Das mexikanische Füllhorn: Reichtum geht, Armut bleibt. Ein Beitrag von Alfons Vietmeier, Mexiko – Stadt

Alfons Vietmeier hat im Herbst 2013 ein Buch veröffentlicht, das die Beiträge unserer Serie: “Der andere Blick – Alfons Vietmeier schreibt aus Mexiko” enthält, aber auch weitere Aufsätze, die ein recht umfassendes Bild zur sozialen, politischen und vor allem religiösen Situation in Mexiko heute bieten. Das Buch “Mexiko tiefer verstehen” ist im Dialog Verlag Münster erschienen, es hat 192 Seiten mit zahlreichen Fotos. Das Buch eignet sich gut als Einführung in die vielschichtige mexikanische Lebenswelt. Alfons Vietmeier lebt seit vielen Jahren in Mexiko Stadt, er ist als Theologe und als Berater für neue kommunikative Formen in Großstädten vor allem.

Vor kurzem hat unser Freund Alfons Vietmeier regelmäßig für den religionsphilosophischen Salon aus Mexiko berichtet. Jetzt schickt er uns einen Vortrag, den er kürzlich in Emsdetten gehalten hat.

 

Gold und Silber lieb ich sehr: Das mexikanische Füllhorn: Reichtum geht, Armut bleibt.

Von Alfons Vietmeier,  Mexiko – Stadt

Es gibt keinen der zahlreichen Besucher aus Deutschland in Mexiko, der nicht nachdenklich auf das Thema der weltweiten Finanzkrise und konkret auf die Krise des Euro zu sprechen kommt. Auch die Medien sind voll davon, wenn ich im Internet Nachrichten aus Deutschland checke. Die Meinungen gehen weit auseinander über Ursachen und Konsequenzen. Bei den –zig Milliarden, die hin und her geschoben werden, wird es einfachen Menschen schwindelig, die schon wegen eines fehlenden Tausenders schlaflose Nächte haben. Sind solche Mega-Summen was für Zirkus – Jongleure, Spielmarken beim Monopoly oder Seifenblasen, die dann platzen? Allgemeine Ratlosigkeit und oft die Problemverschiebung auf Sündenböcke wie: “Die Griechen, die haben halt nur auf Pump gelebt!” Und wer von uns nicht auch? Mehr als Einer sagt dann, das Sicherste sei, in Gold und Silber anzulegen.

Bei diesem Punkt erzähle ich gerne etwas aus der Geschichte, das mich nachdenklich macht und lade ein, ebenfalls nach- und weiterzudenken.

Das mexikanische Füllhorn.

1803 war das Allroundgenie Alexander von Humboldt über ein Jahr in Mexiko. Er forschte wie wild, unter anderem über die vorhandenen und nicht ausgebeuteten Edelmetalle. Seine Erkenntnis: Mexiko ist wie ein Füllhorn, voll von Silber und Gold. Es muss nur mit moderner Technologie ausgebeutet werden.

In jener Zeit begann im südlichen Ruhrgebiet die deutsche Industrialisierung. Einige Industrielle lasen von Humboldts Forschungsbericht und waren fasziniert: In Mexiko ist schnell und leicht riesiger Gewinn zu machen; der vorhandene Bergbau muss nur modernisiert werden! Dazu werden Geld und damit Inversionisten benötigt! 1824 wurde in Elberfeld (jetzt Stadtteil von Wuppertal) eine “Deutsch – Mexikanische Bergwerksgesellschaft” gegründet, und Aktien wurden ausgegeben; unter anderem kaufte auch Goethe. Mit diesem Kapital wurden in Mexiko soweit wie möglich lokale Minen aufgekauft, die seit Jahrhunderten unter den Spaniern sehr rustikal etwas Bergbau betrieben und insbesondere Silber abbauten. Die anfängliche Euphorie war so groß, dass bis 1827 etwa 30 Silber- und Goldgruben, sowie drei Schmelzhütten erworben wurden, heißt es in einem zeitgenössischen Bericht. Weiterlesen ⇘

Benedikt XVI. – oberster Lehrmeister des Politischen

Papst Benedikt XVI. als oberster Lehrmeister des Politischen

Von Christian Modehn

Wir haben im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon im Rahmen der philosophisch notwendigen Kritik der Religionen und Kirchen auf die politischen Ansprüche der Päpste, besonders Benedikt XVI., immer wieder hingewiesen und diese andauernden heftigen päpstlichen Weisungen gegenüber Staat und Gesellschaft dokumentiert und erläutert. Das neue Buch von Marco Politi, einem der renommiertesten „Vatikanologen“ mit dem Titel „Benedikt. Krise eines Pontifikats“ (Rotbuch Verlag, Berlin, Dezember 2012) bietet auch zu dem Thema wichtige Hinweise. Marco Politi, Journalist bei „La Repubblica“ und „Il Fatto Qutidiano“, bestätigt unsere eigenen bisherigen Dokumentationen. Wir weisen nur auf einige zentrale Aussagen aus dem 14. Kapitel („Der Prediger und die Wüste“) seines – sehr umfangreichen, sehr präzisen empfehlenswerten – Buches hin.

Benedikt XVI. ist davon überzeugt, dass er als Papst, d.h. als Stellvertreter Christi auf Erden und als Nachfolger Petri, die Vollmacht hat, die gesamte Politik weltweit zu belehren, „was die nicht verhandelbaren Prinzipien (der Politik) sind“. Das klingt zunächst interessant, könnte man doch denken, dass sich der Papst zu einem leidenschaftlichen Verteidiger der Menschenrechte (zu denen auch die Gewissensfreiheit gehört) aufschwingt und sich sozusagen an vorderster Front gegen Diskriminierung und Ungleichbehandlung bestimmter Menschen usw. aufstellt.  Aber Marco Politi belehrt uns eines besseren: Der Papst duldet als individuelle Freiheit nur den freien Ausdruck des „gebildeten christlichen Gewissens“ (S. 465), also des Gewissens, das sich von der christlichen Lehre prägen lässt. Aber wer verbreitet die authentische christliche Lehre? Es ist einzig der Papst als das oberste Lehramt. Gewissensfreiheit gibt es also nur für die päpstlich geprägten Gewissen. Noch als Chef der obersten Glaubensbehörde veröffentliche Joseph Ratzinger im Jahr 2002 eine „lehrmäßige Note“, also einen alle Katholiken orientierenden, wenn nicht bindenden Text zum Verhalten der Gläubigen in der Politik. Darin heißt es, ich zitiere aus dem Buch von Marco Politi (464 f.): “Es ist keinem Gläubigen gestattet, sich auf das Prinzip des Pluralismus und der Autonomie der Laien in der Politik zu berufen, um Lösungen zu begünstigen, die den Schutz der grundlegenden ethischen Forderungen für das Gemeinwohl der Gesellschaft kompromittieren oder schwächen“. Übersetzt könnte man sagen: „Liebe Politiker, hört auf Rom, den Vatikan, wenn ihr politische Entscheidungen trefft“. In den USA wurden tatsächlich in den letzten Jahren katholische Politiker exkommuniziert, die allzu sehr dem eigenen und nicht dem päpstlichen Gewissen folgten, etwa in Fragen des Schwangerschaftsabbruches. Ultramontanismus nannte man im 19. Jahrhundert diese entfremdende Denkungsart: „Zuerst der Papst, dann mein Gewissen“.

So wird also die faktische Autonomie und die faktische Gewissensfreiheit der (politisch handelnden) Katholiken zurückgewiesen. Katholiken müssen die „grundlegenden ethischen Forderungen“  über ihren persönlichen Gewissensspruch stellen. Der Bischof von Rom ist nicht nur ein spiritueller Lehrer, er ist als Nachfolger des heiligen Petrus auch der einzig berufene Interpret des Naturrechts. Denn dort sind die „grundlegenden ethischen Forderungen“ konkretisiert. Der Papst müsste sich konsequenterweise eigentlich auch des Titels „Oberster Naturrechtslehrer“ bedienen. Immer ist von Naturrecht in päpstlichen Stellungnahmen zu lesen, sehr selten von Menschenrechten: Warum das so ist? Menschenrechte entwickeln sich, sind mit dem Leben verbunden, sind um soziale Dimensionen etwa zu ergänzen. Hingegen ist „das“ Naturrecht im päpstlichen Sinne, auch in der konkreten inhaltlichen Prägung,  etwas UNWANDELBARES und EWIGES, es ist etwas Starres und Unhistorisches. Denn das Naturrecht geht letztlich, so wörtlich „auf den Schöpfer zurück“ (S: 485). Mit „Schöpfer“ ist der Gott gemeint, so, wie ihn die klassische vatikanische Theologie deutet: Als unwandelbarer Herr und Meister von moralischen Prinzipien. „Mit dieser Formulierung wird ein gleichberechtigter Dialog mit Atheisten und Agnostikern ein gewagtes, wenn nicht unmögliches Unterfangen“, so Politi (S. 485). Und was können Buddhisten und Hinduisten mit diesem Gott der Katholiken anfangen, der das Naturrecht erlässt und aus päpstlichen Munde universal für alle und immer und ewig verbreitet? Auch diese (rhetorische) Frage stellt Politi.

