Jesus contra Christus? Zum neuen Buch von Philip Pullman

Jesus contra Christus?
Eine Kritik des neuen Buches von Philip Pullman, „Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus“
Von Christian Modehn

Dieser Text ist eine ausführliche Fassung eines Beitrags für den NDR am 27.2.2011

Die Gestalt Jesu Christi fasziniert nach wie vor Künstler und Schriftsteller. Jetzt hat der Engländer Philip Pullman, bekannt auch als Autor von Theaterstücken und „Fanatsay – Erzählungen“, seinen Roman über den Mann aus Nazareth vorgelegt. Auf dem Rückdeckel des Buches, auf pech-schwarzem Papier und in knallig goldenen Buchstaben, fasst der Autor den Inhalt seines Werkes zusammen: „Dies ist keine frohe Botschaft“. Und auf der Titelseite, ebenfalls Gold auf Pechschwarz, ist zu lesen: „Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus“.
Auf den ersten Blick wirkt das neue Buch von Philip Pullman wie eine phantastische Geschichte: Da hat Jesus einen Zwillingsbruder mit dem Namen Christus. Er, der Jüngere, theologisch interessiert, wird zum kompetenten Beobachter seines allseits beliebten Bruders. Denn Jesus profiliert sich als erfolgreicher Heiler und Wundertäter, er ist der Prediger eines Gottes, der reine Liebe und Güte zu allen Wesen ist. Jesus glaubt zu wissen, dass sich das Reich Gottes alsbald auf Erden ausbreiten werde.

Eines Tages wird Christus von einem mysteriösen Boten besucht. Dieser befremdlich wirkende Engel fordert ihn auf, sich an der Verhaftung und Kreuzigung seines Bruders zu beteiligen. Denn, so sagt der Bote, Jesus störe einfach das religiöse Establishment. Er verwirre die Menschen mit seinen radikalen ethischen Forderungen. Christus übernimmt also die Rolle des Verräters, die in den Evangelien dem Judas zugewiesen wird. So wird er zum „Schurken“.
Soweit mag der Roman skurril erscheinen, gelegentlich ist er auch etwas spannend angesichts der mysteriösen Engel – Besuche. Man könnte den 230 Seiten langen Text als unterhaltsame Lektüre aber schnell beiseite legen. Tatsächlich aber bietet Philip Pullman einen theologischen Traktat: Jesus wird hier nicht nur als der sympathische Menschenfreund vorgeführt: Er hat, so der Autor, im Unterschied zu seinem Bruder Christus keine Absichten, eine Kirche zu gründen. Pullman lässt Jesus sagen: “Was du, mein Bruder Christus, als Organisation beschreibst, klingt wie das Werk Satans“. Damit wird ein alter Topos aufgegriffen, der von der kritischen Bibelwissenschaft durchaus untergestützt wird: Jesus dachte nicht an eine weltweit agierende Kirche. Andererseits, so die Bibelwissenschaftler, habe der historische Jesus durchaus ein besonderes, ein ausgezeichnetes Selbstbewusstsein gehabt: Er erlebte sich in besonderer Verbindung mit Gott, sah sich als der „Heilsbringer der Endzeit“. Auf Grund dieser Tatsache wurde später die Lehre verbreitet, Jesus sei Mensch und Gott in einer Person.
Diese alte Tradition stellt Pullmann grundsätzlich in Frage. Jesus wird kurz vor seinem Tod ausführlich als radikaler Ankläger Gottes dargestellt: „Du bist im Schweigen, Gott, du sagst nichts…vielleicht bist du gar nicht da“, schleudert der verzweifelte Jesus seinem früheren Gott entgegen. Hier kann der Autor auch seine fundamentale Kirchenschelte loswerden, wenn er Jesus sagen lässt: „Wirst du, Gott, die Kirchenfürsten vom Thron stoßen und ihre Paläste zertrümmern?“ In dem Machtapparat, Kirche genannt, geschehe zwar gelegentlich caritativ Gutes, meint der Autor; aber von Jesu Kritik an Herrschern und Herrschaften sei nichts mehr zu spüren. Das religionskritische Feuer Philip Pullmans, Mitglied einer humanistisch – atheistischen Vereinigung in England, wird hier besonders greifbar.
Jesus, dieser an Gott verzweifelte Mensch, wird gekreuzigt und stirbt. Und danach? Der Autor greift auf das uralte, man möchte sagen abgegriffene literarische Motiv zurück, demzufolge die Leiche Jesu gestohlen wird und verschwindet. Aber der Glaube an die Auferstehung entwickelt sich trotzdem: Denn, so will es der Autor, zufällig hält sich am Ostermorgen der Zwillingsbruder Christus in der Nähe des Grabes Jesu auf: Und diesen Christus verwechseln die frommen Jünger mit ihrem gekreuzigten Meister. Sie können nun siegesgewiss jubeln: „Der Herr lebt“. Die Auferstehung Jesu – nichts als ein Betrug, ersehnt von den leichtgläubigen Frommen. Christus denkt nicht daran, die Verwechslung der Frommen zu korrigieren; auch deswegen ist er in der Sicht des Autors ein „Schurke“.
Um seine Geschichte halbwegs rund zu beenden, schickt Pullman seinen Christus an einen weit entfernten Küstenort; dort lebt er zurückgezogen, plötzlich verheiratet, mit seiner Frau Martha zusammen. Ob er eine „Himmelfahrt“ erlebt, wird nicht verraten.
Eine gewisse Bedeutung hat dieser in England gefeierte Besteller vielleicht, weil er das Interesse wecken könnte, die vier so unterschiedlichen Geschichten von Jesus, Evangelien genannt, in der Bibel wieder einmal zu lesen. Sie sind allemal vielschichtiger und spannender. Oder man beginnt, seine eigene, persönliche Jesus Geschichte zu schreiben. Schließlich hat jeder Mensch das gute Recht, eigene Bilder und Vorstellungen von dem Mann aus Nazareth zu entwickeln. Sie wecken die Lust zu fragen: Wer war der historische Jesus denn nun wirklich? Immerhin bietet die historisch – kritische Forschung da einige sichere Hinweise.
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Philip Pullman, Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus,
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 2011. 240 Seiten,
18,95 Euro.

