Jean Paul zum 250. Geburtstag: Gott ist tot… und lebt im Gefühl.

Jean Paul zum 250. Geburtstag: Gott ist tot … und lebt im Gefühl. Veröffentlicht am 11.3.2013

siehe den aktuellen Beitrag vom 17.10.2025: LINK 

 

Abbé Meslier, Pfarrer und Atheist

Jean Meslier
Jean Meslier (1664-1729), französischer Aufklärer.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Der “Religionsphilosophische Salon Berlin” hat bisher meist auf aktuelle Diskussionen und Ereignisse, auch “Gedenktage”, in eigenen Veranstaltungen reagiert und dazu auch publiziert, um zum kritischen Nachdenken und Debattieren einzuladen.

Wir wollen in der neuen Rubrik “Forschungsprojekte” auch ohne unmittelbaren “aktuellen Bezug” Themen aufgreifen, die nicht unbedingt heute im Mittelpunkt (religions -) philosophischer Diskussionen stehen. Dabei sind die hier vorgestellten Themen und Thesen keineswegs “abgerundet” und fertig, sie eröffnen nur einen längeren Prozeß der Forschung und hoffentlich der Diskussion. Dass die “Projekte” viel mehr Beachtung verdienen als bisher, versteht sich von selbst. Insofern handelt es sich um alles andere als um schöngeistige “l`art pour l`art”…

Unser erstes Projekt heißt: Abbé Meslier, Pfarrer und Atheist.

Auch dieses Thema hat allerdings einen aktuellen Hintergrund: Sich atheistisch nennende Pfarrer gibt es auch heute, wir haben das Thema schon einmal kurz dokumentiert, klicken Sie hier.

Sich atheistisch bzw. radikal – religionskritisch äußernde Pfarrer lebten unseres Wissens vor allem in Frankreich seit dem 17. Jahrhundert.

Kirche in Étrépigny
Foto der kleinen Kirche in Étrépigny, in der Jean Meslier wirkte. Foto: Wikipedia/Roby

In dieser Dorf – Kirche von Etrépigny, im Erzbistum Reims in der Champagne, wirkte Abbé (Pfarrer) Jean Meslier von 1689 bis zu seinem Tod 1729. Meslier wurde 1664 in Mazerny, in den Ardennen, geboren, 1688 wurde er zum Priester geweiht. Er wurde als hochbegabter Junge von den Eltern fürs Priesteramt bestimmt, dagegen wehrte er sich nicht. Es war das kritische Nachdenken über die Lehren des Christentums, vor allem auch die autoritären Umgangsformen des Erzbischof de Mailly von Reims (“ein cholerischer Despot”, so der Historiker Georges Minois) sowie das Elend der Landbevölkerung, die Meslier in den Atheismus und philosophischen Materialismus führten. Meslier ist der wohl bekannteste und von der Wirkungsgeschichte her wohl bedeutsamste atheistische Priester. Er hat ein umfangreiches philosophisches Werk hinterlassen, das allerdings erst nach seinem Tod entdeckt und veröffentlicht wurde. So hatte es der Autor selbst verfügt und angstvoll dafür gesorgt, dass niemand davon vor seinem Tod erfährt. Sein Buch hatte er in mühevoller Arbeit abends bei Kerzenschein mit dem Federkiel selbst 3 mal geschrieben und es in der Gerichtskanzlei der (Orts) Gemeinde hinterlegt. Das ist das Besondere an der Person dieses gebildeten Landpfarrers: Er hat seine üblichen Aufgaben eines Priesters geleistet, gepredigt, Messen gelesen, Sakramente gespendet usw., aber immer in dem Bewußtsein: Eigentlich bin ich Atheist.Dabei war ihm selbst “unbehaglich zumute”, wie Georges Minois in seiner Studie “Geschichte des Atheismus” (Weimar 2000, Seite 333) betont.  Was uns heute als Verlogenheit erscheinen mag, hat im 17. Jahrhundert doch einen anderen, nämlich lebensrettenden Hintergrund: Nur im Verheimlichen der wahren eigenen Überzeugungen konnte Jean Meslier überleben. Das soll ja auch heute für Teile des Klerus gelten…. Meslier war nämlich gewarnt: Um 1700 wurde der Priester Lefèvre wegen Atheismus verbrannt; 1728 aus dem gleichen Grund wurde der Priester Guillaume in Frèsnes verhaftet und ins Exil geschickt (siehe G. Minois, Seite 329)….

