Wenn das Kreuz politisch missbraucht wird

Das „philosophische Wort“ zur Woche
Das Kreuz – nur schöne Garnitur und eine kulturelle Kulisse

Im religionsphilosophischen Salon wird über das Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofes in Straßburg vom 18. März 2011 diskutiert. Das Thema ist schwerwiegend, weil es das Zusammenleben verschiedener Religionen und Weltanschauungen in Europa betrifft. Das Gericht hatte entschieden, dass ein Kruzifix im Klassenzimmer in Italien kein Verstoß gegen die Religionsfreiheit der Europäischen Menschenrechtskonvention sei. Ein Kreuz, als eine Art passiver Gegenstand, könne, so hieß es, keine direkte, aktive religiöse Werbung darstellen.
Uns irritiert der Jubel aus politischen Kreisen zu diesem Urteil:
Das „europäische Volksgefühl“ habe gesiegt, sagte z.B. der italienische Außenminister Franco Frattini, nach dem Urteil. Frattini gehört zur Partei Berlusconis „popolo della liberta“, dieser Fusion mehrerer Parteien, zu denen auch die Neofaschisten gehören. Diese Partei Berlusconis ist unter Katholiken und bis jetzt auch im Vatikan beliebt…
Aber was ist das „europäische Volksgefühl“? Der Name klingt merkwürdig: Erinnert er nicht an die 1930 Jahre, an das „gesunde Volksgefühl“, das bekanntlich höchst ungesund und für die Juden und Sintis und Homosexuellen höchst tödlich war? Dieser Begriff Frattinis ist heute obsolet, ja unrealistisch, weil in Europa heute auch mindestens jeder Dritte konfessionslos ist oder sich von der römischen Kirche distanziert. Die Konfessionsstatistiker sprechen eine deutliche Sprache. Der Islam ist Teil Europas und das Judentum auch, das ja bekanntlich auch nicht so viel Wert legt auf Kreuzesdarstellungen.
Wir haben den Eindruck: Das Urteil aus Straßburg wird instrumentalisiert, um eine bestimmte „weiße“ und kirchlich – vatikanisch gebundene Kultur zu verteidigen. Die Kreuzes – Liebe des Berlusconi Freundes ist pure politische Taktik. Das Kreuz als Symbol des erniedrigten, leidenden Jesus von Nazareth, des Freundes aller Armen und Ausgegrenzten, wird sozusagen seines Inhaltes beraubt. Es wird zur Kulisse, es wird ein belangloses Schmuckstück, wie man es auch aus bayerschen Kneipen (und christlichen Parteibüros) kennt. In den Kneipen am Stammtisch, im Schatten des Gekreuzigten, geht es ja bekanntlich oft nicht sehr „jesuanisch“ zu, im Sinne eines Eintretens für die Geschundenen dieser Welt, etwa Obdachlose, Flüchtlinge, sogen. Randgruppen. Religiöse und spirituelle Symbole sind aufgrund ihrer All – Präsenz in der Öffentlichkeit zu Verbrauchsgegenständen geworden. Wenn in Cafés, Frisörsalons oder Buchhandlungen als „Zierde“ eine Buddha Statue steht, bedeutet das ja auch nicht: Dass all diese Menschen den Weisungen des Erleuchteten folgen (wollen). Buddha ist wie das Kreuz Massenware geworden. Wer die Kruzifixe in öffentlichen Räumen heute verteidigt, verteidigt also ein Stück Folklore, ein Stück Schnitzkunst, das keinen religiösen Inhalt vermittelt.
Diese Meinung wird weiter unterstrichen durch frühere Urteile in Italien: Das Kreuz sei Ausdruck nationaler Identität, das Kreuz habe einen quasi weltlichen Gehalt, heißt es da. Das höchste Verwaltungsgericht des Landes, der Consiglio di Stato, hatte erklärt: Das Kreuz symbolisiere zivile Werte, die typisch für Italien seien, genannt wurden: Toleranz, Grundrechtsgewähr, Abkehr von Diskriminierung usw… All das wird ja sozusagen im Schatten des Kreuzes von der Berlusconi Regierung bekanntlich in ihrer völligen Lauterkeit, Wahrhaftigkeit und moralischen Strenge im Geiste der Bergpredigt realisiert, das wissen ja inzwischen alle. Deswegen steht Berlusconi ab April vor Gericht.
Das Merkwürdige, ja Skandalöse ist, dass viele Kirchenführer mit diesem Urteil aus Straßburg höchst zufrieden sind. Sie lassen es offiziell zu, dass das Kreuz zu einem harmlosen zivilen Gegenstand weiterhin benutzt wird, als Symbol für Regierungen, die alles andere als menschenrechtsfreundlich sind, die auch nichts wissen, von der Bergpredigt Jesu, denen das Evangelium völlig egal ist, siehe Asylpolitik usw… Für Kardinal Peter Erdö, Budapest, Opus Dei Mitglied, und Präsident der europäischen Bischofskonferenzen CCEE, gehört die Präsenz religiöser Symbole an allen (!) öffentlichen Orten zur kulturellen Identität. Noch weiter geht Erzbischof Rino Fisichella, Präsident des päpstlichen Rates für die Neuevangelisierung Europas! Er deutet das Straßburger Urteil als das “vielleicht schönste Geschenk zum 150. Geburtstag Italiens“. Und weiter: Die Zulassung der Kreuze in den Schulen habe das Verhältnis zwischen den Institutionen und dem Volksempfinden (!) wieder in Ordnung gebracht, sagte Fisichella in einem Interview mit der Mailänder Tageszeitung “Corriere della Sera” vom Samstag. Der päpstliche „Neuevangelisierer“ glaubt: Die Bedeutung des Richterspruchs gehe weit über Italien und Europa hinaus.
Im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon wurde weiter diskutiert, ob es denkbar wäre, wenn die Kirchen darauf dringen, das Kreuz nur noch in christlichen, kirchlichen Räumen zu zeigen. Ganz verzichten können die Kirchen wohl nicht mehr auf dieses Symbol. Die ersten Christen hatten ja bekanntlich andere Symbole, etwa den Fisch als Symbol für Christus. Und die reformierten Kirchen sind sehr sparsam mit der Verwendung des Kreuzes, die Remonstranten Kirche in Holland verwendet es fast gar nicht! Und zwar zu recht, weil das Kreuz als Symbol eben auch negativ –auch historisch – belastet ist! Kann denn das treffende Symbol für einen lebendigen Christus der Leichnam am Kreuz sein? Das Kreuz (mit Korpus) ist längst kein befreiendes Symbol mehr. Darüber kann man doch diskutieren und neue Möglichkeiten auszutesten, meinen Mitglieder des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salons. Wann wird es ein Symbol geben für eine Menschheit, aus allen Religionen und Weltanschauungen, ein Symbol, in dem sich alle als Menschen wiederfinden. Klassische religiöse Symbole, auch das Kreuz, grenzen aus und schaffen oft Unfriede.
Eine weitere Frage: Wenn man sich schon Symbole in Schulen und Kneipen und Parteibüros hängen will: Da gibt es heute sicher wertvollere Symbole, in denen sich die ganze Menschheit wieder findet, denn auf das Verbindende, nicht auf das Ausgrenzende kommt es doch wohl an. Es wären Symbole, die die Sehnsucht nach einer friedlichen und gerechten Welt darstellen, etwa der Regenbogen. Darüber wäre jetzt zu reden. Warum tun das so wenige? Wovor hat man Angst?

