Mitgefühl ist politisch – Zur Aktualität der “Goldenen Regel”

Der Schlüssel zum Mitgefühl

Die »Goldene Regel« gilt als eine universale Wahrheit.

Von Christian Modehn

Ein kurzer Spruch, zwar hübsch gereimt, kann doch so schlicht erscheinen, dass viele Leute ihn bestenfalls in Sonntagsreden ertragen können:  „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“. Diese „Lebensweisheit“ musste die ganze Klasse in der Schule, so erinnere ich mich, laut vorsprechen, „damit sie sich einprägt“. Schließlich handele es sich doch um die Goldene Regel. Und Gold sei ja nun besonders wertvoll. Dabei dachten wir, dieser Reimvers habe das selbe Niveau wie „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr“ oder „Es kommt immer alles anders als man denkt“. Eben ein netter Spruch unter anderen. „Und genau das ist falsch“, betont heute die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong (London). „Die Goldene Regel ist der Schlüssel zum Mitgefühl. Und Mitgefühl ist wesentlich für unser Leben, befinden wir uns doch in einer gefährlich polarisierten Welt. Es gilt, eine Welt aufzubauen, in der Menschen in Respekt miteinander leben können. Deswegen sollen wir auch das Ethos der Goldenen Regel in die Tat umsetzen“.  Für Karen Armstrong ist die Orientierung an der Goldenen Regel zwar anspruchsvoll, aber nicht kompliziert.

Sie hat sich als Religionswissenschaftlerin und Philosophin in den letzten Jahren intensiv mit dieser Lebensweisheit beschäftigt. 1944 in England geboren, war sie als junge Frau katholische Nonne; nach dem Austritt aus dem Orden hat sie u.a. als Professorin am Leo Baeck – College  zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt über „Die Achsenzeit. Vom Ursprung der Weltreligionen“  oder ein „Plädoyer für Gott“, für ihre Arbeiten  hat sie viele Auszeichnungen erhalten. Die Goldene Regel, so Karen Armstrong, kann jeder Mensch anwenden, gerade weil sie so einfach ist: Es kommt nur darauf an, sich selbst kritisch zu befragen und in die Welt der eigenen Gefühle, des „Herzens“, zu blicken: Was lässt mich leiden? Welche seelischen und körperlichen Schmerz will ich unter allen Umständen vermeiden? Die goldene Regel vor Augen, muss ich die anderen Menschen respektieren. Entscheidend ist die Frage: Kann ich im Ernst den anderen das Negative und Belastende antun wollen, was mir selbst widerwärtig erscheint? So wird nicht nur mein Horizont geweitet. Karen Armstrong meint: „Es wird die enge Welt meines Ego gesprengt: Die goldene Regel fordert uns auf, mit dem anderen Menschen zu fühlen. Wir nehmen uns selbst dann aus dem Mittelpunkt der Welt heraus und setzen den anderen dort hin“.

Die Gültigkeit der Goldenen Regel wird also aus der Nische des Privaten befreit: Vielleicht beachtete man bisher diesen Maßstab für ein gutes Miteinander nur dann, wenn es z.B. Streit mit dem Nachbarn gab. Wenn man die Familie nebenan wegen des Kinderlärms beschimpfte, dabei aber vergaß, wie alle anderen Mieter im Haus die eigenen unbeholfenen Übungen auf dem Klavier ertragen mussten.

Karen Armstrong setzt die Goldene Regel in politische und ökonomische Zusammenhänge. Sie hat sich das Vertrauen in die verändernde Kraft der Erkenntnis bewahrt: Wer nicht selbst erleiden will, was er alles an Bösem anderen Menschen antut, ändert seine Pläne, nimmt Abstand von bisherigen eher fragwürdigen und unmenschlichen Vorhaben,  wird mitfühlend, also mitmenschlich. Und dazu sollten sich die Menschen in allen Ländern und Kulturen ausdrücklich verpflichten: Karen Armstrong hat im Jahr 2008 eine „Charta des Mitgefühls“ publiziert, inzwischen wurde sie von vielen tausend Menschen in allen Erdteilen unterzeichnet. Darin heißt es: „ Zudem ist es absolut zu unterlassen, anderen im öffentlichen wie im privaten Leben Leid zuzufügen. Es verleugnet unsere gemeinsame Menschlichkeit, aus Bosheit, Chauvinismus oder Selbstinteresse gewalttätig zu handeln oder zu sprechen; andere auszunutzen oder deren Grundrechte zu verweigern, und Hass durch Erniedrigung anderer hervorzurufen“.

Die goldene Regel – ein Kompass für eine friedliche Welt: Und die kann nicht allein durch Strukturveränderungen aufgebaut werden, sondern vor allem durch die Erneuerung unseres Denkens und Fühlens. Karen Armstrong hat etliche Verbündete für dieses Programm, den Theologen Hans Küng zum Beispiel. Er hat vor vielen Jahren schon das Projekt Weltethos inszeniert. Auch Erich Fromm, immer noch viel beachteter Psychotherapeut und Philosoph, schätzte die Goldene Regel als den „Kern des Humanismus“. Karen Armstrong geht einen Schritt weiter: Sie stellt auch alle Religionen und Konfessionen, alle politischen Ideologien und weltanschaulichen Theorien, unter den Maßstab der Goldenen Regel. „Wir rufen daher alle Männer und Frauen auf, die mitfühlende Anteilnahme wieder in den Mittelpunkt von Moral und Religion zu stellen und zum Prinzip zurückzukehren, dass jede Auslegung der Schriften, die Gewalt, Hass und Missachtung lehrt, nichtig ist“.

Für exklusive Wahrheitsansprüche ist dann kein Platz mehr. Denn sie sind die Quellen von Rechthaberei, die nur in gewalttätigen Auseinandersetzungen enden können. Die großen humanistischen Weisungen und Lehren aller Religionen und Weltanschauungen müssen gestärkt werden. „Erst wenn die Religionen die Menschen dazu bewegen, mitfühlend zu handeln und den Fremden zu ehren, dann sind sie gut, hilfreich und vernünftig“ (K. Armstrong).

Darum ist die Erinnerung so wichtig, dass alle Religionen in ihrem Ursprung, und vor allem unabhängig voneinander eine gemeinsame Überzeugung gelehrt haben: die Goldene Regel. Sie gilt als eine universale, allgemein menschliche, im besten Sinne „ewige“ Wahrheit: Bildlich gesprochen reinigt sie den Verstand, bewegt das Herz, läutert den Geist eines jeden Menschen. Sie macht den Menschen menschlich.

Der chinesische Weisheitslehrer Konfuzius ( 551 – 479 vor Chr. ) war wohl einer der ersten, der die Goldene Regel in der uns heute bekannten Gestalt formuliert hat. „Seine Schüler sollten diese Lehre täglich praktizieren, meinte  Konfuzius, denn nur so gelangen sie zum Wichtigsten im Leben, das chinesisch „Ren“ genannt wird, also zu Wohlwollen und Güte“, sagt Karen Armstrong und fährt fort: „Konfuzius hat als erster betont, dass Religion nicht vom Altruismus zu trennen ist. Und dass es darauf ankommt, andere mit absolutem und heiligem Respekt zu behandeln“  Sehr früh wurde auch im Hinduismus und Jainismus die Goldene Regel als elementare ethische Orientierung formuliert. Im Pali Kanon, der ältesten Zusammenfassung der Lehrreden des Buddha heißt es:

„Wie ich bin, so sind auch diese;

Wie diese sind, so bin auch ich. Wenn so dem anderen ein Mensch sich gleichsetzt, mag er nicht töten oder töten lassen“.

In einer anderen Lehrrede Buddhas heißt es:  „Auf mich selbst achtend, achte ich auf den anderen,

Auf den anderen achtend, achte ich auf mich selbst“.