Also: Nach Mesliers Tod wurde der Text Mesliers mit dem sehr ausführlichen Titel gefunden: „Mémoires des pensées et des sentiments des J.M., Pretre, curé, sur une partie des erreurs et de la conduite ….“ Das Werk “Mémoires” (=”Denkschrift”) widmet der Pfarrer den Mitgliedern seiner Gemeinde!  In diesem Werk bekennt sich der immer „korrekte“ und kirchlich erscheinende Landpfarrer zum Atheismus und Materialismus, er macht bereits deutlich, dass die künftige Gesellschaft „kommunistische“ Züge haben kann.

Es ist ein gewisses Verdienst von Voltaire, dass er im Jahr 1762 einen Auszug, einen „Extrait“, der Schrift von Meslier herausgab: Er  hat den Titel: „Testament“ und enthält vorwiegend die kritischen Studien Mesliers zur Bibel (er war ein hervorragender Kenner der Bibel); hingegen kommt seine Kritik an den sozialen Verhältnissen in dieser Auswahlschrift Voltaires eher zu kurz und Voltaire neigte dazu, den Atheismus Meliers in einen Voltaire wohl sympathischeren “Deismus” abzuschwächen. Der Historiker G. Minois bezeichnet dieses gekürzte (und verfälschte) Buch Voltaires: “Ein regelrechter Verstoß am Originaltext” (S. 331). Immerhin aber zeigte das „Testament“ seine Wirkung unter den Philosophen der Aufklärung, etwa bei Diderot, d Alembert, Holbach usw. Auch König Friedrich II. von Preußen (der „Alte Fritz“) besaß den Text. Dass das Buch Mesliers eher “weitschweifig”  ausfällt, bemerkten schon die ersten Leser. Trotzdem sind die 300 Seiten ein Beleg für die außerordentliche Reflexionskraft Mesliers. Der Revolutionär Ancharsis Cloots machte 1793 immerhin den Vorschlag, für Abbé Meslier eine Statue im “Tempel der (atheistisch verstandenen) Vernunft” aufzustellen, was abgelehnt wurde, die Jacobiner hatten – aus politischen Gründen – Angst vor dieser allzu deutlichen Werbung  für den Atheismus.

Wieder ist es typisch für das Editionswesen, dass die erste dreibändige Gesamtausgabe der „Mémoires“  in Amsterdam erscheint, und zwar im Jahr 1864, herausgegeben von Charles d` Ablaing van Giessenburg; in Rußland erscheint eine Kurzfassung bereits 1925, eine Übersetzung der Gesamtausgabe 1937. Eine erste kritische Gesamtausgabe (auf Französisch) erscheint von 1970 bis 1972 in Paris, darin sind auch die Texte Mesliers zu Bischof Fénélon enthalten.

Eine zentrale Frage heißt: Warum wurde Meslier Atheist? Eine vorläufige kurze Antwort: Entscheidend für ihn war das Erlebnis der miserablen Lebensbedingungen der Landbevölkerung; sie wurde vom Adel und höheren Klerus ausgeplündert. In seinen Predigten hatte Meslier so viel Mut, diese Missstände öffentlich zu kritisieren, deswegen wurde er von seinem Bischof vorgeladen und – kurzfristig – zum Schweigen ermahnt. Meslier widersetzte sich bischöflichen Drohgebärden. Als “Beichtvater” seiner Gemeinde wußte er zudem genau, wie es mit dem Glauben seiner “braven Christen” stand: “Sie glauben gegen ihre eigene Vernunft und gegen ihre eigenen Gefühle”. (S. 324 Minois).

