Für einen modernen Katholizismus

Katholizismus und Moderne verbinden.
Perspektiven von Jacques Gaillot.

Auszüge aus einem Buchbeitrag von Christian Modehn

Klicken Sie zur Lektüre einen aktuellen Link vom Juni 2013 hier

Jacques Gaillot hatte als Bischof von Evreux (1982 bis 1995) zahlreiche Kontakte mit jungen Menschen, auch mit Atheisten, mit Menschen, die durch ihn wieder Interesse an der Kirche fanden. Aber „dieser Hoffnungsträger“ wurde 1995 von Rom abgesetzt. Unverschämt geradezu der Vorwurf seiner vatikanischen Richter: „Gaillot hat sich als Bischof als unfähig erwiesen“. Im Rückblick muss man die Absetzung Bischof Gaillots als Beispiel für die „Selbstzerstörung des Katholizismus“ durch die Kirchenführung selbst interpretieren. Indem sie sich in den alten Mauern einschließt, gibt sie dem lebendigen Leben keine Chance. Ausdruck für den versteinerten Geist und die versteinerte Institution ist das Bemühen Benedikt XVI., die besonders Versteinerten, die in das Uralte verliebt sind und den Antisemitismus verteidigten, die Pius-Brüder, wieder in die römische Kirche „zurückzuholen“. Psychologen sprechen in dem Zusammenhang von der Lust am Morbiden…
Gleichermaßen politisch wie theologisch konservative bzw. reaktionäre Kräfte haben Jacques Gaillot zu Fall gebracht. „10 Jahre wurde Gaillot vom Vatikan beobachtet“, also praktisch seine ganze Zeit als Bischof von Evreux, betonte ganz freimütig einer seiner Richter im Vatikan, Msgr. J. Tauran im Januar 1995 in einem Zeitungsinterview. Danke für die Offenheit! Zu Gaillots heftigsten Widersachern gehörte, um nur ein Beispiel von vielen anderen Beispielen zu nennen, Abt Gérard Calvet vom traditionalistischen Benediktiner Kloster Le Barroux bei Avignon. Ursprünglich eng mit den Lefèbvre Leuten (den „Piusbrüdern“) verbunden sowie den Ideen des rechtsextremen Front National (Le Pen), war es Kardinal Ratzinger gelungen, diese Mönche mit ihrem Abt Calvet wieder an den Papst zu binden…Auf ihn hörte der Vatikan, als man Gaillot zu Fall brachte. Der „Fall Gaillot“ war also immer auch ein „politischer Fall“, wobei sich der Vatikan stets auf der sehr rechten Seite präsentierte…
Die Absetzung Jacques Gaillots als Bischof wurde zu recht schon damals als das symbolische Ende eines um Freiheit und Evangelium bemühten Flügels innerhalb der römischen Kirche wahrgenommen. Historiker werden bei noch größerem zeitlichen Abstand feststellen: Jacques Gaillot war als Bischof eine für katholische Verhältnisse „einmalige Gestalt“ im Europa des 20. Jahrhunderts, eine Verbindung von Moderne und Evangelium, wie sie sonst kaum möglich erschien, vergleichbar vielleicht den von Rom ebenso ungeliebten Bischöfen Pedro Casaldaliga oder Dom Helder Camara, beide Brasilien…Dass auch Jacques Gaillot (wie alle anderen Bischöfe auch) einmal sozusagen im Dauerstress übereilt reagierte oder dabei Fehler machte, versteht sich von selbst. Aber seine theologische Linie, Moderne und Katholizismus zu verbinden, blieb und bleibt zweifelsfrei vorbildlich und, sagen wir es ruhig, einmalig.
Auch wenn jetzt noch einige „Reformkatholiken“ die ewig selben Reformvorschläge wiederholen und wiederholen: Der „Fall Gaillot“ hat meines Erachtens klargemacht: Reformen grundlegender, radikaler Art haben im römischen System keine Chance. Einzig eine neue Reformation hätte Sinn, dann bliebe aber zumindest ein Teil der römischen Kirche nicht mehr „der selbe“ wie vorher…(siehe Martin Luther). Jacques Gaillot hat sich entschieden, nicht zum Reformator zu werden, er wollte kein französischer Luther sein. Das ist seine Entscheidung, die es zu respektieren gilt, auch wenn niemals wenigstens gedanklich durchgespielt wurde und auch heute nicht durchgespielt wird, was denn eine neue Reformation bedeutet hätte und immer noch bedeuten würde, gerade angesichts der tiefen Krise und des absoluten Vertrauensverlustes des Katholizismus etwa jetzt im Frühjahr 2010.
Im Rückblick bleibt auch das Bedauern, dass Jacques Gaillot nie deutlich spürbare Unterstützung von prominenten Theologen gefunden hat: Die Namen der „großen“ Theologen z.B. in Tübingen oder Münster brauchen hier nicht genannt zu werden, sie haben meines Wissens diesem bescheidenen Mann des Evangeliums niemals öffentlich und deutlich zur Seite gestanden. Waren sie sich – von der Solidarität Eugen Drewermann einmal abgesehen – zu fein, waren sie sogar so unbescheiden, dass sie meinten, dieser Bischof aus Evreux und später in Partenia „biete theologisch zu wenig“? So viel Arroganz wäre schlechthin unverständlich.
Eine andere entscheidende Frage lautet: Wird Jacques Gaillot noch zu Lebzeiten rehabilitiert werden? Wird sich Rom bei ihm für die Absetzung entschuldigen und sich dann bedanken für die zahlreichen Impulse, die er den Menschen von heute gegeben hat? Wird sich die französische Bischofskonferenz entschuldigen, dass sie ihn seit 1995 weitestgehend ignoriert hat und praktisch niemals mehr zu ihren Versammlungen eingeladen hat? Wird sie diesem Bischof mit der einfachen und deswegen so befremdlich wirkenden Botschaft die Hand reichen? Gibt es noch Menschen, die glauben, der römische Katholizismus könne sich wie durch ein Wunder reformieren und dem Geist des Evangeliums entsprechen? Was bleibt für die anderen? „Um das Licht zu sehen, müssen wir aus den Mauern heraustreten“, so Bischof Jacques Gaillot zu Ostern 1983.

Den vollständigen Text und viele andere interessante Beiträge zu Jacques Gaillot finden Sie in dem neu erschienen Buch:

„Die Freiheit wird euch wahr machen“, herausgegeben von Roland Breitenbach, Reimund-Maier-Verlag Schweinfurt: ISBN 978-3-926300-64-5, Preis: 18,80 Euro
Direktbestellung des Buches: info@reimund-maier-verlag.de

Vielleicht hat Gott heute “neue Kleider” an. Ein freisinniger Katechismus

Ein spirituelles Buch, es nennt sich – mit etwas Ironie – Katechismus. Denn dieses Buch will nicht belehren, es will zu denken geben. Ein neues Buch freisinniger Protestanten…

Gottes „neue Kleider“?

Ein neuer Katechismus – eine Einladung, selber zu denken und den eigenen Glauben zu entwickeln

Alle 150 Abgeordneten des Niederländischen Parlaments (Tweede Kamer) erhalten dieser Tage einen Katechismus geschenkt. Ungewöhnlich, in einem säkularisierten Land wie Holland. Dabei handelt es sich nicht um den Versuch, klerikale Machtansprüche in der Politik durchzusetzen, das liegt den Autoren des ungewöhnlichen Katechismus auch völlig fern. Denn sie treten als “freisinnige, liberale Christen” entschieden für die Trennung von Kirche und Staat ein. Aber ihnen liegt daran, mit allen Menschen, auch mit Politikern, in einen partnerschaftlichen Dialog einzutreten, nicht über Dogmen, wohl aber auch ethische Orientierungs – Vorschläge!