Die Goldene Regel ist auch in rabbinischen Kreisen absoluter Mittelpunkt der Ethik: Ein Zeitgenosse Jesu, Rabbi Hillel der Ältere (30 vor Chr. bis 9 nach Chr.), war überzeugt, die ganze jüdische Lehre in den Worten zusammenfassen zu können: „Was dir nicht liebt ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Thora, die ganze Weisung, und alles andere ist nur die Erläuterung“. Die gesamte jüdische Frömmigkeit, mit ihrer reichen Tradition von Exodus und Sinai, von Propheten und Gesetz, wird von Rabbi Hilel unter die Goldene Regel gestellt. Ein radikaler Ansatz, der von Jesus von Nazareth geteilt wird. Die Evangelisten Matthäus und Lukas berichten, dass auch Jesus die Goldene Regel hochgeschätzt hat. Er hat allerdings eine leicht ins Positive gewendete  Formulierung gebraucht:  „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten“, heißt es bei Matthäus (7, 12), fast gleich lautend ist das Zitat bei Lukus (6, 31). Jesus hat dabei ausschließlich das Gute tun und das Gute erleben vor Augen. Die eher krankhafte Vorstellung, dass jemand darauf besteht, unter der Gewalt anderer zu leiden und sich deswegen auch das Recht herausnimmt, diese Gewalt auch anderen anzutun, scheidet als Interpretation dieser Form der Goldenen Regel aus. Sie bleibt gebunden  an die „Erfüllung des Gesetzes und der Lehre der Propheten“, also an die Perspektive, allseitigen Frieden und Gerechtigkeit zu fördern.

Auch wenn Mohammed selbst keine „eigene“ Goldene Regel formuliert hat: So wurden doch nach seinem Tod weitere „Überlieferungen“ von ihm verbreitet, die so genannten Haddithe. In einem Vers heißt es: „Keiner ist gläubiger Muslim, solange er nicht für seinen Bruder wünscht, was er sich selbst wünscht“.  Dass mit Bruder wohl jeder Mensch – und nicht nur der Muslim gemeint ist – daran erinnert Abu Hurayra, ein Gefährte Mohammeds: „Wünsche den anderen Menschen, was du dir selbst wünschst. Dann erst wirst du ein wahrer Muslim“.

Auch Philosophen haben sich immer wieder für die Goldene Regel interessiert. Das früheste Zeugnis stammt wohl  aus dem Jahr 600 vor. Chr. Damals hatte sich der griechische Philosoph Tales von Milet mit der Frage auseinander gesetzt, wie denn der Mensch gerecht leben könne. Seine Antwort enthält eine Art Fragment der Goldenen Regel: „Indem wir das, was wir an anderen tadeln, selbst nicht tun“.

Im 20. Jahrhundert hat vor allem der Psychologe und Philosoph Erich Fromm (1900 -1980) die authentische Lehre der Goldenen Regel weiterentwickelt. Ohne den Respekt vor diesem universalen Grundsatz werden Menschen krank, betonte er: „Was du anderen antust, das tust du auch dir selbst an. In irgendeinem menschlichen Wesen die Kräfte zu verletzen, die auf das Leben gerichtet sind, schlägt unfehlbar auf uns selbst zurück. Unser eigenes Wachstum, unser Glück und unsere Stärke beruhen auf der Achtung vor diesen Kräften, und es ist nicht möglich, sie in anderen zu verletzen und zugleich selber unberührt zu bleiben“.

Erich Fromm warnte davor, diese ethisch so anspruchsvolle Orientierung nur noch als eine pragmatische Strategie zu verstehen, die im wirtschaftlichen Zusammenhang lediglich für korrektes Handeln und Verhandeln sorgt. Bei der Allmacht ökonomischen Denkens heute, so fürchtet Fromm, werde die Goldene Regel stillschweigend umformuliert, etwa in den oberflächlichen Spruch: „Ich gebe dir ebenso viel, wie du mir auch gibst“. Dabei verzichtet die Handelspartner zwar auf Betrug und Tricksereien, sie verhalten sich nach außen korrekt oder „fair“, wie Fromm ausdrücklich anerkennt. Mit dem Respekt vor der Fairness sei schon viel gewonnen in unserer kapitalistischen Welt, meint er. Spätere Philosophen wie John Rawls werden diesen Gedanken aufgreifen und die Fairness weiter verteidigen. Aber für den Psychotherapeuten Erich Fromm kommt es der seelischen Gesundheit wegen darauf an,  unbedingt an der authentischen Goldenen Regel festzuhalten, wie sie in den Religionen gelehrt wird. Nur sie fördert die Nächstenliebe und das Mitgefühl und damit menschliche Leben. „Die Fairness Regel verfolgt hingegen das Ziel, sich nicht verantwortlich für den anderen und eins mit ihm zu fühlen, sondern von ihm getrennt und distanziert zu sein. Die Fairness Regel bedeutet, dass man zwar die Rechte seines Nächsten respektiert, nicht aber, dass man ihn liebt“.

Die Goldene Regel ist als universale Spiritualität hilfreich in unserer Zeit globalen Wandels, wo das Überleben von 3 Milliarden Verarmter und Ausgehungerter auf der Kippe steht und der von Menschen verursachte Klimawandel die Erde als ganze bedroht. Da kann die Goldene Regel allen, die heute noch den Wohlstand genießen und den Großteil der Ressourcen der Erden verbrauchen,  nahe legen: Verändert den Lebensstil, damit ihr selbst überleben könnt. Wenn heute alle Menschen die Möglichkeit hätten, die Güter der Erde in derselben Weise auszuplündern wie es heute die Minderheit der Reichen tut, dann hätte die Welt insgesamt ab sofort keinen Bestand mehr.

Wer die Goldene Regel als spirituelle Kraft respektiert und ihr folgt, verändert sein Bewusstsein, wird ein neuer Mensch, nur so können  Reformen und Revolution gelingen.

copyright: christian modehn

Der Beitrag erschien in Heft 5/2012 der Zeitschrift PUBLIK Forum, auf die wir empfehlend hinweisen!

Uns erreicht eine ergänzende Stellungnahme von Wolfgang Hamburger aus Denzlingen:

“Der Tiefenpsychologe Arno Gruen vertritt in seinem Buch “Der Verlust des Mitgefühls — Über die Politik der Gleichgültigkeit” die Auffassung, dass dem Menschen das Mitgefühl angeboren ist. Das Mitgefühl sei die Schranke, die verhindert, dass der Mensch unmenschlich wird. Ähnliches haben ja auch die Gehirnforscher in Form der Spiegelneuronen herausgefunden. Der junge Mensch (das Kind) verliere aber mehr oder weniger die Fähigkeit zum Mitgefühl, wenn er durch die Erziehung mehr oder weniger starke Gewalt – Misshandlungen – erfährt.
Der Mensch mit uneingeschränkter Fähigkeit zum Mitgefühl braucht demnach die Goldene Regel nicht, da er sie von selbst einhält. Die Goldene Regel hat also eine Ersatzfunktion für die eingeschränkte Fähigkeit zum Mitgefühl, wie dies für einen Großteil der Menschen auch in unserer europäischen Kultur zutrifft.
Eine entsprechende Ersatzfunktion haben die jüdisch-christlichen zehn Gebote. Jesus sagt dagegen, liebe Gott und Deinen Nächsten wie Dich selbst, darin sind alle anderen Gebote enthalten. Liebesfähigkeit ist Voraussetzung für die Fähigkeit zum Mitgefühl. Arno Gruen sagt, den Nächsten wirklich lieben kann nur der, der sich selbst liebt. Der Hass beginnt durch den mehr oder weniger verdrängten Selbsthass, der zum Beispiel durch Hilflosigkeit gegenüber der bedrohlichen elterlichen Gewalt und durch Anpassungszwang entsteht”.

Vernunft und Religion aus der Sicht eines praktizierenden Muslims

In unserem Salon im Februar 2012 sprachen wir über das Thema: “Jeder soll nach seiner Fasson selig werden”, eine Maxime des “Philosophenkönigs” Friedrich II..

Ein Freund unseres Gesprächskreises, Attila, hielt dabei einen Kurzvortrag, der nicht nur die 18 TeilnehmerInnen des Salons (zum Nachlesen) interessieren wird. Wir halten die Ausführungen Attilas für sehr bedenkenswert.

Vernunft und Religion aus Sicht eines praktizierenden Muslims

Kurzvortrag im philosophischen Salon anläßlich der Maxime Friedrich des Großen „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“

Autor: Attila

Die Maxime Friedrich des Großen impliziert meines Erachtens die Akzeptanz der Pluralität in der Gesellschaft, insbesondere unterschiedlicher Religionen und Minderheiten. Ich möchte verdeutlichen, wie ich als Angehöriger einer solchen Minderheit, nämlich des Islam, in Deutschland mit dieser Pluralität lebe. Für mich sind die meisten Menschen um mich herum, die Mehrheit also, bezogen auf die Religionszugehörigkeit anders als ich. Wie komme ich mit dieser Andersheit klar? Was befähigt mich, auf meine Art und Weise als Angehöriger einer Minderheit mit oder gar trotz meiner Religion selig zu werden?

