Erinnerung an Michel de Certeau, geboren am 17. Mai 1925
Michel de Certeau (17.5.1925 bis 9.1.1986) war ein französischer Jesuit, und dabei vor allem aber ein selbständiger, vielseitig hoch begabter Intellektueller, ein Soziologe, Philosoph, Historiker… Solche katholischen Intellektuellen gibt es heute nicht mehr. Der europäische Katholizismus ist heute bekanntermaßen intellektuell eher verödet, wenn man an Gestalten wie de Certeau vergleichsweise denkt. Für intellektuelle Lebendigkeit fehlt heute die Freiheit, die Ermunterung, selbstständig und ungeschützt zu denken und Störendes zu sagen im Katholizismus. In Deutschland etwa bestimmen Gestalten wie Manfred Lütz und Martin Mosebach die angeblich intellektuelle katholische Szene. Wer kennt noch einen öffentlich auftretenden, mutigen katholischen deutschen Theologen oder gar einen französischen? Hans Küng wurde gerade 90…. Was für eine Armut sonst…
Pater Michel de Certeau SJ war nicht konform, nicht ängstlich vor Autoritäten. Nur so konnte sein bis heute aktuelles Werk entstehen.
Daran wird in Deutschland auch heute eher nur marginal erinnert. Ulrich Engel hat einige Seiten seiner Studie „Politische Theologie nach der Postmoderne“ dem französischen Jesuiten gewidmet. Interessant ist, dass der Jesuit Papst Franziskus offenbar de Certeau kennt und schätzt.
Nun ist es Zeit, in diesen Erinnerungs“wogen“ an den Mai 68 auch in diesem Zusammenhang an Michel de Certeau zu erinnern. Man kann in der ausgezeichneten, leider in Deutschland fast ganz ignorierten Studie „à la Gauche du christ“ (Seuil, Paris, 2012) lesen, dass de Certeau die Ereignisse des Mai 68 unmittelbar im Geschehen, mitten im Ereignis, deutete: Aber er war – anders als der sehr revolutionär gesinnte Dominikaner Jean Cardonnel damals – „gegen den politischen Gebrauch der Theologie“ (S. 320). Certeau war nüchterner: Er sah analytisch in den Ereignissen Mai 68 das Entstehen einer neuen Kultur und das Abschiednehmen von der alten Sprache und ihrer abgenutzten Formeln und Floskeln.
Certeau sieht in der Sprache der Mystik die einzige Rettung für die vielen Christen, die seit dem außerhalb der Kirche leben. Was den Mai 68 betrifft: „ Certeau erkennt in der Erhebung (Mai 68) den Ausdruck von Erfahrungen, die bis dahin verborgen waren, d.h. unbewusst waren, aufgrund einer Sprache, die diesen Erfahrungen keine Geltung bot“ (S. 321) „Nichts kann nach dem Mai 68 so sein wie vorher“ (322). Diese Prognose mag übertrieben sein, angesichts der theologischen Eiszeiten, die durch die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. betrieben wurden. Aber das Paradoxe aus heutiger Sicht ist: Certeau konnte seine Aufsätze damals, alles andere als bequem in einem traditionell katholischen Milieu, doch in Pariser Jesuitenzeitschriften veröffentlichen, in den „Etudes“ etwa.
Empfehlenswert in unserem Zusammenhang sind die beiden Taschenbücher von Michel de Certeau: “La faiblesse de croire” (Essais, ed. du Seuil) mit einem wichtigen Vorwort der Certeau Kennerin Luce Girard und: “La Prise de parole”, (Essais, ed.du seuil, Paris). Beide Bücher kosten jeweils weniger als 10 Euro.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin