentrale Punkt ist: Das „Geschenk des Lebens“ kann ich auch wieder zurückgeben.

Es ist ja ein klassischer Topos: Das menschliche Leben ist für mich Geschenk, also darf ich es selbst nicht abgeben, zurückgeben. Tatsache aber ist: Das Geschenk wird nicht vom Schenkenden bleibend und ständig bestimmt. Ich bin als der Beschenkte nicht verpflichtet, ein Geschenk ständig zu bewahren. Das gilt, wenn ich Gott personal verstehe oder eher offen an eine schöpferische Urkraft denke.

Gott als der Schenkende „will“, dass wir in aller Freiheit uns selbst mit diesem Geschenk persönlich auseinandersetzen und inmitten unseres Lebens entwickeln. Es gibt den Spruch: Achte auf den Zusammenhang von Gabe und Aufgabe. Es gibt immer den Aufruf zum eigenen, individuellen Handeln mit dem mir gegebenen Leben. Gott spricht nicht unmittelbar in mein Leben hinein, und er sagt mir nicht, wie ich mit seinem Geschenk, also meinem Leben, umgehen soll. Nach Gesetzen der Ethik und der Vernunft, gewiss, aber Gott überlässt mir vollkommen den Umgang mit seinem Geschenk. Und das lässt auch die Möglichkeit offen, dass ich im Fall von äußersten Leiden dieses Geschenk zurückgebe.

Wir zitieren gern eine Einsicht des Renaissance Philosophen Pico della Mirandola (1463 bis 1494): Er lässt Gott zum Menschen sagen
„Du sollst deine Natur ohne Beschränkung, nach deinem freien Ermessen, dem ich dich überlassen habe, selbst bestimmen“ (zit. aus „Enzyklopädie Philosophie“, Band III, S. 2411, in einem Beitrag von Volker Gerhardt).

Wichtig erscheint uns das Buch von Christiane Berkvens-Stvelinck, „Vrije Rituelen“ (2012), in der die Remonstranten Theologin (Rotterdam) zusammen mit Pastor Johan Blauuw einen eigenen Ritus im Falle von Euthanasie beschreibt und zur Nachahmung empfiehlt. Bekanntlich ist ja in Holland seit 2002 Euthanasie gesetzlich möglich, dieses Wort verwenden Holländer, in Deutschland gibt es gegenüber dem Begriff verständlicherweise Vorbehalte).

Angeraten wird der um das Sterbebett versammelten Familie/dem Freundeskreis, etwa eine Kerze anzuzünden, ein Gedicht, ein Gebet, einen Psalm vorzutragen, Erinnerungen auszutauschen, ein buntes Band zu legen, das alle, auch den Sterbenden, verbindet zu einer großen Gemeinschaft. Und dann wird ein Gebet empfohlen, das wir hier in der Übersetzung anbieten:

Ewiger.

Jetzt nähert sich der Moment des Abschiednehmens

Weil das Leben seinen Glanz verloren hat

Und der Körper kein Zuhause mehr ist

Um darin noch zu wohnen.

Deswegen geben wir dir, dem Ewigen, das Leben zurück.

Als ein Geschenk hast du uns das Leben gegeben.

Jetzt, wo dieses Geschenk nicht länger erfreut

Weil die menschlichen Möglichkeiten, um dieses Geschenk zu genießen

Viel zu begrenzt wurden.

Deswegen geben wir dir in Dankbarkeit, dem Ewigen,

dieses Geschenk zurück.

Mögest du es annehmen und aufnehmen

In deiner Barmherzigkeit und in deiner Liebe.

Segne dieses Leben

Mit dem Licht deiner Augen und mit dem Frieden,

der allen Verstand noch einmal überragt. Amen.

Aus: Christiane Berkvens-Stevelinck, Vrije Rituelen“. Untertitel: „Vorm geven aan hat leven“.