Mein Ansatz beruht auf zwei Prinzipien, die universell für alle Religionen und Lebensweisen gelten können. Das erste Prinzip ist die Achtung der Würde des Menschen. Der Islam beinhaltet humanistische Aspekte und würdigt die Menschen. Ich zitiere exemplarisch einen Vers aus dem Koran, dem Buch der Offenbarung des Islam. Sure 17, Vers 70: „Wir haben doch wahrlich die Kinder Adams geehrt und sie über Land und Meer getragen und sie versorgt mit guten Dingen und sie vor vielen von denen, die wir erschaffen haben, sichtlich ausgezeichnet.“ (Übersetzung: Der Koran, Rudi Paret, 11. Auflage).

Mit „Kinder Adams“ sind alle Menschen gemeint. In diesem zitierten Vers kommt das Wort „geehrt“ vor. Für Muslime kommt hier die Würde des Menschen zum Ausdruck. Gott hat demnach alle Menschen mit Ehre und Würde ausgestattet und sie vor den anderen Geschöpfen ausgezeichnet. Für mich ein Hinweis auf das Ziel der Entwicklung eines humanistischen Islam, der die Menschen in den Vordergrund stellt. Der Mensch ist nicht für die Religion da, sondern die Religion ist für die Förderung und Weiterentwicklung des Menschen da. Erst wenn er sich entfaltet, kann er zu Gott finden.

Das zweite Fundament ist die Vernunft. Für mich sind die Menschen vernunftfähige Wesen, im besten Fall vernünftige Wesen. Meines Erachtens kann ich meine Religion nicht korrekt und gottgefällig leben, ohne die Vernunft als Leitfaden für meine Entscheidungen und Handlungen einzubeziehen. Innerislamisch gibt es starke Strömungen in Richtung rationalistisch geprägter Islamauffassungen. Für mich vorbildlich sind Denker wie die muslimischen Philosophen und Ärzte Averroes (Ibn Rushd) und Ibn Tufail aus Andalusien, aber auch der jüdische Philosoph, Arzt und Rechtsgelehrte Maimonides.  Alle diese Denker sind von Aristoteles‘  Gedanken zur Logik und Vernunft beeinflußt worden. Wenn ich bereit und fähig bin, selbst und frei zu denken, kann ich Antworten und Aussagen kritisch hinterfragen, kann ich mündig werden und die Pluralität als Chance begreifen, zu lernen und andere besser zu verstehen. Ein kritischer Verstand, nicht im destruktiven Sinn, sondern im Sinne von geistiger Wachheit und Aufmerksamkeit, kann zu größerer intellektueller Kreativität führen. Der Koran ruft die Menschen an vielen Stellen zum Denken, zum Nachdenken, zur Kontemplation über die Schöpfung auf, gemäß Averroes sogar im Sinne von Syllogismus und Apodiktik. Auch ich bin der Auffassung, daß Glaube (im Sinne von religiöser Glaubenslehre), Vernunft und Verstand kombiniert werden müssen, um gottgefällig leben zu können.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Tatsache, daß wir gemeinsame Werte und Probleme haben und auf demselben Planeten leben. Unabhängig von Religionen, Lebensauffassungen, Lebensmodellen und vielen anderen Unterschiedlichkeiten sitzen wir alle im selben Boot. Wir alle leiden unter denselben oder ähnlichen Problemen, seien es die Defizite der Moderne, Globalisierung, Wirtschaftskrisen, Klimakatastrophen oder der Werteverfall. Welches Leben wollen wir leben, in was für einer Gesellschaft, was heißt Erfolg für uns, werden wir gelebt oder leben wir eigenständig? Wir können die Maximen der Moderne hinterfragen: Geld, Erfolg und Geschwindigkeit zum Beispiel. Diese Fragen betreffen uns alle und deshalb können wir sie nur in Gemeinschaft angehen, weil wir sowohl Teil des Problems als auch Teil der Lösung sind. Ich möchte in diesem Rahmen den Philosophen und Islamwissenschaftler Tariq Ramadan empfehlen, dessen Thesen für ein Zusammenfinden und Zusammenleben unterschiedlicher Religionen gut durchdacht sind.

Vielfalt und Diversität ist Reichtum und kein Mangel. Akzeptanz der Vielfalt heißt nicht unbedingt alles zu billigen, aber zumindest zur Kenntnis zu nehmen und zu tolerieren, solange durch die anderen kein Schaden entsteht oder Rechte anderer verletzt werden. Im Gegensatz zum Judentum missionieren Christen und Muslime in bestimmtem Maße. Dies ist meines Erachtens auch ein Grund für Spannungen in der Pluralität, weil eine Konkurrenzsituation um den Anspruch, Inhaber der Wahrheit zu sein, entbrennt. Ich fände es besser, wenn die Menschen und Religionen an ihren Taten und ihren Beiträgen zum Allgemeinwohl gemessen werden. Das christliche Zitat faßt es gut zusammen: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“. Statt mit Worten und Propaganda Menschen zu missionieren, sollten die jeweiligen Angehörigen einer Religion mit ihrem Auftreten, mit ihren Leistungen, mit ihrer Persönlichkeit, mit ihren Taten sichtbar werden. Die Mitmenschen können sich aktiv entscheiden, ob sie einen bestimmten Weg gut finden oder nicht. Meiner Meinung nach sollten die Religionen oder Interessensgruppen nicht missionieren, damit jeder nach seiner Façon leben kann.

Ich möchte auf einen Punkt eingehen, der wichtig ist, um Spannungen zwischen der islamischen und der westlichen Welt besser zu erklären. Wenn man diesen Hintergrund kennt, kann man leichter einen Weg finden, friedlich und selig neben- oder gar miteinander zu leben.

Der springende Punkt ist die Bedeutung des Koran für die Muslime. Die Auffassung der Muslime ist die, daß der Koran das in 23 Jahren von Gott wortwörtlich offenbarte Wort ist (von 610-633 n. C.), dessen praktische Anwendung durch den Gesandten Mohammed gezeigt und gelebt wurde. Die historische Bibelkritik der meisten Christen hingegen geht heute davon aus, daß die Bibel, auch das Neue Testament, von Menschen geschrieben wurde. Obwohl die Muslime den Koran als Wort Gottes ansehen, spielt für die Auslegung der Kontext der Offenbarung eine Rolle. Der Koran wurde etappenweise offenbart. Es gibt für viele Verse interpretatorischen Spielraum, die Exegese der Verse hängt u.a. von den Anwendungsbedingungen und Offenbarungsanlässen ab. Der Koran muß also auch in seinem historischen Kontext gesehen werden, aber gleichzeitig darf der Glaubensbezug nicht ignoriert werden. Er bleibt für die Muslime das offenbarte Wort Gottes. Wenn man sich mit den  Spannungen zwischen der islamischen und westlichen Welt beschäftigt, dürfen die Quellentexte, also insbesondere der Koran, nicht ignoriert werden. Ein weiteres Problem ist die mangelnde Bildung in der muslimischen Welt, insbesondere das Wissen über die Religion ist oft defizitär. Viele Muslime haben eine enge, ritualisierte Sicht der Dichotomie von „halal“ und „haram“, von erlaubt und verboten. Die Wirklichkeit besteht aber meist aus fließenden Übergängen, also Graubereichen, nicht aus Weiß und Schwarz. Nicht jede Aussage von Muslimen stellt die korrekte Lehre des Islam dar, sondern beruht auf Vereinfachungen, Traditionen, Pauschalisierungen und persönlichen, unwissenschaftlichen Interpretationen.

Es ist auch wichtig zu wissen, daß es nicht den Muslim an sich gibt. Sondern ähnlich wie bei den Christen oder Juden gibt es verschiedene Gruppierungen, die sich in ihrem Umgang mit dem Koran und ihrer Haltung zu Interpretationsmöglichkeiten unterscheiden. Ich möchte die wichtigsten Gruppierungen beschreiben.