Der Papst und der Vatikan haben, das ist evident, mit ihrer total objektivistischen und unhistorischen Naturrechtslehre den Anschluss verloren an die moderne Philosophie (seit Kant): Diese entwickelt ethische Orientierung und Normen einzig aus der autonomen, kritischen Vernunft …  und eben nicht aus theologisch fixierten Überzeugungen … Diese Ignoranz gegenüber dem lebendigen Wandel führt sicher sehr viele nachdenkliche Menschen zur Distanz von dieser eher versteinert erscheinenden Kirchen -, d.h. Naturrechtslehre.

Mit dieser rigiden und ahistorischen (selbst theologisch längst umstrittenen) Ideologie will der Papst seine Urangst überwinden, die panische Angst vor dem Relativismus. Nichts ist für Benedikt schlimmer, als wenn relativistisch, d.h. mit historischem und hermeneutischen Wissen die vorgeblich ewigen vatikanischen Lehren befragt werden. Dann könnte man ja auch bestimmte Bibelsprüche relativistisch deuten, etwa die Begründung des Papsttums oder den Ausschluß der Frauen vom Priesteramt, dann aber würde sozusagen das ganze vatikanische System zusammenbrechen. Aus ureigenen, auf Machterhalt bedachten Motiven muss der Papst also Verfechter des rigiden, ahistorischen Naturrechts bleiben. Relativismus würde seine eigene Existenz als Papst und seines Hofes (=curia) gefährden.

Marco Politi weist zu recht darauf hin, dass nur von dieser völlig in sich abgeschlossenen Naturrechts – Ideologie aus der Kampf des Papstes gegen den ethischen Pluralismus der Moderne zu verstehen ist. Die von konservativ bis fundamentalistisch geprägten Katholiken heiß bekämpfte und äußerst polemisch attackierte so genannte Homoehe (jetzt etwa in aller Schärfe in Frankreich) ist nur ein Beleg dafür, zu welcher Mobilisierung diese uralte Naturrechts – Ideologie in der Lage ist. Die Homoehe, so der pauschale Vorwurf, würde „die“ Familie destabilisieren. Um dieser Naturrechts – Ideologie willen hat der Vatikan übrigens auch über viele Jahre zu Berlusconi gehalten. Dem Papst und seinen Mitarbeitern war das private Leben wie das politisch wie ökonomisch verantwortungslose Verhalten Berlusconis schlicht egal. Warum? Weil Berlusconi den italienischen Bischöfen und dem Vatikan signalisierte: “Von meiner Seite hat der Vatikan nichts zu befürchten“ (S. 463). Damit meinte er: Die Finanzierung katholischer Schulen durch den Staat und die Steuerprivilegien der katholischen Kirche bleiben unter Berlusconi erhalten. ABER, das ist entscheidend, Berlusconi verspricht, gegen die Homoehe vorzugehen, gegen das Gesetz über Patientenverfügungen usw. Kardinal Bertone, die so genannte Nummer 2 im Vatikan, freute sich deswegen auch zu betonen, wie der Vatikan Berlusconi „zu Dank verpflichtet ist, weil diese Regierung im Rahmen befriedeter Beziehungen stets die Interessen der Kirche (!) berücksichtigt hat“ (s. 463). Der Vatikan löste sich aus der ultra- freundschaftlichen Beziehung mit dem Katholiken Berlusconi erst im Herbst 2011: Da hatte dieser unsägliche Machtpolitiker insgesamt und nahezu überall jegliche Akzeptanz verloren. Auffällig ist: Der Vatikan unterstützt selbst auch heute höchst umstrittene und belastete, wenn nicht kriminelle Politiker, wenn sie denn nur „die Interessen der Kirche berücksichtigen“, wie Kardinal Bertone so präzise sagt.

Die Debatte um den Einfluss der rigiden Naturrechtslehre à la Vatikan bzw. Ratzinger wird aktuell noch einmal deutlich in der Ansprache des Papstes anlässlich der Weihnachtswünsche für die Kurie am 21. Dezember 2012, wir beziehen uns hier auf den französischen Text, den „La Croix“ (Paris) druckte. Darin nimmt Benedikt XVI. direkt Bezug auf eine Abhandlung des Groß- Rabbiners von Frankreich, Gilles Bernheim. Der Papst sucht sich sozusagen ökumenischen Beistand von  prominenter orthodoxer jüdischer Seite: Wer würde es da schon wagen zu widersprechen? In schärfsten Worten polemisiert er – darin mit dem Großrabbiner einer Meinung – gegen die Auflösung „der Familie“ durch die Homoehe und die Gender Philosophie, die er übrigens bei Simone de Beauvoir festmacht. Der Papst ist sich, als angeblich so brillanter und so viel gerühmter hoch gebildeter Theologe, nicht zu schade, die  biblische Schöpfungsgeschichte wortwörtlich normativ zu deuten: „Als Mann und Frau schuf er (Gott) die Menschen (Gen. 1, 27) heißt es da: Aus diesem beschreibenden Faktum wird beim Papst gefolgert: Nur Mann und Frau können eine Familie bilden. Nur in dieser Dualität, so Benedikt und Bernheim, sei „der“ Mensch authentisch. „Die (Hetero) Familie“, so wörtlich Benedikt und Bernheim, „ist eine Realität, die schon im voraus durch die Schöpfung etabliert wurde“. Die Heteroehe ist sozusagen eine Idee Gottes, die mit der Schöpfung ad aeternum verbunden ist. Konsequent heißt es weiter: Wer diese Tatsachen der Schöpfung leugnet, „der leugnet auch Gott selbst – und der Mensch wird degradiert“. Wer die Homofamilie lebt oder befürwortet, wird in dieser Sicht förmlich zum Unmenschen. „Nur wer Gott verteidigt, verteidigt das menschliche Sein“, heißt es in der „friedlichen“ Weihnachtsansprache an den päpstlichen Hof. Merkwürdig ist, wie stark diese Form der starren Bibelinterpretation und des objektivistischen Naturrechts jegliche Bezugnahme etwa auf die Jesus – Gestalt verschwinden lässt.

Schon lange nicht mehr waren derartig maßlose Worte anlässlich einer fundamentalistischen Bibellektüre aus päpstlichem Mund zu hören. Der Vatikan, so prachtvoll barock er sich auch mit allem Pomp und Glorienschein geben mag, ist längst ein Getto geworden, das sich in starren Prinzipen einmauert und kein Interesse hat an einem Dialog, der Streit und Auseinandersetzung ist unter gleichberechtigten Partnern. „Die Stimme der Wahrheit hat immer recht…“, sie braucht keinen wirklichen Dialog. Zeichen der Ermunterung und Symbole der Hoffnung für diese so vielfältige, pluralistische Menschheit sind vom Papst trotz so vieler Worte, Weisungen und Mahnungen kaum mehr zu erwarten. Das ist die – manchen noch traurig stimmende Weihnachtsbotschaft, die dieser Tage im Vatikan verbreitet wird. Neu ist dies für einige dies vielleicht noch deprimierende Botschaft nicht. Die Schärfe des Tons wundert sogar die Freunde des religionsphilosophischen Salons. Katholische Medien sprechen bezeichnenderweise von einem aktuellen „Kulturkampf“, etwa in Frankreich anlässlich der heftigsten Debatten um die Homoehe (vgl. Christ in der Gegenwart, Heft 52, 2012, Seite 578). Kulturkampf aber ist nichts als Krieg, ausgelöst durch eine rigide Haltung des Papstes, die in der Moderne nur das Böse sehen will. Der Papst meint allen Ernstes, diese Moderne sei gottverlassen und der (heilige) Geist habe sie verlassen. Kann eine Vorstellung von Gott eigentlich noch kleinlicher werden?

Marco Politi, „Benedikt. Krise eines Pontifikats“. Rotbuch Verlag Berlin, 2012, 539 Seiten, 19, 99 Euro. Wir empfehlen dieses preiswerte Buch dringend.

copyright: christian modehn

 

Von Herodes bis Hoppenstedt: Das umfassendste Buch über Weihnachten. Von Frank Kürschner – Pelkmann

Von Herodes bis Hoppenstedt

Ein inspirierendes Werk über Weihnachten….lesbar immer, auch zu Ostern.