Verlag Meinema,in Zoetermeer. 2007. ISBN 978 90 211 4152. Das Gebet befindet sich auf Seite 98. Übersetzt von Christian Modehn

Es kommt in den gegenwärtigen und zukünftigen Diskussionen darauf an, von der bloßen Fixierung auf neue Gesetzestexte wegzukommen zugunsten der umfassenderen Frage: Was ist eigentlich gutes Sterben? Sterben ist kein technisches und auch kein bloß medizinisches Problem. Diese Frage sollte im Mittelpunkt stehen: Wie kann eine Kultur des Sterbens entstehen, in einem Miteinander, das wieder gepflegt werden sollte angesichts des Zusammenbruchs der alten Großfamilien. Wie können würdige Abschiedsfeiern gestaltet werden? Das gelingt nur, wenn sich tatsächlich die zum Sterben entschlossenen Menschen/Patienten bei Bewusstsein und schmerzfrei verabschieden können.

Die Kirchenführer sind fixiert auf den Erhalt der bisherigen Gesetze. Sie haben wie immer Angst vor Neuerungen und Reformen. Sie haben das Wort Zuversicht aus ihrem Vokabular gestrichen, Ist das christlich? Sie sehen auch jetzt wieder die üblichen Dammbrüche und Katastrophen, sind aber nicht in der Lage, einmal nach Holland zu schauen, nach Belgien, in die Schweiz usw., um zu fragen: Ist dort tatsächlich Mord und Totschlag an der Tagesordnung, bedingt durch liberalere Gesetze beim Sterben. Die alles Wissenden deutschen Theologen und Pfarrer, ebenso die mit den Kirchen verbandelten Politiker, sprechen nicht mit Pfarrern und Theologen aus der schweizerischen, belgischen und holländischen Nachbarschaft, die selbstverständlich Menschen in den letzten Stunden begleiten, wenn sie unter ärztlicher Assistenz aus dem Leben scheiden und von schwersten Schmerzen befreit, erlöst, werden.

Die Kirchen in Deutschland könnten ihre eigentliche Aufgabe wahrnehmen, wenn sie den Prozess der Freiheit und Befreiung auch in Fragen des Sterbens zunächst einmal bejahen und aus dieser Bejahung dann auch mitgestalten. Sie sollten sich fragen, wenn sie schon auf die Bibel starren, wo denn in der Bibel der Suizid verboten ist.

Durch das pure Pochen, langweilig, ängstlich und autoritär wie eh und je, begeben sich die Kirchen wieder mal selbst ins Getto.

Religiöse Menschen und religionsphilosophisch Interessierte sollten hingegen den Prozess der Befreiung auch im selbst bestimmten Sterben mitgestalten, statt ihn permanent zu bejammern. Eine starre Haltung hat, wie immer in der Geschichte, keine Zukunft.

Diese Erstarrung aus Angst vor neuen Gesetzen diskreditiert alle Versuche, eine neue Ordnung zu schaffen, in der auch die jetzt qualvoll Leidenden und zum Tode Entschlossenen eine humane Antwort finden. Dann könnte endlich auch einmal nicht nur vom Sterben, sondern von dem viel anspruchsvolleren Thema „TOD – Was ist das?“ gesprochen werden. Die langen Debatten rund um das Sterben haben das Thema Tod und definitive Endlichkeit in den Hintergrund treten lassen. Leider, meinen wir.

Ein Hinweis zum Schluss:

In der katholischen Monatszeitschrift HERDER Korrespondenz Heft 11 (2014 Seite 567 ff.) wird ein Beitrag von Giovanni Maio publiziert, er ist als Arzt in München Uni-Professor für Medizinethik,, (philosophisch M.A.) und Mitglied des Ausschusses für ethische Grundsatzfragen der Bundesärztekammer UND Berater der Deutschen (katholischen) Bischofskonferenz, eine interessante Verbindung und Nähe übrigens.

Sein Beitrag hat den Titel: „Handhabbarer Tod? Warum der assistierte Suizid nicht die richtige Antwort ist“.