Moderne Texte für alte religiöse Lieder

„Licht“ – alte religiöse Lieder mit neuen Texten
Die Zeit der frommen Floskeln ist vorbei
Von Christian Modehn

Die in den Niederlanden hoch geschätzte Dichterin, Autorin und Übersetzerin Coot van Doesburgh hat sich auf Einladung der Remonstranten Kirche auf ein nicht nur für Holland wegweisendes Projekt eingelassen: Sie hat zu alten, auch vertrauten religiösen Liedern („Kirchenliedern“) neue, zeitgemäße und poetische Texte geschrieben. So können die alten, noch immer beliebten Melodien weiterhin voller Begeisterung gesungen werden, in Gruppen und Gemeinden, ohne dass jemand wegen der uralten, sprachlich auch kaum noch zumutbaren und „vergangenen“ Floskeln und Bilder doch lieber den Mund hält.
Ende November 2010 wurde das Liedbuch mit dem Titel LICHT in Holland vorgestellt. Die Autorin hat für 100 Lieder neue Texte geschrieben, die das Lebensgefühl des modernen Menschen treffen. Warum soll man sich denn auch sprachlich und gedanklich ans 17. Jahrhundert binden, wenn man alte und schöne Melodien singen will?
Ein entscheidender Schritt ist getan, ein Schritt der Verständigung zwischen musikalischer Tradition und moderner Lebenswelt. Selbstverständlich will die Remonstranten Kirche einige Lieder auch in ihren Gottesdiensten singen. Der Name des Buches LICHT ist ja bezeichnend für diese freisinnige Kirche. Man könnte LICHT geradezu als ein entscheidendes Symbol dieser Kirche bezeichnen, geht es ihr auch um „Lumières“, um Licht im Sinne der Aufklärung, um die selbstverständliche Geltung der Vernunft auch in der Kirche, auch in den Liedern. Natürlich wird bei diesem Projekt die Poesie gerade nicht abgeschafft, aber sie wird mit dem Erleben der heutigen Menschen verbunden. „Coot van Doesburgh hat mit ihren neuen Texten ein Wunder vollbracht, alte Gesänge haben durch ihre Worte ein neues Leben erhalten, zeitlose menschliche Gefühle hat sie in die Sprache von heute übertragen. Ich fühle das Verlangen, diese Lieder mit voller Brust gern mitzusingen, denn sie sind schön geworden, so klar, sie anrührend in ihrer Einfachheit“, schreibt der landesweit bekannte und (königlich) geehrte Schauspieler und Kabarettist Paul van Vliet.
Die Remonstranten Kirche hat sicher einen weiteren Beitrag geleistet, „modern“ und „christlich“ zusammenzuführen. Das beachtliche Medienecho in Holland zeigt, dass das „LICHT“ in dieser Weise sozusagen „fällig“ war. Dem Buch ist auch eine CD beigelegt. Das Projekt „LICHT“ wurde inszeniert von Tom Mikkers, dem Allgemeinen Sekretär der Remonstranten Kirche. Man darf gespannt sein, ob LICHT auch in Deutschland zu ähnlichen Projekten inspiriert, um schöne alte Melodien vom uralten Staub der uralten Texte zu befreien. Warum gibt es eigentlich so wenige Übersetzungen wichtiger niederländischer Bücher aus den Bereichen Religionen ins Deutsche, eine Frage, die wir schon vor kurzem bei der Veröffentlichung des großartigen „Catechismus van de compassie“ stellten. Wir haben das Buch auf der Website www.remonstranten-berlin.de vorgestellt.

LICHT. C. van Doesburgh
Uitgerverij Boekencentrum 2010
ISBN: 9789023967361
Paperback
126 Seiten.
€ 12,50

