Ludwig Wittgenstein: Ein religiöser Philosoph?

Ludwig Wittgenstein, war er religiös? Ein Hinweis von Christian Modehn anläßlich von Wittgensteins Geburtstag am 24. April 1889.

Diese Frage zu stellen, ist naheliegend und geboten, wenn man in der Werkausgabe Band 8 “Über Gewissheit” die Notizen zum Glauben, zur Gestalt Christi und zur Lebensform des Religiösen liest. Sie sind in dem Kapitel “Vermischte Bemerkungen” zu finden, in der Suhrkamp Ausgabe (2015) Seite 445 -573.

Diese Frage wird zudem unterstützt durch die Hinweise von Dieter Henrich in seinem hoch interessanten Buch “Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten” (C.H.Beck Vl, 2011), Seite 45 ff. Dort zitiert Henrich Ludwig Wittgenstein, dass er “jedes Problem von einem religiösen Gesichtspunkt aus ansehe”. Zu dieser Einsicht sei Wittgenstein durch ein “Volkstheaterstück”  von Ludwig Anzengruber gekommen (“Die Kreuzelschreiber”). Darin sagt sich die Hauptfigur, auch angesichts des Behütetseins durch die Sonne: “Es kann dir nix geschehen“. “Ob gestorben oder genesen”, sagt sich die Hauptfigur, dass er “zu dem alln gehört, was ihm vor Augen liegt, und dös alls ghört zu dir”.

Diese Frage nach dem religiösen Denker Wittgenstein ist ungewöhnlich nur für jene, die Wittgenstein mit dem “Tractatus” identifizieren, aber das sind eher wenige.

Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951): Ein religiöser, vielleicht ein christlicher Philosoph? Diese Frage kann man sich und muss sich wohl stellen, wenn etwa die Texte in dem Band „Über Gewissheit“ und dort die Notizen aus dem Nachlass unter dem Titel „Vermischte Bemerkungen“ von 1929 bis zum Todesjahr 1951 liest.

Es ist vielleicht noch erstaunlicher, Ludwig Wittgenstein auch im Zusammenhang des Themas „Auferstehung Jesu von Toten“ zu nennen, vor allem für jene, die ihn nur als den Logiker kennen, den Autor des schwierigen „Tractatus logico-philosophicus“ von 1916.

Aber Wittgenstein hat die Grenzen der logischen Positivisten früh erkannt. Er wusste: Die wissenschaftliche Weltanschauung lässt „die eigentlichen Fragen“, wie er sagt, ungelöst.

Zu unserem Thema Auferstehung findet man die besten Hinweise in dem genannten Buch Wittgensteins „Über Gewissheit“, Werkausgabe Band 8, Suhrkamp, und dort die Abteilung „Vermischte Bemerkungen“.

Mehrfach und immer wieder gibt es in dem Kapitel „Vermischte Bemerkungen“ Hinweise zum Glauben und Christentum.

Ich will hier nur eine Hauptstruktur seines Gedankens nachzeichnen:

Der Glaube ist für Wittgenstein eine eigene Welt. Glauben ist nicht beweisbar. „Glauben ist für ihn eine Art Intuition“, schreibt einer der Wittgenstein-Interpreten, Karl Nähr. Glaube ist eine Intuition, die zu einer Grundeinstellung im Leben führt, die mein Verhalten bestimmt. Glaube ist eine praktische (!) Entscheiddung für ein Bezugssystem, für eine Grundeinstellung. Siehe Karl Nähr: http://sammelpunkt.philo.at:8080/1669/1/naehr.pdf

„Der Glaube ist etwas, was mein Herz, meine Seele braucht“, so in dem längeren Text Wittgensteins zur Auferstehung aus dem Jahre 1937, Seite 495 f. in dem genannten Band 8. „Das Christentum ist keine Lehre, keine Theorie, was mit der Seele geschehen ist und geschehen wird, sondern eine Beschreibung eines tatsächlichen Vorgangs im Leben des Menschen. …. Die Erlösung durch den Glauben ist ein tatsächlicher Vorgang“. Vorgang: das meint wohl, eine innere Bewegtheit, die den praktischen Lebensvollzug bestimmt. Religion als Lebensvollzug, der stark von einer Entscheidung abhängt und nicht eine Folge logischer und philosophischer Überlegungen ist. Da spielt seine Hochachtung vor Kierkegaard hinein. Die Religion sagt: „Tu dies! Denk so! Aber die Religion kann dies nicht begründen…“ S. 491.