Es ist schon komisch: Ausgerechnet in Holland erscheint dieser Tage ein neuer Katechismus. Ist das Wort „Katechismus“ nicht völlig out, völlig verbraucht, gerade in den Niederlanden, wo nur noch etwa 35 Prozent der Bevölkerung Mitglieder einer christlichen Kirche sind und die wenigsten Menschen von dogmatischen Lehren unterwiesen werden wollen? In dieser Situation muss man schon etwas Außergewöhnliches vorweisen: Der neue holländische Katechismus konnte entstehen, weil die vier freisinnigen christlichen Kirchen Hollands angesichts des zunehmenden Einflusses konservativer und reaktionärer Kirchen deutlich ihre eigene Stimme erheben, die Stimme der Freiheit, die dem Nachdenken allen Raum lässt und eben keine fertigen „ewigen“ Wahrheiten präsentiert. Es sind keine Leitungsgremien, keine Bischöfe und keine Päpste, die diesen Katechismus verfasst haben, sondern zwei Pfarrer, die im ständigen Austausch mit der Kultur der Gegenwart stehen: Christiane Berckvens – Stevelinck, Theologin der Remonstranten Kirche, und Ad Ablass, Theologe der freisinnigen Strömung innerhalb der Protestantischen Kirche (PKN) legen ein Buch vor, das in 12 Kapiteln Grundworte der menschlichen Kultur erläutert, Grundworte, die ihre Wurzeln in den biblischen Traditionen haben. Am Anfang steht die „Compassie“, das Mitleid, am Ende die dem Mitgefühl und der Empathie verwandte Liebe. Andere Themen sind Gleichheit, Verbundenheit, Versöhnung, Gerechtigkeit, Friede, Wahrheit, Freiheit, Berufung, Glaube und Gott. Das neue Buch nennt sich ausdrücklich „Katechismus des Mitleids“, ein zweifellos ungewöhnlicher, wenn nicht gar provozierender Titel. Aber er deutet das Ziel an: Die LeserInnen werden eingeladen, angesichts der humanen, ökologischen und politischen Katastrophen der Gegenwart das Mitleiden zu entwickeln, nicht nur als spirituelle Haltung, sondern vor allem als aufgeklärtes Handeln zugunsten der Leidenden. Aber dieser Appell zum Handeln ist nicht dick aufgetragen, vielmehr bieten die einzelnen Kapitel Informationen und meditative Impulse zu diesen Grundworten humaner Existenz. So ist ein Buch entstanden, das sich wohl am besten in einer eher „meditativen und behutsamen Lektüre“ erschließt. Nebenbei: Das Buch verdankt wesentliche Anregungen der britischen Philosophin und ehemaligen katholischen Nonne Karen Armstrong, die sich ausdrücklich für eine „Charta des Mitgefühls“ einsetzt. So gehört dieses Buch zu dem weltweit entstehenden Netwerk „Compassion“! Alle Kapitel des Katechismus werden „eingeleitet“ mit schönen Nachdrucken von Gemälden, Chagall ist genauso vertreten wie Rembrandt, Claudio Taddei genauso wie Caravaggio oder Ferdinand Hodler. Die eigens für das Buch gefertigten Gemälde der Künstlerin Brigida Almeida aus Utrecht beschließen jedes Kapitel. Im Text werden die Leser mit einer Fülle an Informationen aus der Literatur, dem Film, dem Theater konfrontiert, Informationen, die gleichermaßen die Schwierigkeiten wie die Chancen einer Lebenshaltung vorstellen, die sich von den 12 „Katechismus – Grundworten“ inspirieren lassen will, biblische Perspektiven sind jeweils ein Kapitel unter den anderen. Das ist der typische freisinnige Geist, dass keinem „Bibel – Fanatismus“ gehuldigt wird, sondern spirituelle Inspirationen auch im „weiten Feld“ der Religionen und Kulturen präsentiert werden. Sympathisch werden es Berliner finden, dass zum Thema Freiheit schon im Titel auf den berühmten Ausspruch John F. Kennedys verwiesen wird: „Ich bin ein Berliner“, ein Ausspruch, der heute als Bekenntnis gegen alle Formen des Totalitarismus verstanden wird. Äußerst sympathisch ist auch, dass das Kapitel über die Liebe mit einem Bild von Julius Schnorr von Carolsfeld eröffnet wird, das die beiden Liebhaber David und Jonathan zeigt., sicher ist auch die Entscheidung für dieses Bild typisch für Freisinnige in Holland: Die Remonstranten waren ja die erste Kirche weltweit, die schon 1986 homosexuelle Paare –gleich welcher Konfession- in ihren Kirchen segnete. Sympathisch ist auch, dass der ungewöhnliche, progressive katholische Theologe Karl Rahner als Verteidiger der Mystik erwähnt wird.

Dies ist wohl der entscheidende Eindruck: Dieser auch vom Layout so schöne und freundliche Katechismus der freisinnigen Christen plädiert für die Mystik, sicher für eine moderne, eine durch die Aufklärung „hindurchgegangene” Mystik: Aber doch wird aller Nachdruck gelegt auf das innere Erleben des Göttlichen, das sich im Handeln ausdrückt. In der Mystik sehen die Autoren ohnehin die Zukunft des Religiösen. Interessant könnte es sein, wie sich die freisinnigen Kirchen selbst zu Orten (multi-religiöser) Mystik entwickeln. Vielleicht ist diese Mystik das neue Profil der Freisinnigen und ihrer Gemeinden? Vielleicht können sie mit diesem Profil weitere undogmatische, aber mystisch Interessierte einladen? Die niederländischen Autoren sind jedenfalls überzeugt: Gott ist nicht tot, er zeigt heute nur neue, ungewöhnliche „Gesichter“. Er hat vielleicht neue Kleider angelegt, wie die Autoren schreiben.

“Catechismus van de compassie”. Erschienen im Verlag Skandalon, in Vught, Holland. ISBN 978-90-76564-94-4.compas

Jacques Gaillot: Ein neues Buch: “Die Freiheit wird euch wahr machen”.

Einer der wichtigsten Reformer der katholischen Kirche wird am 11. 9. 2010 75 Jahre alt. Aus diesem Anlaß erscheint das Buch:

Die Freiheit wird euch wahr machen. Ein Buch anlässlich des 75. Geburtstages von Jacques Gaillot. Hg. von Roland Breitenbach unter Mitarbeit von Katharina Haller, Zürich, und Christian Modehn, Berlin.
200 Seiten; 12 S. farbiger Bildteil. Reimund Maier Verlag, Schweinfurth.

Ein Hinweis von Christian Modehn.  Siehe auch anläßlich des Todes von Bischof Jacques Gaillot den Beitrag von Christian Midehn: LINK.

Ergänzung am 11.8.2024:

Der Buchtitel “Die Freiheit wird euch wahrmachen” wurde von Christian Modehn 2010 vorgeschlagen und von den anderen Mitherausgebern des genannten Buches gern angenommen. Der Titel ist eine Drehung des auf Jesus bezogenen Wortes: “Die Wahrheit wird euch freimachen” (Johannes Ev., 8,32) . Ich hingegen meinte damals schon: Die Freiheit ist es, die den  Menschen wahr macht, die Freiheit als erlebte, gestaltete, als meine und unsere Freiheit macht mich wahr, d.h. führt mich, uns, zu einer wahren Gestalt des Menschseins. Dieser Titel passt sehr gut zum Leben und Denken und Handeln von Bischof Jacques Gaillot.

Der Titel wurde dann von konservativen Theologen abgeleht und bekämpft. Sie denken: Erst kommt die Wahrheit (Dogma), dann das Leben. I

Ich schreibe das  einige (14 !) Jahre nach Erscheinen des Gaillot Buches: Weil der bekannte katholische Theologe und Bibelwissenschaftler Prof.Fridolin Stier (Tübingen) in seinen Aufzeichnungen “Vielleicht ist irgendwo Tag” (Herder, 1993, auf Seite 300 lapidar erklärt: “Die Wahrheit wird euch freimachen,-  ja, aber ich füge hinzu: Die Freiheit wird euch wahrmachen”. Am 24.8.1973 hat Fridolin Stier diesen theologischen Satz notiert. Mich freut es, dass ich bei meinem Titel -Vorschlag 2010 noch nicht ahnte, dass wir uns in guter theologischer Gesellschaft befinden. Sorry, aber so viel Ehrgeiz darf ja mal sein.

Das Buch “Die Freiheit wird euch wahrmachen” ist antiquarisch leider nicht mehr erreichbar. Ein gutes Zeichen?

—–Ein Hinweis auf eine aktuelle Ra­dio­sen­dung über Jacques Gaillot:

Ein Text, der einer Sendung von Christian Modehn über Bischof Jacques Gaillot im Deutschlandfunk am 3. September 2010, um 9. 35 zugrunde lag.

Machtlos und frei
Bischof Jacques Gaillot wird 75 Jahre alt
Von Christian Modehn

1. SPR.: Berichterstatter
2. SPR.: Übersetzer

Moderationshinweis:
Er gilt weltweit als DIE Symbolfigur eines progressiven Katholizismus. Theologische Tabuthemen kennt er nicht, radikal sind seine Reformvorschläge. Aber jetzt will er dem Kirchenrecht Genüge tun: der französische Bischof Jacques Gaillot. In wenigen Tagen (am 11. September) wird er 75 Jahre. Und in diesem Alter müssen katholische Oberhirten in den Ruhestand treten. Einen Bischofspalast braucht Gaillot deswegen nicht zu verlassen, denn er lebt seit 15 Jahren in einem kleinen Zimmer des Klosters der „Väter vom Heiligen Geist“ im 5. Pariser Arrondissement: Hier hat er Zuflucht gefunden, als ihn der Papst im Januar 1995 wegen allzu radikaler Ansichten absetzte. Christian Modehn hat Bischof Gaillot über viele Jahre zu Interviews getroffen.