“Wo war Gott in Japan am 11.März ?”

Im “Philosophischen Wort zur Woche” diesmal einige Reflexionen aus aktuellem Anlaß. Von Christian Modehn.
„Wo war Gott in Japan am 11. März 2011?“
Als Motto für diese Überlegungen wurde am 23.3. 2011 noch ein Satz des Sozialphilosophen Oskar Negt eingefügt, aus einer Rede, die er anläßlich der Verleihung des “August Bebel Preises” am 21. 3. in Berlin hielt. Oskar Negt sagte:
“Fortschritt heißt heute, sich einem verhängnisvollen Lauf in den Weg zu stellen, die Notbremse zu ziehen”.

Im religionsphilosophischen Salon wird die Frage diskutiert, in welcher Weise das Erdbeben in Japan mit dem Tsunami und der AKW Katastrophe (am 11. 3. 2011) auch ein philosophisches Thema ist. Hat die Katastrophe etwas mit der klassischen philosophischen “Theodizee” zu tun?
Wahres Philosophieren ist immer auf gegenwärtige Ereignisse bezogen. Denn das grundsätzliche Nachdenken stellt sich JETZT ein und verlangt Aufklärung, so sehr auch Philosophen gern den (abschließenden?) Überblick behalten und die „Eule der Minerva“ lieben, die in der Dämmerung aufsteigt, wenn die Ereignisse in weiterer Ferne sind (Hegel liebte dieses Bild).
Ein katastrophales Erdbeben war schon einmal Thema der Philosophie: Das große Erdbeben von Lissabon (1755) nahmen auch prominente Philosophen zum Anlass, ihre Philosophie der kritischen Aufklärung zu vertiefen und auch unters Volk zu bringen; bestes Beispiel dafür ist der Roman „Candide“ von Voltaire (1759). Darin wird mit der populären Vorstellung (von Leibniz entwickelt) abgerechnet, die Menschen „lebten in der besten aller denkbaren Welten“.
Nach dem Erdbeben von Lissabon hat die Philosophie der Aufklärung einen neuen Schwung erhalten, bis hin zur Überzeugung Kants, von Gott und seinem Verhalten zur Welt nichts wissen zu können (was für Kant nicht heißt, dass wir darüber nicht vernünftig denken (!) können). Aber Kant überließ die Verdeutlichung dieser Fragen der Welt des Glaubens (die freilich auch von gewissen Grundregeln der Vernunft strukturiert sein muss, will sie sich nicht lächerlich machen).
Das Thema bleibt: Was ist das für ein Schöpfergott, der solche Naturkatastrophen mit so vielem Leiden zulässt?
Der Philosoph Theodor W. Adorno dachte auch zeitbezogen, als er im Blick auf eine von Menschen (!) angerichtete Katastrophe, auf den Holocaust, meinte: Dieser würde eine grundlegende Transformation der Philosophie bedeuten. Seine „Negative Dialektik“ (1966) ist von dieser Stimmung geprägt.
Selbst in der Theologie wird jetzt oft der Topos „nach Auschwitz“ verwendet, etwa von J.B. Metz; eine konkrete, spürbare und deswegen schmerzhafte Umstellung der Kirchen zugunsten der Leidenden und der neuen „Holocausts“ (vom Westen zugelassenes Hungersterben z.B. in Darfur, in Ruanda usw.) hat freilich nicht stattgefunden. „Nach dem Holocaust“ blieb ein hübscher Topos für Sonntagsreden und Dissertationen.
Welche Perspektiven kann denn das Philosophieren bieten angesichts der Natur – Katastrophe und der Atom Katastrophe in Japan vom 11. März 2011?
Bleiben wir bei dem Erdbeben und dem Tsunami:
Alles Denken muss „unten“, beim Menschen, beim Selbstbewusstsein des Subjekts, ansetzen. Wir können doch nicht bei irgendwelchen Eigenschaften des himmlischen Gottes beginnen und ihn mit seiner Welt konfrontieren, das wäre obsolet.
Es ist also unsinnig, von vornherein den Topos der „gütige Gott“ ins Feld zu führen und ihn mit der Katastrophe unmittelbar zu konfrontieren: „Wo war Gott in Japan am 11. 3. 2011?“ ist also eine dumme, weil unvernünftige Frage. Sie kann nur von den einzelnen Betroffenen je für sich persönlich beantwortet werden.
Philosophisch gilt: Wer bei der Selbstreflexion des einzelnen ansetzt, muss zuerst feststellen: Das Subjekt selbst und die ihn umgebende Welt, ja die Welt im ganzen, sind endlich, sind begrenzt, sind unvollkommen. Wir leben definitiv in einer unfertigen und einer nicht restlos beherrschbaren Welt. Die von uns erkannten Naturgesetze gelten offenbar nur für einen begrenzten Rahmen, nicht aber für die Berechnung und Abwehr von Erdbeben und Tsunamis.
Den Gedanken an Gott gilt es in diesem Zusammenhang immer noch fernzuhalten.