„Das Christentum sagt: Jetzt glaube. Verhalte dich zur Nachricht des Glaubens NICHT wie zu einer historischen Nachricht. Lass diese Nachricht eine ganz andere Stelle in deinem Leben einnehmen”. S. 494

„Der historische Beweis geht den Glauben nichts an.“ Die Evangelien werden glaubend d.h. liebend ergriffen“… “Das ist die Sicherheit dieses Fürwahrhaltens, nicht Anderes”. S 495.

Der Kern seiner etwas ausführlicheren Notiz zum Auferstehungsglauben ist (S. 496): “Weisheit und Spekulation helfen beim Thema Auferstehung nicht weiter”. “Ich brauche Gewissheit, und diese Gewissheit ist der Glaube”.  „Nur die Liebe kann die Auferstehung glauben. Oder: Es ist die Liebe, was die Auferstehung glaubt. Man könnte auch sagen: Die erlösende Liebe glaubt auch an die Auferstehung…“

Copyright: christian modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Für ein modernes Völkerrecht: Der Niederländer Hugo Grotius, geboren am 10.4.1583

In unserer Reihe “Eckige Gedenktage” erinnern wir am 10.April an den Geburtstag des niederländischen Juristen und Philosophen Hugo de Groot, auf Deutsch Hugo Grotius, geboren 1583 in Delft. Zudem war er ein Freund der auf Toleranz setzenden Remonstranten-Kirche in Holland. Grotius gilt als einer der “Väter” des modernen Völkerrechts. Er ist am 28.8.1645 in Rostock (!) gestorben.

Wenn Historiker und Theologen heute wie früher über „Toleranzdiskurse in der frühen Neuzeit“ (so ein neues Buch hg. von Friedrich Vollhardt, erschienen 2015) sprechen und über Duldung religiöser Pluralität, „dann ist es auffällig, dass die großen Vordenker der Toleranz intensive Kontakte zu den Remonstranten in Holland gepflegt haben“, schreibt Professor Yves Bizeul (Rostock) in seinem Beitrag über den Philosophen Pierre Bayle. Dass sich nach all den Kriegen und Religionskämpfen die Toleranz-Idee immer mehr dann doch durchsetzte, hat verschiedene Gründe; ein entscheidender Grund ist, dass sich der „liberale Flügel des Protestantismus“ in Holland, also die Remonstranten, als starke intellektuelle christliche wie humanistische Kraft erweisen konnte. Yves Bizeul erwähnt den großen Hugo Grotius, „er stand den Remonstranten nahe“, Bizeul nennt weiter Spinoza, auch Locke „der lange Gespräche führte mit dem Remonstranten Philippe von Limborch; erwähnt wird auch, dass Pierre Bayle befreundet war mit dem Remonstranten Adrian de Paets.. (Vgl. in dem genannten Buch die Seiten 205 f.)

Es gab also schon der Mitte des 17. Jahrhunderts – in Holland – eine unter kritischen Intellektuellen angesehene (kleine) protestantische Kirche, die auch humanistische Ideale als die eigenen verstand. Über die Entwicklung einer theologisch – engen lutherischen Orthodoxie im 17. Jahrhundert ist viel geklagt worden. Es wäre wohl hilfreich zu erinnern, dass es einmal ein protestantisch-humanistisches Christentum der Toleranz gab und auch heute noch in der Remonstranten Kirche gibt. Dies wäre auch ein Thema der Reformationsfeierlichkeiten 2017. Humanismus und Protestantismus!

Nebenbei: Es gibt gelegentlich gemeinsame Veranstaltung der „Jungen Mitglieder des Niederländischen Humanistischen Verbandes NL“ und der „Jungen Remonstranten“. Eine Mitarbeiterin des neuen theologischen Instituts der Remonstranten an der „Vrije Universiteit van Amsterdam“, Christa Anbeek, hat etliche Jahre an der „Humanistischen Universität“ von Utrecht als Dozentin gearbeitet.

copyright: Christian Modehn

 