Für einen “europäischen Islam”. Ein neues Buch

Für einen Euro – Islam
Benjamin Idriz, Penzberg, macht weit reichende Vorschläge

„Grüß Gott, Herr Imam“ ist der Titel eines Buches von Benjamin Idriz, er ist Imam im bayerischen Penzberg. Und er gehört, wie der Titel nahe legt, für viele seiner Mitbürger offenbar längst ganz selbstverständlich zur bayerischen Heimat. Denn der Gott, den der Imam „grüßen“ soll, ist von dem Gott wohl gar nicht so verschieden, den die anderen, die christlichen Bayern, ebenfalls mit derselben populären Formel „grüßen“ sollen. Der Imam würde wohl sagen, es ist derselbe Gott, den Juden, Christen und Muslime – unter verschiedenen Namen – verehren. Benjamon Idriz hat sich mit seinem überaus anregenden Buch viel vorgenommen: Er will seine Glaubensbrüder und Glaubensschwestern mit allem Nachdruck darauf hinweisen: Sie sollten hier in Deutschland und überhaupt in Europa einen modernen, demokratischen, einen europäischen Islam aufbauen. Benjamin Idriz, er stammt aus Mazedonien, hat in Damaskus studiert und ist seit 1995 in Penzberg, möchte „das eigentliche Wesen des Islam“ herausarbeiten. Dafür hat er Vorbilder unter Islam – Gelehrten aus Bosnien. Der reformierte, der moderne Islam kann nur in den Blick geraten, wenn auch der menschlichen Vernunft die entscheidende Bedeutung zugesprochen in der Erkenntnis dessen, was der Koran wirklich meint. „Der Mensch ist das würdigste Geschöpf Gottes, daher sind seine Vernunft, Freiheit und Würde, sein Glaube und sein Leben unanstastbar“ (S. 17). „Alle Propheten (also auch die jüdischen und christlichen CM.) sind gleichgestellt, denn sie haben eine gemeinsame Botschaft… Alle Menschen sind auf Erden vor dem Recht gleich….Aggression und Usurpation sind Vergehen“ (S. 18)… „Der Friede ist heilig, der Krieg ist zu verabscheuen“ ) S. 19. Solche grundlegenden humanistischen Anschauungen eines aufgeklärten europäischen Islam kann man seitenweise in dem Buch lesen. Besonders wichtig erscheint mir das Kapitel, das Benjamin Idriz mit “Das Porträt der idealen muslimischen Persönlichkeit in Bezug auf Integration“ überschrieben hat. Abschließend heißt es in dem Kapitel: „Sie (die ideale muslimische Persönlichkeit) unterzieht ihr Religionsverständnis einer Prüfung durch die Vernunft und hält dadurch Abstand von extremen Haltungen“. (S 31).
Treffender wäre es wohl gewesen zu schreiben, „diese Person missbilligt und verurteilt extreme Haltungen“.
In jedem Fall verdient das ausdrückliche Bemühen, einen, so wörtlich, „europäischen Islam“ aufzubauen, hohe Anerkennung. Man würde sich beinahe wünschen, dass dieses Buch gratis in allen Moscheen in Deutschland, aber auch in allen Kirchen, Synagogen und religiösen Zentren gratis verteilt würde. Die in dem Buch genannte Liste der Freunde und Unterstützer des Penzberger Projekts und damit auch seines Initiators ist lang, sie umfasst Bischöfe und Bürgermeister, auch den CSU Politiker und Vorsitzenden des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken, Alois Glück. Merkwürdig, dass die Vorwürfe des bayerischen Innenministers („verkappter Radikaler“) vom Sommer 2010 gegenüber der Penzberger Moschee in dem Buch nicht ausführlich behandelt und erwidert werden. Benjamin Idriz leidet offenbar darunter, wie stark heute noch im alltäglichen Islam, auch in Europa, die „eigentlich“ universalen Werte des Korans und die Werte des Humanismus überlagert werden durch volkstümliche (arabische, türkische usw.) Traditionen, die kulturell zu verstehen sind, aber eigentlich mit dem Islam nichts zu tun haben (das gilt etwa für die Rolle der Frauen in der unreflektierten islamischen Alltagspraxis). Als oberstes Gebot gilt darum für den Penzberger Imam die Bildung.
Vielleicht kann von Penzberg aus tatsächlich eine umfassende Reformbewegung des Islam gefördert werden, vielleicht schließen sich mehr Imame dieser vom humanistischen Geist geprägten Islam – Theologie an. Merkwürdig bleibt, warum dieses globale Projekt eines „humanistischen, vernünftigen und kritischen Islam“ auf Europa beschränkt bleiben soll. Man würde sich dringend wünschen, dass diese globale Islam -Reformation auch die islamische (und politische) Praxis in den Ländern Arabiens usw. erreicht. Es geht doch um viel mehr, als bloß um einen reformierten Euro – Islam. COPYRIGHT: Christian Modehn.

Benjamin Idriz, „Grüss Gott, Herr Imam!“. Eine Religion ist angekommen. Diederichs Verlag München, 2010,223 Seiten, 16,99 Euro.

Für einen modernen Katholizismus

Katholizismus und Moderne verbinden.
Perspektiven von Jacques Gaillot.