Diese unvollkommene und endliche Welt ist die Basis für alle weiteren philosophischen Reflexionen. Diese Situation hat Auswirkungen auf das Selbstverständnis des Menschen: Seine Autonomie, also Selbstbestimmung, ist begrenzt. Es wäre aber ein Fehlschluss, häufig von Frommen propagiert, nun gegen jegliches Bemühen um die begrenzte Autonomie zu verteufeln.
In den verschiedenen religiösen Texten haben Menschen vor vielen hundert Jahren ihre Träume und Visionen zur Weltschöpfung durch einen Gott oder Götter niedergeschrieben und diese Texte wurden dann von den religiösen Führern Gottes Wort genannt, diese religiösen Führer beanspruchen, diese Texte authentisch zu interpretieren. Diese Texte über den guten Gott und die böse Welt sind poetische Texte und sollten als solche behandelt werden, auch in historisch –kritischer Methode. Es wäre deshalb ein Wahnsinn, im Gefolge unmittelbar verstandener religiöser poetischer Texte das Erdbeben am 11. 3. 2011 eine Strafe Gottes zu nennen.
Grundlegend gilt: Diese frommen Texte können philosophisch kein Leitfaden sein. Einzelne Menschen mögen in diesen Texten ihre private Befriedigung und ihren privaten Trost durchaus finden. Sie sollen ihren privaten Glauben aber nicht als Welt-Auslegung für alle verkaufen.
Zu den AKW Katastrophen am 11. 3. 2011 und danach:
Es gibt allerdings die Möglichkeit, dass die Macht der kritischen Vernunft unterschätzt wird und nicht zur vollen Entfaltung gelangt. Im Falle enthusiastischer AKW Bauten spielt offenbar die kritische Vernunft keine große Rolle. Die grundsätzliche Bedrohung durch AKWS wird überspielt und verdrängt.
Konkret: Die Warnungen eines breiten Stroms kritischer Wissenschafter vor AKWS wurde nicht respektiert, ja selbst als unvernünftig zurückgewiesen von der Lobby der AKWS.
Sie woll(t)en ausschließlich ihren Profit machen. Der Gedanke des permanenten Fortschritts und des permanenten Wirtschaftsbooms dank AKWs wurde von weiten Kreisen konservativ Gesinnter unbefragt als der „allgemeine Glaube“ übernommen. Es wurde die fast religiös gefärbte Ideologie des permanenten Wachstums wie ein heiliges Dogma, wie ein Gott, verehrt. Man denke an die “Wallfahrten”, die stolze Franzosen gern zu ihen AKWS unternahmen…
Philosophie „nach Japan am 11. 3. 2011″: Sie muss also die Götter des Wachstums kritisieren.
Und die vielen Leidenden, die Opfer, die Verstrahlten? Was hat das Philosophieren denen zu sagen?
Zu sagen erst einmal gar nichts, sondern beizustehen, sofern das aus der Ferne möglich ist. Auch Philosophen können die Hinterbliebenen und Leidenden ermuntern, die eigene persönliche und private spirituelle Ressource zu beleben, die kann theistisch, atheistisch, skeptisch, buddhistisch wie auch immer sein.
Und im Umkreis der Philosophierenden müsste eine Art Selbstverpflichtung ausgesprochen werden, die Markt- und Wachstums Götter der Gegenwart anzukratzen, wenn nicht zu entthronen.
Finden sie dabei Unterstützung von seiten der Frommen? Der Kirchen? Oder sind sie selbst schon direkt oder direkt Verehrer dieses Wachstums Gottes und des Marktes und seiner Gesetze?
Ist Gott also böse, wenn man auf die Ereignisse in Japan am 11. 3. 2011 schaut? Diese Frage stellt sich philosophisch nicht. Philosophisch wissen wir so wenig von Gott, dass wir bestenfalls von einem göttlichen Geheimnis sprechen können und unsere eigene Sehnsucht nach Transzendenz und „Heil“ bzw. „grundlegender Rettung“ formulieren. Die philosophisch durchaus begründbare Form des Transzendieren kann das Dasein in guter Weise beruhigen und von Ängsten befreien, ohne dabei „Opium“ zu werden; diese Sehnsucht nach einer nicht endlichen Transzendenz muss alle konkreten Bestimmtheiten Gottes offen lassen. Sie befreit nicht vom politischem Eintreten gegen den Götzen des Wachstums in einer endlichen, unvollständigen und kaputten Welt im ganzen und zur Ausbildung tiefer Empathie mit den Leidenden … und deren Toten.
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Einige eher zufällig gefundene Stellungnahmen zur Katastrophe in Japan 11.3. aus der religiösen Welt. Sie zeigen, wie Theologen und Gläubige eine Beziehung herstellen zwischen Gott und der Katastrophe bzw. den Supergau. Die philosophischen Leser können die Schlüssigkeit der Argumente sowie die verwendeten Begriffe selbst beurteilen.