1. O TON:
2. SPR.:
Ich verwechsele die Kirche Christi nicht mit einer bestimmten Art, wie die Kirche heute funktioniert. Oder mit einer Institution, die nur auf die Disziplin achtet. Meine vorrangige Sorge gilt eigentlich nicht der Kirche, sondern dem Leben der Leute, dem modernen Leben; es geht um die Menschen, nicht um die Kirchendisziplin.

1. SPR.:
Bischof Jacques Gaillot in einem Interview, mitten in Paris, Anfang Februar 1995. Erst wenige Tagen zuvor wurde er vom Vatikan als Bischof von Evreux in der Normandie abgesetzt. Was waren seine „Untaten“? Er hatte seit 1982 in beständiger Regelmäßigkeit öffentlich und in aller undiplomatischen Deutlichkeit die Abschaffung des Zölibatsgesetzes gefordert; er trat für das Priestertum der Frauen ein; er verteidigte die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen- Paaren, zudem hatte er Verständnis für die Abtreibung, den Gebrauch von Kondomen fand er als Schutz vor AIDS ganz normal. Ohne tief greifende Reformen habe die Kirche keine Zukunft, lautete sein immer wieder kehrendes Bekenntnis über all die Jahre bei seinen zahlreichen Auftritten in allen Fernseh- und Radiostationen Frankreichs. Für ihn waren sie eine günstige Gelegenheit, auch die Rechte der Ausländer einzuklagen und die Wohnungslosen und Obdachlosen entschieden zu verteidigen. Um Wehrdienstverweigerer kümmerte er sich genauso wie um Befreiungstheologen. Gaillot galt nicht nur als Kirchenrebell. Er war in seiner eher radikalen Position auch politisch höchst unbequem. Darum waren es „besorgte Katholiken“ wie auch konservative Politiker, die sich gemeinsam in Rom für die Absetzung Bischof Gaillots stark machten. Aber schon kurz nach seiner Absetzung war er gar nicht so unglücklich:

2. O TON:
2.SPR.:
Ich glaube, die Kirche hat mir einen Dienst erwiesen. Sie hat mich in eine Diözese ohne Grenzen hineingestoßen; sie hat mir, so würde ich sagen, erlaubt, dass ich mich befreie.

1. SPR.:
Der Ort der Befreiung hat für Gaillot einen Namen: Es ist der Wüstenort Partenia in Algerien, der nur noch als Titel eines längst untergegangenen Bistums existiert. Der Kirchenreformer Gaillot wurde also „Titularbischof von Partenia“. Er und seine Freunde machten dieses eher imaginäre Bistum zum Sammelpunkt von Menschen, die grundlegende Reformen in Kirche und Gesellschaft einklagen. Sofort wurde ein viel beachteter Internetaufritt geschaffen, der monatlich bis zu 800.000 Besucher aus aller Welt zählte. So entstanden neue Kontakte, Jacques Gaillot wurde zum reisenden „Wüstenbischof“, der nicht nur in ganz Europa, sondern noch in den abgelegenen Ecken des Amazonas oder im kanadischen Norden progressive Christen oder Verteidiger der Menschenrechte stärken wollte. Immer wenn er in Paris war, trat er öffentlich für die Belange der Flüchtlinge vor allem aus Nordafrika ein. Und er war bei Hausbesetzungen dabei, wenn Obdachlose ihr „Recht auf Wohnraum“ einklagten. Inmitten solcher Erfahrungen kam es immer wieder zu tieferen, geistlichen Gesprächen:

3. O TON
2. SPR.:
Es gibt Leute, die Jesus außerhalb der Kirchen entdecken als einen Menschen, der z.B. für die Frauen eingetreten ist oder für die Gleichheit der Menschen. Einst wurde das Evangelium durch die kirchliche Institution verbreitet. Heute ist Jesus nicht mehr in diese Grenzen eingebunden, das ist eine Chance für das Evangelium.

1. SPR.:
Gaillot möchte eine einfache, eine bescheidene und möglichst dogmenfreie Kirche fördern, eine Gemeinschaft, die vor allem in der praktischen Solidarität ihren Glauben bekennt. Die meisten Katholiken haben diese Haltung nicht verstanden, auch die französischen Bischöfe haben nur selten die Gemeinschaft mit ihrem radikalen Kollegen gesucht:

4. O TON
2. SPR::
Das letzte Mal zelebrierte ich eine Messe in der Kathedrale Notre Dame gemeinsam mit Bischöfen und Kardinälen anlässlich der Bestattung von Abbé Pierre im Jahr 2007. Tatsächlich habe ich wenig Verbindung mit der Hierarchie. Darüber bin ich nicht unglücklich, denn ich bin mit den Herzen vieler Leute verbunden.

1. SPR.:
Solange „Jacques“, wie ihn seine Freunde weltweit nennen, gesund bleibt, will er weiter Flüchtlinge, Ausländer und Obdachlose begleiten. Den Internetauftritt des virtuellen Bistums Partenia will er einstellen. Seinen Freunden überlässt er die Zukunft des inzwischen internationalen Netzwerkes:

5. O TON
2. SPR.:
Jacques Gaillot wird eines Tages nicht mehr da sein, dann muss wohl Partenia auch verschwinden oder aber: Partenia muss auf andere Art weitergehen: Man darf nicht zu viel festlegen, man muss die Freiheit walten lassen.

1. SPR.:
Aber auf diese Freiheit zu ungewöhnlichen Aktionen will Gaillot doch noch nicht ganz verzichten: So hat er erst vor einigen Wochen den traditionalistischen Abbé Philippe Laguérie getroffen, ausgerechnet jenen Priester, der in aller Schärfe damals aufs heftigste die Absetzung des progressiven Bischofs von Evreux forderte. Gespräche der Verständigung und Versöhnung nennt Gaillot solche ungewöhnlichen Begegnungen. An einen Rückzug aus der Öffentlichkeit denkt Jacques Gaillot auch als 75 Jähriger offenbar nicht.

Wer die Macht im Vatikan hat – ein neues Buch

NDR INFO
Blickpunkt Diesseits, Sendung am 8. August 2010 um 12.05 Uhr

Wer die Macht hat
Ein neues Buch analysiert die Herrschaftsverhältnisse im Vatikan
Von Christian Modehn

Sie nennen sich „neue geistliche Gemeinschaften“: Die Legionäre Christi oder die Mitglieder des Opus Dei; andere Gruppen mit ebenso vielen tausend Mitgliedern haben auch merkwürdige Namen wie etwa die Focolarini, die Freunde von „Communione e liberazione“ oder die Neokatechumenalen Gemeinschaften. „Neu“, so behaupten diese Gemeinschaften, sei ihr Zusammenleben von Laien und Priestern, von Frauen und Männern, unter einem Dach. Dabei verschweigen sie, dass tatsächlich auch in diesen Kreisen der Klerus allein bestimmt, wie sich ihre Gruppe innerhalb der gesamten Kirche zu verhalten hat. „Geistlich“ nennen sich diese Kreise, um ihr besonderes Interesse an Frömmigkeit nach außen zu betonen. Aber so viele neue Impulse für eine moderne und freie Spiritualität können sie nicht bieten. Denn ihre absolute Ergebenheit dem Papst gegenüber und die Wiederholung alter dogmatischer Formeln lässt nur wenig Spielraum. Tatsächlich sind diese so genannten neuen geistlichen Gemeinschaften mit immerhin 300.000 Mitglieder weltweit nicht nur geistlich, sondern vor allem auch politisch engagiert. Sie wollen seit 50 Jahren im Dienst der Päpste offizielle kirchliche Vorstellungen, etwa in Fragen der Sexualität oder der Ehe, auch gesellschaftlich durchsetzen. Hanspeter Oschwald analysiert in seinem neuen Buch „Im Namen des heiligen Vaters“ diese Gruppen. Sie agieren weltweit und unterstützen mit allen Mitteln, z.B. durch umfassende Medienauftritte und durch theologische Institute, eine klare Tendenz, wenn sie lautstark propagieren: Das Zweite Vatikanische Reformkonzil Mitte der neunzehnhundert sechziger Jahre sei nicht ein mutiger Neubeginn, sondern ein bescheidenes Ereignis unter vielen. Darum sollte man das hierarchische Kirchenmodell von einst wieder pflegen. Hanspeter Oschwald berichtet auch vom Innenleben dieser Gruppen: Da werden Ehen arrangiert, da wird die öffentliche Beichte praktiziert mit allem Verlust an Privatsphäre; da werden, wie bei den Legionären Christi, jahrelang die pädophilen Verbrechen des Ordensgründers von den eigenen Mitgliedern übersehen und geduldet; da werden enge partiepolitische Bande geknüpft, etwa mit der Regierung Berlusconi, weil sich die Kirche dadurch materielle Vorteile erhofft. Die neuen geistlichen Gemeinschaften sind zwar sehr unterschiedlich in ihrer Art, das Katholische zu leben: Die einen sind mehr enthusiastisch und nach außen hin fröhlich, wie die Charismatiker; die anderen schwören auf das Auswendiglernen des traditionellen Katechismus, wie die Neokatechumenalen. Alle aber haben ein gemeinsames Ziel: Sie wollen den Papst dadurch unterstützen, dass sie möglichst viele junge Männer fürs Priestertum begeistern. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn nicht diese jungen Kleriker ausdrücklich antimodernen Vorstellungen folgten. Für Hanspeter Oschwald haben sich diese neuen geistlichen Gemeinschaften längst in den vatikanischen Leitungsstrukturen etabliert. Sie wollen als die „hundertprozentig“ Treuen den Kernbestand des Katholizismus darstellen, also die kleine treue Herde, wie sie so häufig beschworen wird als „heiliger Rest“, nachdem die Progressiven und an Kirchenreform interessierten Katholiken längst innerlich oder äußerlich die Kirche verlassen haben. Für den mit alten Traditionen eng verbundenen Benedikt XVI. sind diese so genannten „geistlichen Gemeinschaften“ die engsten Freunde. Ihnen gehört in seiner Sicht die Zukunft.