Modern im Mittelalter: Thomas von Aquin, gestorben am 7. März 1274

Modern im Mittelalter: Thomas von Aquin, gestorben am 7. März 1274

Er wurde im 19. Jahrhundert der “doctor angelicus”, also der “engelgleiche” Theologe und Philosoph genannt. Der Dominikanermönch Thomas von Aquin, gestorben am 7. März 1274, geboren 1224 oder 1225 in der Nähe der Stadt Aquino. Im Mittelalter war er modern und deswegen hoch umstritten. Vieles verdankt er den philosophischen Textsammlungen des Aristoteles. Sie stellten muslimische Philosophen (etwa Ibn Ruschd bzw. Averroes) in Europa, vor allem in Andalusien, zur Verfügung. Eine kulturelle Leistung muslimischer Wissenschaftler, für die Europa höchst dankbar sein sollte. Fast das gesamte Werk des Aristoteles wurde zuerst in arabischer Sprache nach Europa gebracht! Und durch diese Aristoteles-Rezeption wurde Thomas von Aquin zu einem damals modernen Philosophen und Theologen. Denn die weltliche Wirklichkeit  in ihrer ganzen Fülle und Vielfalt sollte vernünftig erforscht werden, das ist seine Grundhaltung;  die bis dahin übliche neuplatonische Einstellung, die in allem Weltlichen sofort die Symbolik des Göttlichen spürte, wurde überwunden. Das Argument galt, die Vernunft, der Glaube sollte nicht total die Erkenntnis bestimmen. Und dadurch machte sich Thomas von Aquin viele Gegner. Die übliche Angst ging um, die Klarheit der Vernunft und des Argumentes vernichte den (neuplatonisch gedeuteten) Glauben. Thomas von Aquin hat Licht ins Mittelalter gebracht!

Spätestens seit dem 18. Jahrhundert setzte sich seine Lehre als DIE katholische Theologie (und vom Papst einzig erlaubte Philosophie) durch. Seine Leistungen in der Aristoteles-Rezeption und sein Bemühen, ein “System” der katholischen Lehre zu schaffen, bleiben bedeutend wie umstritten. Aus dem offenen Denken des Thomas von Aquin wurde eine starre Lehre gemacht, die sich in Handbüchern als Neothomismus präsentierte. Der Schaden, den dieses totalitäre, engstirnige Denken anrichtete, ist innerhalb der Kirche enorm, Ketzerprozesse, Abwehr der Menschenrechte durch die Päpste usw. gehören dazu…Erst vor ca. 50 Jahren war es möglich, dass sich katholische Theologen und katholische Philosophen aus dem erstarrten Denken des “Neo-Thomismus” befreiten.

Aber die Vorstellungen einer machtvoll herrschenden Kletrus-Hierarchie, ein Gedanke des Thomas, sind bis heute gültig. Auch die Vorstellung, dass das “höchste Sein” Gott selbst ist oder die Lehre, dass sich Gott “beweisen” lässt, sind immer noch lebendige Ideen des Thomas von Aquin, des Heiligen. Aber wenn heute in der katholischen Ethik die Überzeugung gilt, dass Moral aus der autonomen Vernunft begründet werden muss und nicht als unmittelbares Nachsprechen biblischer Weisungen möglich ist, dann ist das eine ferne Wirkung des Thomas von Aquin: Für ihn war – grundsätzlich – die Vernunft des Menschen nichts Verdorbenes und Böses, sondern eine der wichtigsten und schönsten Gaben des Schöpfers der Welt.

Interessant ist die Einführung in das Denken des Thomas von Aquin, die der einstige Dominikaner und spätere hervorragende katholische Lutherforscher Otto Hermann Pesch verfasst hat. Sein Buch “Thomas von Aquin. Grenze und Größe mittelalterlicher Theologie” ist im Matthias-Grünewald-Verlag in Mainz 1988 erschienen, es hat 452 Seiten.

 

An (und mit) Montaigne denken: Am 28. Februar

Am 28. Februar 1533 wurde Michel de Montaigne geboren. Gestorben ist er am 13. September 1592. Wohl kaum ein anderer philosophierender Autor, den wir durchaus Philosoph nennen sollen, (denn dieser Titel ist doch nicht Universitäts-Professoren vorbehalten), hat in den letzten Jahren so viel Beachtung gefunden, so viele Leser, die mit Vergnügen seine skeptischen und wahrhaftigen Essais lesen. Und als Inspiration begreifen, das Leben “trotz allem” zu lieben.