Auszüge aus einem Buchbeitrag von Christian Modehn

Klicken Sie zur Lektüre einen aktuellen Link vom Juni 2013 hier

Jacques Gaillot hatte als Bischof von Evreux (1982 bis 1995) zahlreiche Kontakte mit jungen Menschen, auch mit Atheisten, mit Menschen, die durch ihn wieder Interesse an der Kirche fanden. Aber „dieser Hoffnungsträger“ wurde 1995 von Rom abgesetzt. Unverschämt geradezu der Vorwurf seiner vatikanischen Richter: „Gaillot hat sich als Bischof als unfähig erwiesen“. Im Rückblick muss man die Absetzung Bischof Gaillots als Beispiel für die „Selbstzerstörung des Katholizismus“ durch die Kirchenführung selbst interpretieren. Indem sie sich in den alten Mauern einschließt, gibt sie dem lebendigen Leben keine Chance. Ausdruck für den versteinerten Geist und die versteinerte Institution ist das Bemühen Benedikt XVI., die besonders Versteinerten, die in das Uralte verliebt sind und den Antisemitismus verteidigten, die Pius-Brüder, wieder in die römische Kirche „zurückzuholen“. Psychologen sprechen in dem Zusammenhang von der Lust am Morbiden…
Gleichermaßen politisch wie theologisch konservative bzw. reaktionäre Kräfte haben Jacques Gaillot zu Fall gebracht. „10 Jahre wurde Gaillot vom Vatikan beobachtet“, also praktisch seine ganze Zeit als Bischof von Evreux, betonte ganz freimütig einer seiner Richter im Vatikan, Msgr. J. Tauran im Januar 1995 in einem Zeitungsinterview. Danke für die Offenheit! Zu Gaillots heftigsten Widersachern gehörte, um nur ein Beispiel von vielen anderen Beispielen zu nennen, Abt Gérard Calvet vom traditionalistischen Benediktiner Kloster Le Barroux bei Avignon. Ursprünglich eng mit den Lefèbvre Leuten (den „Piusbrüdern“) verbunden sowie den Ideen des rechtsextremen Front National (Le Pen), war es Kardinal Ratzinger gelungen, diese Mönche mit ihrem Abt Calvet wieder an den Papst zu binden…Auf ihn hörte der Vatikan, als man Gaillot zu Fall brachte. Der „Fall Gaillot“ war also immer auch ein „politischer Fall“, wobei sich der Vatikan stets auf der sehr rechten Seite präsentierte…
Die Absetzung Jacques Gaillots als Bischof wurde zu recht schon damals als das symbolische Ende eines um Freiheit und Evangelium bemühten Flügels innerhalb der römischen Kirche wahrgenommen. Historiker werden bei noch größerem zeitlichen Abstand feststellen: Jacques Gaillot war als Bischof eine für katholische Verhältnisse „einmalige Gestalt“ im Europa des 20. Jahrhunderts, eine Verbindung von Moderne und Evangelium, wie sie sonst kaum möglich erschien, vergleichbar vielleicht den von Rom ebenso ungeliebten Bischöfen Pedro Casaldaliga oder Dom Helder Camara, beide Brasilien…Dass auch Jacques Gaillot (wie alle anderen Bischöfe auch) einmal sozusagen im Dauerstress übereilt reagierte oder dabei Fehler machte, versteht sich von selbst. Aber seine theologische Linie, Moderne und Katholizismus zu verbinden, blieb und bleibt zweifelsfrei vorbildlich und, sagen wir es ruhig, einmalig.
Auch wenn jetzt noch einige „Reformkatholiken“ die ewig selben Reformvorschläge wiederholen und wiederholen: Der „Fall Gaillot“ hat meines Erachtens klargemacht: Reformen grundlegender, radikaler Art haben im römischen System keine Chance. Einzig eine neue Reformation hätte Sinn, dann bliebe aber zumindest ein Teil der römischen Kirche nicht mehr „der selbe“ wie vorher…(siehe Martin Luther). Jacques Gaillot hat sich entschieden, nicht zum Reformator zu werden, er wollte kein französischer Luther sein. Das ist seine Entscheidung, die es zu respektieren gilt, auch wenn niemals wenigstens gedanklich durchgespielt wurde und auch heute nicht durchgespielt wird, was denn eine neue Reformation bedeutet hätte und immer noch bedeuten würde, gerade angesichts der tiefen Krise und des absoluten Vertrauensverlustes des Katholizismus etwa jetzt im Frühjahr 2010.
Im Rückblick bleibt auch das Bedauern, dass Jacques Gaillot nie deutlich spürbare Unterstützung von prominenten Theologen gefunden hat: Die Namen der „großen“ Theologen z.B. in Tübingen oder Münster brauchen hier nicht genannt zu werden, sie haben meines Wissens diesem bescheidenen Mann des Evangeliums niemals öffentlich und deutlich zur Seite gestanden. Waren sie sich – von der Solidarität Eugen Drewermann einmal abgesehen – zu fein, waren sie sogar so unbescheiden, dass sie meinten, dieser Bischof aus Evreux und später in Partenia „biete theologisch zu wenig“? So viel Arroganz wäre schlechthin unverständlich.
Eine andere entscheidende Frage lautet: Wird Jacques Gaillot noch zu Lebzeiten rehabilitiert werden? Wird sich Rom bei ihm für die Absetzung entschuldigen und sich dann bedanken für die zahlreichen Impulse, die er den Menschen von heute gegeben hat? Wird sich die französische Bischofskonferenz entschuldigen, dass sie ihn seit 1995 weitestgehend ignoriert hat und praktisch niemals mehr zu ihren Versammlungen eingeladen hat? Wird sie diesem Bischof mit der einfachen und deswegen so befremdlich wirkenden Botschaft die Hand reichen? Gibt es noch Menschen, die glauben, der römische Katholizismus könne sich wie durch ein Wunder reformieren und dem Geist des Evangeliums entsprechen? Was bleibt für die anderen? „Um das Licht zu sehen, müssen wir aus den Mauern heraustreten“, so Bischof Jacques Gaillot zu Ostern 1983.