Hanspeter Oschwald, Im Namen des Heiligen Vaters. Wie fundamentalistische Kräfte den Vatikan steuern. Heyne Verlag, München 2010. 384 S., 19,95 €.

Marcial Maciel: Ein korrupter Ordensgründer

Ra­dio­sen­dung über M.Maciel und die Legionäre Christi. NDR INFO.

Dieser Text ist die Langfassung der Ra­dio­sen­dung. Es wurde an der für Hörfunkproduktionen üblichen Schreibweise nichts verändert. copyright:Christian Modehn.

Lebenswelten NDR
„Skurpellos und ohne religiöse Gefühle“
Der Ordensgründer Marcial Maciel und seine Legionäre Christi
Von Christian Modehn

1. SPR.: Berichterstatter
2. SPR.: Zitator Maciel
3. SPR.: Übersetzer und Zitator
O TÖNE

1. SPR.:
Vatikanstadt, Petersplatz, am 4. Januar 2001. Papst Johannes Paul II. überblickt von seinem Thron aus viele tausend Pilger. Die meisten gehören der römisch – katholischen Laienbewegung „Regnum Christi“ an. Diese Frauen und Männer, weltweit sind es 70.000, werden vom katholischen Orden der Legionäre Christi geleitet. Der Papst lässt es sich nicht nehmen, den 60. Gründungstag dieses Ordens zu feiern. Seine Lobeshymne könnte nicht glänzender ausfallen:

3. SPR.:
Ihr Legionäre Christi wollt die Herausforderung des Evangeliums in Angriff nehmen, indem ihr die besondere Betonung auf die brüderliche Herzlichkeit eurer zwischenmenschlichen Beziehungen legt und den Geist der Nächstenliebe in euren Gedanken und Werken pflegt.

1. SPR.:
Voller Zuneigung schaut Johannes Paul II. den Gründer der Legionäre Christi an, den Mexikaner Pater Marcial Maciel. Er ist seit Jahren sein enger Freund und Berater, er hat des Papstes so genannte Pilgerreisen gestaltet; er wurde von ihm persönlich als Experte in Synoden und Kirchen – Konferenzen berufen. Johannes Paul II. sagte schon im Jahr 1994 voller Begeisterung:

3. SPR.:
Pater Maciel ist ein wirksamer Führer für die Jugend. Weiterlesen ⇘

An “Etwas” Glauben. Auf der Suche nach dem göttlichen Geheimnis

Die Etwas-Gläubigen. Immer mehr Menschen in Holland glauben nicht mehr an die kirchliche Dogmatik. Aber an ein göttliches Geheimnis

Von Christian Modehn, ein Beitrag aus PUBLIK FORUM am 23.4.2010.

“Ich bin nicht christlich und auch nicht gläubig. Ich bin aber auch keine Atheistin. So genau weiß ich das alles nicht. Vielleicht gibt es etwas, ein Geheimnis, das unsere Wirklichkeit trägt.« Die Niederländerin Marjoleine de Vos spricht über ihren Glauben so offen, weil sie weiß, dass sich viele andere Menschen in ihren Worten wiederfinden. Sie arbeitet als Journalistin bei der holländischen Tageszeitung NRC Handelsblad.

Über sechzig Prozent der Niederländer sind aus der Kirche ausgetreten, und das nicht nur, weil sie Geld sparen wollen. Sie finden die traditionellen Vorstellungen von Gott und die kirchliche Moral nicht mehr überzeugend und glaubwürdig. »Diese Menschen sind sozusagen am Nullpunkt der offiziellen Kirchenlehre angekommen«, sagt der protestantische Theologe Gijs Dingemans aus Groningen. »Sie haben sich von allem befreit, was sie nicht mehr nachvollziehen können. Und plötzlich entdecken sie: Da gibt es aber immer noch etwas, das alles Alltägliche übersteigt. Diese Menschen nennen wir auf Holländisch die ›Ietsisten‹. ›Iets‹ bedeutet ›etwas‹. Diese Leute glauben immer noch etwas. Aber was ist dieses Etwas?«

Gijs Dingemans hat in Büchern den neuen spirituellen Trend, diese »Etwas-Glaubenden«, untersucht. In der Tageszeitung Trouw wurde darüber wochenlang diskutiert. Tagungen fanden zu dem Thema statt. »Dabei diskutierten wir über die von uns sogenannten ›oberflächlichen Etwas-Gläubigen‹, die eher gleichgültig etwas Beliebiges zwischen Himmel und Erde annehmen, aber nicht weiter danach fragen. Interessanter ist es, mit den selbstkritischen Etwas-Gläubigen zu sprechen. Sie spüren, dass dieses verwunderliche Etwas, das sich mitten im Leben als große Frage zeigt, durchaus ein Weg zum Lebensgeheimnis sein kann«, kommentiert Gijs Dingemans.

Sein Kollege, der Theologe Herbert Wevers, kann dem nur zustimmen: »Nach einem Begräbnis mit mehr als hundert Teilnehmern haben sich viele Jüngere als Ietsisten geoutet«, berichtet der protestantische Pfarrer aus Den Haag. »Angesichts des plötzlichen Todes eines jungen Mannes sagten sie mir: ›Irgendetwas muss es doch über dieses kurze Leben hinaus geben.‹«

Pfarrerin Christiane Berkvens-Stevelinck aus Rotterdam erlebt, dass Ietsisten nicht immer spirituelle Einzelgänger sind. Sie interessierten sich durchaus für kommunikative Projekte, etwa für die Gestaltung neuer Riten anlässlich von Geburt, Hochzeit, Tod, Scheidung. Als Theologin der Remonstranten-Kirche ist die freie Ritengestaltung einer ihrer Arbeitsschwerpunkte. Christiane Berkvens-Stevelinck hat darüber ein Buch geschrieben. »Diese Menschen verspüren eine spirituelle Sehnsucht, sie wollen angesichts wichtiger Lebenserfahrungen über den Alltag hinausschauen.«

Gijs Dingemans meint sogar, in dem auf ein Minimum reduzierten Etwas-Glauben dem göttlichen Lebensgeheimnis auf der Spur zu sein: »Für viele ist der Glaube an etwas Höheres verbunden mit der Bejahung eines unendlichen Geheimnisses, eines Mysteriums. Sie benennen es nicht genauer; vielleicht haben sie eine Scheu, Gott dadurch zu klein zu machen.«

Dingemans weiß, dass die »Etwas-Gläubigen« nicht in die herkömmlichen Kirchgemeinden zurückkehren werden. »Sie erleben das tiefe Lebensgeheimnis beim Spaziergang im Wald, im achtsamen Hören von Musik, beim aufmerksamen Betrachten von Kunst, im Gespräch ohne Hast.« Gibt es bei ihnen neue Formen des Gebets? »Wer seine Hoffnung in brüchigen Worten aussagt, drückt Sehnsucht aus, Unzufriedenheit mit der bestehenden Welt. Und wer das Geheimnis des Lebens als Basis seines Glaubens betrachtet, wird alles Lebendige verteidigen«, sagt der Pfarrer dazu.