Wir können aus diesem viele alte bekannte Argumente wiederholenden Beitrag nur darauf hinweisen, wie da gegen die Menschen argumentiert wird, die in größter Not der Schmerzen aus diesem Leiden befreit werden wollen. Kein einziger Patient, der um assistierten Suizid bittet, wird zitiert, kein Verteidiger dieser Position auch nur namentlich erwähnt. Ein merkwürdiger arroganter Beitrag, meinen wir.

Herr Maio unterstellt, diese um den assistierten Suizid bittenden Menschen würden sich in ihrem Leben jetzt „überflüssig“ fühlen (s. 568), sie würden sich „wertlos vorkommen“, „als Last, als Bürde, ja als Zumutung für andere“ (ebd.). Dass die Überwindung unerträglichen Leidens aus freier subjektiver Kraft die erste Rolle spielt, wird in dem Beitrag nicht gesehen. Das Gefühl lästig zu sein, kann ihnen auch von Geld gierigen Gesunden eingeredet werden. Und das passierte immer schon, auch vor der debatte um die assistierte Sterbehilfe.

Hingegen wird zurecht gesagt, es sei alles Erträgliche zu tun, „um Suizidwünsche zu vermeiden“ (ebd). Das ist ja richtig im Fall eines allgemeinen Suizidwunsches, aus Liebeskummer, mieser Stimmung usw., das gilt aber nicht für den Sonderfall des assistierten Suizides im Falle schwerster und aussichtsloser Krankheit.

Autonomie versteht Herr Maio falsch, indem er Autonomie deutet ,„alles ohne Hilfe Dritter machen zu können“ (S. 569). Autonomie aber kann niemals ohne die Bezogenheit auf andere verstanden werden. Entscheidend ist: Es muss jedoch eine freie und gleichwertige Beziehung sein, keine Beziehung der Herrschaft und des Oben und Unten. Herr Maio verwechselt offenbar Autarkie und Autonomie.

Dann meint er den assistierten Suizid deswegen abweisen zu können, weil dieser ein Mittel sein soll der Leidverhinderung und sogar Leidenslinderung (s. 569). Es geht nicht um die Verhinderung von Leiden im Fall des assistierten Suizides, sondern um die definitive Abweisung eines Lebens, das nichts mehr als Leiden ist. Es geht um Befreiung und Erlösung aus diesem Leib und der Hinkehr zu Gott, so fromme Menschen, wie Hans Küng.

Es geht auch nicht um die Schaffung „einer leidlosen Gesellschaft“, wie Herr Maio suggeriert, sondern nur um die Abwehr des einzelnen, definitiv schmerzhafteste Zustände zu ertragen. Natürlich wird auch ein Schwerstkranker noch das Leiden von Zahnschmerzen etc. ertragen. Indem, wie so oft üblich in konservativen Kreisen, der assistierte Suizid so in maßlose, globale und gerade alberne Dimensionen wie „Forderung nach Leidlosigkeit“ gezogen wird, werden Schreckgespenster wachgerufen. Die Utopie, dass sich in „besserer Zukunft“ (S. 570) „alle sich um den alten Menschen ranken, ihn verehren“ (ebd.) soll bitte den Politikern der CDU und SPD nahe gebracht werden, sollen sich diese Herrschaften einmal dem Gespräch stellen mit den Betroffenen. Und dann sollen sie bitte noch ca. 10.000 weitere stationäre Hospize in Deutschland bauen und dabei zur Finanzierung auf ihr üppiges Salär verzichten zugunsten der alten Menschen, „um die sich alle ranken” (? ) und „die alle verehren“.

copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

Ökumenische Verständigung: Schon im 17. Jahrhundert in Polen

Manfred Richter (Berlin) hat eine große Studie veröffentlicht über „Das Colloquium Charitativum von Thorn 1645“.

Ein Buchhinweis von Christian Modehn

Bisher ist es einer breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt, dass in der polnischen Stadt Thorn im Jahr 1645 ein wohl bedachter Versuch gewagt wurde, eine gemeinsame theologische Basis zu finden für die zerstrittenen, sich bekämpfenden Protestanten und Katholiken. Man bedenke, dieses ökumenische Colloquium im Geist der Friedfertigkeit und des wechselseitigen Verstehens fand noch gegen Ende des „Dreißigjährigen Krieges“ statt. Polen erlebte damals – eine Ausnahme in Mitteleuropa – seine glanzvolle Zeit, eine Zeit des Friedens und der weitgehenden Toleranz unter den zerstrittenen Konfessionen.