Von Christian Modehn

So viel Weihnachten war noch nie. Jedenfalls nicht in der Gestalt eines theologischen Buches über das populärste aller christlichen Feste. Der Hamburger Journalist und Autor Frank Kürschner – Pelkmann (Hamburg) hat in diesen Tagen ein wahrliches Meisterwerk vorgelegt: „Auf den Spuren der Weihnachtsgeschichte“ nennt er viel zu bescheiden sein 696 Seiten starkes Opus mit insgesamt 1.814 Belegen aus Wissenschaft und Forschung. Aber keine Angst, das Buch ist kein langatmiges Werk von Spezialisten für Spezialisten, es erschließt sich jedem „theologischen Laien“ … und es macht geradewegs Spaß, die schätzungsweise 50 Kapitel zu lesen: Der (Haupt -) Titel sagt schon alles: “Von Herodes bis Hoppenstedt“. Herodes kennen wir irgendwie, den Statthalter, und den Hoppenstedts sind wir (fast) alle schon im Fernsehen begegnet: In dem Film von Loriot über das eher missratene, etwas katastrophische Weihnachtsfest … eben bei Familie Hoppenstedt. So breit ist das Spektrum des Buches, weil die Rezeption des Weihnachtsfestes so unendlich ist … bis heute. Weiterlesen ⇘

Tomas Halik: Nachtgedanken eines Beichtvaters

Die Nacktheit des Glaubens: Tomas Halik und die Nachtgedanken eines Beichtvaters

Er sagt, dass junge Menschen heute in einer postoptimistischen Zeit leben. Und hofft, dass aus Glaubenden Suchende werden. Fragen an den Prager Theologen, Philosophen, Soziologen … und Skeptiker Tomás Halík

Von Christian Modehn

Aus aktuellem Anlass wurde am 4.8. 2015 ein weiterer Beitrag über Tomas Halik hier publiziert über sein Nein zu Veranstaltungen anläßlich der “Gay Pride” in seiner Prager St. Salvator Kirche. Lesen Sie den aktuellen Beitrag und klicken Sie hier.

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Hier das Interview von 2012:

Herr Halík, Ihr neuestes Buch heißt »Nachtgedanken eines Beichtvaters«. Hat ein Beichtvater besondere Erkenntnisse?

Tomás Halík: Einmal in der Woche, meist mehrere Stunden lang, kommen Menschen zu mir zum Beichtgespräch oder zur geistlichen Beratung. Wenn ich dann spätabends zu Hause bin, bedenke ich noch einmal, was diese Menschen spüren. Dabei zeigt sich eine Art Trend: Vor allem junge Menschen haben nur sehr wenig Vertrauen in das Leben, auch wenig Vertrauen in Institutionen wie die Kirchen. Die meisten leben in einer »postoptimistischen Zeit«. Die großen Versprechen der Moderne, etwa »immer mehr Fortschritt«, gelten für sie nicht mehr. Sie können sich nicht mehr auf einen Fundus von Vertrauen beziehen. Es herrscht eine tiefe geistige Krise. Die Unterhaltungsindustrie bestimmt und verändert fast alle Lebensbereiche, selbst die Politik und die Religion. Kommerzielle Unterhaltung ist eine Droge! Diese Welt habe ich in meiner Perspektive als Beichtvater vor Augen, der die Seele der Menschen kennenlernt. Mein neues Buch ist also alles andere als ein dogmatischer Traktat übers Beichten.

Wenn der Optimismus vorbei ist – wofür treten Sie persönlich dann ein?

Halík:Ich wehre mich gegen den religiösen Optimismus, der da meint: Der liebe Gott wird schon alles zum Guten wenden; wir müssen nur fleißig beten, dann gibt es das, was wir bei Gott »bestellen«. Das ist Magie! In Tschechien gibt es den Satz: »Optimistisch ist nur ein Mensch, dem die Informationen fehlen.« Für mich ist entscheidend, die Krise, etwa den Mangel an authentischem Glauben, wirklich auszuhalten und nicht in Illusionen zu fliehen. Wir sollten das biblische Paradox annehmen: Nur durch das Kreuz und den Tod ergibt sich Neues, ein Sieg der Hoffnung.

Auch im Blick auf die Entwicklung der katholischen Kirche und der Theologie gibt es wenig Grund, optimistisch zu sein?

Halík: Meines Erachtens liegt das Christentum in Europa auf dem Sterbebett. Ich frage Pfarrer in meiner Heimat manchmal: »Welche Kirche haben wir in fünfzig Jahren?« Höre ich die Antworten, dann habe ich oft das Gefühl, dass ich mich in der Familie eines Schwerkranken befinde, wo eine stille Übereinkunft gilt, dass über diese Krankheit nicht gesprochen werden darf. In diversen kirchlichen Milieus hatte ich sogar das Gefühl, als sei ich in das Theaterstück »Geschlossene Gesellschaft« von Jean-Paul Sartre geraten. Im Theater versteht der Zuschauer ja nach einer gewissen Zeit, dass alle Akteure tot sind, obwohl sie so tun, als ob nichts geschehen sei. Ein tschechischer Priester hat die katholische Kirche einmal mit einer Mühle verglichen, die zwar noch klappert, jedoch nicht mehr mahlt.

Gilt das auch über Tschechien hinaus?

Halík: Es gibt in Europa eine große Müdigkeit unter den Christen, ich spreche gern von der »Müdigkeit am Mittag«: Der Morgen – im Bild gesprochen: die frühe Geschichte des Christentums – liegt hinter uns; die »Zeit der Reife«, also der Nachmittag, wie der Psychiater Carl Gustav Jung einmal sagte, steht bevor. Jetzt aber herrscht die Müdigkeit des Mittags. Diese Krisenzeit gilt es anzunehmen. Nur so kann die neue Zeit religiöser, mystischer Tiefe kommen.

Was bedeutet für Sie der Glaube?

Halík: Der Glaube ist keine Ideologie, keine billige Lehre, durch die wir irgendwie Sicherheit finden. Glauben ist das Ausgesetztsein dem Geheimnis Gottes gegenüber, ist – anspruchsvoll – Teilhabe am Leben Gottes. Mit dem Geheimnis zu leben, das schlage ich zum Beispiel auch »Atheisten« als Lebensmaxime vor.

Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich daraus?

Halík: Für mich gibt es heute nicht mehr die alte Grenzziehung zwischen den Glaubenden und den Nichtglaubenden. Beide können sehr selbstzufrieden in ihrer Position erstarren. Wichtiger ist, dass Gläubige wie Atheisten ihre Selbstzufriedenheit aufgeben und Suchende werden. Und mit den Suchenden Geduld haben! Ich selbst bin ein Suchender, ein geborener Skeptiker. Zum Glauben fand ich, weil ich konsequent skeptisch sein wollte und eben auch an meinem Zweifeln zweifelte. Ich will immer mehr die Tiefe des Glaubens erfahren, sozusagen »zum Grunde gehen«, und dann meine Erfahrungen mit anderen teilen – im gemeinsamen Suchen. Für mich ist entscheidend der von Paulus stammende Begriff der »Kenosis«, der Entäußerung und des Leerwerdens. Das ist das Gegenteil von Hochmut, Macht und Gewalt.

Hat diese Entäußerung auch eine aktuelle Bedeutung?

Halík: Ja. Gerade fand die Wallfahrt zum Heiligen Rock nach Trier statt. Dort habe ich kürzlich gesagt: Kann denn der Heilige Rock, bei aller Hochachtung vor dieser Reliquie, heute noch ein Symbol der Kirche sein? Der Rock blieb doch in den Händen der Soldaten. Jesus ist nackt gestorben. Ist also nicht die Nacktheit Christi als Bild der Kirche viel treffender? Der nackte Christus – das ist Ausdruck der Entäußerung. Manchmal scheint es mir, dass Gott die katholische Kirche – angesichts der Missbrauchsfälle etwa – der Schmach vor den Augen der Welt preisgegeben hat auch als Strafe für all ihren Triumphalismus in der vergangenen wie jüngsten Geschichte. Es ist die Strafe für den Mangel an Bereitwilligkeit oder auch für die Unfähigkeit, mit allen Konsequenzen demütig zuzugeben, dass die Kirche eine »Gemeinschaft von Pilgern« ist, dass sie unterwegs ist und nicht am Ziel und sie keine »triumphierende Kirche« spielen darf.

Sie sprechen in Ihrem Buch von dem »bescheidenen, dem kleinen Glauben«. Gibt es von hier eine Verbindung zu den Atheisten?

Halík: Durchaus, denn wenn jemand praktisch zeigt, dass er die anderen als Brüder und Schwestern behandelt, dann folgt er – unbewusst – der Überzeugung, dass alle Menschen Kinder eines göttlichen »Vaters« sind. Wer die Lebensqualität dieser Erde bewahren will, der nimmt indirekt auch den Schöpfer an. Im Handeln zeigt sich also ein verschwiegener Glaube. Er ist schon in der Person verwurzelt, er ist nur noch nicht auf der bewussten Ebene formuliert. Darum verstehe ich mich mit diesen »Ungläubigen« gut und weniger gut mit einigen Christen, die nur viele Worte machen. Es gibt also eine neue Grenze zwischen Suchenden und Festgefahrenen. Eine bestimmte Art atheistischer Kritik kann eine Verbündete des Glaubens sein. Sie kann den Glauben von infantilen religiösen Vorstellungen befreien.