Inzwischen ist klar: Meslier hat seine Texte zweifelsfrei selbst geschrieben, das wurde deutlich im Vergleich der Handschriften in den Kirchenbüchern seiner Pfarrei.

War Meslier als Abweichler und Atheist ein Einzelfall im damaligen Klerus? Darüber haben die Historiker Dominique Julia und Denis Mc Kee geforscht, sie kommen zu dem Ergebnis:”Die Art und Weise, in der Meslier verpflichtet war, ein jammervolles Doppelleben zu führen, wurde wahrscheinlich von etlichen seiner Kollegen im Priestertum geteilt. Es gibt viele Texte, die bezeugen: Es gab ein =inneres Leben=  der Priester damals, das voller Heimlichkeit hinter einer Fassade gelebt wurde, die nichts als Täuschung war”. So in der Studie, die in der “Revue d Histoire de l Eglise de France”, 1983, Seite 61 bis 86 veröffentlicht wurde; das o.g. Zitat steht auf Seite 86, klicken: Zum Artikel selbst

Interessant ist, dass Meslier und sein Buch sich alsbald “herumsprachen”. Georges Minois bietet eine umfangreiche Dokumentation über “Mesliers Nacheiferer” (Seiute 336 ff). Er nennt jedenfalls eine beträchtliche Zahl “ungläubiger, frei denkender Abbés”. Er nennt allein 18 Namen in seinem Buch. Ausdrücklich wird der Benediktiner Mönch Dom Léger – Marie Deschamps erwähnt (von 1745 bis 1762), Mönch der Abtei Saint – Julien de Tours, bis zu seinem Tod 1774 im Priorat Montreuil – Bellay. Er hat ein atheistisch – metaphysisches System hinterlassen (in seinem Manuskript “Le vrai Système”). Er vertrat radikalere Positionen als die Aufklärer Voltaire oder auch Diderot. Deschamps wäre auch ein “Forschungsprojekt”…. Er kritisierte alle Formen der Aufklärung, die seiner Meinung nach noch zu wenig über ihre eigenen Voraussetzungen aufgeklärt sind….

Mesliers “Testament” ist auf Deutsch erschienen:  Hartmut Krauss (Hrsg.) Das Testament des Abbé Meslier. Erschienen im Hintergrund Verlag, 2005, 403 Seiten, gebunden, Euro 19,80

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophoischer Salon Berlin

 

 

Tugenden und Laster: Eine philosophische Revue

Müßiggang ist aller Liebe Anfang

Wenn Tugenden zu Lastern werden – und umgekehrt.   Christian Modehn im Gespräch mit dem Philosophen Martin Seel

Wollen Sie an einer philosophischen Revue teilnehmen? Dabei können Sie ganz schön erschüttert werden. Denn im Laufe der Revue werden Tugenden zu Lastern und umgekehrt. Der Philosoph Martin Seel (Universität Frankfurt am Main) zeigt überzeugend, wie fließend die Übergänge sind zwischen gutem und bösem Verhalten. »111 Tugenden – 111 Laster« heißt sein neuestes Buch. Es stellt keineswegs 111 Tugenden den 111 Lastern gegenüber. Vielmehr sind die 111 menschlichen Charakterbilder in sich doppeldeutig: Eine Tugend kann zum Laster werden und ein Laster zur Tugend.

Herr Seel, verwischen Sie in Ihrem Buch nicht das klare Bild, das bisher ein tugendhaftes beziehungsweise ein verabscheuungswürdiges, ein lasterhaftes Leben auszeichnete?

Martin Seel: Auch nach der Lektüre meines Buches bleibt es dabei, dass Tugenden ein gutes und gerechtes Leben fördern und Laster ein solches Leben behindern und im Extremfall zerstören. Jedoch führt das Buch vor, dass in den meisten der menschlichen Charaktereigenschaften, die wir auf den ersten Blick als Laster verbuchen, durchaus auch Energien der Tugend stecken und entsprechend, dass in den menschlichen Tugenden häufig auch Kräfte des Lasters wirksam sind. Das heißt: Tugenden sind heikle Balancen, die oft nur mit Mühe gehalten werden können – aber die Mühe ist es wert.

