„Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben“
Ein „Philosophisches Wort zur Woche“ am 23. 1. 2011
Einen ähnlichen Spruch kennen alle: Michail Gorbatschow (er wird am 2. März 2011 80 Jahre) soll ihn gesprochen haben, am 7. Oktober 1989 in Ost – Berlin, als die SED Herrschaft ihrem Ende nahte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Ob dieser Satz so gesprochen wurde, ist wohl zu bezweifeln, wahrscheinlich hat Gorbatschow gesagt: „Ich halte es für sehr wichtig, den Zeitpunkt nicht zu verpassen und keine Chance zu vertun. Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort“.
Wir auch immer, wir sind keine Historiker, sondern Philosophen und finden von daher den Satz sowieso bedenkenswert.
Heute geht es aber um eine Variante dieses Satzes, eine Variante, die nicht minder gravierend ist:
„Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben“.
Mit „zu früh kommen“, meinen wir: Eine Erkenntnis zu früh aussprechen, in einer Situation, in der die meisten Menschen diese Erkenntnis noch nicht mit vollziehen können und auch nicht wahrhaben wollen.
Da kann es objektive Hindernisse geben, traditionelle Denkzwänge, die neue Erkenntnisse sofort zurückweisen. Vor allem staatliche und religiöse Autoritäten tun sich in solchen Blockaden (verbunden mit Bestrafungen ) immer gern hervor. Sie sind die „großen Bremser“… Denken wir an die Geschichte Galileo Galileis. Er hat die Wahrheit ausgesprochen, als dogmatischer Wahn stärker war als der Wille, sich auf Neues einzulassen. Insofern kam er „objektiv“ zu früh, obwohl seine Erkenntnis natürlich subjektiv rechtzeitig und passend kam. Nur hat Galileo Galilei unter dem Wahn der ewig Gestrigen Besserwisser gelitten. Das ist oft das Schicksal derer, die „zu früh“ kamen. Sie wurden sozusagen vom bornierten Leben “der anderen” bestraft…Zahllose Beispiele für das Unverstandensein bzw. auch das Verfolgtsein derer, die „zu früh“ eine Wahrheit aussagten gibt es: Denken wir Mystiker wie Jacob Böhme oder Philosophen wie Friedrich Nietzsche; an Schriftsteller wie Kafka oder Künstler, die zu Lebzeiten nicht ernst genommen wurden; nach ihrem Tod aber machte sozusagen der Wille zur Erkenntnis bei vielen sozusagen „Klick“ und sie sahen, wie richtig die vorher Verfemten und Ausgegrenzten argumentierten.
Man könnte der Phantasie freien Lauf lassen und an die Menschen denken, die „zu früh“ Erkenntnisse aussprachen. Etwa der Theologe Hans Küng, der die autoritäre Unfehlbarkeitsideologie der Päpste kritisierte und deswegen als katholischer Theologieprofessor abgesetzt wurde. In 100 Jahren wird sich der Vatikan vielleicht bei Küng bedanken für diese „frühe Erkenntnis“. Oder im philosophischen Bereich: Etwa der Vorschlag Martin Heideggers, endlich auf das in den Konfessionskirchen immer noch gepflegte dinghafte und „personale“ Verständnis Gottes zu verzichten. Oder sein Hinweis, dass angesichts der Krise der heutigen Mentalitäten das „besinnliche Denken“ Vorrang haben muss vor allem technischen Denken. Oder sein Hinweis, dass die Menschen „Heimat“ brauchen, natürlich nicht als Idylle gemeint, sondern als Reflexion auf die Wurzeln, aus denen man lebt angesichts einer total mobilen Gesellschaft, die immer mehr die Züge des universalen Nomadentums annimmt.
Am wichtigsten bleibt wohl: Stehen wir zu unseren möglicherweise auch neuen Erkenntnissen, aber überprüfen wir sie ständig im Gespräch mit anderen; weisen wir mutig möglicherweise spinöse oder bloß esoterische wunderbare Einsichten zurück. Es geht um Erkenntnisse, nicht um Offenbarungen, die manchmal zu früh kommen. Nur die „frühe Vernunft“ hilft weiter auf dem Weg.