Den vollständigen Text und viele andere interessante Beiträge zu Jacques Gaillot finden Sie in dem neu erschienen Buch:

„Die Freiheit wird euch wahr machen“, herausgegeben von Roland Breitenbach, Reimund-Maier-Verlag Schweinfurt: ISBN 978-3-926300-64-5, Preis: 18,80 Euro
Direktbestellung des Buches: info@reimund-maier-verlag.de

Vielleicht hat Gott heute “neue Kleider” an. Ein freisinniger Katechismus

Ein spirituelles Buch, es nennt sich – mit etwas Ironie – Katechismus. Denn dieses Buch will nicht belehren, es will zu denken geben. Ein neues Buch freisinniger Protestanten…

Gottes „neue Kleider“?

Ein neuer Katechismus – eine Einladung, selber zu denken und den eigenen Glauben zu entwickeln

Alle 150 Abgeordneten des Niederländischen Parlaments (Tweede Kamer) erhalten dieser Tage einen Katechismus geschenkt. Ungewöhnlich, in einem säkularisierten Land wie Holland. Dabei handelt es sich nicht um den Versuch, klerikale Machtansprüche in der Politik durchzusetzen, das liegt den Autoren des ungewöhnlichen Katechismus auch völlig fern. Denn sie treten als “freisinnige, liberale Christen” entschieden für die Trennung von Kirche und Staat ein. Aber ihnen liegt daran, mit allen Menschen, auch mit Politikern, in einen partnerschaftlichen Dialog einzutreten, nicht über Dogmen, wohl aber auch ethische Orientierungs – Vorschläge!

Es ist schon komisch: Ausgerechnet in Holland erscheint dieser Tage ein neuer Katechismus. Ist das Wort „Katechismus“ nicht völlig out, völlig verbraucht, gerade in den Niederlanden, wo nur noch etwa 35 Prozent der Bevölkerung Mitglieder einer christlichen Kirche sind und die wenigsten Menschen von dogmatischen Lehren unterwiesen werden wollen? In dieser Situation muss man schon etwas Außergewöhnliches vorweisen: Der neue holländische Katechismus konnte entstehen, weil die vier freisinnigen christlichen Kirchen Hollands angesichts des zunehmenden Einflusses konservativer und reaktionärer Kirchen deutlich ihre eigene Stimme erheben, die Stimme der Freiheit, die dem Nachdenken allen Raum lässt und eben keine fertigen „ewigen“ Wahrheiten präsentiert. Es sind keine Leitungsgremien, keine Bischöfe und keine Päpste, die diesen Katechismus verfasst haben, sondern zwei Pfarrer, die im ständigen Austausch mit der Kultur der Gegenwart stehen: Christiane Berckvens – Stevelinck, Theologin der Remonstranten Kirche, und Ad Ablass, Theologe der freisinnigen Strömung innerhalb der Protestantischen Kirche (PKN) legen ein Buch vor, das in 12 Kapiteln Grundworte der menschlichen Kultur erläutert, Grundworte, die ihre Wurzeln in den biblischen Traditionen haben. Am Anfang steht die „Compassie“, das Mitleid, am Ende die dem Mitgefühl und der Empathie verwandte Liebe. Andere Themen sind Gleichheit, Verbundenheit, Versöhnung, Gerechtigkeit, Friede, Wahrheit, Freiheit, Berufung, Glaube und Gott. Das neue Buch nennt sich ausdrücklich „Katechismus des Mitleids“, ein zweifellos ungewöhnlicher, wenn nicht gar provozierender Titel. Aber er deutet das Ziel an: Die LeserInnen werden eingeladen, angesichts der humanen, ökologischen und politischen Katastrophen der Gegenwart das Mitleiden zu entwickeln, nicht nur als spirituelle Haltung, sondern vor allem als aufgeklärtes Handeln zugunsten der Leidenden. Aber dieser Appell zum Handeln ist nicht dick aufgetragen, vielmehr bieten die einzelnen Kapitel Informationen und meditative Impulse zu diesen Grundworten humaner Existenz. So ist ein Buch entstanden, das sich wohl am besten in einer eher „meditativen und behutsamen Lektüre“ erschließt. Nebenbei: Das Buch verdankt wesentliche Anregungen der britischen Philosophin und ehemaligen katholischen Nonne Karen Armstrong, die sich ausdrücklich für eine „Charta des Mitgefühls“ einsetzt. So gehört dieses Buch zu dem weltweit entstehenden Netwerk „Compassion“! Alle Kapitel des Katechismus werden „eingeleitet“ mit schönen Nachdrucken von Gemälden, Chagall ist genauso vertreten wie Rembrandt, Claudio Taddei genauso wie Caravaggio oder Ferdinand Hodler. Die eigens für das Buch gefertigten Gemälde der Künstlerin Brigida Almeida aus Utrecht beschließen jedes Kapitel. Im Text werden die Leser mit einer Fülle an Informationen aus der Literatur, dem Film, dem Theater konfrontiert, Informationen, die gleichermaßen die Schwierigkeiten wie die Chancen einer Lebenshaltung vorstellen, die sich von den 12 „Katechismus – Grundworten“ inspirieren lassen will, biblische Perspektiven sind jeweils ein Kapitel unter den anderen. Das ist der typische freisinnige Geist, dass keinem „Bibel – Fanatismus“ gehuldigt wird, sondern spirituelle Inspirationen auch im „weiten Feld“ der Religionen und Kulturen präsentiert werden. Sympathisch werden es Berliner finden, dass zum Thema Freiheit schon im Titel auf den berühmten Ausspruch John F. Kennedys verwiesen wird: „Ich bin ein Berliner“, ein Ausspruch, der heute als Bekenntnis gegen alle Formen des Totalitarismus verstanden wird. Äußerst sympathisch ist auch, dass das Kapitel über die Liebe mit einem Bild von Julius Schnorr von Carolsfeld eröffnet wird, das die beiden Liebhaber David und Jonathan zeigt., sicher ist auch die Entscheidung für dieses Bild typisch für Freisinnige in Holland: Die Remonstranten waren ja die erste Kirche weltweit, die schon 1986 homosexuelle Paare –gleich welcher Konfession- in ihren Kirchen segnete. Sympathisch ist auch, dass der ungewöhnliche, progressive katholische Theologe Karl Rahner als Verteidiger der Mystik erwähnt wird.