Die Ietsisten vertreten keine eigene Moral. Sie folgen den vernünftigen Weisungen einer allgemein-menschlichen Ethik. Doch die Perspektiven reichen weiter: Es entsteht eine größere Ökumene, in der sich Menschen unterschiedlicher Kulturen als gleichrangig verstehen, weil sie sich alle mit dem Geheimnis des Lebens verbunden fühlen. – Die traditionellen Kirchen sind überrascht: So gänzlich unreligiös, wie oft behauptet, sind die Leute, die vor Jahren die Kirchen verließen, offenbar doch nicht.

Noch erstaunlicher: Sogar unter den Christen der katholischen Kirche Hollands zum Beispiel gibt es einen Trend zum »Etwas-Glauben«: Im Jahr 1966 erklärten 38 Prozent der befragten Katholiken, sehr mit der katholischen Glaubenslehre übereinzustimmen; 1996 waren es noch drei Prozent. So kommt für sie ein personaler und trinitarischer Gott nicht mehr infrage.

Bei den protestantischen Kirchen in den Niederlanden ging der Anteil der »streng Gläubigen« von 56 Prozent im Jahr 1966 auf 31 Prozent im Jahr 1996 zurück. Die herkömmliche, alte Dogmatik, dies zeigen heutige Umfragen, gibt es nur noch in den theologischen Lehrbüchern, jedoch kaum mehr in den Köpfen der Gläubigen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Ein Humanist als Reformator: Philipp Melanchthon

Über Philipp Melanchthon.

Ein Vorwort: Am Sonntag, den 18. April 2010, sendete das Kulturradio des RBB einen Beitrag von mir anläßlich des 450. Todestages von Philipp Melanchthon (am 19. April 2010). Hier das ursprüngliche Manuskript der Radio Sendung, also das ausführliche Manuskript vor der Kürzung, die bedingt ist durch die nun einmal zur Verfügung stehende Sendezeit von 26 Minuten.

Ein weiteres Vorwort am 26.4. 2017: Im Laufe der Zeit, im Abstand von 7 Jahren, und weiteren Studien, bin ich heute zurückhaltender, Melanchthon “Humanist” zu nennen. Melanchthon ist dies nur im Vergleich mit Luther, dem Anti-Philosophen. Einen umfassend humanistisch-christlichen Glauben hat Melanchthon meines Wissens nicht intendiert. Dazu war auch er zu sehr an die alleinige Macht der Bibel gebunden… CM.

Theologie soll dem Leben dienen
Philipp Melanchthon, Humanist und Reformator
Von Christian Modehn

1. Musikal. Zusp.

1. O TON, Hansen.
Philipp Melanchthon hatte die humanistische Überzeugung, dass Bildung und Wissenschaft den Menschen zivilisieren und ihn instand setzen, sich friedlich zu verhalten.

1. Musik

2. O TON, Dorgerlohn
Von Melanchthon gibt es ein wunderbares Wort, das heißt: Wir sind zum wechselseitigen Gespräch geboren. Also Melanchthon war jemand, der den Dialog geradezu suchte.

1. Musikzusp.,

3. O TON, Kuropka
Er war kein Gelehrter im Elfenbeinturm, sondern er war ein Gelehrter, der Theologie immer im konkreten Kontext der gesellschaftspolitischen Ereignisse gemacht hat.

1. Musikzusp.

TITELSPRECHERIN:
Theologie soll dem Leben dienen
Philipp Melanchthon, Humanist und Reformator
Eine Sendung von Christian Modehn

4. O TON, Treu
Wenn man sich anschaut: Wer hat das heute noch gültige Bekenntnis aller lutherischen Kirchen auf der Welt geschrieben? Melanchthon. Wer hat die erste evangelische Kirchen – und Schulordnung verfasst? Melanchthon. Wer hat das erste Lehrbuch der lutherischen Theologie verfasst? Melanchthon. Fragt sich natürlich, warum heißt es dann lutherische Kirche, zumal Luther ja selber ausdrücklich gesagt hat, dass er nicht will, dass sich die Kinder Christi nach seinem heillosen Namen nennen. Die Antwort ist ganz einfach: „Melanchthonische Kirche“ kann kein Mensch aussprechen.

1.SPR.:
…immerhin klinge „melanchthonische Kirche“ besser als „schwarzerdtische Kirche“, meint der Historiker und Theologe Martin Treu von der Stiftung Luthergedenkstätten in Wittenberg. Er kann die Bedeutung Philipp Melanchthons nicht hoch genug einschätzen, der ursprünglich als Philipp Schwarzerdt geboren wurde. Als hochbegabtem Studenten wurde ihm die Ehre zuteil, seinen deutschen Namen in einen griechischen umzuwandeln. Aus Schwarz – erdt wurde Melan – chthon. Damit gelang dem gerade mal 12jährigen der Eintritt in die Welt der intellektuellen Elite: Zu Beginn des 16. Jahrhunderts pflegten die Akademiker die klassischen Tugenden der „allseitigen Bildung“ und nannten sich „Humanisten“, also Freunde der Menschheit und Förderer der Menschlichkeit. Als derart „weltlich Gebildeter“ sollte Philipp Melanchthon an der Seite Luthers die Kirche erneuern. Ein Meter fünfzig klein, von zarter Statur und oft sehr kränklich, hatte der „kleine Grieche“, wie er liebevoll genannt wurde, jedoch keinen Ehrgeiz, sich neben dem schon an Körperfülle überragenden Reformator Martin Luther als ebenbürtig zu profilieren. Heute, 450 Jahre nach seinem Tod, ist Melanchthon gleichberechtigt neben Luther anerkannt: Beide sind die Reformatoren Deutschlands.

2. musikal. Zusp., latein. Gesang

1. SPR.:
Latein war im 16. Jahrhundert die gängige Sprache der Gebildeten in ganz Europa. Vorlesungen wurden selbstverständlich auf Latein gehalten. Bei wichtigen Diskussionen und Disputen bediente man sich der Sprache der „alten Römer“. Und auch in der Freizeit, beim Musizieren zu Haus, wollte Melanchthon nicht auf lateinische Lieder verzichten.

2. musikal. Zusp.,

1. SPR.:
Mit diesen Klängen ist Philipp Melanchthon aufgewachsen. 1497 in Bretten, nahe Karlsruhe, geboren, erlebte er die römische Kirche mit ihrer überschwänglichen Heiligenverehrung, dem Ablasshandel und der Macht des Klerus. Schon als Jugendlicher kritisierte er den Luxus der Bischöfe mit scharfen Worten:

2. SPR..
Ein Theologe mit einem dicken Ring ist entweder ein Narr oder ein Prälat. Noch weniger sind goldene Ketten eine Zierde für Theologen, man sollte sie daran aufhängen.

1. SPR.:
Melanchthon war leidenschaftlich an religiösen Fragen interessiert. Sein Schwerpunkt aber war die Erforschung der alten Sprachen, nebenbei beschäftigte er sich noch mit medizinischen Fragen, philosophischen Themen, mathematischen Problemen, mit Musik und Astronomie. Der vielseitige junge Wissenschaftler wurde 1518 als Professor für Altgriechisch an die Universität Wittenberg gerufen. Martin Luther hörte seine Antrittsvorlesung und war begeistert. Wenige Monate zuvor hatte er seine berühmten 95 Thesen zur Kirchenreform öffentlich gemacht. Melanchthon machte Luthers Ideen zur Erneuerung des christlichen Glaubens auch zu seiner Sache und betonte:

2. SPR.:
Ich habe erst durch Luther das Evangelium entdeckt.

1. SPR.:
An der Universität Wittenberg arbeitete Melanchthon bis zu seinem Tod im Jahr 1560. Vor allem als Sprachwissenschaftler wurde er für Martin Luther ein wichtiger Partner:

14. O TON, Treu
Der Einfluss Melanchthons bei der Bibelübersetzung muss erheblich gewesen sein. Luther selber berichtet auf der Wartburg, dass ihn überhaupt erst Melanchthon zu dem Unternehmen aufgefordert habe. Er kommt im März 1522 mit dem Manuskript zurück, das allerdings erst im August 1522 unter die Druckerpresse geht, d.h. in diesem Zeitraum muss erheblich überarbeitet worden sein. Und da war der Griechisch Kenner Melanchthon sicherlich mehr zu Hause als Luther, dessen Griechisch Kenntnisse mäßig waren.