„Gott, du hast unseren Glauben auf die Probe gestellt. Warum zeigst du dich als Todesengel?“
So Pfarrer Richard Horn, Evangelische Kirchengemeinde Alt – Schönberg, Berlin. Mitgeteilt in „Der Tagesspiegel“ vom 14. März 2011, Seite 12.
In einem Kirchenlied, so wird an derselben Stelle weiter berichtet, sang die Gemeinde: “Führ uns an atomarer Nacht vorüber, hilf der Hoffnung auf“.

Der evangelische Theologieprofessor Werner Thiede (Erlangen) schreibt unter anderem in einem konservativen katholischen Forum aus Österreich mit dem Namen kath net in der Ausgabe vom 15.3.
„Gerade am Kreuz des einen Gottessohnes ist darum auch ablesbar, dass Gott trotz und inmitten größten Leids sich als Liebe erkennen und festhalten lässt. Der Tod des von Gott Gekommenen offenbart, dass Gott dort nicht fern ist, wo gelitten wird. Und seine Auferstehung offenbart, dass Gott unterwegs ist, die Vergänglichkeit seiner Schöpfung zu besiegen. Am Ende wird sich zeigen, dass die vollendete Schöpfung in ihrer ewigen Herrlichkeit alles zuvor geschehene Leid weit mehr als aufwiegt…
Möge das Wort vom Kreuz nun im heimgesuchten Japan vermehrt Gehör finden – und auch hierzulande die nachdenklich Gewordenen neu bewegen!“

In demselben Dienst mit dem Namen kath net wird die Meinung einer Leserin verbreitet:
Lesermeinung, Deutzia, vor 7 Stunden
„Preiset den Herrn! Es ist seine Zeit jetzt. Die Japaner bekommen jetzt eine große Chance, sich zum Herrn hin zu wenden, alles andere hat versagt“. ( 15. März).

Die Botschaft von Papst Benedikt XVI.
“Die Bilder des tragischen Erdbebens und des folgenden Tsunamis in Japan haben bei uns allem tiefe Betroffenheit hervorgerufen. Ich möchte erneut meine geistliche Nähe mit der geliebten Bevölkerung dort ausdrücken, die mit Würde und Mut sich den Folgen dieses Unglücks stellt. Ich bete für die Opfer und ihre Angehörigen und für alle, die an den Folgen dieser schrecklichen Ereignisse zu leiden haben. Ich ermutige alle Hilfskräfte, die sich mit lobenswerter Schnelligkeit aufgemacht haben um dort Hilfe zu leisten. Bleiben wir im Gebet verbunden. Der Herr ist uns nahe!