  • Literalisten: Sie verstehen den Koran wortwörtlich, keine kontextuelle Interpretation.
  • Traditionalisten: Sie übernehmen die Auffassungen von Gelehrten aus den Anfangszeiten des Islam. Sie sehen keinen Bedarf für reformistische Interpretationen.
  • Sufisten: Mystiker, versuchen Erkenntnis über Askese und Mystik zu erlangen. Koranexegese spielt keine große Rolle, schwer nachvollziehbare Interpretationen des Koran.
  • Rationalisten: Messen dem Verstand mehr Wert bei als der Schrift. Koran eher unwichtig.
  • Politische Muslime: Nutzen und interpretieren den Korans für politische Zwecke.
  • Reformisten: Betrachtung der Schrift im Rahmen der Geschichte, Kontextbezug. Texttreue unter ständiger Weiterentwicklung des Denkens und der Erneuerung (bezogen auf den Sinn, der Haltung und Objektivität), Befürworter eines aufgeklärten Islamverständnisses.

Ich befürworte die Gruppe der Reformisten. Für mich ist die Menschheit im permanenten Zustand der Weiterentwicklung. Sie eignet sich im Laufe der Geschichte mehr Wissen und mehr Erkenntnisse an, sei es in den Wissenschaften, in der Technik, in der Medizin, in der Philosophie oder in anderen Bereichen. Sie entwickeln sich im evolutionären Sinne weiter. Ein Vers im Koran kann im Lichte neuester Erkenntnisse eine ganz andere Bedeutung erhalten als vor 100 Jahren. Was früher als kleinstes Staubteilchen übersetzt wurde, heißt heutzutage Atom, oder gar Elektron, oder Quark. Der Islam propagiert lebenslanges Lernen und persönliche Weiterentwicklung. Das bedeutet, daß der Muslim bereit sein muß, sich immer wieder zu hinterfragen, sich weiterzuentwickeln, neu zu denken, neu zu erfinden, sich zu neu zu formen, also zu reformieren. Ein starker Vertreter der Reformisten ist Tariq Ramadan, den ich als Wissensträger und Reformisten empfehlen kann.

Zum Ende meines Vortrages möchte ich beschreiben, welche Werte der Islam in die pluralistische Gesellschaft einbringen kann, in der wir gemeinsam leben.

1.    Bewußtsein für Freiheit: Der Islam unterstützt den Gedanken der Freiheit. Einerseits in rechtlichem Sinne, nämlich seinem Engagement, die Sklaverei, die noch im 7. Jahrhundert herrschte, im Laufe der Zeit abzuschaffen. Aber auch im psychologischen Sinn: das Gefängnis ist man selbst. Wie erlangt man inneren Frieden?  Dazu gehört, im Einklang mit sich, der Umwelt und den Mitmenschen zu leben; das Ego, die Triebe, den inneren Schweinehund zu bändigen. Der Islam will den Menschen ermöglich, frei und mündig zu werden, um Gott selbständig und mit freiem Willen zu finden.

2.    Einheit der Menschlichkeit: Brüderlichkeit, Würde (siehe oben).

3.    Respektvoller Umgang mit der Schöpfung: Die Natur und die Schöpfung ist ein Spiegel Gottes und wurde uns zu treuen Händen übergeben. Wir sind daher verantwortlich für einen guten Umgang mit allen Lebewesen, mit der Umwelt, mit den natürlichen Ressourcen und natürlich allen anderen Menschen.

4.    Erziehung: Erlangung von Wissen und die Bildung von intakten, vorbildlichen Gesellschaftsstrukturen.

5.    Dimensionen von Mann und Frau: Gegenseitiger Respekt, harmonisches Zusammenarbeiten und Zusammenleben. Auch wenn es heute bizarr anmuten mag: Im 7. Jahrhundert waren die Forderungen des Islam nach Gleichberechtigung der Frau nicht selbstverständlich. Stärkung der Frauen durch vollwertige, mündige Stellung vor Gott. Verminderung der vorher gängigen Praxis von Mehrehen (über 8 Frauen und mehr) auf maximal 4, wobei die Sollnorm laut Koran die Monogamie ist.

Was mir noch wichtig ist: Nur wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, die uns hierzulande selbstverständlich vorkommen, können wir von Façon und Seligkeit reden. Menschen, die am Verhungern sind, in Kriegszuständen leben, gefoltert und unterdrückt werden, keine politische Freiheit haben, an das nackte Überleben denken müssen und in anderen unmenschlichen Situationen leben müssen, können sich nicht unbedingt einen Weg, eine Façon, auswählen und werden auch nicht unbedingt selig leben. Dies sollten wir im Auge behalten, wenn wir über andere Gesellschaften und Länder sprechen und sie mit unserer Wohlstandsgesellschaft vergleichen.

Ich möchte auf die wichtigsten Quellen hinweisen, die ich für den Kurzvortrag herangezogen habe.

Averroes: Die entscheidende Abhandlung – Die Untersuchung über die Methoden der Beweise; Reclam-Verlag

Ibn Tufail: Der Philosoph als Autodidakt – Ein philosophischer Inselroman; Meiner-Verlag

Tariq Ramadan im Interview des Schweizerischen Fernsehens vom 21.11.2010: http://www.videoportal.sf.tv/video?id=31cfec1c-3767-4457-b45f-a39e54966525

 

Ein “mystischer Agnostiker” – Erinnerung an Lucien Jerphagnon

„Ich bin ein mystischer Agnostiker“
Ein Hinweis auf den Philosophen und Historiker Lucien Jerphagnon
Von Christian Modehn

Ein merkwürdiges Phänomen: Der Austausch der Kulturen ist selbst bei den Nachbarn Deutschland – Frankreich sehr begrenzt. Bis jetzt gibt es z.B. noch immer keine Übersetzung eines Buches aus dem umfangreichen Werk des Philosophen und Histoikers Lucien Jerphagnon (1921 – 2011). Er ist ein Spezialist vor allem der antiken wie auch der mittelalterlichen Philosophie. Seine Bücher sind, wenn man so sagen kann, leicht zugänglich, er liebte das Gespräch, darum sind einige Bücher als – typisch französisch – Gespräche publiziert worden. Lucien Jerphagnon hat sich stets als Philosoph UND Historiker verstanden: „Das Ideal für einen Historiker der Philosophie ist es, zu versuchen den Geist der Zeit des bestimmten Philosophen zu erkunden. Man muss nicht nur wissen, was er dachte, sondern auch, was man tat und sagte, was man damals aß und trank, was man von der Liebe dachte und vom Haß, sowie von der Religion, der Politik, vom Glück“, so in einem Interview mit der Zeitschrift „LE Magazine Littéraire“, Dezember 2011, Seiten 92 – 96. .
Seine Aufgabe als Philosoph sah er darin, zum Staunen, zum Verwundern anzuregen, die Fraglichkeit als Dimension des Lebens zu begreifen. Lucien Jerphagnon nannte sich selbst einen mystischen Agnostiker, der vor allem durch die Werke Plotins zu einer philosophisch – spirituellen Haltung fand. „Plotin hat mich gehindert, in einigen Augenblicken meines Lebens als Atheist zu enden. Ich war immer ein Mann des Glaubens, denn bei Plotin habe ich das Prinzip einer Welt entdeckt, die mich immer in Erstaunen versetzte“.
Als mystischer Agnostiker setzte er sich von den bekennenden Atheisten ab. „Der Atheist glaubt, dass Gott nicht existiert. Aber wir haben keinen Beweis für die Nicht – Existenz Gottes. Der Agnostiker hingegen transzendiert jedes mögliche Wissen von Gott, Plotin sagte: „Gott ist jenseits von allem“.
„Aber wann bin ich „mystisch“, fragte sich Lucien Jerphagnon? „Mystisch bin ich in dem Augenblick, wenn ich bete oder wenn ich gern die Gewissheit hätte, dass dieses Gebet auch sein Ziel erreicht“. Und Glück bedeutet, im Augenblick zu leben. Carpe Diem, ist der ausdrückliche Aufruf des Philosophen. „Aber dieser Augenblick ist unsterblich. Was auch immer mit uns passiert: Es gibt eine Dimension in uns, die niemals ausgelöscht werden kann“.
Prof. Jerphagnon hat u.a. an den Universitäten von Besancon und Caen gearbeitet, er hat sich stets als Schüler des großen Vladmir Jankélevitch bezeichnet. Zu den Schülern Jerphagnons gehört etwa der heute sehr populäre wie auch wegen radikaler Zuspitzungen umstrittene Philosoph Michel Onfray (Caen). Jerphagnon hat sich gefreut, dass Onfray sein eigenes Thema gefunden hat, auch wenn er „zu einer anderen Seite gehört“. „Aber ich bin damit zufrieden, denn ich wollte ja keinen Clon als meinen Schüler, sondern selbständige Denker“, so Jerphagnon in „Le Magazine Littéraire“.
Allseits wird der Philosoph und Historiker wegen seiner leichten, zum Teil witzigen Schreibweise gelobt. Für ihn war Philosophie (noch) Liebe zur (Lebens) Weisheit: „Befasse dich nicht zu sehr mit dem Äußeren. Bewahre dich ein bisschen für dich selbst und die jenigen, die du liebst. Das Ideal des Glück ist l amour partagée, also die geteilte, die nicht egoistische Liebe“.