Ein Hinweis mit einer Lese-Empfehlung:

Michel de Montaigne: Er lehrt die Menschen „wie sie mit sich selbst sprechen sollen“

Ein Hinweis von Christian Modehn

Eigentlich muss man das Werk Michel de Montaignes nicht mehr empfehlen, er ist jetzt beliebt selbst bei Menschen, die sich sonst schwer tun mit philosophischer Lektüre. Dabei wäre es auch falsch, Montaignes Denken „leicht“ zu finden. Ihm gelingt es, komplexe Lebens-Erfahrungen nachvollziehbar und in angenehmer Sprache zu benennen. Er macht Lust am Selber-Denken. Und er ist in Zeiten der Religionskriege des 16. Jahrhunderts kritisch und selbstkritisch, man lese etwa Essay 56 „Über das Beten“ bzw. über die Verlogenheiten beim Beten und die offiziell erwünschte Frömmigkeit.

Was die Lektüre der Essais, also des Hauptwerkes von Montaigne, so erfreulich macht, ist die man möchte sagen umfassende, nahezu absolute Wahrhaftigkeit des Autors; ist die Tatsache, dass da ein Mensch im Angst-besetzten 16. Jahrhundert sich ganz frei zeigt, „ich“ sagt, eigene Überzeugungen begründet, immer als Beispiel, wie Leben auf dieser verrückten und feindseligen Welt doch noch einen Schimmer des Gutseins und der Hoffnung bewahrt. Man lese seine Empfehlung zum Selbst-Denken: “Worauf ihr zu sinnen habt, ist nicht mehr, dass die Welt von euch spreche, sondern wie ihr MIT EUCH selbst sprechen sollt. Zieht euch in euer Inneres zurück, vorher aber macht alles bereit, euch dort empfangen zu können…“ (Essay 39, Über die Einsamkeit). Und vor allem: “Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten, ganz für uns, ganz ungestört, um aus dieser Abgeschiedenheit unseren wichtigsten Zufluchtsort zu machen, unsere wahre Freistatt…“

Unpolitisch war er nicht, bei aller Liebe zu einer skeptischen Lebenshaltung: Schon als junger Mann hat er sich als Stadtrat von Bordeaux um das Wohl der Bürger gekümmert. Und vor allem kann er darauf verweisen, dass er vier Jahre lang als Bürgermeister von Bordeaux tätig war, zur Zufriedenheit der Bürger übrigen. Allerdings hat er selbst auch negative Erfahrungen gemacht: „Die Gesetze werden oft von Hohlköpfen gemacht und noch öfter von Leuten, die die Gleichheit aller Menschen hassen und dabei ihres Sinnes für die Gerechtigkeit beraubt werden. Diese Gesetzgeber sind windige und wetterwenderische Macher…. Ich finde die Gemeinwesen am gerechtesten, die am wenigsten Ungleichheit zwischen Oben und Unten in der Gesellschaft, sagen wir zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, zulassen“.

Nach wie vor empfehle ich die Übersetzung der Essais durch Hans Stilett, eine großartige Leistung. Zuerst 1998 im Eichborn Verlag 1998 in einer prächtigen Ausgabe erschienen.

Copyright: Christian Modehn

An René Descartes denken: 11. Februar

An René Dscartes denken:

Am 11. Februar 1650 ist René Descartes in Stockholm gestorben, zweifellos einer der wichtigsten Philosophen der Neuzeit, geboren am 31. 3. 1596 in der Touraine. Sein Denken hat die grundlegende “Mentalität” der europäischen Moderne und der “modernen” Menschen grundlegend bestimmt.

Ohne Zweifeln keine Sicherheit im Leben. Ein Hinweis von Christian Modehn. Veröffentlicht am 30.1.2016

Inmitten der Katastrophen des Dreißigjährigen Krieges, der Religionskriege in Frankreich, der gesamt-europäischen Verfolgung von Ketzern als Folge der brutal agierenden Inquisition, also inmitten einer Zeit allgemeiner Angst und Verwirrung, bietet der Philosoph René Descartes einen Vorschlag geradezu als Lebenshilfe: Es ist seine Lehre vom Zweifeln. Sie öffnet einen Weg, inmitten der Katastrophen noch einen letzten vernünftigen Boden der Lebens-Gewissheit für sich als einzelnen zu entdecken. Dies gilt, auch wenn einige seiner Lehren, etwa die Spaltung von Innenwelt und Außenwelt oder seine Einschätzung der Tiere als Gegenstände, heute überwunden werden müssen. Darin werden die Grenzen seines Denkens sichtbar.