Zum „Colloquium Charitativum“ hatte der polnische König Wladyslaw IV. eingeladen. Dabei war der Beitrag des Theologen und Pädagogen Johann Amos Comenius von ganz besonderer Bedeutung. Es ist das Verdient des Berliner Theologen Manfred Richter, dass er in einer ausführlichen Studie diese Zusammenhänge untersucht. Sein Buch hat den Titel  „Johann Adam Comenius und das Colloquium Charitativum von Thorn 1645“, Siedlce 2013, 545 Seiten.

Diese Studie bietet auch zahlreiche Informationen für philosophisch Interessierte, die sich für den Frieden unter den sich auf einen friedfertigen Gott berufenden Christen interessieren.

Manfred Richter zeigt auch kenntnisreich und sehr detalliert die Voraussetzungen und Vorbereitungen für dieses ungewöhnliche Kolloquium, das eben nicht dem damals üblichen konfessionalistischen Gezänk folgte. Comenius selbst, der große Theologe der böhmischen Brüder, bemühte sich eine über das Konfessionelle hinausgehende Vision des Christlichen zu entwickeln, die auf der Bibel wie auch auf der wahren katholischen Lehre (!) beruhte. Er erarbeitete eine Art ökumenische Theologie der gemeinsamen christlichen Grundlagen! Er forderte zudem, wie Manfred Richter berichtet, eine vere catholica philosophia, diese natürlich nicht im engen konfessionalistisch römischen Sinne zu verstehen!

Interessant sind auch für alle, die sich für die Theologie der in den Niederlanden entstandenen Kirche der Remonstranten interessieren, die Hinweise auf die Sozinianer in Polen. Sie waren zum eigentlichen Colloquium in Thorn dann leider doch nicht zugelassen (weil sie nicht die Trinität für eine zentrale Lehre hielten und zu humanistisch-rationalistisch dachten). Die Remonstranten in Friedrichstadt haben die Sozinianer damals unterstützt. Die Remonstranten selbst waren ja damals verfolgt (in Holland!), eben weil sie auf den freien Willen des Menschen auch im Glauben nicht verzichten wollten.

Für Manfred Richter ist diese große, reich dokumentierte Studie eine weitere Bestärkung, das eigene, langjährige und nicht nur in Berlin bekannte ökumenische Engagement fortzusetzen. Er kritisiert etwa den Begriff der offiziellen “Lutherdekade” (im Blick auf 2017) und wünscht sich viel dringender, weil theologisch viel treffender, eine Reformationsdekade: Denn alle Kirchen, aber auch alle Kirchen und Konfessionen bedürfen der Reformation.

Weitere Informationen auch über www.deutsche-comenius-gesellschaft.de

Wir sind gespannt, was Manfred Richter anlässlich des Jan Hus Jubiläums plant.

“Uns allen blüht der Tod” – Der mexikanische “dia de los muertos”

“Uns allen blüht der Tod…” – Das mexikanische Totenfest. Siehe auch den Buchhinweis am Ende dieses Beitrags.

Von Alfons Vietmeier, Mexiko – Stadt.