Zum Beispiel: Warum kann das hoch gelobte Mitgefühl auch lasterhaft, also schädlich sein, für den Mitfühlenden wie für die Betroffenen?

Martin Seel: Wir alle kennen das Phänomen des falschen Mitleids. Aber auch dort, wo wir nicht nur ein geheucheltes, sondern ein echtes Mitgefühl für die Lage anderer Personen aufbringen, kann es vorkommen, dass wir die anderen durch unsere Empathie erdrücken: Wir glauben, besser als diese selbst zu wissen, wie es ihnen ergeht, und maßen uns an, deren Leben in unsere Hand zu nehmen. Zugleich kann übersteigertes Mitgefühl auch denen schaden, die es zeigen. Dies geschieht, wenn sie vor lauter Anteilnahme das Gespür für ihr eigenes Wohlergehen verlieren, was ihnen früher oder später die Kraft und die Fähigkeit zu aufrichtiger Anteilnahme raubt.

Oder denken wir an die Tugend der Frömmigkeit. Warum kann sie ins Lasterhafte »umkippen«?

Martin Seel: Wie immer man Frömmigkeit im Einzelnen versteht, ob als eine religiöse Haltung oder auch nur eine Haltung der »Weltfrömmigkeit« (die von jener gar nicht immer so leicht zu unterscheiden ist) – ihre Formen kippen ins Lasterhafte um, wenn der Glaube der Frommen zu einem starren, dogmatischen und darum intoleranten Glauben wird, der keinen anderen neben sich duldet. Insofern ist aller Fanatismus fehlgeleitete Frömmigkeit.

Nehmen wir eine relativ milde Form des Lasters, etwa die Faulheit. Kann denn aus Faulheit eine tugendhafte Haltung werden?

Martin Seel: Aber sicher. Das ethische Lob der Faulheit ist ja durch die Jahrhunderte hinweg immer wieder gesungen worden. Nicht weil Faulheit in jeder Hinsicht wohltuend und sozialverträglich wäre, aber doch, weil in ihr manchmal ein Geist des Widerstands gegen falsche eigene Erwartungen und maßlose gesellschaftliche Zumutungen steckt, der durchaus heilsam sein kann. In der richtigen Dosis erweist sich Faulheit als eine Form des Müßiggangs. Und entgegen anderslautenden Gerüchten ist Müßiggang nicht aller Laster, sondern aller Liebe Anfang.

Könnte man es ethisch rechtfertigen: Wer nie untreu war, weiß nicht, was Treue ist? Also sollte man sich eine gewisse »Dosis« Untreue gönnen?

Martin Seel: Ich würde vorsichtiger sagen: Wer den Zweifel an der Treue nicht kennt, kennt den Sinn der Treue nicht. Der Zweifel, auf den es hier ankommt, betrifft die Frage, ob die Person oder Sache, der ich treu bin, es wirklich wert ist, dass ich es bin. Sich dies fragen zu können ist selbst ein Zeichen der Fähigkeit zur Treue.

Ein hundertprozentig heiliger Mensch ist also philosophisch gesehen nichts als ein frommer Wunsch?

Wenn wir mit der Figur des Heiligen, wie es in der Moralphilosophie und Moraltheologie immer wieder geschehen ist, das Ideal einer Person verbinden, die sich vollkommen sicher auf der Seite des Guten bewegt, weil diese den Widerstreit zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Selbstsorge und Sorge für andere, zwischen den Forderungen des Tages und denen über den Tag hinaus (usw.) überhaupt nicht kennt, dann handelt es sich nicht einmal um einen frommen Wunsch, sondern einfach um eine unsinnige Vorstellung. Denn moralisch zu sein heißt gerade, den Widerstreit zwischen unterschiedlichen Anforderungen und Erwartungen ohne Bedauern anzunehmen – ohne den Irrglauben, man könne ein für alle Mal auf der richtigen Seite sein. Die wirklichen Menschen übrigens, die in religiösen Traditionen als »Heilige« verehrt werden, haben sich diesen Irrglauben kaum zuschulden kommen lassen.