Dies ist wohl der entscheidende Eindruck: Dieser auch vom Layout so schöne und freundliche Katechismus der freisinnigen Christen plädiert für die Mystik, sicher für eine moderne, eine durch die Aufklärung „hindurchgegangene” Mystik: Aber doch wird aller Nachdruck gelegt auf das innere Erleben des Göttlichen, das sich im Handeln ausdrückt. In der Mystik sehen die Autoren ohnehin die Zukunft des Religiösen. Interessant könnte es sein, wie sich die freisinnigen Kirchen selbst zu Orten (multi-religiöser) Mystik entwickeln. Vielleicht ist diese Mystik das neue Profil der Freisinnigen und ihrer Gemeinden? Vielleicht können sie mit diesem Profil weitere undogmatische, aber mystisch Interessierte einladen? Die niederländischen Autoren sind jedenfalls überzeugt: Gott ist nicht tot, er zeigt heute nur neue, ungewöhnliche „Gesichter“. Er hat vielleicht neue Kleider angelegt, wie die Autoren schreiben.

“Catechismus van de compassie”. Erschienen im Verlag Skandalon, in Vught, Holland. ISBN 978-90-76564-94-4.compas

Jacques Gaillot: Ein neues Buch: “Die Freiheit wird euch wahr machen”.

Einer der wichtigsten Reformer der katholischen Kirche wird am 11. 9. 2010 75 Jahre alt. Aus diesem Anlaß erscheint das Buch:

Die Freiheit wird euch wahr machen. Ein Buch anlässlich des 75. Geburtstages von Jacques Gaillot. Hg. von Roland Breitenbach unter Mitarbeit von Katharina Haller, Zürich, und Christian Modehn, Berlin.
200 Seiten; 12 S. farbiger Bildteil. Reimund Maier Verlag, Schweinfurth.

Ein Hinweis von Christian Modehn.  Siehe auch anläßlich des Todes von Bischof Jacques Gaillot den Beitrag von Christian Midehn: LINK.

Ergänzung am 11.8.2024:

Der Buchtitel “Die Freiheit wird euch wahrmachen” wurde von Christian Modehn 2010 vorgeschlagen und von den anderen Mitherausgebern des genannten Buches gern angenommen. Der Titel ist eine Drehung des auf Jesus bezogenen Wortes: “Die Wahrheit wird euch freimachen” (Johannes Ev., 8,32) . Ich hingegen meinte damals schon: Die Freiheit ist es, die den  Menschen wahr macht, die Freiheit als erlebte, gestaltete, als meine und unsere Freiheit macht mich wahr, d.h. führt mich, uns, zu einer wahren Gestalt des Menschseins. Dieser Titel passt sehr gut zum Leben und Denken und Handeln von Bischof Jacques Gaillot.

Der Titel wurde dann von konservativen Theologen abgeleht und bekämpft. Sie denken: Erst kommt die Wahrheit (Dogma), dann das Leben. I

Ich schreibe das  einige (14 !) Jahre nach Erscheinen des Gaillot Buches: Weil der bekannte katholische Theologe und Bibelwissenschaftler Prof.Fridolin Stier (Tübingen) in seinen Aufzeichnungen “Vielleicht ist irgendwo Tag” (Herder, 1993, auf Seite 300 lapidar erklärt: “Die Wahrheit wird euch freimachen,-  ja, aber ich füge hinzu: Die Freiheit wird euch wahrmachen”. Am 24.8.1973 hat Fridolin Stier diesen theologischen Satz notiert. Mich freut es, dass ich bei meinem Titel -Vorschlag 2010 noch nicht ahnte, dass wir uns in guter theologischer Gesellschaft befinden. Sorry, aber so viel Ehrgeiz darf ja mal sein.

Das Buch “Die Freiheit wird euch wahrmachen” ist antiquarisch leider nicht mehr erreichbar. Ein gutes Zeichen?

—–Ein Hinweis auf eine aktuelle Ra­dio­sen­dung über Jacques Gaillot:

Ein Text, der einer Sendung von Christian Modehn über Bischof Jacques Gaillot im Deutschlandfunk am 3. September 2010, um 9. 35 zugrunde lag.

Machtlos und frei
Bischof Jacques Gaillot wird 75 Jahre alt
Von Christian Modehn

1. SPR.: Berichterstatter
2. SPR.: Übersetzer

Moderationshinweis:
Er gilt weltweit als DIE Symbolfigur eines progressiven Katholizismus. Theologische Tabuthemen kennt er nicht, radikal sind seine Reformvorschläge. Aber jetzt will er dem Kirchenrecht Genüge tun: der französische Bischof Jacques Gaillot. In wenigen Tagen (am 11. September) wird er 75 Jahre. Und in diesem Alter müssen katholische Oberhirten in den Ruhestand treten. Einen Bischofspalast braucht Gaillot deswegen nicht zu verlassen, denn er lebt seit 15 Jahren in einem kleinen Zimmer des Klosters der „Väter vom Heiligen Geist“ im 5. Pariser Arrondissement: Hier hat er Zuflucht gefunden, als ihn der Papst im Januar 1995 wegen allzu radikaler Ansichten absetzte. Christian Modehn hat Bischof Gaillot über viele Jahre zu Interviews getroffen.