Das mexikanische Totenfest (“Días de los Muertos”) ist das (fast)  wichtigste Volksfest des Jahres. Zuerst und vor allem ist es ein Familienfest. Fast so wie an Weihnachten wird das Wohnzimmer geschmückt mit Girlanden und es wird ein Altar gebaut: statt Geschenke für uns Lebende, werden die Verstorbenen empfangen und beschenkt mit all den Lieblingspeisen und –Getränken, die ihnen im Leben wichtig waren; so darf auch ein Tequila nicht fehlen. Und für jeden Lebenden und Toten der Familie steht auf dem Altar ein kleiner Totenschädel aus Schokolade oder Amaranto mit einem Zettel der den jeweiligen Namen angibt. Auf dem Altar sind zudem die Fotos der Verstorbenen, einige persönliche Erinnerungsstücke und symbolisch die vier Elemente: Blumen als Zeichen von Erde, Kerzen (zumindest vier für die Himmelsrichtungen) als Zeichen des Feuers, Weihrauch als Zeichen des Windes und dann ein Wasserglas. In einigen Regionen kommen schon am 31. Oktober abends die verstorbenen Kinder; in der Mehrzahl der Regionen kommen sie am 1. November abends und am 2. November dann die verstorbenen Erwachsenen. Damit sie den Weg zum Altar auch finden, streuen viele Familien einen Weg mit den gelben Blütenblättern der “Cempasúchil – Totenblume”: gelb ist die Farbe des Lebens und der Sonne: Himmel und Erde sind vereint. Es wird gebetet, gesungen, Erinnerungen erzählt und es wird miteinander gegessen: das süsse “Totenbrot” und heisser Kakao. Natürlich werden die Gräber auf den Friedhöfen mit diesen gelben Bumen üppig geschmückt. in vielen Orten ist des Brauch , abends im Dunkeln sich auf dem Friedhof zu treffen mit vielen Kerzenlichtern: Lebende und Tote besuchen sich und nachdenklich – dankbar werden Erinnerungen, Essen und Trinken miteinander geteilt.

Die Wurzeln dieser Festtage reichen weit zurück in die vorspanische Kultur und Religion. Über Jahrtausende erwuchs diese Kosmosvision einer integralen Welt, in der Natur und Menschen eine Einheit bilden. So wie die Pflanzen blühen, Frucht bringen und sterben und dann als Dünger neues Leben zu ermöglichen, so ist es auch mit dem menschlichen Lebenszyklus. Wir sind Teil eines sich immer erneuernden Ökosystems. Tod und Leben gehören zusammen.

In solchem Begreifen eines ewigen Austausches von Leben und Tod ist auch die indigene Religion einzuorden: Das Göttliche beseelt Alles: auch die Natur hat Seele. Jedes Ökosystem, einschlieslich menschliches Leben, macht das göttliche Leben und sein Geheimnis sichtbar. Die uralten Schöpfungsmythen der verschiedenen mesoamerikanischen Völker haben gemeinsam, dass die vier Elemente “Erde – Wasser – Feuer – Wind” alleine nicht den Bestand des Kosmos und des Lebens in ihm schaffen konnten. Deshalb war ein weiterer göttlicher Schöpfungsakt notwendig: um die Dunkelheit  zu erhellen, opfert sich die Gottheit der Kranken und Leidenden, wirft sich ins heilige Feuer und beim sich Verbrennen verwandelt er sich in die Sonne (= die fünfte Dimension), die Alles erhellt und belebt. Krankheit, Leiden und Tod verwandeln sich in Licht und Leben für den ganzen Kosmos und das immer neu!

Wir müssen deshalb keine Angst vor dem Tod haben: Wir sind weiter wichtig für die nach uns Lebenden und diese pflegen zugleich uns weiter! Und zugleich auch: Mensch und Natur sind verwoben: deshalb müssen wir die Umwelt pflegen und auch immer neu die Menschenwürde verteidigen! Genau das empfinden weiterhin ganz Viele, denn es lebt im Unbewussten als kulturelles Erbgut.

Als vor 500 Jahren, nach der politischen Eroberung durch Hernán Cortés, auch der iberische Katholizismus begann die indigene Religion zu erobern, hatten die ersten Missionare kein Problem mit solchen Totenbräuchen. Sie spürten Übereinstimmung mit der christliche Sicht: “Von der Erde sind wir genommen und zur Erde kehren wir zurück!”, so wird bei Beerdigungen gebetet  und am Aschermittwoch als Aschekreuz auf die Stirn gezeichnet. Von sich selbst sagte Jesus: “Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht” (Joh. 12, 24). Das “Gottesopfer” geschah am Kreuz und Ostern besiegte den Tod. Also Aschermittwoch und Allerseelen, Karfreitag  und Ostern zusammen! Auch bis heute wird das so im katholisch – kirchlichen Milieu ausgedrückt: jeder Kirchenraum hat seinen “Totenaltar”, reich geschmückt mit der Vielfalt indigener religiöser Symbole und keine kommt auf die Idee zu sagen: das ist aber heidnisch! Es ist ein kreativer Synkretismus! Ihn hat es immer schon in der Geschichte des Christentums gegeben, zum Beispiel bei den Weihnachtsbräuchen.