„Wir stehen fassungslos vor der Katastrophe in Japan. Unsere Trauer verbindet sich mit der Trauer der Menschen in Asien. Ich kann nicht beantworten, warum Gott das zulässt. Aber ich bin mir sicher, dass Gott bei den Menschen ist – bei Opfern und Angehörigen und all jenen, die Angst vor der atomaren Katastrophe haben.“
Erzbischof Robert Zollitsch von Freiburg im Interview mit der Tageszeitung ‘Westfälische Rundschau’.

RWE Vorstand Jürgen Großmann im Interview:
Frage: Welcher Gedanke begleitet Sie in den nächsten Tagen?
Großmann: Wir alle können nur hoffen und beten, dass ein GAU verhindert werden kann (publiziert am 17. März 2011)
Vorher sagte er: „Die Gesellschaft muss (!) anerkennen, dass man in einem Industrieland nicht einfach so auf Kohle und Kernenergie verzichten kann, wenn man Wohhlstand und Versorgungssicherheit erhalten will“.
In: DIE ZEIT vom 17. März, s 23.

„Die Identität der Japaner ist die Selbstsucht. Es ist notwendig, diesen Tsunami als Chance zu nutzen, um die Japaner ein für alle mal zu davon zu reinigen. Das war eine Strafe des Himmels“.
So Shintaro Ishihara, rechtspopulistischer Gouverneurin Tokio, am Am Montag 14. März..
Zwei Tage später entschuldigte er sich für diese Äußerungen. Quelle: TAZ 16. März S. 5.

Helmut Schmidt (Alt- Bundeskanzler) in “Die Zeit” vom 17. März 2011, Seite 2:
Frage: Finden Sie den Begriff “biblische Heimsuchung” (im Zusammenhang der Katastrophe von Fukushima und Umgebung) völlig deplaziert?
Antwort: Für jemanden, der bibelgläubig ist oder aus anderen Gründen sich als Christ empfindet, ist das Wort nicht ganz abwegig. Für mich ist das ziemlich abwegig.

Lehrmeinungen nicht vergötzen

Das „philosophische Wort zur Woche“
Lehrmeinungen nicht vergötzen

Wir wurden gebeten, in den „philosophischen Worten, Meditationen, zur Woche“ auch explizit religionsphilosophische bzw. durchaus auch (von der Vernunft begleitete !) spirituelle Texte anzubieten.
Dem Wunsch kommen wir gern nach.
Diesmal bieten wir in ein paar Zeilen einen Impuls von Thich Nhat Hanh, den hoch geschätzten Zen – Meister, geboren in Vietnam, jetzt vor allem in Frankreich („Plum Village“), den man eigentlich in unseren Kreisen nicht mehr vorzustellen braucht.
Er bezieht sich dabei auf die Regeln seines Mönchsordens (dessen Name =Einssein= ist) und schreibt unter dem Titel „Loslassen und Einssein“:
Die erste Regel des Ordens heißt:
„Schaffe dir keine Götzen in Form von Lehrmeinungen, Theorien oder Ideologien, einschließlich der buddhistischen, und hänge diesen nicht an. Buddhistische Denksysteme sind Hilfsmittel zur Orientierung und keine absoluten Wahrheiten“.
Dann bietet Thich Nhat Hanh eine Deutung dieser Regel, darin heißt es u.a.:
„Das Anhaften an Meinungen kann uns daran hindern, zu einem höheren oder tieferen Verständnis der Wirklichkeit zu gelangen. Der Buddhismus drängt uns dazu, unser eigenes Wissen zu transzendieren, um auf den Pfad der Erleuchtung weiter zu gelangen. Alle Ansichten werden als Hindernisse zur wahren Einsicht betrachtet…
Der Buddha lehrte, dass an einer Ansicht festzuhalten und sie als absolute Wahrheit zu nehmen gleichbedeutend damit sei, den eigenen Prozess des Untersuchens und der Erleuchtung zu beenden. Das fanatische Anhaften an einer Weltanschauung verhindert nicht nur das eigene Lernen, sondern es kann zu blutigen Konflikten führen. Religiöse oder ideologische Kriege sind das Ergebnis von Fanatismus und Engherzigkeit…”
In der zweiten Regel heißt es:
„Die Wahrheit ist nur im Leben und nicht in vorgeformtem Wissen zu finden. Sei bereit, das ganze Leben hindurch zu lernen und die Wirklichkeit in dir selbst und in der Welt unablässig zu beobachten“.

Mein Hinweis:
Es ist klar, dass dieser Text sich nicht ausschließlich auf Mönche bezieht, sondern für alle Menschen gilt, die ein Leben ohne „Anhaftungen“ suchen. Interessant wäre eine Debatte über die Nähe dieses buddhistischen Denkens zu einer skeptischen philosophischen Lebenshaltung. Lebenshaltung ist ja bekanntlich mehr als skeptische Philosophie im engeren Sinne… Kommt man damit zur Erleuchtung? Das wäre eine spannende Frage. Erleuchtung ist ja bisher kein Begriff europäischer Philosophie… Wie stark empfinden die Leser den Kontrast dieses Textes von Thich Nhat Hanh zu christlichen Dogmatismen? Wie sehr ist dogmatisch geprägter Glaube von Anhaftungen geprägt? Könnte man sich einen Papst denken, der diese Worte Thich Nhat Hanhs unterschreibt?