1. O TON:
2. SPR.:
Ich verwechsele die Kirche Christi nicht mit einer bestimmten Art, wie die Kirche heute funktioniert. Oder mit einer Institution, die nur auf die Disziplin achtet. Meine vorrangige Sorge gilt eigentlich nicht der Kirche, sondern dem Leben der Leute, dem modernen Leben; es geht um die Menschen, nicht um die Kirchendisziplin.

1. SPR.:
Bischof Jacques Gaillot in einem Interview, mitten in Paris, Anfang Februar 1995. Erst wenige Tagen zuvor wurde er vom Vatikan als Bischof von Evreux in der Normandie abgesetzt. Was waren seine „Untaten“? Er hatte seit 1982 in beständiger Regelmäßigkeit öffentlich und in aller undiplomatischen Deutlichkeit die Abschaffung des Zölibatsgesetzes gefordert; er trat für das Priestertum der Frauen ein; er verteidigte die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen- Paaren, zudem hatte er Verständnis für die Abtreibung, den Gebrauch von Kondomen fand er als Schutz vor AIDS ganz normal. Ohne tief greifende Reformen habe die Kirche keine Zukunft, lautete sein immer wieder kehrendes Bekenntnis über all die Jahre bei seinen zahlreichen Auftritten in allen Fernseh- und Radiostationen Frankreichs. Für ihn waren sie eine günstige Gelegenheit, auch die Rechte der Ausländer einzuklagen und die Wohnungslosen und Obdachlosen entschieden zu verteidigen. Um Wehrdienstverweigerer kümmerte er sich genauso wie um Befreiungstheologen. Gaillot galt nicht nur als Kirchenrebell. Er war in seiner eher radikalen Position auch politisch höchst unbequem. Darum waren es „besorgte Katholiken“ wie auch konservative Politiker, die sich gemeinsam in Rom für die Absetzung Bischof Gaillots stark machten. Aber schon kurz nach seiner Absetzung war er gar nicht so unglücklich:

2. O TON:
2.SPR.:
Ich glaube, die Kirche hat mir einen Dienst erwiesen. Sie hat mich in eine Diözese ohne Grenzen hineingestoßen; sie hat mir, so würde ich sagen, erlaubt, dass ich mich befreie.

1. SPR.:
Der Ort der Befreiung hat für Gaillot einen Namen: Es ist der Wüstenort Partenia in Algerien, der nur noch als Titel eines längst untergegangenen Bistums existiert. Der Kirchenreformer Gaillot wurde also „Titularbischof von Partenia“. Er und seine Freunde machten dieses eher imaginäre Bistum zum Sammelpunkt von Menschen, die grundlegende Reformen in Kirche und Gesellschaft einklagen. Sofort wurde ein viel beachteter Internetaufritt geschaffen, der monatlich bis zu 800.000 Besucher aus aller Welt zählte. So entstanden neue Kontakte, Jacques Gaillot wurde zum reisenden „Wüstenbischof“, der nicht nur in ganz Europa, sondern noch in den abgelegenen Ecken des Amazonas oder im kanadischen Norden progressive Christen oder Verteidiger der Menschenrechte stärken wollte. Immer wenn er in Paris war, trat er öffentlich für die Belange der Flüchtlinge vor allem aus Nordafrika ein. Und er war bei Hausbesetzungen dabei, wenn Obdachlose ihr „Recht auf Wohnraum“ einklagten. Inmitten solcher Erfahrungen kam es immer wieder zu tieferen, geistlichen Gesprächen:

3. O TON
2. SPR.:
Es gibt Leute, die Jesus außerhalb der Kirchen entdecken als einen Menschen, der z.B. für die Frauen eingetreten ist oder für die Gleichheit der Menschen. Einst wurde das Evangelium durch die kirchliche Institution verbreitet. Heute ist Jesus nicht mehr in diese Grenzen eingebunden, das ist eine Chance für das Evangelium.

1. SPR.:
Gaillot möchte eine einfache, eine bescheidene und möglichst dogmenfreie Kirche fördern, eine Gemeinschaft, die vor allem in der praktischen Solidarität ihren Glauben bekennt. Die meisten Katholiken haben diese Haltung nicht verstanden, auch die französischen Bischöfe haben nur selten die Gemeinschaft mit ihrem radikalen Kollegen gesucht:

4. O TON
2. SPR::
Das letzte Mal zelebrierte ich eine Messe in der Kathedrale Notre Dame gemeinsam mit Bischöfen und Kardinälen anlässlich der Bestattung von Abbé Pierre im Jahr 2007. Tatsächlich habe ich wenig Verbindung mit der Hierarchie. Darüber bin ich nicht unglücklich, denn ich bin mit den Herzen vieler Leute verbunden.