1. SPR.:
Jede ernstzunehmende Übersetzung des Neuen Testaments muss sich auf die „Quelle“, den ursprünglichen, den griechischen Text, beziehen. Für den Humanisten Melanchthon war das eine Selbstverständlichkeit: Wer nur die lateinischen Texte respektiert, könne nur oberflächliches Gerede voller Fehler produzieren. Ein hoher wissenschaftlicher Anspruch machte für Melanchthon den typischen Geist der Reformation aus. Christliche Gemeinden sollten nicht bloß „fromm“ sein oder nur feierliche Gottesdienste abhalten. Darum seine Forderung:

2. SPR.:
Auch die Pfarrer müssen Altgriechisch und Hebräisch beherrschen und die Christen gut ausbilden.

1. SPR.:
Melanchthon war ein Vorbild des wissenschaftlichen Eifers: Er selbst hat die Bibel so intensiv studiert, dass er bestens mit allen Grundfragen des Glaubens vertraut war. Deswegen konnte er an der Universität auch Vorlesungen zur Theologie und zu einzelnen Texten des Neuen Testaments halten. Pfarrer wollte er jedoch nie werden, im Gottesdienst zu predigen lehnte er ab. Als Humanist lag es Melanchthon fern, in seinen Büchern und Vorträgen „ewige“, vermeintlich zeitlose Wahrheiten zu verbreiten. Vielmehr wollte er stets aktuelle Orientierung und Lebenshilfe bieten, betont die Theologin und Melanchthon Spezialistin Nicole Kuropka:

15. O TON,
Ich mach das mal an seinen Römerbrief – Kommentaren deutlich. Der Römerbrief ist ja das zentrale biblische Dokument der Reformation geworden. Und Melanchthon hat den Römerbrief nicht nur einmal ausgelegt, sondern wir haben insgesamt 5 oder 6 komplette Auslegungen des Römerbriefes von Melanchthon. Diese Kommentare sind keine überarbeiteten Versionen. Es sind komplette Neuauflagen, die absolut voneinander verschieden sind. Wenn man sie liest, dann sieht man auch wie sehr er diese Auslegungen schreibt mit Blick auf die aktuellen Streitigkeiten, die gerade im Raum sind. Die Theologie oder auch das Studium der Heiligen Schrift dient unserem Leben, es ist keine abstrakte Wahrheit, die man in ein Bücherregal stellen kann. Schriftstudium gibt Weisung für das Leben, und zwar für das ganz konkrete Leben.

1. SPR.:
Schon Jesus hatte ausdrücklich davor gewarnt, den Menschen „Steine statt Brot“ zu reichen. Auch Melanchthon ging es um gut bekömmliche geistliche Nahrung

2. SPR.:
Ich bin mir bewusst, aus keinem anderen Grund jemals Theologie getrieben zu haben, als um das Leben zu verbessern. Eine wirksame „Verbesserung des Lebens“ kann nur gelingen, wenn die Menschen die grundlegenden Wahrheiten des Glaubens richtig verstehen.

1. SPR.:
Glaube hatte also für ihn mit dem Verstand zu tun, mit Nachdenken, nicht etwa mit Gefühlen oder Emotionen. Darum setzte Melanchthon auch seine ganze Energie ein, um die Menschen von übertriebener Heiligenverehrung und allzu naiven Gottesbildern zu befreien. Aber als Humanist wusste er auch: Religiöse Wahrheit lässt sich nicht verordnen oder gar mit Gewalt durchsetzen. Nicole Kuropka:

16. O TON, Kuropka
Er war enorm dialogbereit. Und dialogbereit heißt, dass er nicht nur seine Meinung vertreten hat, sondern dass er sich angehört hat, was auch von gegnerischer Seite an Meinung vertreten worden ist. Und diese Fragen für sich auch mitgenommen hat. Den Papst hätte er als Organisationsstruktur anerkannt, nicht mit der Autorität, die dahinter steht. Er war immer wieder bereit, sich mit den gegnerischen Parteien an einen Tisch zu setzen. Das hat er über 4, 5 Jahrzehnte sehr ausdauernd gemacht.

1. SPR.:
So hat er sich z. B. für katholische Nonnen in Nürnberg eingesetzt. Radikale Protestanten wollten sie aus der Stadt vertreiben, so wütend war man auf „das verlogene Klosterwesen“. Dank seiner Intervention konnten die Nonnen in der evangelisch gewordenen Stadt weiter ihr Ordensleben führen. Melanchthon plädierte für Toleranz. Sein Motto war:

2. SPR.:
Bei gutem Willen können sich unterschiedliche Christen als gleichwertig respektieren.

1.SPR.:
Beim Reichstag in Augsburg im Jahr 1530 hatte er ein Glaubensbekenntnis formuliert, das die Basis aller Christen hervorhebt: das gemeinsame Evangelium und das Angewiesensein aller auf die Gnade Gottes. Melanchthon fand in seinem Bekenntnis eine Sprache, die den römischen Kirchenführern sehr entgegen kam. Aber sie lehnten einen ökumenischen Kompromiss ab. Melanchthon war zutiefst enttäuscht, berichtet der Theologe Martin Treu:

17. O TON, Treu
Für mich ganz interessant sind seine immer wiederkehrenden Hinweise bei solchen Kontroversen: Dass jeder sich doch gleich zu Anfang sorgfältig prüfen möge, welche Motive ihn denn umtreiben. Ob es wirklich die reine Suche nach der Wahrheit ist oder auch Profilierungssucht, Lust am Streiten oder ähnliches. Und das hat er natürlich strikt abgelehnt.

1. SPR.:
Angesichts dogmatischer Erstarrung und sturer Unvernunft riss aber auch dem Reformator mitunter der Geduldsfaden:

2. SPR.:
Man wird sich noch lange streiten, bis es den Heiden ein Greuel ist. Da disputieren sie über das Abendmahl, gleich als ob sie in den Himmel gesehen und Jesus gefragt hätten, wie er denn die Worte: „Das ist mein Leib“ verstanden habe. Diese Theologen werden es hier auf Erden nicht klären. Es gehört sich wohl nicht für uns schwache Menschen, alles ergrübeln und erforschen zu wollen. Genug ist zu wissen und zu glauben, was zu unserem Heil nötig ist. Das übrige macht nur Zank. Woran Jesus gewiss keinen Gefallen hat.

1. SPR.:
Als Humanist nahm sich Melanchthon die Freiheit, seine Kritik an den uneinsichtigen Gegner auch voller Sarkasmus zu formulieren.

2. SPR.:
„Der Titel Bischof heißt nicht =bi de schoof=, also bei den Schafen, wie der Prediger Johann von Kaysersberg einst behauptete. Die heutigen Bischöfe lassen sich durch keine Etymologie und Wortspielereien bewegen, da muss man etwas anderes beibringen. Bischof heisst also sarkastisch gesagt: =Bies de Schof=, =Beiße die Schafe=. Denn das passt besser auf die gegenwärtigen Bischöfe, weil sie weder die wahren Aufseher über ihre Gemeinden sind noch Hirten oder gar Hüter ihrer Schafe. Sie beißen eher ihre Schafe“.

1. SPR.:
Kummer machten ihm auch seine Freunde in der Lutherischen Kirche. Sie warfen ihm vor, zu „versöhnlerisch“ zu sein und die eigene Lehre nicht ernst zu nehmen. Einmal mehr musste Melanchthon klagen:

2. SPR.:
Jetzt ist ein eisernes Zeitalter angebrochen. Da bekämpfen sich Menschen, die eigentlich in der Verbundenheit derselben Religion die engsten Verbündeten sein müssten. Meine Krankheit tut mir nicht so weh wie der große Jammer um das Elend der heiligen christlichen Kirchen. Das Elend entsteht aus der unnötigen Trennung, aus der Bosheit und dem Mutwillen der Menschen, die sich aus unmenschlichem Neid und Hass abgesondert haben.

3. Musik. Zusp., „Aus tiefer Not“…

1. SPR.:
Voller Sorge beobachtete Melanchthon ein Gruppe von Christen, die sich „Schwärmer“ nannten. Sie meinten, unmittelbar von Gott berufen zu sein, auch einen Krieg gegen die Obrigkeit anzuzettelten. Die unterdrückten Bauern waren von blindem Enthusiasmus erfasst und glaubten im Ernst, durch einen Krieg eine gerechtere Gesellschaft herbeizuführen. Nicole Kuropka:

18. O TON, Kuropka
Melanchthon war sehr obrigkeitstreu. Und Widerstand war bei ihm nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Und in seinen Augen haben die Bauern die Bibel genommen und mit der Bibel ihre weltlichen, irdischen Anliegen versucht durchzusetzen und haben dann versucht mit dem Schwert gegen die Obrigkeit durchzudringen. Und dagegen war Melanchthon grundsätzlich, weil er sehr viel Angst vor Durcheinander, Chaos und Krieg hatte.