Es gilt jedoch: Wahrheit zeigt sich dem einzelnen denkenden Menschen nur, wenn er sich seines eigenen Verstandes selbständig bedient. Die Kraft der Vernunft ist autonom, von keinem Einspruch eines Herrschers abhängig; einzig Gott, so meinte Descartes, garantiert die richtigen Leistungen der Vernunft. Auf den einzelnen kommt es an, zu fragen, zu zweifeln, darin lebt die Form des „klaren Denkens“. So muss sich der einzelne an den vorgegebenen Lehren, Dogmen, Ideologien, an den Propaganda-Sprüchen abarbeiten, um „sicheren Boden“ selbst für sich zu finden.

Philosophie des Zweifelns wird so zur Befreiung von der Macht der Autoritäten und uralten, deswegen oft falschen (weil etwa wissenschaftlichen erwiesenermaßen überholten) Traditionen.

Die religiösen Autoritäten haben genau erkannt, dass ihre Macht und Verfügung über die geistige Orientierung der Menschen durch Descartes stark bedroht wird. Sie fürchteten vor allem Descartes als Lehrer dieser neuen, emanzipatorischen Geisteshaltung. Seit 1653, drei Jahre nach seinem Tod in Stockholm, stehen seine Schriften auf der päpstlich verfügten Liste der Verbotenen Bücher (Index), 1691 folgte das königliche Verbot in Frankreich, seine Lehren an französischen Schulen zu unterrichten. Auch Universitäts-Professoren wird es untersagt, das Denken von Descartes zu verbreiten und zu lehren. Die Jesuiten veröffentlichen 1706 ein Buch, das die Lehre vom „Systematischen Zweifel“ im Sinne Descartes verbietet (Siehe Georges Minois, Geschichte des Atheismus, 2000, Seite 251), Aber diese Verbote verbunden mit der Drangsalierung von Descartes-Forschern, nützten wenig. In der allmählich antiklerikal eingestellten Gesellschaft etwa Frankreichs wurden seine Bücher mit Begeisterung gelesen, populäre Interpretationen wurden verbreitet („L art de vivre heureux selon les principes de M. Mesdcartes“ aus dem Jahr 1667. Oder, man stelle sich das heute vor, es gab spezielle Descartes-Einführungen für die Damen gelehrter Salons, etwa von René Bary. Und Madame de Sévigne, die berühmte Pariser Salonnière, ist voll des Lobes für Descartes.

Descartes ist nur ein Beispiel, wie zuvor schon in Italien, der Zweifel zu einer Art „Habitus Mentis“ wurde, wie Minois schreibt (S. 117), zu einer allgemeinen Geisteshaltung. Dabei war Descartes persönlich eher ängstlich, er wollte die Auseinandersetzungen mit der Inquisition meiden. In seinen Briefen wird seine Persönlichkeit sichtbar. Dem Philosophen Pater Mersenne vertraut er an: “Mein Wunsch in Frieden zu leben, zwingt mich dazu, meine Theorien für mich zu behalten“ (in Minois, Seite 248). D.h. er hat längst nicht „alles“ öffentlich gesagt, was ihm wichtig war. Trotzdem galten seine veröffentlichten Lehren den Herrschern bereits zu Lebzeiten als hoch gefährlich: Der Philosoph Prof. Theodor Ebert (Erlangen) hat in seiner Studie (Der rätselhafte Tod des René Descartes) gezeigt, dass Descartes in Stockholm sehr wahrscheinlich von dem französischen Priester François Viogué aus dem Augustiner-Orden vergiftet wurde, offensichtlich um Descartes „kritischen (antikatholischen) Einfluss“ auf die zum Katholizismus tendierende König Christine definitiv zu beenden.