In Ihrem Buch kritisieren Sie ausdrücklich den enthusiastischen Glauben charismatischer Kreise.

Halík:Der Glaube sollte nicht zu einer schlichten Emotion werden. Glauben ist ein ernsthaftes Ringen mit dem Geheimnis, vor dem man oft sprachlos bleibt. Gott wohnt im unzugänglichen Licht! Wir sind immer mit dem Schweigen Gottes konfrontiert. Diese »Nacht des Glaubens« möchte ich respektieren. In unserer Universitätskirche in Prag versuchen wir dem zu entsprechen. Hier kommen sehr unterschiedliche Menschen zusammen. Mein Motto ist: »Alle sind eingeladen, niemand wird gezwungen.« Wir freuen uns, dass in den zwanzig Jahren meiner Tätigkeit dort rund tausend Menschen getauft wurden. Diese offene Gemeinde ist für viele eine Art Zuhause, weil wir auch anspruchsvolle Meditationen oder Kunstausstellungen anbieten.

Wie dringend sind Reformen in der katholischen Kirche?

Halík: Die katholische Kirche muss sich immer reformieren. Sie sollte zudem Pluralität in den eigenen Reihen zulassen. Die frühe Kirche war ja in ihrer Organisationsstruktur, Theologie und Liturgie weit bunter als das heutige Christentum. Eine völlige Einheit der Kirche war niemals und wird wohl nie eine historische Tatsache sein. Über all die Themen, die die Kirchenvolksbewegung Wir sind Kirche vorbringt, sollte ruhig und sachlich diskutiert werden. Das schreibe ich auch in meinem Buch. Ich denke, dass diese Gruppen in mancherlei Hinsicht schließlich doch recht haben. Aber ich wende mich entschieden gegen die Vorstellung, die ich allerdings nicht allen Vertretern dieser Bewegung unterstelle, dass sich durch eine Demokratisierung und Liberalisierung der Strukturen, der Disziplin und etlicher Punkte der Moraldoktrin der katholischen Kirche ein neuer Frühling des Christentums einstellen könnte. Aber auch den Traditionalisten gegenüber habe ich meine Vorbehalte: Sie wollen in eine vormoderne Zeit zurück und suchen sich aus dem Ganzen des Glaubens aus, was ihnen gefällt. Damit sind sie häretisch. Glauben aber ist keine bequeme Gewissheit.

Sind das Perspektiven, die aus Ihrer Sicht angesichts des 50. Jahrestages des Zweiten Vatikanischen Konzils im Herbst bedeutsam sein können?

Halík: Durchaus, man denke an die festlichen Worte, mit denen das Konzilsdokument »Über die Kirche in der Welt von heute« beginnt: dass eben »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen unserer Zeit auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Kirche« sind. Diese Worte klingen fast wie ein Ehe-Gelöbnis: Die katholische Kirche gelobt dem modernen Menschen Liebe, Achtung und Treue in guten wie in schlechten Zeiten. Ist sie ihrem Versprechen jedoch treu geblieben? Kann sie heute mit gutem Gewissen eine »Goldene Hochzeit« mit der modernen Gesellschaft feiern? Auf der anderen Seite muss man allerdings auch nüchtern fragen: War für den modernen Menschen eine solche »Ehe« überhaupt je begehrenswert? COPYRIGHT: PUBLIK – FORUM. Wir weisen ausdrücklich empfehlend auf diese Zeitschrift hin. www.publik-forum.de

Lesetipp: Tomás Halík: Nachtgedanken eines Beichtvaters – Glaube in Zeiten der Ungewissheit. Herder Verlag. 320 Seiten. 16,99 €

PS. am 6.6.2012:  Wir erlauben uns, aus aktuellem Anlaß im Vatikan,  ein Zitat aus dem neuen Buch von  Prof. Dr. Tomás Halik (Prag),  “Nachtgedanken eines Beichtvaters” (geschrieben 2005, auf Deutsch 2012, Herder) , wieder zu geben. Auf Seite 293 schreibt Tomás Halik:  “Unsere Zeit ist eine Zeit der Erschütterungen…So ist eines der großen Paradoxa, die wir derzeit durchleben … wohl darin begründet, dass gerade derjenige Bereich der (römischen) Kirche, der diese weiterhin für eine =feste Burg= hält, meiner Meinung nach wie ein auf Sand errichtetes Gebäude zusammenstürzen wird”.

Einfach glauben. Wenn Menschen wieder Wesentliches spüren wollen

Im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon wird auch gelegentlich die Frage nach konkreten Glaubensvollzügen gestellt. Unser Vorschlag, der sich einer “liberalen theologischen Tradition” verpflichtet weiß und deswegen philosophisch nachvollziehbar, mindestens aber argumentativ “für alle” befragbar ist, plädiert für ein Konzept mit dem Titel: EINFACH GLAUBEN.

So hieß auch eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn  am 2. Januar 2011 im NDR (Reihe Glaubenssachen). Oft wurden wir gefragt, ob dieser Text noch nachzulesen ist. Deswegen, ein gutes Jahr nach der Sendung, hier eine Möglichlichkeit anhand des Textes weiterzudenken und vielleich auch zu entdecken, dass Glauben – trotz aller dogmatischen Einsprüche – eigentlich “einfach”   ist. Die Form des Manuskripts entspricht der im Hörfunk üblichen Gestalt.

 

 

 

Glaubenssachen

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Sonntag, 2. Januar 2011, 08.40 Uhr

Einfach glauben
Wenn Menschen wieder Wesentliches spüren wollen
Von Christian Modehn

Redaktion: Bernward Kalbhenn, Norddeutscher Rundfunk, Religion und Gesellschaft

– Unkorrigiertes Manuskript –

Zur Verfügung gestellt vom NDR

Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt

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1. Sprecher:

Meinen Schulfreund Karl hatte ich einige Jahre aus den Augen verloren. In einem Café traf ich ihn kürzlich wieder. Mittlerweile ist er erfolgreicher Bauingenieur. Neben seinem Espresso hatte er ein dickes Buch ausgebreitet, dem seine ganze Aufmerksamkeit galt. Gleich nach der Begrüßung wollte Karl, typisch für ihn, das „Allerneueste“ mitteilen: „Ich bin vor einem halben Jahr katholisch geworden, habe mich taufen lassen“, berichtete er, „und nun lese ich ein Kompendium des ganzen Glaubens“. Er zeigte mir, nicht ohne Stolz, sein Buch – den „Katechismus der Katholischen Kirche“. Dies sei seine „Gebrauchsanweisung für den Glauben“; auf Seite 134 hatte er ein paar Zeilen unterstrichen:

2. Sprecher:

Die Erbsünde „ist eine Sünde, die durch Fortpflanzung an die ganze Menschheit weiter-geben wird. (…) Sie ist eine Sünde, die man ‚miterhalten‘, nicht aber begangen hat, (sie ist) ein Zustand, keine Tat“.

1. Sprecher:

Ich muss gestehen, dass mir diese Zeilen einen leichten Schock versetzten. So soll es also gewesen sein? Als sich meine Eltern liebten, „sich fortpflanzten“, wie es im katholischen Katechismus recht prosaisch heißt, haben sie also die Erbsünde an mich weitergegeben. Aber wurde uns denn nicht im Religionsunterricht eingeschärft: Sündigen kann man nur in einer freien Entscheidung? Und nun gibt es eine Sünde als Zustand? Ein Ungeborener soll bereits sündig sein? Ist ein Glaubenskompendium hilfreich, wenn der Leser irritiert wird oder an der Lehre zweifelt?

Karl nahm mein Erstaunen gar nicht wahr. Voller Begeisterung erzählte er gleich weiter, dass er bis zur Taufe ein ganzes Jahr lang an Glaubensunterweisungen teilgenommen habe, Konvertiten–Unterricht genannt. Die gesamte katholische Lehre hätte er noch gar nicht durchgearbeitet, wie er sagte. Aber mit diesem Katechismus könne er sich ja selbst in alle Einzelheiten vertiefen. Im Vorwort zu seinem „Glaubenskompendium“ hatte Papst Johannes Paul II. geschrieben:

2. Sprecher:

Dieser Katechismus „ist eine Darlegung des Glaubens der Kirche“ (…) Ich erkenne ihn als gültiges und legitimes Werkzeug (…) an, ferner als sichere Norm für die Lehre des Glaubens“.