1. SPR.:
Angesichts der ständigen konfessionellen Grabenkämpfe suchte Melanchthon Zuflucht in der Astrologie. Dass sich ein rational denkender Mensch der geheimen Botschaft der Sterne zuwendet, ist heute schwer nachvollziehbar. Es passt aber gut zur damaligen Mentalität, meint Martin Treu:

19. O TON, Treu
Sein eignes Horoskop hatte ihm gesagt, er würde über dem Wasser sterben. Und deswegen war er sehr besorgt bei jeder Form von Schiffsreisen. Astrologie ist die fortschrittliche Modewissenschaft des 16. Jahrhunderts. Melanchthon hat natürlich es ein bisschen schwierig gehabt, weil Astrologie und christliche Grundwerte sich nicht ganz vertragen. Aber Luther hat ihn machen lassen. Melanchthon glaubte an Horoskope, er glaubte an Träume, er glaubte Vorzeichen. Allerdings war er so viel christlicher Theologe war er dann doch, dass dies nicht mit zwangsläufiger Notwendigkeit eintreten würde, sondern eher eine Warnung sei, sich den christlichen Grundtugenden zuzuwenden.
4. musikal. Zuspielung,

1. SPR.:
Der Theologe Melanchthon blieb stets auch Pädagoge – Reformation und kulturelle Entwicklung sollten Hand in Hand gehen, sagt der evangelische Prälat Stephan Dorgerloh in Wittenberg:

12. O TON, Dorgerloh
Der Bildungsimpuls der Reformation speist sich daraus, dass Glaube und Bildung zusammengehören. Also den Reformatoren ging es darum, gebildete Christen zu bekommen, dass sie selber auch in der Lage sind, diesen Glauben im Alltag zu leben. Also Glaube und Vernunft, eine Sache, die bei den Reformatoren zusammengehört.

5. O TON, KUROPKA
Das Sensationelle an Melanchthon ist, dass er wirklich für eine Bildung für jedermann war, jeder sollte gebildet sein, es sind auch Mädchenschulen gegründet worden. Er hat Lehrpläne geschrieben. Und vor allen Dingen er hat eine Unmenge an Lehrbüchern geschrieben, da war er ein sehr begnadeter Lehrer. Melanchthon hat kurze kompakte Lehrbücher geschrieben, in denen er seinen Schülern auch immer wieder erklärt hat, warum sie das lernen müssen.

1.SPR.:
…weil das Leben seiner Ansicht nach nur Freude macht, wenn man die Welt versteht und begreift, was der Mensch von seinem Wesen her ist. Melanchthon war von einem leidenschaftlichen Elan getrieben, die Menschen zu bilden, er kümmerte sich um Schulen auf dem Land wie in den Städten. „Praeceptor Germaniae“, Lehrer Deutschlands, wurde er genannt.
Ihm kam es darauf an, Bildung als gemeinschaftliche Erfahrung einzuüben. In seinem eigenen Haus in Wittenberg gab er dafür ein anschauliches Beispiel: der Professor und seine Familie lebten mit einigen Studenten zusammen, damals wie heute eine originelle Idee, betont Martin Treu:

13. O TON, Treu.
Es war eine viel gesuchte Ehre bei dem „Lehrer Deutschland“ in Kost und Logie zu sein. Ein Vergnügen kann es nicht immer gewesen sein, weil Melanchthon keine Freistunden kannte, sondern seine Schüler waren eigentlich immer im Unterricht.

1.SPR.:
Als oberster Schulmeister bleibt er aktuell, meint der Studienleiter der Evangelischen Akademie in Wittenberg, Christian Lehnert:

6. O Ton, Lehnert
Melanchthon hatte versucht, so etwas wie einen Bildungskanon zu formulieren. Was braucht der Mensch unbedingt um eine sinnhafte Existenz zu führen. Ihm lag vor allem den klassischen griechischen Autoren, dann lag ihm an der Bibel, ihm lag an Sprachkenntnissen, vor allem des Lateinischen, ihm lag sehr an Sprachkompetenz, was heute man als kreatives Schreiben bezeichnen würde, spielte eine ganz große Rolle für Melanchthon, Musik, Mathematik.

1. SPR.:
Umfassende Bildung – das bedeutete mehr als die Kenntnis einzelner Sachgebiete:

7. O TON, Lehnert
Es geht ja darum, Räume zu schaffen und Fähigkeiten zu entwickeln,
in denen dieser Mensch sich selbst entfalten kann; ihm gewissermaßen eine Handwerkzeug an die Hand zu legen, mit der er seine eigenen Fähigkeiten entfalten kann.

1. SPR.:
Zu den grundlegenden „Fähigkeiten“ gehörten für Melanchthon auch die religiöse Orientierung und die Kenntnis der Bibel. Ein Gedanke, der bis heute gilt, selbst wenn Glaube und Kirche für viele Menschen kaum noch eine Rolle spielen, meint Christian Lehnert. Denn die christlichen Traditionen haben Europa entscheidend geprägt.

31. O TON, Lehnert
Auch ein Mensch, der nicht glaubt, braucht eine gewisse Kompetenz im Umgang mit religiösen Formen, sonst fehlen ihm wesentliche Zusammenhänge. Es braucht eine gewisse Sensibilität für religiöse Fragen. Man muss auf der religiösen Tastatur spielen können, zumindest ein klein wenig. So wie Kinder in der Grundschule auf der Blockflöte spielen. So muss man auch mit biblischen Geschichten umgehen können. Sonst läuft man da ins Leere.

1. SPR.:
Melanchthon verteidigte ausdrücklich eine „Philosophie der Bildung“, die auf einen langsamen, aber spürbaren Fortschritt der Menschheit vertraute. Der Berliner Historiker Professor Reimer Hansen:

8. O TON; Hansen
Melanchthon hatte eine Lehre aus der klassischen Antike zum Ausgangspunkt genommen, dass die Entwicklung der Menschheit sich über Wildheit und Barbarei zur Zivilisation vollzieht. Hat man Stand der Zivilisation erreicht, dann kann man ihn nur halten, indem man ihn durch unablässige Bildung verfestigt. Unterlässt man es, dann tritt Unwissenheit ein und Unwissenheit ist nach Melanchthons Auffassung die Ursache dafür, dass Menschen sich wieder unvernünftig verhalten und zurückfallen.

1. SPR.:
Wie so viele andere Humanisten ließ sich Melanchthon von einem optimistischen Menschenbild leiten. Der Mensch, so glaubte er, sei grundsätzlich in der Lage, ein gutes, ein ethisches wertvolles Leben zu führen, vorausgesetzt, er ist ausreichend gebildet.

9. O TON, Hansen
Wir sind heute auch skeptischer geworden. Nicht allein die Bemühung um Wissenschaft garantiert den Frieden, sondern eine Wissenschaft, die sich selbst auf den Frieden verpflichtet, ist nötig. Wir haben ja erlebt, dass Wissenschaft auch den Krieg fördern kann. Wir haben ja erlebt, dass Atomforscher kritisch über das nachgedacht haben, nachdem die ersten Atombomben gefallen sind. Das ist eine Erfahrung unseres Jahrhunderts, insofern war der Optimismus Melanchthons mit der Realität weniger zu vereinbaren. Man kann den Menschen nicht so erziehen, dass er die Aggression durch Erziehung überwindet.

1. SPR.:
Auch Melanchthon konnte es nicht einfach ignorieren, dass auch in seinem Umfeld so viele Menschen zu kriegerischen Auseinandersetzungen bereit waren. In Deutschland hatten sich im Jahr 1546 die Fronten zwischen den verfeindeten Konfessionen so sehr verhärtet, dass sogar er eine prinzipiell pazifistische Haltung zurückweisen musste.