Weil es sich beim Totenfest um eine integrale Kosmosvision handelt, ist notwendigerweise die ganze Gesellschaft mit einbezogen. Jeder Kindergarten, jeder Schule, jedes Büro oder Geschäft hat seinen “Totenaltar” und überall dabei Girlanden und die “Totenblumen”. Jede Stadt und jeder Ortsteil hat auf seinem Hauptplatz einen Wettbewerb von “Totenaltäre” und dazu gibt’s Volksmusik und Essens- und Getränkestände: so etwas wie Weihnachtsmarkt – Stimmung, aber mit weniger Rummel und mehr Volkskultur, mit weniger Kommerz und mehr politisch satitrisch, insbesondere in den letzten Jahren.

Ich war mit meiner Familie auf dem Campus der UNAM der grössten Universtät in Lateinamerika mit rd. 250 tausend Studenten. Einige tausend Studenten und auch Professoren, Ehemalige usw. schlendern gelockert und nachdenklich über die riesige Grünfläche vor dem Rektorat  zwischen Hunderten von grossflächigen Totenaltären: Studenten und Mitarbeiten fast aller Fakultäten und Forschungsstätten haben Kreativen in wochenlanger Vorarbeit erarbeitet. Tema war in diesem Jahr die Erinnerung an das 25. Todesjahr von Jorge Luis Borges, einer der grössten lateinamerikanischen Dichter und tiefsinniger Denker des Lebensdramas. Medizinstudenten visualsieren dies scharf – kritisch mit der Darstellung von Opfern ärztlicher Fehldiagnosen, unterlegt mit Gedichten von Borges. Die Biologie hat natürlich den Tod der Umwelt zum Thema und die Fakultät der Rechtswisenschaften arbeitet das ab mit Beispielen der realen Ungerechtigkeit: die Gefängnisse von voll Kleindelinquenten, verurteilt zum sozialen Tod oder als Kanonenfutter des Drogenkrieges. Und die Täter mit weissen Kragen? Auch sie müssen sterben: der Tod ist gerecht. Uns allen blüht der Tod!

Ich sehe im Fernsehen die Übertragung der Totenfeier der neuen “Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Menschenwürde”: Tausende mit Lichtern in der Händen sind in der Dämmerung um die “Siegessäule” versammelt. Ihr Sprecher, der Poet Javier Sicilia, liest einen bewegenden Appell: Es gilt, sich heute zu erinnern insbesondere der Tausenden Opfern einer wilden Unmoral, die sich unseres Landes bemächtigt hat. Jedes Opfer hat einen Namen, ein Gesicht und seine ureigene Lebensgeschichte. Die Gesellschaft und der Staat sind tief verschuldet durch fehlende Gerechtigkeit den Opfern gegenüber und den Lebenden! Zugleich listet es einen hochpolitischen Forderungskatalog auf! Verschuldung beinhaltet auch Entschuldung und Aufbau eines gerechteren Gesellschaftsstuktur. Das mexikanische Totenfest in seiner familiären, sozialen, kulturellen und politischen Ausfächerung hat Zentrum, ein  Herz das klopft und so Herzen bewegt.