Wir nennen nur die letzten Bücher Lucien Jerphagnons, wobei wir darauf hinweisen, dass er selbst seine Studie über den vom Christentum zum Heidentum konvertierten römischen Kaiser Julian Apostata besonders schätzte. „Julien, dit l’Apostat“, 1986, Éd. du Seuil

2006, Augustin et la sagesse, Desclée de Brouwer
2007, Au bonheur des sages, Hachette Littératures
2007, La Louve et l’Agneau, Desclée de Brouwer
2008, Entrevoir et Vouloir : Vladimir Jankélévitch, La Transparence
2009, La tentation du christianisme avec Luc Ferry, Grasset
2010, La… sottise ? (Vingt-huit siècles qu’on en parle), Albin Michel
2011, De l’amour, de la mort, de Dieu et autres bagatelles, entretiens avec Christiane Rancé, Albin Michel
2012, Connais-toi toi-même…Et fais ce que tu veux, Albin Michel

copyright: christian modehn, berlin.

Friedrich d.Gr. und Hegels Philosophie

Friedrich II. wird Aufklärer und als Protestant gewürdigt…
Das doppelte Bild Hegels von Friedrich d. Gr.
Von Christian Modehn

In seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“, die Hegel in Berlin sechsmal hielt (von 1819 bis 1829), verteidigt er ausdrücklich Friedrich II., er nennt ihn wörtlich „eine große Erscheinung“ (298): „Es ist albern, wenn die Frömmelei und die falsche Deutschheit jetzt über ihn herfallen und diese große Erscheinung, die so unendlich gewirkt hat, kleinmachen oder gar zu Eitelkeit oder Verruchtheit herabsetzen wollen“. Und dann folgt der wichtige Satz: „Was Deutschheit sein soll, muss eine Vernünftigkeit sein“.

Friedrichs II. Verbundenheit mit der französischen Aufklärung wird von Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ herausgearbeitet. Voltaire wird dabei nur einmal dem Namen nach genannt (294). In einer Gesamtschau würdigt Hegel die Leistungen der französischen Aufklärung, etwa die „verhölzerte Religion“ (295) anzugreifen, sowie „den religiösen Zustand mit seiner Macht und Herrlichkeit, Verdorbenheit der Sitten, Habsucht, Ehrgeiz, Schwelgerei“ (ebd.). Dabei sieht er genau, wie die französische Aufklärungsphilosophie auch die damalige „verdorbene bürgerliche Gesellschaft“ kritisiert hat, „man erblickt bei diesen Philosophen Empörung“ über diese Zustände in Frankreich. (296). Denn „die Schamlosigkeit, Unrechtlichkeit ging (in der französischen Monarchie) ins Unglaubliche“ (ebd.) Diese Philosophen, so betont Hegel nachdrücklich, schätzten die Menschen nicht als “Laien“ (297) ein, also nicht als inkompetente Menschen gegenüber der Religion und dem Staat. Er lobt „das Genie, die Wärme, das Feuer, den Geist und den Mut“ der französischen Aufklärer, für das „Menschenrecht der subjektiven Erkenntnis“ eingetreten zu sein, also für die Forderung, dass sie als Menschen die Institutionen auf ihre Vernunft hin eigenständig überprüfen können und entsprechend gestalten.
In diesem Insistieren auf die kritische Macht des aufgeklärten Subjekts sieht Hegel eine Verbindung zu Friedrich II.. Damals war französische Aufklärungsphilosophie in Deutschland nicht wirklich verbreitet, meint Hegel, obwohl doch „viel Schlechtes und Barbarisches – durch sie in Deutschland – verscheucht wurde“ (298). Dabei stellt Hegel durchaus positiv wertend heraus, dass dieser Friedrich II. nicht explizit religiös erzogen wurde und auch nicht so lebte, monotone Psalmen hat er nicht auswendig gelernt, darauf weist Hegel hin…. Friedrichs innenpolitisches Reformwerk war „Bedürfnis“, wie Hegel sagte, also es war innerstes Anliegen Friedrichs selbst wie es auch als objektive Bedürfnis sozusagen in der Luft lag. Und Hegel nennt die Reformen Friedrichs II: Toleranz, Gesetzgebung, Verbesserung der Gerechtigkeitspflege, Sparsamkeit mit der Staatskasse, von dem elenden deutschen Recht ist nicht einmal mehr ein Gespenst geblieben“ (298).
Die religiöse Überzeugung Friedrich II. wird in diesen Vorlesungen nicht weiter explizit herausgearbeitet. Dass der Preußische König als Philosoph eher dem aufklärerischen Gottesbegriff des Deismus folgte, dass er also kein orthodoxer Christ war, wird in den Vorlesungen nicht erwähnt. Denn von seinem eigenen Standpunkt aus müsste Hegel dieses Gottesbild als ungeistig kritisieren, weil es an der Abstraktion und Unbegreiflichkeit Gottes festhält. Für Hegel ist Gott vernünftiger absoluter Geist und somit Subjekt und somit auch für den vernünftigen Menschen erkennbar als Subjekt. Von dem fernen Gott der Deisten hielt Hegel nur insofern etwas, als es „Durchgangsstufe“ zur Wahrheit ist.

Um so erstaunlicher ist, dass Hegel in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ Friedrich II. als „Held des Protestantismus“ bewertet (519). Da sieht er in einer eher auf das konfessionelle Gegeneinander der Großmächte fixierten Blickweise die Leistung des Königs darin, Preußen als „protestantische Macht“ unter den „großen Staatsmächten“ Europas etabliert zu haben. Ausdrücklich weist er aber auch dort darauf hin, „dass er ein philosophischer König“ gewesen sei, eine ganz eigentümliche und einzige Erscheinung in der neueren Zeit“ (519). Aber die Philosophie dieses Philosophenkönigs wird hier ausgeblendet, Friedrich bleibt jetzt der „protestantische Herrscher“. Wobei, nebenbei, auffällt, dass der Luther Freund Hegel hier auf das eher diffuse Bild des Protestanten zurückgreift, also selbst die Reformierte Konfession nicht anspricht. In jedem Fall ist für Hegel Friedrich II. eine Gestalt, die die Vernunft vorangebracht hat. Dass der König den Juden gegenüber intolerant war, wird nicht erwähnt. Immer wieder hingegen wird auch in beiden Vorlesungen ausführlich herausgearbeitet, dass der Katholizismus eine unvernünftige Religion der Veräußerlichung und des blinden Gehorsams sei, also eine alte bzw. veraltete und zu überwindende Gestalt der Religion, die Luther und der Protestantismus auch überwunden hat. Das ist eine zentrale Überzeugung des Religionsphilosophen Hegel.

Die Zitate stammen in beiden Fällen aus der Theorie Werkausgabe des Suhrkamp Verlages, 1970 bzw 1971.
Die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte sind dort Band 12; die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie dort Band 20.
Copyright: christian modehn

Die Stoa und das Christentum. Ein Diskussionsbeitrag

Im Salon am 13. Januar 2012 sprachen wir über die Philosophie der Stoa. Einige Teilnehmer hielten die Gedanken etwa von Seneca und Marc Aurel zu praktischen Lebensgestaltung durchaus für aktuell. Andere meldeten ihre Bedenken an. Wir dokumentieren hier eine Stellungnahme unseres Freundes Wilhelm Lotze, Berlin und laden zur weiteren Diskussion ein.

Augustin soll Marc Aurel praktisch als Heiligen angesehen haben. Da kommt mir der Gedanke, dass es doch sehr interessant wäre, das Verhältnis und die historischen Verbindungen von Christentum und Stoa näher zu erkunden.