11. O TON, Hansen
Der Schmalkaldische Krieg ist von Melanchthon gerechtfertigt worden als ein gerechter Krieg. Er hat den Kaiser verantwortlich dafür gemacht. Karl V. hatte die Reformation durch Krieg rückgängig zu machen versucht. Das warf er ihm vor. Und deshalb hatten die Protestanten nach Melanchthons Auffassung das Naturrecht der Verteidigung, der Notwehr, in Anspruch zu nehmen und insofern hat er den Schmalkaldischen Krieg gerechtfertigt
6. musikal. Zusp.,

1. SPR.:
Der Humanist Melanchthon konnte seine Vorstellungen vom menschenwürdigen Leben nur als eine ferne Zielvorstellung, als ein Ideal, pflegen und bewahren. Darauf zu verzichten, hätte bedeutet, alle Wertmaßstäbe zu relativieren, nicht mehr zwischen gut und böse zu unterscheiden. Darum schärfte Melanchthon seinen Zeitgenossen ein:

2. SPR.:
Wir dürfen das vernünftige Nachdenken, wir dürfen die Philosophie, niemals aufgeben.

1.SPR.:
Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, war in der Frühzeit der lutherischen Reformation eher eine Provokation, waren doch die meisten Theologen fest überzeugt: Der Mensch sei durch die Allmacht der Sünde von Grund auf verdorben, deswegen habe auch der Verstand seine gestaltende Kraft gänzlich verloren. Melanchthon konnte sich dieser Meinung nicht anschließen, betont Nicole Kuropka:

20. O TON, Kuropka
Melanchthon kannte die antiken Philosophen sehr sehr gut, und er schätzte vor allem Aristoteles, den griechischen Philosophen. Den konnte Luther nun gar nicht leiden, weil er eben im Mittelalter Einzug in die Theologie gezogen hat. Und Luther den Eindruck hat, Theologen reden häufiger von Aristoteles und von Aristoteles Weltverständnis als von dem biblischen Verständnis. Da war Luther ganz empfindlich. Der Heiligen Schrift ist absolut Vorrang zu geben vor Aristoteles. Trotzdem bleibt Melanchthon ein Befürworter der Philosophie. Und die Vernunft ist ein Geschenk Gottes, deshalb sollen Christen die Vernunft verwenden.

1. SPR.:
Aber Melanchthon traute der Vernunft noch viel mehr zu:

21. O TON, Kuropka,
Es ist durchaus möglich als denkender Mensch zu der Erkenntnis zu kommen, dass Gott existiert. Das ist möglich. Nur die Frage: Wer Gott ist, daran wird der Verstand dann scheitern. Das Geschehen von Kreuz und Auferstehung ist der menschlichen Logik nicht erschließbar. Das ist dem Glauben vorbehalten.

1. SPR.:
Die Vernunft kann also den Menschen in eine transzendente, in eine göttliche Dimension führen. Welchen „konkreten“ Gott dann aber ein Mensch tatsächlich verehrt, ist entweder Geschenk der Gnade oder Ausdruck der freien Wahl des einzelnen.

Musikal. Zusp.

1. SPR.:
Philipp Melanchthon, der Humanist als Reformator, der Aufgeschlossene und Tolerante – Er war unter den Reformatoren eher die Ausnahme. Martin Treu betont:

22. O TON, Treu
Er war aufgrund der begrifflichen Klarheit seines Denkens in der Lage zu unterscheiden zwischen den Dingen, die eineindeutig feststehen, und wo es auch kein Wackeln geben kann und den Dingen, über die man sich unterhalten kann.

1. SPR.:
Melanchthons Überzeugung wurde ein halbes Jahrhundert später von einem holländischen Theologen und Reformator aufgegriffen, von Jacobus Arminius. Auch er war ein Humanist. In diesen Wochen wird in den Niederlanden seiner Reformation vor 400 Jahren gedacht. Sie führte zur Gründung der Remonstranten Kirche. Ihr Name verweist auf die remonstrance, die Zurückweisung enger dogmatischer Vorstellungen. Die zwei humanistischen Reformatoren, die 2010 gefeiert werden, verbindet die Erkenntnis, dass der christliche Glaube auf die Kraft kritischen Nachdenkens niemals verzichten kann. Der niederländische Theologe Marius van Leeuwen:

24. O TON;
Ich denke, dass eine Art von humanistischem Christentum sehr wichtig ist, dass nicht Gott und Mensch als Konkurrenten gesehen werden. Aber: Wie Arminius das sagt: Gott ist allmächtig und gnädig, aber er braucht Menschen, um Ja zu sagen zu seinem Angebot. Ich glaube, dass das aktuell ist, dass die Sachen des Glaubens sehr menschliche Sachen sind.

1. SPR.:
Sowohl Melanchthon als auch Arminius wollten mündige, selbstbewusste Menschen für die Gemeinden ausbilden:

26. O TON,
Einer der wichtigen Punkte bei Arminius war, dass er Fragen hatte, auch wenn es ja gefährlich war sozusagen für was die Kirche an Wahrheit und Doktrin hatte. Eine Art von intellektueller Redlichkeit, das war sehr wichtig für ihn. Eigentlich, kann man sagen, eine Art Frommheit des Fragens war wichtig für ihn.

1. SPR.:
In Melanchthons Geburtsort Bretten und in seiner zweiten Heimat, in Wittenberg, wird das ganze Jahr über dieses eigenwilligen Reformators gedacht. Auch in Berlin wird sein 450. Todestag am 19. April feierlich begangen: In der „Evangelischen Melanchthon Gemeinde“ in Kreuzberg gibt es z.B. einen festlichen Abend zu Ehren des Namenspatrons, berichten Andreas Günter und Dörte Rothenburg vom Gemeindekirchenrat:

29. O TON, Dörte Rothenburg. Andreas Günther,
Der Grundgedanke ist der: Melanchthon hatte ein offenes Haus. Melanchthon war gastfreundlich und diesen Gedanken wollen wir so ein bisschen aufgreifen. Und vielleicht so ein Anspiel machen mit Musik… Und wir haben auch eine Ausstellung, die wir zeigen wollen. Wir wollen uns auch ein bisschen in diese Zeit vor 450 Jahren zurückversetzen lassen. Es wird ein typisches Essen aus dieser Zeit geben z.B,. Wir werden Getränke dazu haben. Wir wollen was herstellen, so dass sozusagen mit allen Sinn auch nachgespürt werden kann.

1. SPR.:
Die Melanchthon Gemeinde hat dem Geist Melanchthons schon seit längerer Zeit vor allem theologisch „nachgespürt“, und dabei immer wieder die große Leidenschaft des Reformators für die Einheit der zerstrittenen Christen entdeckt. Demgegenüber müssen heute viele ökumenische Initiativen an der Basis eher zaghaft und verängstigt erscheinen. Pfarrer Jürgen Bergerhoff von der Melanchthon Gemeinde

28. O TON, Jürgen Bergerhoff
Einmal im Jahr veranstalten wir einen gemeinsamen Gottesdienst am Himmelfahrtstag. Das hat schon Tradition seit glaube ich 16 Jahren.
Der Gottesdienst wird gemeinsam gestaltet, vorbereitet, und wir treffen uns anschließend beim Kaffeetrinken, aber es ist kein gemeinsames Abendmahl. Nein. Ich denke schon, dass doch an der Stelle die Katholische Kirche das noch zu verhindern versucht. Die evangelische Kirche scheint mir da viel aufgeschlossener zu sein.

1. SPR.:
Aber die „Aufgeschlossenheit“ der Protestanten geht dann doch nicht soweit, Christen anderer Konfessionen ausdrücklich zum gemeinsamen Abendmahl einzuladen. So viel Werben für die eigene Sache widerspreche dem Geist heutiger Ökumene, meint der evangelische Prälat Stephan Dorgerloh:

27. O TON, Dorgerloh
Ich bin mir nicht sicher, ob das von der anderen Seite auch als warmherzige Einladung verstanden würde oder nicht vielleicht als ein Angriff. Man könnte es kurz auf den Nenner bringen und sagen: Müsste man nicht eine Reformation in der katholischen Kirche anzetteln. Das ist ja auch etwas, was Leute immer fordern. Man muss schauen, wie sich die Dinge weiter entwickeln. Konfrontation wird uns nicht weiterbringen, sondern das wirkliche gemeinsame Bohren des dicken Brettes, ohne die Unterschiede dabei unter den Tisch fallen zu lassen.

1. SPR.:
Seit hundert Jahren wird schon an diesem offenbar granitharten und äußerst kompakten „dicken Brett“ der Ökumene gebohrt, ohne dass es zu einem Erfolg, zu einer sichtbaren Einheit gekommen ist – was für ein Unterschied zu der Vision Philipp Melanchtons. Der Berliner Historiker Reimer Hansen:

30. O TON, Hansen
Melanchthon hat die anglikanische Kirche, die katholische Kirche, die reformierte Kirche und die griechisch orthodoxe Kirche in ihrem Kern als übereinstimmend christlich betrachtet und von daher die Einheit der Christenheit für möglich gehalten. Er hat diesen gemeinsamen Kern aller Konfessionen für so stark erachtet, dass sie zu einer pluralistischen Einheit zusammen finden können.

1. SPR.:
Der vollständigen Anerkennung aller christlichen Kirchen in Gleichwertigkeit verweigert sich die katholische Kirche bis heute. Angesichts des bevorstehenden ökumenischen Kirchentages in München eine eher betrübliche Perspektive für die Einheit der Christen..