Thich Nhat Hanh, „Lächle deinem eigenen Herzen zu“.
Herder Verlag, 1995, s 126 ff.

Wenn Arbeit zum Götzen wird

Wenn Arbeit zum Götzen wird

Das „philosophische Wort zur Woche“ fällt diesmal etwas kürzer aus; es ist wieder ein provokativer Anstoß nicht nur zum Nachdenken, sondern zur „Lebensorientierung“, d.h. zur Veränderung bisheriger Praxis.
Der bekannte Philosoph Byung – Chul Han, Berlin –Basel, inzwischen in Karlsruhe, hat im Jahr 2009 ein äußerst lesenswertes Buch veröffentlicht mit dem Titel „Duft der Zeit“. Der Untertitel: Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens.
Das Buch ist eine anspruchsvolle philosophische Meditation über die Wiedergewinnung der Muße und der Kontemplation. Dass es ohne die üblichen schnell formulierten Tipps und Ratschläge auskommt, braucht eigentlich nicht eigens betont zu werden. Es geht um Philosophie.
In seinem Schlusskapitel schreibt Han über die vita contemplativa, das kontemplative, das besinnliche Leben. Es ist eine ganz und gar nicht veraltete Haltung, sie bietet Impulse, die so selbstverständliche Hochschätzung, wenn nicht Vergötterung von Arbeit, neu, d.h. kritisch zu sehen.

„Das Leben, das sich dem maschinellen Arbeitsprozess angleicht, kennt nur Pausen, die arbeitsfreie Zwischenzeit, in der man sich von der Arbeit erholt, um sich dem Arbeitsprozess wieder voll zur Verfügung zu stellen. So stellen auch =Entspannung= und =Abschalten= kein Gegengewicht zur Arbeit dar. Sie dienen der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit…
In Wirklichkeit ist die Arbeitsgesellschaft eine Gesellschaft, in der die Arbeit sich, abgelöst von der Lebensnotwendigkeit, zu einem Selbstzweck verselbständigt und absolut setzt. …Die Totalisierung der Arbeit verdrängt andere Lebensformen und – entwürfe. (S 92 f).
(Darum ist das nicht mehr Arbeiten können, das nicht mehr Arbeiten müssen, für so viele Menschen auch Ursache für eine tiefe Krise: diese Menschen sind sozusagen den Gott Arbeit losgeworden, müssen „gottlos“ leben;, werden aus der Gemeinde der Arbeitsgläubigen rausgeschleudert; dass dieser Gott auch Geld beschafft, ist natürlich eine Tatsache. Aber die kapitalistische Gesellschaft ist so gebaut, dass sie an eine der Menschenwürde entsprechende Verteilung des Geldes an die Nicht – Arbeitenden gar nicht denkt. Wer den Gott Arbeit losgeworden ist, soll sozusagen mit Hartz IV in einer Art Vorhölle schmoren, der Vorhölle, die die Gott (Arbeits – ) Gläubigen geschaffen haben, diese Zeilen sind ein ergänzender Kommentar von Christian Modehn)
Aber noch einmal zu Byung – Chul Han: Worauf kommt es dem Philosophen an? Auf das Innehalten, das Verweilen. „In der Konsumgesellschaft verlernt man das Verweilen. Die Konsumgegenstände werden so schnell wie möglich verbraucht und verzehrt, damit Platz für neue Produkte und Bedürfnisse geschaffen wird. Das kontemplative Verweilen setzt Dinge voraus, die dauern“. (ebd).

Das anregende Buch „Duft der Zeit“ ist im Transcript Verlag , Bielefeld, erschienen.

Freiheit muss man sich nehmen. Das philosophische Wort zur Woche.

Freiheit muss sich der Mensch nehmen
Das “Philosophische Wort zur Woche“
Von Christian Modehn

Das „philosophische Wort zur Woche“ fällt diesmal etwas kürzer aus. Wir schlagen heute dringend die (nicht immer leichte) Lektüre des „ewig“ aktuellen Kant vor, und zwar seines Buches „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (von 1793). Wir beziehen uns auf die Ausgabe von Felix Meiner, Hamburg, 2003. Diese Aufsätze enthalten zahlreiche aktuelle Anregungen, etwa den ausführlichen Hinweis:
Die Religion hat ihren Ursprung in der Ethik und nicht umgekehrt. Religionsführer irren, wenn sie aus ihrer Religion eine allgemeine Ethik herleiten! Weiter: Dogmen und Liturgien haben nur Sinn, wenn sie ethisches Handeln fördern; Beten hat als Poesie einen gewissen Sinn usw…

Auf Seite 254 in dem genannten Buch schreibt Kant über die Abwehr vieler autoritärer Regime, Freiheit zuzulassen, nach dem alt bekannten Motto: Die Leute seien noch nicht reif die Freiheit usw… Kant hatte wohl die Abwehr der Französischen Revolution in Deutschland im Blick. Auch heute gibt es zahllose Beispiele in autoritären politischen und religiösen Systemen, die ihren Machtanspruch mit Fürsorglichkeit kaschieren und so sehr “mütterlich” Freiheit und Menschenrechte unterdrücken.