Meine Bemerkung im Salon über Marc Aurel, dass sein ganzes Leben eine permanente „Selbstvergewaltigung“ gewesen sei, war insofern nicht verständlich, als ich vergaß vorwegzuschicken, dass er möglicherweise auf Grund seiner philosophischen Praxis doch der beste Herrscher war, den es je gab. Dies hatte der Kaiser jedoch sehr teuer erkauft: Seine Praxis bestand ja in einem täglichen Kampf gegen die auch von der Stoa, ähnlich wie von der Kirche, so gesehenen “niederen” Seiten des menschlichen Wesens, als da sind animalische Triebe und Bedürfnisse und mehr oder weniger “natürliche”, zumindest “unkultivierte” oder auch kulturell “deformierte” psychische Reaktionsmuster, die durch die höchste Kraft des menschlichen Wesens, die philosophische Vernunft, vermittelst einer ungeheuerlichen Willenskraft täglich in ihre Schranken zu weisen und in Zaum zu halten sind. (Hätte Marc Aurel mehr Rücksicht auf seinen Körper genommen, hätte er ja deutlich mehr Kraft zur Umsetzung seiner Ziele haben können?) Da gibt es auffällige Parallelen zum Christentum, die näher betrachtet werden sollten. Diese “niederen” Seiten unseres Wesens fasst die Kirche bekanntlich unter dem Begriff der Erbsünde zusammen. Auch der Kampf gegen die Sünde gestaltete sich ja normalerweise meistens (wenn er denn ernsthaft geführt wurde) als eine lebenslange „Selbstvergewaltigung“. Im Zentrum dieser Selbstvergewaltigung stand dabei der Kampf gegen die sexuelle Lust. In dieser Hinsicht ähneln sich Marc Aurel und Augustin ungemein, obwohl letzterer hier freilich noch weit exzessiver war.

Die christliche Leibfeindlichkeit hat also wohl ihre Wurzel nicht allein in der Erwartung des nahen Weltendes durch Jesus, wonach Gott unsere Natur in Bälde in eine rein geistige, also auch asexuelle umwandeln würde, sondern auch in einer Leibfeindlichkeit, die ganz andere Wurzeln, nämlich in der hellenistischen Kultur hatte. Hier wäre es interessant, Verbindungen im Denken des Apostels Paulus zur Stoa herauszuarbeiten. Schließlich bewegte Paulus sich ja sein Leben lang im geistigen und kulturellen Raum des Hellenismus.

Aufgrund dieser Leibfeindlichkeit ist es nicht leicht, so denke ich, aus der stoischen und christlichen Tradition Impulse in die Zukunft zu retten. Allerdings gibt es da sehr viel, was unbedingt zu retten wäre, freilich müssen diese Elemente traditioneller Denkfiguren erst in einem strengen Purgatorium gereinigt werden, damit sie fruchtbar werden können. Ich vermute auch, dass die Leibfeindlichkeit auch mit der Wahrnehmung zu tun hat, dass wir in unserer Leiblichkeit in enger Verwandtschaft mit den Tieren stehen, was für ein unaufgeklärtes menschliches Selbstbewusstsein zunächst schockierend wirken kann. Im Alten Testament ist dies noch unbekannt, sondern die Leiblichkeit wird als wunderbares Geschenk Gottes genommen und genossen.

Selbst denke ich freilich, dass die Leibfeindlichkeit ebenso der Stoa wie des Christentums zu den stärksten Ursachen dafür zählt, dass beide ihre Ziele bis heute im Wesentlichen und weitgehend noch nicht erreicht haben, selbst wenn der Fortschritt seit 2000 Jahren unverkennbar ist: Die Vermenschlichung des Menschen steht im Wesentlichen noch aus. Sie ist nicht gegen unsere Natur zu erreichen, sondern nur im Einklang mit unserer Natur und unserem innersten Wesen.
Ein wesentliches Merkmal menschlicher Natur ist es, so denke ich, dass sie kultiviert werden kann, indem unsere animalische Natur lernt, ihre Ziele besser zu erreichen, wenn sie sich auf unser inneres Wesen einlässt. Unser innerstes Wesen aber ist die Liebe. Nur in dem Maße, wie wir sie in uns wirksam werden lassen, werden wir menschlich, wirkliche Menschen, mit uns selbst im Einklang, können ein glückliches und erfülltes Leben finden: Ein evolutionärer Prozess, in dem unser inneres Wesen unsere animalische Natur kultiviert. Liebe ist jedoch nur Liebe, wenn sie frei und spontan von Herzen kommt. Durch Willensanstrengungen welcher Art auch immer ist sie nicht hervorzurufen. Im traditionellen Christentum wie in der Stoa stehen Willensanstrengungen, sei es zur Befolgung der Gebote Gottes oder der Vernunft, jedoch in der Praxis seit je im Mittelpunkt, wodurch aus meiner Sicht statt Liebe nur ein pathologischer Krampf entstehen kann. Liebe wird nur durch Liebe hervorgerufen. Wo wir sie nicht im Verhalten unter uns Menschen finden, können wir sie nur in der Versenkung in uns selbst in Meditation und Gebet finden, in unserem innersten Wesen, für den Gläubigen also in Gott. Dieser Weg in unser innerstes Wesen ist für mich ein allen Menschen zugänglicher Erfahrungsweg, für den es nicht nötig ist, an Gott zu glauben, es kann jedoch hilfreich sein. Allerdings eher, wenn dieser Glaube an Gott nicht so sehr im Für-Wahr-Halten von auf der rationalen Ebene angesiedelten Glaubenssätzen über Gott besteht, als vielmehr in dem vorrationalen Vertrauen, dass der Urgrund des Seins, ob wir ihn nun Gott nennen oder wie auch immer, uns tragen wird, wenn wir uns auf die Liebe einlassen, die aus ihm strömen will.
Copyright: Wilhelm Lotze, Berlin

111 Tugenden und Laster. Eine philosophische Revue

Ein philosophisches Buch zum Weiter – Denken. Ein Begleiter für das ganze Jahr:

Martin Seel, „111 Tugenden und 111 Laster“.
Eine philosophische Revue.

Aus der großen Fülle philosophischer Einführungen ragt jetzt ein Buch ganz wunderbar hervor: Der in Frankfurt/M. lehrende Philosoph Martin Seel, einigen schon bekannt, etwa durch seine Studien „Paradoxien der Erfüllung“, hat nun ein neues Buch vorgelegt, das alle interessieren, ja begeistern kann (im Sinne von inspirieren), die auf dem Weg des kritischen Reflektierens sind. Und das sollten und könnten ja alle Menschen sein….
Dass Martin Seel sein Buch durchaus auch unterhaltsam meint, zeigt schon der Untertitel an: „Eine philosophische Revue“. Tatsächlich präsentiert er in seiner Revue in 111 kürzeren oder längeren „Auftritten“ (Kapiteln) 111 Tugenden, also für den Menschen positive Lebenseinstellungen bzw. „Dispositionen“ (wie Mitgefühl, Besonnenheit) und dazwischen gemischt, aber doch inhaltlich verbunden, Laster bzw. Untugenden (wie Aberglaube, Fanatismus).
Der Clou dieser positiv wie negativ besetzten Revue ist, dass alle Werte und alle Tugenden auch – ohne die vernünftige Mitte gelebt – in Untugenden umkippen können, aus Mut kann schnell „Übermut, Tollkühnheit, Draufgängertum werden“, (S. 179). Ebenso haben Untugenden und Laster auch positive Aspekte. Mit einer Ausnahme meint Martin Seel: Im Laster der Grausamkeit gibt es keinerlei noch positiv zu verstehenden Entwicklungslinien. Auf die Ambivalenz aller anderen Tugenden und Laster hingewiesen zu werden, bringt den Leser, die Leserin, sehr zu recht ins Schleudern und dann ins weitere Nachdenken, das zu einem Neu – Verständnis führen kann. So ist etwa die Faulheit (Seite 69ff) sicher eine milde Form des Lasters: „Faulheit kann aber ein Mangel an Selbstsorge sein“, andererseits kann sie auch den „ausgelassenen Genuss des Daseins“ signalisieren. Faulheit kann ein Mittel sein, sich vom destruktiven Zwang der Selbststeigerung zu befreien, wie es schon Theodor W. Adorno (S. 71) andeutete. Faulheit als Müßiggang verstanden kann sogar „aller Liebe Anfang“ sein, schreibt Martin Seel (ebd).
Wer an der Revue teilgenommen hat oder immer wieder beinahe beliebig wieder einsteigt, kann dann auf gut 40 Seiten sozusagen die innere Struktur der einzelnen Auftritte erkunden, also in das innere Leben der Tugenden hineinschauen, so, wie es Philosophen in der langen Geschichte gedeutet haben. Diese Seiten, etwas anspruchsvoller, handeln etwa von den Kardinaltugenden, das sind ja nicht jene, die etwa katholische Kardinäle haben (sollten), sondern die von lateinischen Worte CARDO herstammen und die alles entscheidenden Angelpunkte meinen, also in dem Falle unentbehrliche Tugenden, ohne die ein menschliches Leben kein menschliches Leben ist (Weisheit, Besonnenheit, Mut und Gerechtigkeit). Außerdem zeigt Martin Seel sehr schön, dass kein Mensch alle Tugenden in seiner Person vereint leben kann, ja, dass kein Mensch also „nur“ tugendhaft sein kann. Immer gibt es im Einzelleben diese Melange aus Tugend und Laster, natürlich auch bei den so genannten Heiligen der Kirche, wobei den Frommen stets von offizieller Seite vorenthalten wird, wo denn die Laster dieses Heiligen waren. Erst Journalisten kümmern sich darum und weisen etwa auf die Scharlatanerie des heiligen Pater Pio (Süditalien) hin, aber dies nur als Beispiel des Rezensenten.
Insgesamt empfehlen wir nachdrücklich das neue Buch von Martin Seel, es kann hoffentlich einen Durchbruch bewirken im Verstehen, dass Philosophie populär ist und dass dieses Thema nicht von einem ständig in allen Medien herum gereichten Star reserviert sein kann.
Hoffentlich kann man bald die 10. usw. Auflage dieses Buches melden und eine Herausgabe als sehr preiswertes Taschenbuch!
Copyright: christian modehn, religionsphilosophischer Salon.
Martin Seel, „111 Tugenden und 111 Laster“.
Eine philosophische Revue. S. fischer verlag 2011, 285 Seiten.18,95 Euro