1. Sprecher:

Und während mein Schulfreund Karl weiterplauderte, seine „Gebrauchsanweisung“ fest im Griff, fragte ich mich, wer denn eigentlich gern Gebrauchsanweisungen liest. Und: Ist Glauben so schwer zu lernen und mühsam zu verstehen? Kann man nicht auch „einfach glauben?“, ohne dickes Buch oder Lehrgebäude?

Alle christlichen Kirchen sind bestrebt, in umfangreichen Büchern den „ganzen Glauben“ darzustellen. Auch die Reformatoren Luther und Calvin hatten den Ehrgeiz, ihre protestan-tische Theologie einprägsam zu verbreiten, etwa im „Augsburger Bekenntnis“ oder im „Heidelberger Katechismus“. Der Titel dieser klassischen Glaubensbücher bezieht sich auf das altgriechische Verb katechein;  es bedeutet wörtlich übersetzt „von oben herab tönen, ergötzen, bezaubern“. Diese  ursprüngliche Bedeutung hatten die Menschen im 8. Jahrhundert wohl längst vergessen, als die ersten umfassenden Katechismen in den Klöstern geschrieben wurden. Dabei ist die ursprüngliche griechische Wortbedeutung durchaus treffend: Denn diese Lehrbücher wurden von oben herab, von Päpsten, Bischöfen und Theologen den Laien, dem Volk, vorgesetzt, als geistliche Nahrung, wie es hieß. Ob die Laien von diesen Büchern immer  bezaubert oder gar ergötzt wurden, ist fraglich angesichts der nüchternen, trockenen Theologensprache. Ich erinnere mich noch an den Katechismus aus den fünfziger Jahren, der mit einer abstrakten Frage begann:

2. Sprecher:

Wozu sind wir auf Erden?

1. Sprecher:

Die Antwort konnte man gleich darunter lesen:

2. Sprecher:

Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen und einst ewig bei ihm zu leben.

1. Sprecher:

Als Kinder mussten wir ganze Seiten dieses Frage- und Antwort- „Spiels“, wie wir damals sagten, auswendig lernen. Der Katechismus umfasste 248 Fragen. Die letzte Frage bewegte uns Kinder am meisten, denn sie erzeugte einen gewissen Schauer:

2. Sprecher:

Was wird am Jüngsten Tag mit der sichtbaren Welt geschehen?

1. Sprecher:

„Sie wird verwandelt und neu gestaltet werden“, riefen wir dann mutig dem Pfarrer zu. Wer zehn weitere Fragen korrekt  beantworten konnte, erhielt einen Bonbon. Dieser Katechis-mus wurde damals auch in der DDR verbreitet. Viele der dortigen Atheisten hat er wohl kaum zum Glauben bewegt. Denn dieses Buch setzte Gott schlicht und einfach als real existierend voraus. Heute bieten Katechismen wenigstens Hinweise, wo und wie denn die göttliche Wirklichkeit im Alltag des Lebens zu ahnen, zu spüren und möglicherweise zu finden sei. Über alle Zeiten hinweg aber ist den Katechismen eine Überzeugung gemein-sam:

2. Sprecher:

Der christliche Glaube ist ein Lehrsystem. Evangelische wie katholische Katechismen be-ginnen auch heute noch, systematisch gegliedert, bei Gott selbst, bei „Gott Vater“. Inner-halb der sogenannten Trinität, der Dreifaltigkeit, führen sie dann die Leser weiter zu Jesus Christus, dem ewigen Logos, „das menschgewordene Wort Gottes“, und schließlich zum Heiligen Geist; im Anschluss daran wird das Wesen der Kirche abgehandelt.

1. Sprecher:

Vom Himmel hoch kommend landet der Leser schließlich nach hunderten von Seiten bei den irdischen, auch den ethischen Fragen. Der Evangelische Erwachsenenkatechismus aus dem Jahre 1977 breitet diese Lehre auf 1.356 Seiten aus. Die aktuelle Ausgabe, noch keine zwei Monate auf dem Markt und als „Kursbuch des Glaubens“ angepriesen, umfasst nur noch 1.020 Seiten. Katholiken könnten da fast eifersüchtig werden; denn die römische Glaubensbehörde hat für ihren offiziellen Katechismus nur 816 Seiten zustande gebracht. Dabei erscheint doch der katholische Glaube schon aufgrund der Heiligenverehrung, des Papsttums und der sieben Sakramente sehr viel inhaltsreicher.

Wie auch immer: Diese Bücher hinterlassen den Eindruck: Ein Mensch ist erst dann ein wahrer Christ, wenn er die 800 oder 1000 Seiten studiert, also diese „Gebrauchsan-weisung“ durchgearbeitet hat, wie mein Schulfreund Karl betonte. Aber, wie gesagt, wer liest schon gern Gebrauchsanweisungen? Natürlich kann es gelegentlich reizvoll sein, bestimmte Phänomene der christlichen Lehre genauer kennenzulernen; etwa der Frage nachzugehen, welche Rolle Christus, der Sohn Gottes, „der ewige Logos“, wie es heißt, im Ganzen der himmlischen Dreifaltigkeit spielt. Im Katholischen Katechismus aus dem Jahr 1993 heißt es dazu im Paragraphen 254:

2. Sprecher:

„Die Trinität ist eine.  Die drei göttlichen Personen beziehen sich aufeinander. Weil die reale Verschiedenheit der Personen die göttliche Einheit nicht zerteilt, liegt sie einzig in den gegenseitigen Beziehungen“.

1. Sprecher:

Solche Sätze pflegte mein Vater gern mit einem lauten „Aha“ zu kommentieren, um dann sofort von etwas anderem zu sprechen, etwa von der Sozialpolitik. Ihn ärgerte zudem, dass ein modernes Glaubensbuch, der so genannte Holländische Katechismus aus dem Jahr 1966, verfasst in einer modernen Alltagssprache, von der offiziellen Kirche abgelehnt und bekämpft wurde.

Weil Katechismen immer den Eindruck erwecken, der christliche Glaube sei eine Art in sich geschlossener Weltanschauung, die auf alle grundlegenden, religiösen und ethischen Fragen eine endgültige Antwort weiß, haben auch Theologen zu allen Zeiten unter diesem „System–Christentum“ gelitten und Auswege aufgezeigt. Schon der große Augustinus, selbst Verfasser zahlreicher voluminöser Glaubensbücher, erkannte die Notwendigkeit, den Glauben „auf den Punkt“ zu bringen. Er schrieb den viel zitierten lateinischen Satz:

2. Sprecher:

„Dílige et quod vis fac“. Wörtlich übersetzt: Liebe und tu, was du willst.“

1. Sprecher:

Als Augustinus diese Worte im Jahr 407 niederschieb, hatte er seine von erotischen Liebes-abenteuern geprägte Jugendphase längst hinter sich gelassen. Als Bischof von Hippo in Nordafrika, bezog er sich in seinem Spruch nicht auf den Eros, sondern auf die Liebe als Caritas, auf die tätige Nächstenliebe. Ausführlich und ein wenig paraphrasierend müsste man übersetzen:

2. Sprecher:

Übe dich in der Nächstenliebe, erst dann kannst du frei dein Leben gestalten.

1. Sprecher:

Erstaunlich, dass dieser viel gerühmte „Kirchenvater“ den Kern des Glaubens in einer sehr praktischen Lebenshaltung sah. Darin folgte er den Weisungen der frühen Kirche. Für den Apostel Paulus ist die Nächstenliebe das Höchste und alles Entscheidende. Und der Ver-fasser des 1. Johannesbriefes schreibt:

2. Sprecher:

Wir Glaubende wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben gekommen sind, weil wir die Geschwister lieben. Wer nicht liebt, der bleibt im Tod, hat also mit Gott keine Verbindung.

1. Sprecher:

Die frühe Kirche hatte auch Interesse, den inneren, den religiösen Kern des Glaubens, die Theorie, wenn man so will, in wenigen Worten zusammenzufassen. Dabei hat sie durchaus die unterschiedlich geprägten religiösen und kulturellen Milieus ernst genommen. Gegen-über gebildeten sogenannten Heiden-Christen, vor allem den Philosophen in Athen, betonte der Apostel Paulus:

2. Sprecher:

Gott ist nicht fern von einem jeden Menschen. Denn in Gott leben wir, in ihm bewegen wir uns und sind wir. Tatsächlich, wir sind von göttlichem Geschlecht.