Jedenfalls hat sich der Katholizismus in seiner Abwehr des Zweifelns (auch als gültige Dimension der Wissenschaften, der Theologien, der Bibel-Deutung usw.) selbst ins Getto der „Ewig-Gestrigen“ begeben und sich von der intellektuellen Debatte weithin verabschiedet. Die Mentalität der „von Feinden belagerten Stadt“, wie der Historiker Jean Delumeau („Angst im Abendland“) treffend sagt, galt im Katholizismus sozusagen noch bis vorgestern. Diese Abwehr von neuen Erkenntnissen zeigt sich heute etwa im rigorosen Nein zur Vielfalt der Formen der Ehe, also auch der Homo-Ehe. Dabei berufen sich die meisten Katholiken und ihre leitenden ehelosen (!) Bischöfe und Prälaten auf einige Verse aus der Bibel und praktizieren so die Methode, die einige fundamentalistische Muslime in ihrer Koran-Interpretation leisten: Wenn im biblischen Buch Genesis steht: „Als Mann und Frau schuf Gott die Menschen“, (Genesis 1, 27) so schließen die Prälaten aus dieser schlichten Tatsachen-Behauptung: Also hat Gott für alle Zeiten nur die EHE von Mann und Frau zugelassen. Solche Schlüsse entbehren jeder Logik, sie sind Ausdruck fundamentalistischer Bibellektüre. Könnte man nicht gleichermaßen den Satz aus Genesis 2, 18 zitieren: „Es ist nicht gut, dass der Mensch (hier ist der Mann gemeint), allein sei“ und folgern: Also ist wegen der göttlichen Abwehr des Alleinseins auch eine Homoehe eben als Überwindung des Alleinseins gottgefällig? Aber lassen wir den fundamentalistischen Wahn: Jedenfalls glauben die frommen und oft theologisch-dumm gehaltenen Massen diese steilen Sprüche ihrer Glaubens-Hüter, sie können und wollen eben nicht zweifeln (!), wie jetzt, anlässlich der Diskussionen und Demonstrationen gegen die „eingetragene Partnerschaft von Homosexuellen“ in Italien. Bisher hat der Vatikan das Gesetz, selbst im katholischen Spanien seit langem üblich, verhindern können. In Italien darf es eben keine Politik ohne den Vatikan geben. Die auch staatliche, gesetzliche Gestaltung der Sexualität ist die letzte eigene „Bastion“, um die die Kirche heute kämpft. Da will sie die alte Übermacht des Geistlichen über das Weltliche (so die Kämpfe seit dem Mittelalter) noch einmal demonstrieren. Langfristig ist dieser Kampf – Gott sei Dank – vergeblich.

Man sieht, wie aktuell Descartes heute sein kann: Der Zweifel als Lebenshaltung wäre gerade heute eine Tugend, sie könnte die Leichtgläubigkeit beenden, das schnelle Urteilen einschränken, das mediale „Immer schon wissen, was genau passiert ist“. Der Zweifel als Haltung auch der Politiker würde Abstand bringen zum Stress, den Propaganda-Sprüche verursachen. Der Zweifel könnte eventuell den Wahn religiöser Fundamentalisten eben zweifelhaft und falsch erscheinen lassen. Aber die Macht derer, die schnelle Sicherheit versprechen, ist so groß, dass die Tugend des Zweifelns wenige Chancen hat, bestimmend zu werden. Gerade in Zeiten, die von übereilten, so wenig kritischen und selbstkritischen Äußerungen zum Thema Flüchtlinge bestimmt sind, wäre Zweifeln sozusagen die „heilige Tugend“ der Menschen. Aber wehrt lehrt das Zweifeln? Sind Schulen und Universitäten Orte des systematischen Zweifelns? Sollten es christliche oder buddhistische oder jüdische und muslimische Gemeinden nicht auch sein, Orte des selbstkritischen Zweifelns?

Aber viele Menschen können das eigene Zweifeln kaum aushalten, weil sie sich lieber selbst an schnelle, falsche Antworten halten als an das geduldige, die Wahrheit erkundende Fragen. Weil sie im Zweifeln also eine Bedrohung ihrer Existenz sehen und nicht wahrnehmen, dass die ganze Kunst des Lebens darin besteht, am angenommenen und gelebten Zweifeln nochmals selbst zu zweifeln. Um dabei zu entdecken, dass der Zweifel eine Dimension und eine Form der Aktualisierung des menschlichen Geistes ist.

Copyright: Christian Modehn

 

An Friedrich Wilhelm Joseph Schelling denken.

An Friedrich Wilhelm Joseph Schelling denken.

Am 27. JANUAR 1775 wurde der große (Religions-) Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in Leonberg geboren, er starb am 20.August 1854 in Bad Ragaz (CH). Er lebte auch in Berlin.

Wir wollen in unserem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon jetzt regelmäßig an Geburtstage oder Todestage von PhilosophInnen oder philosophierenden Literaten, Künstlern, Musikern, Widerstandskämpfern und (religiösen) Dissidenten  erinnern, gerade wenn und weil sie nicht die üblichen, medial überschütteten “runden Gedenktage” haben. Sondern, sagen wir, die eckigen. Und die eckigen Gedenktage sind vielleicht viel inspirierender. CM.