Ich höre dann in den Nachrichten vom “G 20 – Gipfel” die markante Aussage: “Der Euro ist das Herz von Europa!”. Ich werde betroffen und wütend: Geld ist zum Herzstück tausendjähriger abendländischer Kultur geworden?! Das darf doch nicht wahr sein: der brutal – orgiastische “Tanz um’s goldene Kalb” ist jetzt Herzenssache?! Genau deshalb erleiden wir eine herzlosen Zeit! So lese ich mit Genugtuung, dass sogar die FAZ (Mitherausgeber Schirrmacher, 4.11.2011) unterstreicht “…wie massiv gerade moralische Übereinkünfte der Nachkriegszeit im Namen einer höheren, einer finanzökonomischen Vernunft zerstört werden. Solche Prozesse laufen schleichend ab, sie tun ihr Werk im Halbbewussten, manchmal über Jahrzehnte, bis aus ihnen eine neue Ideologie entstanden ist. So war es immer in den Inkubationsphasen der großen autoritären Krisen des zwanzigsten Jahrhunderts. (…) Es ist gut, einen Schritt zurückzutreten, um klar zu sehen, was sich hier vor unser aller Augen abspielt. Es ist das Schauspiel einer Degeneration jener Werte und Überzeugungen, die einst in der Idee Europas verkörpert schienen”.

Gerade unsere kritisch – chaotische Zeit im Umbruch benötigt vor allem auch Zeiten – Erfahrungen, die uns ermöglichen, den tieferen Sinn der Existenz von Welt und Mensch zu entdecken und wieder ins Zentrum zu rücken. Immer dringlicher gilt es, tiefer und weiter zu denken, umzudenken und: anders leben und handeln!

Das neue Buch:
Alfons Vietmeier, 1942 in Emsdetten geboren, studierte inMünchen und Münster Theologie. Als katholischer Priester arbeitete er an der Basis in Cardonal, bei Tula, Mexiko. 1991 zog er nach Mexiko Stadt, um außerhalb des Amtspriestertums ökumenische Bildungsarbeit zu leisten, vor allem im Blick auf die zunehmende Urbanisierung. Er ist mit einer Anthropoligin und Historikerin verheiratet.
Seit seiner Pensionierung im Jahr 2005 engagiert er sich ehrenamtlich in der Gestaltung eines zivilgesellschaftlich relevanten Netzes von der Basis aus zugunsten einer gerechten, demokratischen Gesellschaft und zugunsten von christlichen Gemeinden, die ihre politisch – soziale Aufgabe neu entdecken, und dabei gerade die religiöse Dimension auch neu wahrnehmen.
Sein neues Buch hat den Titel „Mexiko tiefer verstehen“, es bietet einen kritischen Einblick die vielfältige Realität Mexikos.
Viele Menschen in diesem Land sind dem brutalen internationalen Drogenhandel ausgesetzt, Frauen werden abgeschlachtet (Ciudad Juarez), die Zivilgesellschaft wird tyrannisiert, aber sie wehrt sich und braucht Unterstützung weltweit: Denn der Bedarf an harten Drogen in den USA und der so genannten „reichen Welt“ wird geweckt durch eine tiefe Sinnkrise, um nicht zu sagen Sinnleere, in der Millionen reicher und weniger begüterter Menschen leben. Angesichts dieses massenhaften Bedarfs an berauschenden Mitteln bis hin zu total benebelnden Giften darf man sich fragen, was es bedeutet, wenn sich die USA eine christliche Nation nennen. In god we trust, diese und ähnliche Sprüche verdecken nur die Tatsache, dass das Christentum, die Kirchen, in den USA eben nicht wirksam und prägend geworden sind. Die große Sinnleere hat der Glaube eben nicht ausfüllen können. Das Christentum in der Drogen -Konsumenten – Nation USA ist, dürfen wir es sagen, weithin nichts als schöner Schein, als eine Blase, mit der Politik (auch Außenpolitik) gemacht werden kann und mit dem sich viel Geld in Gemeinden machen lässt… das dann aber unter den Hand wieder für harte Drogen ausgegeben wird. Dies sind Randbemerkungen von Christian Modehn.

Das Buch von Alfons Vietmeier „Mexiko tiefer verstehen“ ist im Herbst 2013 im Dialog Verlag Münster erschienen.
copyright: Religionsphilosophischer Salon.