1. Sprecher:

Einer der bedeutenden katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Rahner, war von den zahlreichen kurz gefassten Bekenntnissen der ersten Christen beeindruckt. Sein Plädoyer: Wenn heute viele Christen den Wald vor Bäumen nicht mehr sehen, also an-gesichts der Überfülle von Lehren und Dogmen das Wesentliche des Glaubens nicht mehr wahrnehmen, dann sollten „Kurzformeln des Glaubens“ geschrieben werden, prägnante Verse, die alles Entscheidende griffig sagen, ohne dabei zu oberflächlichen Werbeslogans zu verkommen. Bei dieser Suche nach dem Wesen des Christentums wusste sich Rahner verbunden mit einer breiten theologischen Tradition. So wollte zum Beispiel der protestantische Theologe Adolf von Harnack, Professor an der Berliner Humboldt Universität, das „Zentrum des Glaubens“ in den Mittelpunkt stellen. Sein Buch „Das Wesen des Christentums“ erschien im Jahr 1900 und fand sehr viel Aufmerksamkeit. Darin heißt es:

2. Sprecher:

Wesentlich ist der Glaube an Gott, den wir uns in etwa wie einen guten Vater vorstellen können; wesentlich ist der unendliche Wert eines jeden Menschen und damit zusammen-hängend die Nächstenliebe. Jesus lehrt uns, in diesem Geist die Welt gerecht zu gestalten.

1. Sprecher:

Diese Erkenntnis bewegt bis heute viele Menschen, Fromme und weniger Fromme. Und sie wissen sich dabei ganz eng mit dem Initiator des Christentums verbunden, mit Jesus von Nazareth. Eigentlich sollte die ständige Bindung an die Lehren und Weisungen Jesu für Christen selbstverständlich sein. Aber die hochkomplex gewordene Kirchenlehre hat die Gestalt Jesu oft eher verdeckt als lebendig erscheinen lassen. Wie viele Synodenbeschlüsse oder Enzykliken nehmen denn auf Jesus ausdrücklich Bezug, auf die Berg-predigt zum Beispiel oder auf seine Mahnungen, nicht zu herrschen und arm zu leben, sich nicht Meister nennen zu lassen, sondern der Diener aller zu sein? Bezeichnenderweise haben alle großen Reformatoren, wie Franziskus von Assisi oder Martin Luther, immer wieder Jesus als das kritische Gegenüber zu einer sich machtvoll gebärdenden Kirche eingeklagt. In diesem Sinne schreibt der Theologieprofessor Gottfried Bachl aus Salzburg in seinem Buch „Der schwierige Jesus“:

2. Sprecher:

Alle beachtenswerten Stimmen der Tradition laden mich ein, mich unmittelbar und haut-nah an Jesus zu halten, keine anderen Prinzipien gelten zu lassen. Woher sollte man denn sonst auch wissen, dass man angesichts der bunten religiösen Vielfalt im Christentum tatsächlich auf seinem, also auf Jesu Weg sich befindet?

1. Sprecher:

Allerdings: Eindeutige und historisch sichere Informationen über diesen Jesus von Nazareth sind eher mühsam zu haben. Die vier Evangelien aus dem Neuen Testament sind Predigten und Bekenntnisse, keine Lebensbeschreibungen; eine umfassende, objektiv korrekte Biographie Jesu kann es aufgrund der Quellenlage nicht geben. Dennoch gibt es keinen Zweifel, dass die entscheidende Mitte der Lehre Jesu, sozusagen das „Unverwechselbare“, genau festgelegt werden kann.

2. Sprecher:

In seiner Bergpredigt lobt Jesus die Friedfertigen sowie die Menschen, die nach Gerechtig-keit streben. Auch jene werden seliggepriesen, die barmherzig sind und authentisch leben wollen, also ein „reines Herz“ haben. In anderen Erzählungen empfiehlt Jesus nach-drücklich, niemals über andere Menschen zu richten, sondern auch „den Balken im eigenen Auge zu sehen“. Er wendet sich mit aller Liebe den Armen und Ausgestoßenen zu, integriert sie in die Gemeinschaft; er warnt vor aller Scheinheiligkeit und mahnt die religiösen Führer, niemals zu herrschen, sondern zu dienen. Allein auf das metanoein, das Umdenken komme es an, auf die Umstellung bisher üblicher Werte.

1. Sprecher:

Diese von Jesus inspirierte Lebensweisheit wird von Theologen heute gern der „einfache Glaube“ genannt. Mit dem Wort „einfach“ möchten sie sich abgrenzen von allen komplizierten Glaubenslehren. Auch Philosophen sprechen jetzt nachdrücklich davon, etwa der weltweit geschätzte Italiener Gianni Vattimo. Er setzt sich in seinem Buch mit dem Titel „Glauben–Philosophieren“ von den ausgefeilten, manchmal allwissend erscheinenden Traditionen des Christentums ab. Für ihn kommt es auf einen im guten Sinne „reduzierten“, also einen bescheidenen Basis-Glauben an. Es ist schon fast ein Trend, wenn Philosophen wie Theologen betonen:

2. Sprecher:

Menschen können authentisch und wahrhaftig glauben, wenn sie sich den Lebensweis-heiten Jesu anschließen.

1. Sprecher:

Einfach, im Sinne von „schlicht“ oder „leicht realisierbar“, ist dieser elementare Glaube nicht. Denn wer kann auf Dauer der Weisung folgen, immer wieder zu verzeihen? Wer kann seinen Geist so frei machen von Aggressionen, dass er selbst seinen Feind lieben kann? Wer kann von sich sagen, dass er sein Herz nicht doch an den schnöden Mammon, das Geld, bindet? Dieser einfache Glaube Jesu wirkt wie eine dauernde Einladung, nicht stehen zu bleiben, nicht existentiell zu stagnieren, sondern das Ziel menschlicher Reife anzustreben. Eine Herausforderung, die nur gelingen kann, wenn sich die Menschen von einem tragenden Grund, von einer unendlichen göttlichen Liebe, geborgen wissen. Der einfache Glaube kommt ohne Mystik nicht aus.

In der langen Geschichte der christlichen Mystik wurde dieser „bergende Lebensgrund“ auch „göttlicher Funke“ im Menschen genannt, Meister Eckart sprach im 13. Jahrhundert davon, später Angelus Silesius, auch Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte. Dieser gött-liche Bereich im Menschen ist die lebendige Quelle  des elementaren, des einfachen Glaubens. Wer dieses „göttlichen Bereichs“ inne werde, der sei auf dem besten Weg, ein Glaubender zu werden, meinte z.B. Thomas Merton, ein katholischer spiritueller Autor aus Amerika. Er war von dieser Idee ganz begeistert:

2. Sprecher:

Im innersten Kern unseres Wesens gibt es einen Punkt, klein wie ein Nichts, an den Sünde und Illusion nicht zu rühren vermögen. Er ist der Punkt der lauteren Wahrheit. Nie können wir über diesen göttlichen „Funken“ verfügen, er ist der Punkt der Herrlichkeit Gottes in uns. Er ist in unser innerstes Wesen geschrieben. Er steckt in jedem Menschen. Deswegen gibt es Milliarden solcher Lichtpunkte. Sie können Dunkelheit und Grausamkeit des Lebens verscheuchen.

1. Sprecher:

Angesichts einer unübersichtlichen und vielfach bedrohten Welt suchen Menschen nach festen Eckpunkten, nach einer elementaren Weisheit, die im praktischen Leben wie auf der spirituellen Suche Orientierung zu geben vermag. Vor einigen Wochen erschien in den Niederlanden ein Buch, das diesen Interessen entgegenkommt. Es umfasst nur 140 Seiten. Kunstdrucke mit Werken von Caravaggio bis Chagall sollen zur Meditation anregen. Anstelle von Belehrungen wird von menschlichen Tugenden erzählt, etwa vom Mitgefühl, der Gerechtigkeit, der Annahme seiner selbst. „Katechismus des Mitgefühls“ heißt dieses Buch, das einige kleinere protestantische Kirchen gemeinsam herausgegeben haben. Es hat im säkularisierten Holland sehr viel Interesse gefunden. Die Autoren schreiben:

2. Sprecher:

Wer sich vom Mitgefühl für andere leiten lässt, erkennt auch sein eignes Leben. Wer sich in andere hineindenkt, wer die Unbekannten, die Fremden, lieben lernt: Erlebt die ganze Weite der Schöpfung Gottes und lernt sie lieben. Dann kann der Glaube beginnen, elementar und einfach. Dann kann Gott als eine mystische Kraft entdeckt werden.

Literaturhinweise:

Gottfried Bachl, Der schwierige Jesus. Tyrolia Verlag, Innsbruck – Wien. 1996, 112 Seiten.

Catechismus van de compassie (Katechismus des Mitgefühls). Von Christiane Berkvens –Stevelinck und Ad Alblas, Skandalon Verlag in Vught, Niederlande, mit einer DVD von Karen Amstrong. 140 Seiten, 2010.

Thomas Merton, Zeiten der Stille. Herder Verlag, 1992. 155 Seiten.

Albert Schweitzer, Das Christentum und die Weltreligionen. Becksche Reihe, München, 1992. 124 Seiten.

Gianni Vattimo, „Glauben, Philosophieren“. Reclam Verlag, Stuttgart, 1997. 121 Seiten.

 

 

Der Papst: Oberster Bischof und Staatschef. Zu einem neuen Buch von Corrado Augias

Der folgende Text ist eine “etwas längere Fassung” eines Beitrags für NDR INFO am 10.7. 2011.

Buchbesprechung:
Die Geheimnisse des Vatikan
Von Christian Modehn

In einigen Wochen, Ende September, wird Papst Benedikt XVI. Berlin, Erfurt und Freiburg im Breisgau besuchen. Dabei wird eine Frage viel zu selten diskutiert: In welcher Funktion unternimmt eigentlich der Papst seine so genannten „apostolischen Reisen“, die er auch gern „Pilgerfahrten“ nennt. Wann tritt der Papst als spirituelles, geistliches Oberhaupt der katholischen Kirche auf? Und wann äußert er sich als ein Politiker von höchstem Rang, nämlich als Repräsentant des „Heiligen Stuhls“ in Rom, dem der Staat Vatikanstadt untersteht. Ist der Papst also in erster Linie Theologe und Seelsorger oder doch mehr Diplomat und Politiker? Auf diese Fragen gibt ein neues Buch Antwort, es hat den Titel: „Die Geheimnisse des Vatikan”

Mit seinem Buch „Die Geheimnisse des Vatikan“ will der italienische Journalist Corrado Augias keine finsteren Schauergeschichten verbreiten. Entscheidend ist der Untertitel „Eine andere Geschichte der Papststadt“. Der vielseitig gebildete Autor bietet einen gründlichen Einblick in die Geschichte Roms und der Vatikanstadt. Aber immer sind seine Beschreibungen der Renaissance Paläste oder der barocken Prunk – Kirchen von der zentralen Frage geleitet: Wie äußerte sich dort politischer Einfluss und geistliche Macht der Päpste? Seit dem frühen Mittelalter hatte das Papsttum ein doppeltes Gesicht: Der Bischof von Rom wollte als maßgebliches Staatsoberhaupt in allen ethischen Fragen das Leben aller Menschen weltweit bestimmen; gleichzeitig wollten die Päpste auch als die fürsorglich agierenden Hirten der Gläubigen erscheinen.

Die Pointe dieses umfangreichen Buches ist: Jeder Papst verhält sich je nach Situation einmal als geistliches Oberhaupt, ein anderes Mal als hochrangiger Politiker und Diplomat. Wehren Päpste das Priestertum der Frauen in der Kirche ab, sprechen sie als theologische Lehrmeister. Wollen sie, etwa in den Gremien der Vereinten Nationen, die Geburtenkontrolle verbieten, dann sprechen sie als Staatsmänner. Welche der beiden Funktionen ein Papst in den Vordergrund stellt, wird einzig von dem Kalkül geleitet: Was fördert die kirchliche Macht im Vatikan und was bringt die katholische Kirche voran? Diese Überlegungen waren maßgeblich für den Umgang Papst Pius XII. mit der Nazi Diktatur in Deutschland. Auch heute denken Kirchenfürsten in Kategorien der Überlegenheit und Unterordnung: Der Autor zitiert Erzbischof Rino Fisichella, er organisiert jetzt in päpstlichem Auftrag die „Neuevangelisierung Europas“:

„Der Staat muss Einmischungen der Kirche aufgreifen. Die Kirche hingegen, die sich auf höhere Prinzipien beruft, kann niemals Einmischungen des Staates akzeptieren“.

Dieses gar nicht so demokratische Denkmuster bestimmte über viele Jahrzehnte den Umgang des Vatikans mit den pädophilen Verbrechen durch Priester und Ordensleute, das Motto war: „Unsere Angelegenheiten regeln wir heimlich selbst“. Der Autor erinnert auch an die Verschleierungstaktiken vatikanischer Behörden bei der Aufklärung von Verbrechen im Umfeld der Schweizer Garde im Mai 1998. Augias schreibt:

„Drei Stunden nach dem Mord und noch vor den Ermittlungen, den Verhören usw. verbreitet der Vatikan bereits seine offizielle Version des Tat – Hergangs, so soll jeder Zweifel im Keim erstickt werden: Schuldig soll einzig der Vizekorporal Cédric Tornay sein. Weitere Hintergründe sollen nicht ermittelt werden“.

Das Buch „Die Geheimnisse des Vatikans“ liest sich fast wie ein Krimi, wenn man mit Schicksal der 15 jährigen Emanuela Orlandi konfrontiert wird, der Tochter einer Familie mit vatikanischer Staatsangehörigkeit. Das Mädchen wurde 1983 in Rom entführt. Der Vatikan hat die Ermittlungen des italienischen Staates massiv behindert und sogar terroristische Hintergründe herbeigeredet. Dem Vatikan war es äußerst peinlich, vermutet der Autor mit vielen anderen Beobachtern, öffentlich einzugestehen, dass das Mädchen von einem Priester missbraucht und anschließend ermordet wurde. Augias schreibt:

Diese Beispiele demonstrieren: Es gibt von vatikanischer Seite nicht die geringste Unterstützung bei polizeilichen Ermittlungen, keine Reaktion oder aber absolute Zurückhaltung bei Anfragen der Justiz.

Auch weitere „Geheimnisse“ werden in dem Buch dargestellt: Kein Außenstehender darf z.B. wissen, wie viele Milliarden Euro der italienische Staat jährlich dem Vatikan aufgrund des Konkordates überweist. Kein Journalist hat je erfahren, wie viele kriminelle Transaktionen über die Konten der Vatikanbank abgewickelt wurden.
Darum kann „Die andere Geschichte der Papststadt“ keine Sympathiewerbung für den institutionell verfassten Katholizismus sein. Der Autor lässt seine Enttäuschung über diese Zustände gelegentlich durchblicken. Er erwähnt aber auch die wenigen Katholiken, die den armen, den machtlosen Jesus nicht ganz vergessen haben; er findet diese kritischen Katholiken in den römischen Basisgemeinden und bei Mitgliedern einzelner Ordensgemeinschaften. Im ganzen gesehen aber kann Augias keine Verbindung mehr erkennen zwischen den machtgierigen Herren des Vatikans und der Gestalt, vom dem diese klerikalen Politiker so oft sprechen, von Jesus Christus.
Auch Benedikt XVI. wird sich in Deutschland als liebvoll lächelnder oberster Hirte zeigen … und als gewiefter Diplomat. Dass er im Deutschen Bundestag reden wird, hängt damit zusammen, dass er als „Völkerrechtliches Subjekt“ der Heilige Staat IST, der den Staat Vatikanstadt mit 500 Bürgern, leitet. Es spricht also im Bundestag ein Staatschef! In Lexika wird diese einmalige rechtliche Konstruktion (nirgendwo sonst IST eine lebende Person ein völkerrechtliches Subjekt!) des Heiligen Stuhls und der Vatikanstadt als „absolutistische Monarchie“ beschrieben. Wer also dem geistlichen Oberhaupt, dem Papst folgen will, folgt also gleichzeitig auch einem absolutistischen Herrscher. Er folgt einer Person, die ihm zugleich religiöse Weisungen und politische Vorschriften vorlegt, also etwa an die Gottheit Jesu zu glauben und die absolute Zurückweisung der Geburtenkontrolle zu akzeptieren. Es ist diese Doppelrolle, die heute demokratisch gesinnte Menschen nicht gerade zu Fans des Papsttums macht.

Corrado Augias, Die Geheimnisse des Vatikan. Eine andere Geschichte der Papststadt.
Aus dem Italienischen von Sabine Heymann. Verlag C.H. Beck, München 2011, 496 Seiten, 22,95 Euro.

Friedrich Wilhelm Graf und die römische Kirche

Im Juli 2009 veröffentlichte PUBLIK FORUM ein Interview von mir mit Prof. Friedrich Wilhelm Graf, dem bekannten protestantischen Theologen von der Universität München. Inzwischen hat Friedrich Wilhelm Graf das viel beachtete Buch „Kirchendämmerung“ (becksche Reihe 2011) veröffentlicht, ein anregendes theologisches Buch, in einer Deutlichkeit geschrieben, wie sie heute selten noch Theologen wagen. Auch wenn wir mit einzelnen Aussagen nicht einverstanden sind, etwa zur optimistischen Einschätzung des „freien Marktes“ oder der Prognose, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Volkskirche würden sich nicht ändern, so können wir das Buch „Kirchendämmerung“ ausdrücklich allen empfehlen, die über die Zukunft der etablierten Kirche in Deutschland nachdenken. Grafs Plädoyer für eine von der Vernunft “kontrollierte” Theologie wird philosophisch Interessierte ohnehin erfreuen.
In dem Buch „Kirchendämmerung“ wird von der römischen Kirche eher am Rande gesprochen, deswegen bieten wir hier noch einmal das Interview vom Juli 2009, es hat unseres Erachtens nichts an Aktualität verloren.