Zur Aktualität des Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854):

“Schelling: Die menschliche Freiheit in der Entstehungsgeschichte der Zeiten”.

Ein Beitrag von Wolfram Chemnitz

Schelling unterscheidet zwischen einer negativen und einer positiven Philosophie, somit zwischen einer bloß betrachtenden und einer den Menschen existentiell erfassenden Philosophie.
Vor Schelling wurde der Gegensatz von Natur und Geist betrachtet. Dabei wurden „der geistigen Natur die Eigenschaften der Vernunft, des Denkens und Erkennens“ zugerechnet. Der eigentliche Gegensatz in der Philosophie soll nun, wie Schelling in seiner Schrift „Über das Wesen der menschlichen Freiheit“ erörtert, der zwischen Notwendigkeit und Freiheit sein.

Zunächst: Freiheit als ein lebendiges Vermögen ist eigentlich auf die Überwindung von Schranken angelegt, bedarf aber, um da zu sein, wie alles Existierende, der Form. Des weiteren: „Durch die Freiheit wird eine Macht außer und neben der Göttlichen behauptet. Dies steht zunächst im Gegensatz zu dem Begriff der Allmacht Gottes.“ Für Schelling ist der Mensch nicht außer, sondern in Gott. Die Tätigkeit des Menschen gehört selbst mit zum Leben Gottes. Wenn es im Prolog des Johannesevangeliums heißt: „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott“, dann ist das Wort oder das menschliche Bewusstsein eine Offenbarung Gottes. „ Gott aber kann nur offenbar werden in dem, was ihm ähnlich ist: in einem freien, aus sich selbst handelnden Wesen.“

Der Begriff einer abgeleiteten Absolutheit oder Göttlichkeit ist nicht widersprechend; vielmehr ist er für Schelling der Mittelpunkt der ganzen Philosophie. Es gibt keine Unvereinbarkeit zwischen einer Immanenz in Gott und der menschlichen Freiheit. Anschaulich wir dies am Beispiel der Zeugung. So sind wir in unserer Existenz abhängig vom Zeugungsakt unserer Eltern zugleich aber selbständige und freie Persönlichkeiten.

Der seiner selbst bewusste Mensch bedarf, um sich zu erhalten und zu empfinden, einer gegenüberstehenden Welt. Frei ist der Mensch da, wo er sich in der Welt wiederzuentdecken vermag – im Anderen bei sich selbst ist. Was ist nun das Selbige im Verhältnis von Mensch und Welt? Es ist die Gott-Ebenbildlichkeit.

Gott bliebe ohne seine Offenbarung in sich verschlossen. Er offenbart sich nach Schelling in der Natur und in besonderer Weise in dem seiner selbst bewussten Menschen. Als existierender Gott kann er nicht nur rein ausfließende Liebe sein; um da zu sein, muss auch in Gott eine der ausfließenden Liebe gegenläufige Kraft wirksam sein, mithin eine auf Konzentration und Selbsterhalt gerichtete Kraft. Der Schellingsche Gott ist nicht der rein „Liebe Gott“ gemäß einer populären religiösen Vorstellung.

Ein Gott, in dem entgegen gesetzte Kräfte wirksam sind, kann nicht die höchste Spitze sein. Diese ist nach Schelling „Der Glanz des unzugänglichen Lichts, in dem Gott wohnt.“ (vgl. „Die Weltalter“).

Gott ist nach Schelling Leben, welches – wie alles Leben – in dem Zusammenspiel von Kontraktion und Extension bewegt ist.

Bereits Aristoteles hatte die Bewegtheit beseelter Kreaturen erörtert und als vorzüglichste Bewegung die Kreisbewegung genannt, zumal hier Anfang und Schluss im Vollzug mitanwesend sind. Augustinus hatte in seinen „Confessiones“, „Bekenntnissen“ – um das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit anschaulich darzustellen – das Beispiel des Liedes angeführt. Das Lied, obwohl eine Zeitstrecke durchlaufend, ist in sich so gestimmt, dass Anfang, Verlauf und Schluss eine Einheit bilden.