1. SPR.:
Solange „Jacques“, wie ihn seine Freunde weltweit nennen, gesund bleibt, will er weiter Flüchtlinge, Ausländer und Obdachlose begleiten. Den Internetauftritt des virtuellen Bistums Partenia will er einstellen. Seinen Freunden überlässt er die Zukunft des inzwischen internationalen Netzwerkes:

5. O TON
2. SPR.:
Jacques Gaillot wird eines Tages nicht mehr da sein, dann muss wohl Partenia auch verschwinden oder aber: Partenia muss auf andere Art weitergehen: Man darf nicht zu viel festlegen, man muss die Freiheit walten lassen.

1. SPR.:
Aber auf diese Freiheit zu ungewöhnlichen Aktionen will Gaillot doch noch nicht ganz verzichten: So hat er erst vor einigen Wochen den traditionalistischen Abbé Philippe Laguérie getroffen, ausgerechnet jenen Priester, der in aller Schärfe damals aufs heftigste die Absetzung des progressiven Bischofs von Evreux forderte. Gespräche der Verständigung und Versöhnung nennt Gaillot solche ungewöhnlichen Begegnungen. An einen Rückzug aus der Öffentlichkeit denkt Jacques Gaillot auch als 75 Jähriger offenbar nicht.

Wer die Macht im Vatikan hat – ein neues Buch

NDR INFO
Blickpunkt Diesseits, Sendung am 8. August 2010 um 12.05 Uhr

Wer die Macht hat
Ein neues Buch analysiert die Herrschaftsverhältnisse im Vatikan
Von Christian Modehn

Sie nennen sich „neue geistliche Gemeinschaften“: Die Legionäre Christi oder die Mitglieder des Opus Dei; andere Gruppen mit ebenso vielen tausend Mitgliedern haben auch merkwürdige Namen wie etwa die Focolarini, die Freunde von „Communione e liberazione“ oder die Neokatechumenalen Gemeinschaften. „Neu“, so behaupten diese Gemeinschaften, sei ihr Zusammenleben von Laien und Priestern, von Frauen und Männern, unter einem Dach. Dabei verschweigen sie, dass tatsächlich auch in diesen Kreisen der Klerus allein bestimmt, wie sich ihre Gruppe innerhalb der gesamten Kirche zu verhalten hat. „Geistlich“ nennen sich diese Kreise, um ihr besonderes Interesse an Frömmigkeit nach außen zu betonen. Aber so viele neue Impulse für eine moderne und freie Spiritualität können sie nicht bieten. Denn ihre absolute Ergebenheit dem Papst gegenüber und die Wiederholung alter dogmatischer Formeln lässt nur wenig Spielraum. Tatsächlich sind diese so genannten neuen geistlichen Gemeinschaften mit immerhin 300.000 Mitglieder weltweit nicht nur geistlich, sondern vor allem auch politisch engagiert. Sie wollen seit 50 Jahren im Dienst der Päpste offizielle kirchliche Vorstellungen, etwa in Fragen der Sexualität oder der Ehe, auch gesellschaftlich durchsetzen. Hanspeter Oschwald analysiert in seinem neuen Buch „Im Namen des heiligen Vaters“ diese Gruppen. Sie agieren weltweit und unterstützen mit allen Mitteln, z.B. durch umfassende Medienauftritte und durch theologische Institute, eine klare Tendenz, wenn sie lautstark propagieren: Das Zweite Vatikanische Reformkonzil Mitte der neunzehnhundert sechziger Jahre sei nicht ein mutiger Neubeginn, sondern ein bescheidenes Ereignis unter vielen. Darum sollte man das hierarchische Kirchenmodell von einst wieder pflegen. Hanspeter Oschwald berichtet auch vom Innenleben dieser Gruppen: Da werden Ehen arrangiert, da wird die öffentliche Beichte praktiziert mit allem Verlust an Privatsphäre; da werden, wie bei den Legionären Christi, jahrelang die pädophilen Verbrechen des Ordensgründers von den eigenen Mitgliedern übersehen und geduldet; da werden enge partiepolitische Bande geknüpft, etwa mit der Regierung Berlusconi, weil sich die Kirche dadurch materielle Vorteile erhofft. Die neuen geistlichen Gemeinschaften sind zwar sehr unterschiedlich in ihrer Art, das Katholische zu leben: Die einen sind mehr enthusiastisch und nach außen hin fröhlich, wie die Charismatiker; die anderen schwören auf das Auswendiglernen des traditionellen Katechismus, wie die Neokatechumenalen. Alle aber haben ein gemeinsames Ziel: Sie wollen den Papst dadurch unterstützen, dass sie möglichst viele junge Männer fürs Priestertum begeistern. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn nicht diese jungen Kleriker ausdrücklich antimodernen Vorstellungen folgten. Für Hanspeter Oschwald haben sich diese neuen geistlichen Gemeinschaften längst in den vatikanischen Leitungsstrukturen etabliert. Sie wollen als die „hundertprozentig“ Treuen den Kernbestand des Katholizismus darstellen, also die kleine treue Herde, wie sie so häufig beschworen wird als „heiliger Rest“, nachdem die Progressiven und an Kirchenreform interessierten Katholiken längst innerlich oder äußerlich die Kirche verlassen haben. Für den mit alten Traditionen eng verbundenen Benedikt XVI. sind diese so genannten „geistlichen Gemeinschaften“ die engsten Freunde. Ihnen gehört in seiner Sicht die Zukunft.

Hanspeter Oschwald, Im Namen des Heiligen Vaters. Wie fundamentalistische Kräfte den Vatikan steuern. Heyne Verlag, München 2010. 384 S., 19,95 €.