Kant schreibt:
„Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten. Denn man kann zu dieser Freiheit nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist. Man muss frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können. Die ersten Versuche (der Freiheit) werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als man noch unter den Befehlen, aber auch unter der Vorsorge anderer stand. Allein: Man reift für die VERNUNFT nie anders, als durch eigene Versuche (der Freiheit), welche Versuche man machen zu dürfen eben frei sein muss! …Es zum Grundsatz zu machen, dass den Menschen, die den Herrschern einmal unterworfen wurden, überhaupt die Freiheit nicht tauge, und man als Herrscher berechtigt sei, diese Menschen jederzeit von der Freiheit zu entfernen, ist ein Eingriff in die Regalien, also die Hoheitsrechte, der Gottheit selbst, die den Menschen ZUR FREIHEIT SCHUF“.

Gottesrechte und Kirchengebote contra Menschenrechte

Gottesrechte und Kirchenrechte contra Menschenrechte

Das philosophische Wort zur Woche

Über das Verständnis und die universale Gültigkeit der Menschenrechte, dargestellt in der Präambel und den 30 Artikeln der „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ vom 10. Dezember 1948, wird auch heute noch heftig gestritten. Wer sich in diktatorischen Regimen oder Pseudodemokratien für diese Menschenrechte einsetzt, lebt gefährlich. An die weltweite Ermordung von MenschenrechtsaktivistInnen haben sich breite Kreise der westlichen Öffentlichkeit längst gewöhnt, die Namen der (nicht immer „prominenten“) Opfer werden in den Medien nicht einmal erwähnt. Global geschätzt leben etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern, in denen die Menschenrechte nicht absolut gelten. Haben wir „aufgeklärte Europäer“ uns daran gewöhnt?

Vor allem in stark religiös geprägten Staaten und Gesellschaften, zu denen nicht nur muslimisch oder hinduistisch geprägte gehören, sondern etwa auch der „Vatikan“ bzw. die katholische Kirche, wird die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ nicht bedingungslos akzeptiert und respektiert und „positiven“, also historisch gewachsenen Gesetzen vorgeordnet. Diese menschenrechtsfeindlichen Staaten und Gesellschaften argumentieren meist so: Diese Menschenrechte passen nicht in „unsere Kultur“, sie seien gegenüber den angeblich göttlichen Geboten (bzw. Kirchengeboten) relativ und zweitrangig.

In dieser Situation ist es überaus erfreulich und wichtig, von kompetenter philosophischer Seite Argumente zur Vertiefung dieser Diskussion zu erhalten. Die Philosophin und Theologin Katharina Ceming (Augsburg) hat eine umfangreiche, leicht lesbare und brillante Studie über “die Würde des Menschen und die Weltreligionen” (so der Untertitel) vorgelegt. Der Titel des 510 Seiten umfassenden Buches ist: „Ernstfall Menschenrechte“ (erschienen im Kösel Verlag, München 2010. ISBN 978-3-466-36822-8).

In unserem, diesmal etwas länger ausfallenden “philosophischen Wort zur Woche” wollen wir vor allem auf das (von Katharina Ceming behandelte) philosophische Hauptproblem eingehen: Auf die Frage der universellen Geltung der Menschenrechte, wo sie doch, so sagen die Gegner der Menschenrechte, in historisch geprägten, „konkreten“ Kulturen Europas entstanden sind; also aufgrund dieser angeblich „begrenzten“ Herkunft könnten diese Menschenrechte, so meinen diese Kreise, nicht universell sein. Man nennt sie oft „Kulturrelativisten“.

Katharina Ceming schreibt:
„Wenn Menschenrechte nur als das Produkt einer historischen Entwicklung des Abendlandes gesehen werden, die keine universelle Gültigkeit durch einen naturrechtlichen Status haben, stellt sich zudem die Frage, wie die Menschenrechte dann selbst innerhalb der westlichen Welt noch verbindliche Gültigkeit haben können. Versteht man die Idee der Menschenrechte ausschließlich als Resultat eines historischen Prozesses, dann könnten die Menschenrechte jederzeit durch neue geschichtliche, ökonomische oder politische Entwicklungen modifiziert, ja sogar aufgehoben werden – auch im Westen“. (S 377)