WDR 5 brachte am 13.1.2012 ein Gespräch mit Martin Seel:

Und wozu Denken in dürftiger Zeit: Wie kann Vernunft in der gegenwärtigen Welt wirksam werden?

Und wozu Denken in dürftiger Zeit:

Wie kann Vernunft in der gegenwärtigen Welt wirksam werden?

Ein Impuls – Referat von Prof. Petra von Morstein anlässlich des Welttages der Philosophie 2011

Mein Ausgangspunkt ist: Wir befinden uns auf diesem Globus in einer Krise. Und wir wissen mehr oder weniger, was deren Inhalt ist. In einer Krise sind die Denksysteme und die Formen zu leben zutiefst erschüttert. Wir werden dann auf uns zurückgeworfen und wollen uns neu orientieren. D.h. wir sind uns selbst ganz akut zum Problem geworden. Das hat nun damit zu tun, dass wir als Personen des Selbstbewusstseins fähig sind, ganz im wörtlichen Sinne. D.h. wir sind fähig, uns selbst zum Gegenstand unseres Bewusstseins zu machen und darüber zu reflektieren, wie wir in der Welt leben und leben wollen. Und diese Reflexion wird überwältigend notwendig, wenn wir in einer Krise desorientiert sind. Das hat auch in der Philosophiegeschichte einen ganz prägnanten Hintergrund: Descartes ist z.B. ein Philosoph, der in einer ganz anderen Art von Krise, nämlich der Krise, die die kopernikanische Revolution verursacht hat, ganz von vorne anfängt zu denken, alle bisherigen Voraussetzungen für nichtig erklärte und von Grund auf neu zu denken anfängt. Dieses „neu denken“ will ich hier fokussieren.

Neu-Denken ist deshalb möglich, weil eine Person, also im Prinzip jeder Mensch, zugleich Subjekt und Objekt ist. Das bedeutet nicht: Wir sind  zwei verschiedene Dinge, sondern wir sind eine Einheit, die einen subjektiven und einen objektiven Aspekt hat. Als Subjekt sind wir imstande, neu zu beginnen, willentlich etwas ganz Neues zu tun. Deswegen weist die Philosophin Hannah Arendt sehr deutlich darauf hin, dass wir mit unserer „Gebürtlichkeit“, mit der Tatsache, dass wir geboren werden, neues Potential in die Welt bringen; dass wir damit die Möglichkeit von Weltveränderung in die Welt bringen, wenn wir denn zu denken anfangen. Ein Mensch fängt zu denken an, wenn er sich seiner selbst bewusst wird.

Mir meiner selbst bewusst werden, bedeutet ja, dass ich mir, in meiner Welt , in meinem Verhältnis zu meiner Welt, meiner selbst bewusst werde. Da kann ich auf den Philosophen Kierkegaard verweisen, der davon spricht, dass der Mensch Geist ist.  Das ist nichts etwas Abstraktes.  Vielmehr bedeutet es ganz konkret: Der Mensch findet sich unmittelbar in einer Lebenswelt, wir finden uns IN der Welt. D.h. wir be-finden uns in einem Verhältnis zur Wirklichkeit, wie sie uns umgibt, zu der  kulturellen, der physischen, der klimatischen, zur historischen Wirklichkeit. Über dieses Verhältnis, in dem wir uns finden, können wir nachdenken, d.h. wir können fragen: Wie verhalte ich mich in meiner schöpferischen Subjektivität als Ich authentisch zu dem Verhältnis, in dem ich mich in der Welt befinde. Will ich es so? Will ich es anders? Als Subjekt bin  ich schöpferisch, und kann gestalten, wie ich mit dem, was der Fall ist, lebe. Geist besteht also im Nachdenken über mich in meiner Lebenswelt und der schöpferischen Gestaltung meines Verhältnisses zu meiner Lebenswelt. Gestaltung impliziert Handeln, Ausübung meines ‚gebürtlichen’ Potentials. Sie sehen schon, dass Denken und Handeln eng verbunden sind.

Ich reflektiere also über mein Verhalten,  über mein Denken, über mein Handeln, über mein Fühlen in der Welt. Das heißt, dass ich nach Selbsterkenntnis strebe, wobei aber Selbsterkenntnis zugleich und unabtrennbar auch Wirklichkeitserkenntnis bedeutet, da ich mich ja erkennen will als jemand, der sich schon immer unmittelbar verhält zur Wirklichkeit. Mein aktualer Lebensbereich hat keine festen (raum-zeitlichen und begrifflichen) Grenzen, er hat vielmehr einen Horizont, der schwinden  oder wachsen kann, der unbestimmbar ist. Sein Schwinden und Wachsen hat zu tun mit mir als Geist im eben besprochenen Sinne, mit meiner reflektierenden und handelnden Gestaltung meines Lebens mit dem was, der Fall ist.

Wenn ich derart denke, dann bedeutet das ja, dass ich mich in der Welt verstehen will. Das gilt für jede Person. Wir alle leben in gewissen Sinne in derselben Welt und jeweils im Zentrum verschiedener konzentrischer Kreise, die in einander übergehen wie Wellen auf dem See, wenn Regentropfen darauf fallen,  und  jeder Tropfen verursacht konzentrische Kreise und  die konzentrischen Kreise erweitern, vernetzen sich, verschmelzen sozusagen in einander.

Wenn ich derart denke, denke ich über etwas nach, was ich noch gar nicht verstehe. Das ist besonders akut in Krisenzeiten, also gerade auch in unserer Zeit   –  und natürlich  in persönlichen Krisen, z. B. wenn man von einer schlimmen Krankheit befallen wird oder wenn ein geliebter Mensch stirbt. Es sind Krisen, die einen ontologischen Schock, einen Schock in der Seinsweise von Menschen, verursachen. Und dann ist es ganz wichtig, zu denken anzufangen, weil ich verstehen will, wie ich jetzt lebe und was die Welt, mein Leben in der Welt im Innersten zusammenhält.

Das Denken ist etwas, das keinen endgültigen Schluss anvisieren kann, sondern es ist ein Lebensvorgang. Ich verweise noch mal auf Hannah Arendt, denn sie hat emphatisch immer wieder betont, dass es ihr ums Verstehen-Wollen geht, mit allem Nachdruck auf dem Wollen. Das erfordert aber auch eine gewisse Demut. Denn ich kann nicht damit rechnen, dass ich zu einem endgültigen oder auch nur lange gültigen Verständnis komme. Sondern dass das Verstehen, das Denken im Leben, ein immer wieder zu erneuernder Vorgang ist, der nicht aufhört und der keinen definitiven Anfang und kein definitives Ende hat.