Der Schellingsche Gott geht aus einer anfänglichen, bewusstlosen Alleinheit, der Vergangenheit, über in die Sphäre der Differenz, der Gegenwart, in der sich zunächst verhalten das Selbstbewusstsein bildet. Die wiederhergestellte Einheit steht als Zukunft bevor. Die religiöse Vorstellung schaut den Schellingschen Gedanken der Weltalter, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine Dreieinigkeit bilden, in dem natürlichen Verhältnis von Vater, Sohn und Geist an. Im Sohn kommt die dunkle, unbewusste Einheit des Vaters in das Licht der Erkenntnis. In der Sphäre der Differenz, also der Gegenwart, wird der Widerstreit zwischen Licht und Finsternis ausgetragen. Die je einzelne Persönlichkeit ist in dem Verhältnis gebildet, wie es gelingt, das Unbewusste in das erkennende Bewusstsein zu erheben. Die vollkommene Auflösung dieses Widerstreits ist der Zukunft vorbehalten. Der Geist ist so die Einheit der unbewussten Einheit und des Widerspruchs.

Wie im Makrokosmos so im Mikrokosmos: Der vorgeburtliche Embryo ist selig im Zustand einer unbewussten Alleinheit. Gleichwohl aber treibt „die Lust, sich selbst zu haben“ („Weltalter“) die Geburt der besonderen Existenz hervor, in der sich allmählich ein Selbstbewusstsein entwickelt.

Schellings „Weltalter“ sind weit entfernt von dem aktuell herrschenden linearen Zeitverständnis, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als berechenbare Zeitgrößen behandelt und dem planendem Kalkül ausgeliefert werden. Bereits der Gesang der Sirenen auf der Vorbeifahrt des Odysseus kündet von einer Abkehr vom linearen Zeitverständnis. Adorno erörtete in seiner „Dialektik der Aufklärung“ eine entsprechende Deutung. Parmenides hatte im Anfang der abendländischen Philosophie ausgeführt, dass die Meinung (doxa), Vergangenheit sei abgeschlossen und Zukunft jeweils angestückt, zu Irrtum und Verzweiflung führe. Sinngemäß sind in der Einheit des Seins bei Parmenides das Gewesene als das Wesen und die Zukunft als das Zukommende da.

Was Irrtum und Verzweiflung in der Folge eines verkehrten Zeitverständnisses konkret heißt, hatte Marx in den „Ökonomisch- philosophischen Manuskripten“ erörtert: „Die Arbeit des Proletariers hat zum Ergebnis, dass er sich in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Hause.“
Der Marxsche Begriff von der „schöpferischen Arbeit“ verwandelte die christliche Idee vom Schöpfergott, der Welt und Mensch nach seinem Ebenbild geschaffen hatte, in eine diesseitige Forderung. So wie die Werktätigkeit Gottes keine entfremdete war, so sollte auch der Mensch die Möglichkeit zu einer schöpferischen Arbeit erhalten, mithin sich in seiner Arbeit wiederentdecken können.

In der „mundus dei“ der mittleren Epoche war die Einheit von Arbeit und Wesen im „ora et labora“ ausgesprochen. Der Mensch sollte im „tugendhaften Handeln“ auf seinen Schöpfergott gerichtet bleiben. Der göttliche Wille war als Dogma vorgegeben.

Schelling hatte in seinen Schriften „Über das Wesen der menschlichen Freiheit“ und in „Die Weltalter“ den Zusammenhang von Freiheit und Notwendigkeit auseinandergesetzt, welcher sich nach dem oben Gesagten auch auffassen lässt als der Zusammenhang von Freiheit und Zeit. Dies nicht nach seinem eigenen Bekunden „in einer streng wissenschaftlichen, sondern in einer leicht mitteilenden Form.“

Zusammenfassung: Der Mensch findet sich zu Beginn seines Daseins gleichsam in einen Strom geworfen, dessen Bewegung eine von ihm unabhängige zu sein scheint, die er zunächst bloß leidet. Dennoch ist er nicht dazu bestimmt, sich von diesem Strom wie ein totes Objekt bloß fortziehen zu lassen: Werde, was Du bist!

Wolfram Chemnitz, M.A. Philosophie.

 

 

 

 

Diderot vor 300 Jahren geboren

Wir erinnnern gern an den vielseitigen Philosophen und Autor Denis Diderot, der am 5. Oktober 1713 in Langres, Champagne, geboren wurde. Wichtig ist vor allem, dass die kleine Stadt ein eigenes Diderot Museum am 22. September 2013 eröffnet. Mehr zu Diderot und dem neuen Museum: klicken Sie bitte hier.