„Gültigkeitskriterien (zu den Menschenrechten) sind, weil es sich hier um meta – empirische Fragen handelt, weder von geschichtlichen noch von politischen oder soziologischen Phänomenen abhängig. Letztere bestimmen lediglich, ob die Gültigkeitskriterien der Menschenrechte tatsächlich Anwendung in einer Gesellschaft finden oder nicht. Auf eine universelle Begründung ethischer Normen kann also nicht verzichtet werden. Diese Begründung lässt sich aber nur über etwas bewerkstelligen, was allen Menschen gemeinsam ist: ihre Vernunfthaftigkeit, selbst wenn sie über diese nur potentiell verfügen“. (ebd).
Wo sind die Ursachen für die Zurückweisung der universellen Gültigkeit der Menschenrechte zu suchen ? Katharina Ceming nennt vor allem eine Ursache: die Übermacht religiösen, mythologischen Denkens in religiösen Staaten und Gesellschaften. „Wo man verstanden hat, dass heilige Texte interpretiert und ausgelegt werden müssen, da sie in einem bestimmten Zeitkontext entstanden sind, fällt es auch leichter, mit =problematischen= Textstellen umzugehen, die mit bestimmten Artikeln der Menschenrechte kollidieren. Solange heilige Schriften als unveränderlich gelten, …, ist der Konflikt mit den Menscherechten unvermeidlich. Denn die Welterschließung der mythologischen Bewusstseinsstufe (also schlichter Wunderglaube z.B., CM) ist mit anderen Werten verbunden als die mental – rationalen Werte, zu denen die Menschenrechte gehören“ (S. 379).
Das Buch von Katharina Ceming ist ein Plädoyer für die Durchsetzung eines vernünftigen (was etwas anderes ist als eines bloß verstandesmäßigen, technisch – praktischen !) Denkens in den Religionen; ein Projekt, von dem die Menschheit mit ihren Religionen noch meilenweit entfernt ist. Ausführlich wird z.B. dokumentiert, wie in hinduistischen geprägten Kulturen die Frauen permanent aufs übelste missachtet und diskriminiert und gequält werden; wie das Kastensystem in Indien zwar offiziell verboten ist, aber immer noch von der herrschenden Clique zu eigenem Vorteil respektiert wird, etwa gegenüber den Dalits (siehe Seite 289 ff).
Und im Katholizismus? Auch da ist der Bericht Katharina Cemings deutlich und kritisch: „Wirft man einen Blick in das römisch-katholische Gesetzbuch, den Codex Iuris Canonici von 1983, dann zeigt sich, dass dem katholischen Kirchenrecht Grundrechte (also Menschenrechte) eher fremd sind“. Die Zurückweisung der universellen Gültigkeit der Menschenrechte im inneren Leben des Katholizismus folgt dem Muster, dass „sich das kirchliche Gemeinwohl am Schutz der Glaubenswahrheiten und an der Einheit des Glaubens orientiert“ (S. 161). Man fragt sich: Wer will da wen „schützen“? Der Papst die dummen Laien? Und was ist das für eine Religion, die angebliche Gottesgesetze gegen die (doch wohl auch von Gott geschaffene) Vernunft und ihre Erkenntnis der Menschenrechte ausspielt? Was ist das für eine Religion, die sogar kirchliche Bestimmungen (den “codex”) für relevanter hält als die Menschenrechte.
Religion contra Vernunft, dieses alte Thema ist immer noch nicht gelöst, zumindest auf theologischer Ebene.

Tiefendimensionen im Leben erkennen

Das Philosophische Wort zur Woche…

…will aus immer neuen Perspektiven zum Nachdenken inspirieren. Diesmal weisen wir kurz („kurz“ bedeutet leider im philosophischen Sinn oft verkürzend) auf einige Gedanken des großen Philosophen Dieter Henrich hin.

Ausgangspunkt ist die Frage:
Was passiert im Denken, wenn sich das Denken auf das Selbst bezieht?

Erinnern wir uns an die philosophische Überzeugung, dass sich philosophisches Denken vor allem auf das Denken selbst bezieht, auf das, was da immer schon im Denken und im Selbstbewusstsein anwesend ist, anwesend als ungewusste Bedingung der Möglichkeit.

Dieter Henrich schreibt:
„Das Philosophieren weckt den Sinn für Hintergründe in dem, was als Lebensvollzug jeder Nachfrage ebenso unbedürftig wie unzugänglich zu sein scheint. Zusammen mit der Achtsamkeit auf Tiefendimensionen von Leben und Verstehen kann das Philosophieren die Bewusstheit in Beziehung auf das eigene Leben und dann auch die Distanz zu diesem Leben erhöhen. Solcher Selbstdistanz, die zum Humor und zu jeder Gelassenheit gehört, wird nicht selten das Prädikat zu- gestanden, =philosophisch= zu sein. Die Philosophie vermittelt dann aber auch den Sinn dafür, was in dem Grundmuster eines Entwurfs, dem ein Leben folgt, dessen Zusammenhalt und dessen Grenzen ausmacht. So dient die Philosophie der Selbstdiagnose und der Selbstkritik in Lebensfragen; sie kann aber auch die Sensibilität für die Bewegtheit des Lebens in anderen Menschen erhöhen“.

Dieter Henrich, Die Philosophie im Prozeß der Kultur. Frankfurt M., Suhrkamp, 2006, S. 93.