Infolge dessen will ich betonen, dass das Subjektsein in jeder Person auch etwas Mysteriöses ist; es gibt natürlich objektive Identitätskriterien in Bezug auf unsere raumzeitlichen Koordinaten, genetischen Faktoren, etc. Aber in Bezug auf das Subjektsein und der Fähigkeit etwas Neues zu beginnen, sozusagen aus der Kausalkette auszubrechen, gilt: Diese Fähigkeit beruht in unserem Subjektsein.

Jetzt möchte ich einen logischen Punkt zu bedenken geben, was mein Subjektsein angeht und was Ihr Subjektsein angeht: In dieser Hinsicht und nur in dieser Hinsicht sind wir nicht objektiv voneinander zu unterscheiden. Das Subjektive ist nicht objektivierbar. Das heißt aber nicht, wir sind in dieser Hinsicht genau dieselben. Vielmehr sind wir im Subjektsein untrennbar miteinander verbunden, so dass jeder einzelne Mensch dieses Subjektsein, in dem wir miteinander verbunden sind, auf jeweils einzige, nicht zu verallgemeinernde Weise manifestiert. Das bedeutet, dass jede Person zugleich aus Einzigkeit,  aus völliger Unverallgemeinerbarkeit, Singularität einerseits und Pluralität, Gemeinschaft,  andererseits besteht. Also eine Person ist singulär, einzig und gemeinschaftsfähig. Das „und“ betone ich.

Innerhalb dieser conditio humana, innerhalb dieser Gegebenheit,  findet das Denken statt. D.h. ich denke immer mit vom Subjekt her und denke nie nur das rein von mir getrennte,  empfindungslose Objektive. Diese Art des Denkens setzt voraus, dass wir das Subjektsein in uns wahr-nehmen und wahr-haben und nicht verneinen, nicht verstecken.

Es gibt aber viele Tendenzen von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts bis in unsere jetzige Zeit in verschiedenen Strömungen, wo das Denken, das vernünftige Denken, ganz sachlich, kühl, empfindungslos war, nur regelgebunden und logisch sein sollte.

Mit diesen Überlegungen will ich nun im Hinblick auf die Tatsache, dass wir Vernunftwesen sind, vier Arten von Denken unterscheiden. Ich skizziere im Folgenden vier Arten (der Ausübung) von Vernunft:

1.   Die erste Art ist die reine, nur auf den logischen Gesetzen der Kohärenz basierende Vernunft. Sie wissen von Kants berühmtem Werk Die Kritik der reinen Vernunft. Da kritisiert er die reine Vernunft, –  nicht, indem er sie verwirft, sondern indem er sie für allenfalls spekulativ hält, d.h. für unfähig, Erfahrung in irgendeinem Sinne verständlich zu machen. Also die reine  Vernunft sagt nichts aus über unser Leben in der Welt, über uns selbst und über Wirklichkeit.

2.   Zweitens vollzieht sich Vernunft nach Regeln, so, dass die Regeln abgeleitet sind von unleugbaren Tatsachen, die Erfahrung betreffen, d.h. von grundlegenden Erfahrungsmustern. Damit meine ich: Obwohl wir immer als Subjekt gegenwärtig sind, sind wir imstande, zwischen wahr und falsch innerhalb unseres Subjekt – und Objektseins zu unterscheiden. Das Wichtige ist, dass diese Vernunft, deren Regeln logisch von Erfahrungen, von Grunderfahrungsmustern, abgeleitet sind, das Subjektsein in uns allen einbezieht. Doch das einzelne Subjekt kann diese Art von Vernunft nicht in Betracht ziehen. Auch sie kann deshalb keine vollständigen Ergebnisse erlangen.

3.   Drittens gibt es Vernunft, die ganz auf bestimmte definitive Zwecke hin fokussiert ist, etwa auf den Zweck wirtschaftlichen Wachstums, auf den Zweck beherrschender Macht, wo eine Gruppe von Menschen unterworfen und beherrscht werden soll. Dies ist die ganz zweckgebundene Vernunft, die in unserer gegenwärtigen Gesellschaft sehr weit verbreitet und vorherrschend ist. Und das ist eine empfindungslose, rein an objektive Zwecke gebundene Vernunft, derart, dass diese Zwecke von dem gemeinschaftlichen Lebens- und Erfahrungskontext von Menschen und der Mitmenschlichkeit getrennt sind und nur dem Individuum als definitivem Objekt dienlich sein können. Es ist also eine Vernunft, die moralisch nicht viel bringen kann.

4.   Viertens geht es um die Vernunft, die ausgeübt wird im Erleben und untrennbar ist vom Erleben und Erfahrung. Das bedeutet, jedes Erleben, jede Erfahrung, die wir aktual machen, ist unablösbar verbunden mit Empfindung, mit Wahrnehmung mit emotionalen Empfindungen. Es gibt keine Erfahrung, die nicht eine Gefühlskomponente unablösbar mit sich führt, so dass die Vernunft im Denken diese Empfindung immer mitnehmen muss. Daraus folgt, dass die vierte Art der Vernunft nie nur durch Regeln erschöpft werden kann. Diese Vernunft nenne ich empfindungsträchtig, erfahrungsträchtig. Ich nenne sie auch leidempfindlich, weil Leidempfindungen besonders in Krisenzeiten häufig und unvermeidlich sind, so wie Desorientierung, Nichtweiterwissen, Nichtverstehen.

Diese vierte Vernunft muss also not-wendig ihre regelgebundenen Grenzen überschreiten. Sie ist daher mitmenschliche Vernunft, die sich u.a. am undeterminierbaren Subjektsein aller Personen orientiert und somit das Einzige und Singuläre eines jeden Erlebens mit ein- bezieht. Wenn ich mit der empfindungsträchtigen Vernunft über etwas, was Sie mir aus Ihrem Leben erzähle, nachzudenken beginne, dann denke ich aus dem Subjektsein heraus, was uns alle verbindet und versuche mich hineinzudenken in den Raum Ihrer singulären Erlebens und sozusagen darin mit ihnen herumzugehen, um gemeinsam mit Ihnen für Sie lebbare Perspektiven zu entwickeln.

Das heißt aber auch, dass diese Vernunft kohärent sein muss, Plausibilität erzielen muss, einsehbare Zusammenhänge erbringen muss, aber dies kann nie nur nach Regeln geschehen, sondern es muss immer das Element der Intuition aktiv sein. Das ist mir wichtig zu betonen, denn das ist die eigentliche mitmenschliche Vernunft, und es ist genau diese Vernunft, die für einige Philosophen, etwa Spinoza, Nietzsche, Hannah Arendt auf ganz verschiedene Weise die eigentliche politische Vernunft ist. Hannah Arendt bringt das ganz deutlich heraus, indem sie sagt, dass diese Art des Denkens auf dem Grund und Boden lebt, der selbst keinen Grund mehr hat, und dies ist unsere Freiheit, unsere Fähigkeit zum Neubeginn.

Das in uns allen gegebene Subjektsein ist der Ort der menschlichen Freiheit. Freiheit ist also im Mitsein – und nicht im durch Zwecke objektivierten und gefangenen Individuum. Daraus folgt, dass Freiheit und Gerechtigkeit von Grund auf zusammengehören. Also ist die empfindungsträchtige Vernunft die, wenn sie denn idealerweise von allen ausgeübt würde, die auch in Krisen hilfreich ist, denn wer sich an sie hält, könnte sogar Kriege vermeiden helfen.

Wir sollten die Vernunft nicht nur retten, sondern auch darauf bestehen, dass sie unbedingt notwendig ist. Dabei ist immer zu erinnern: Das regelgebundene Denken ist notwendig, um an die Grenzen eben dieses regelgebundenen Denkens zu gelangen, diese zu überschreiten und gewahr zu werden, was darüber hinaus in der Realität konstitutiv ist, so dass wir auf den Grund kommen, auf dem wir eigentlich schon immer stehen. Es ist der Grund der Freiheit und damit der Gerechtigkeit.

(Gesprochener Text, transskribiert und korrigiert)

© Petra von Morstein, Dezember 2011