»Jesus-Nachfolge ist nicht der Weg des Papstes«
Über den Papst wird der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf (München) befragt
Von Christian Modehn

Herr Graf, seit Beginn seines Pontifikats betont Benedikt XVI. die römisch-katholische Identität. Ist das eine Kampfansage an den Protestantismus?

Friedrich Wilhelm Graf: Man kann nur dankbar sein, dass der Papst das spezifisch Katholische – jedenfalls so, wie er es versteht – prägnant formuliert. Denn es ist immer besser, wenn man es mit Leuten zu tun hat, die genau wissen, wer sie sind und was sie wollen. Für Benedikt ist die Ökumene mit den Protestanten sehr viel weniger wichtig als die Verständigung mit den orthodoxen Kirchen. Denn er täuscht sich nicht darüber, dass die Situation in Deutschland, wo beide Kirchen jeweils ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, im europäischen Vergleich die Ausnahme ist.

Warum ist dem Papst die Annäherung an die Orthodoxie so wichtig?

Graf: Wenn wir Benedikts Aussagen oder denen des zuständigen Kardinals, Walter Kasper, folgen, dann fällt auf, dass sie regelmäßig die große Nähe der jeweiligen Amtsverständnisse betonen. Wie der Katholizismus kennt die Orthodoxie eine steile Amtstheologie. Ebenso betonen beide die Autorität der Kirche als Institution. So weit die Gemeinsamkeiten. Doch dann muss man genauer hinschauen. Zum einen hat die Orthodoxie in sich große Unterschiede. Viele orthodoxe Kirchen sind so etwas wie Ethno-Religionen, die das Christentum in einem engen nationalen Kontext auslegen und deren Symbolsprachen den Anspruch dokumentieren, Trägerinnen der nationalen Seele zu sein. Zum anderen haben die orthodoxen Kirchen keine eigenen Aufklärungstraditionen. Das macht sie in Fragen von Menschenrechten, Menschenwürde, Demokratie zu äußerst heiklen Dialogpartnern.

Bei diesen Punkten gäbe es zum Protestantismus größere Nähe. Trotzdem zeigt der Papst den Protestanten die kalte Schulter. Warum?

Graf: Der Papst weiß, dass sich die Kernanliegen der Reformation nicht in den Katholizismus übertragen lassen: das Priestertum aller Gläubigen, die starke Betonung der Weltlichkeit des Glaubens, die Unterscheidung von Religion und Politik. Außerdem braucht der Protestantismus keinen Papst. Insofern kann man es Benedikt nicht übelnehmen, dass er am Gespräch mit den Protestanten kein großes Interesse hat.

Aber muss man deswegen den protestantischen Kirchen das Kirchesein absprechen?

Graf: Zum Glück muss ja niemand seine eigene Identität von der Bestätigung durch andere abhängig machen. Denn die Sache ist klar: Nach Maßgabe der römisch-katholischen Kirchenlehre sind protestantische Kirchen nicht im gleichen Sinne Kirche wie die katholische. Die katholische Kirche hat im Zuge der Modernisierung ihre Machtansprüche immer deutlicher betont, sie hat immer steilere Amtstheologien entwickelt und die Priester den Laien deutlich vorgeordnet. Das alles liegt dem Protestantismus fern. Mit dieser Differenz kann man aber konstruktiv umgehen. Es ist niemandem damit gedient, sie einfach zu leugnen.

Ist diese starke Betonung des Amtes und der Hierarchie der Versuch, die Kirche als eine Art Gegenwelt zur Moderne zu etablieren?

Graf: Man kann sagen, dass sich die römisch-katholische Kirche seit 200 Jahren als Gegeninstitution zum Prozess der Modernisierung versteht. Deshalb hat sie im 19. Jahrhundert die Autorität des Papstes gestärkt, deshalb hat sie zunehmend auf einen römischen Zentralismus gesetzt. Was wir bei Benedikt XVI. erleben, ist die logische Fortsetzung einer in sich konsequenten Kirchenpolitik: einer Politik, die man als Identitätspolitik beschreiben könnte, als Pflege der eigenen Corporate Identity. Unter den Bedingungen eines zunehmenden Pluralismus ist das plausibel.

Viele Katholiken in Deutschland sehen das anders. Unter Berufung auf das Zweite Vatikanische Konzil mahnen sie an, dass die römische Kirche sehr wohl lernfähig sein kann und dass es einen durchaus anderen Katholizismus gibt als denjenigen, den der Papst mit Macht in seiner Kirche durchzusetzen versucht.

Graf: Nun ja, er ist eben der Papst, und das müssen auch reformorientierte und liberale Katholiken in irgendeiner Weise akzeptieren. Aber wie dem auch sei: Über die Deutung des Zweiten Vatikanums kann man trefflich streiten. Die meisten Dokumente des Konzils sind Kompromisstexte, die man nach der einen wie nach der anderen Richtung hin lesen kann. Ich persönlich sehe nicht, dass der amtierende Papst die Ideale des Zweiten Vatikanums verraten hätte. Wenn man bei den Tatsachen bleiben will, muss man gestehen, dass viele seiner Aussagen durch das Konzil gedeckt sind. Das ist das eine. Und was die Lernfähigkeit der katholischen Kirche angeht, so muss man sehen, dass der Papst keineswegs lernunwillig ist. Denken Sie nur an seine Symbolpolitik: Da verzichtet er etwa auf den altehrwürdigen Titel »Patriarch des Abendlandes«. Das kann eine Demutsgeste, es kann aber auch eine Herrschaftsgeste sein. Tatsache aber ist: Es hat sich etwas geändert. Insofern würde ich bestreiten, dass die römische Kirche nicht lernbereit ist. Sie verändert sich permanent. Es ist nur nicht immer ganz leicht zu sagen, was die Zeichen, die sie dabei setzt, bedeuten.

Die katholische Kirche ist eine Weltkirche. Ist den Katholiken – sagen wir in Brasilien oder Korea – die von Benedikt XVI. propagierte katholische Identität überhaupt vermittelbar? Wie sollen die Menschen dort mit Ratzingers enger Verbindung von Griechentum und Evangelium klarkommen?

Graf: Da spielen Sie nun auf sein Lieblingsthema an: Glaube und Vernunft. Und Sie spielen an auf seine Regensburger Rede. Aber auch hier müssen wir genau hinschauen. In der Tat behauptet der Papst, die einzig legitime Form des Christentums sei diejenige, in der es sich mit dem griechischen Denken verbunden und darin seine Glaubenswahrheit formuliert hat. Das freilich ist eine radikale Absage an neue protestantische Christentümer, die überall auf der Welt enorme Erfolge erzielen und in Lateinamerika den traditionellen Volkskatholizismus aushöhlen. Benedikts Reaktion darauf ist: Wir müssen das Katholische schärfer profilieren, dann wissen die Leute, warum sie besser bei uns sind als bei den anderen.

Steckt dahinter aber nicht auch ein elitärer Machtanspruch: dass nämlich der Klerus durch seine philosophische Bildung als Führungselite der Kirche legitimiert ist?

Graf: Aber natürlich. Es wäre ganz naiv zu meinen, dass die Symbole der Religion nichts mit Macht zu tun hätten. Religiöse Symbole sind Kommunikationsmedien, in denen Ordnungsstrukturen thematisiert werden. Insofern hängen Macht und Religion eng zusammen, und es besteht überhaupt kein Zweifel, dass Benedikt XVI. einen extrem steilen normativen Machtanspruch erhebt: Er weiß besser als alle anderen, was die wahren Ordnungen des Zusammenlebens sind, er weiß besser, was Wahrheit ist. Denken Sie nur an seine Äußerungen zur Naturrechtslehre oder an seine Formulierung von der »Diktatur des Relativismus«. Was wäre denn der Gegenpol? Doch wohl ein Absolutismus. Man könnte das sicher auch differenzierter formulieren, aber im Kern läuft es auf eine starke Betonung der normativen Deutungskompetenzen des Papstes als Institution hinaus.

Gegen kirchliche Machtansprüche beriefen sich die Reformatoren auf das Evangelium als höchste Autorität. In der Theologie von Benedikt XVI. kommt die Heilige Schrift aber eher am Rande vor.

Graf: Fairerweise muss man sagen, dass der Heilige Vater ein Jesusbuch angekündigt hat, das in Kürze erscheinen soll. Vielleicht sollte man dieses Buch abwarten. Aber eines ist ganz klar: Eine tat- und herzbetonte Frömmigkeit der Jesus-Nachfolge ist ganz bestimmt nicht der Weg dieses Papstes.

Friedrich Wilhelm Graf geboren 1948, ist Ordinarius für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München. Der Beitrag erschien in Publik Forum. Zeitschrift Kritischer Christen