Der Revolutionär Robespierre etwa wollte »nur tugendhaft« sein. Ist er gerade deswegen zum Massenmörder geworden?

Martin Seel: Unter anderem deswegen würde ich sagen. Moralischer Rigorismus ist gerade politisch gefährlich. Er verletzt das menschliche Maß eben dadurch, dass er sich einbildet, im Besitz der einzig wahren Deutung dieses Maßes zu sein. Auch hier gilt: Die reine Illusion ist immer eine Illusion der Reinheit.

Gibt es denn für Sie ein Laster, das niemals die Möglichkeit hat, sich positiv zur Tugend zu entwickeln?

Martin Seel: Ja, zumindest ein Laster bildet in meinem Buch eine Ausnahme von der Ambivalenz-Regel: die Grausamkeit. Grausam sind Personen oder Institutionen, die bereit sind oder es in Kauf nehmen, die leibliche und seelische Integrität von Personen ohne Rücksicht auf ihr Wohlergehen zu verletzen. In dieser Einstellung steckt nicht der geringste Keim einer Orientierung am Guten.

Es kommt in Ihrer Tugend-Philosophie darauf an, die Übergänge wahrzunehmen, wenn zum Beispiel aus der authentischen Freundlichkeit das Bloß-freundlich-Tun wird?

Martin Seel: Überall in der menschlichen Lebensführung kommt es auf die feinen Unterschiede an – so auch hier. Wobei nicht einmal das bloße Freundlich-Tun ganz zu verachten ist, etwa, wenn wir an die »professionelle« Freundlichkeit von Schalterbeamten oder Kassiererinnen denken.

Sie wenden sich gegen die definitive Abgeschlossenheit einer bestimmten Lebenshaltung. Könnte man sagen: Sie wollen das Leben flüssiger machen? »So bin ich und so bleib ich auf ewig«: Dieser Spruch hat dann wenig Sinn?

Martin Seel: »Das Leben« flüssiger machen zu wollen wäre wohl allzu vermessen. Außerdem erscheint es den meisten von uns ohnehin als einerseits zu flüssig (und flüchtig) und andererseits zu festgelegt (und beengend). Der Prozess der Lebensführung aber kann so gestaltet werden, dass in ihm eine Offenheit für die Ungewissheiten und Instabilitäten des Lebensvollzugs zum Ausdruck kommt. Nur dank dieser Offenheit ist so etwas wie ein über einzelne glückliche Augenblicke hinaus gelingendes Leben möglich.

Sie nennen Ihr Buch »eine philosophische Revue«: Das heißt, die Leserinnen und Leser können mit der Lektüre irgendwo beginnen, zum Beispiel bei der »Coolness«. Dann werden sie lesen, dass Coolness durchaus eine Mischung aus Gleichmut, Lässigkeit und Gewitztheit ist. Aber dann schreiben Sie auch: Coolness, »diese wohltemperierte Leidenschaft, lässt sich auf Dauer im wirklichen Leben nicht durchhalten«. Hoffen Sie darauf, dass durch Erkenntnis eine neue Einstellung zur Coolness, vielleicht zum Leben insgesamt, gelingt?

Martin Seel: Das Argument an der Stelle, auf die Sie sich beziehen, besagt, dass ein Leben lang durchgehaltene Coolness zur bloßen Fassade verkommen müsste: »Nur brüchige Coolnes ist cool«, lautet deshalb in dieser Sache das paradoxe Fazit. Wer das akzeptiert, verleiht seiner Lebenseinstellung einen bestimmten Akzent. Die Sache der Tugenden und Laster ist aber zu komplex, als dass man im Nachdenken über eine von ihnen sogleich die ganze Einstellung zum Leben neu konfigurieren könnte. Dies aber kann man ohnehin durch Nachdenken allein gar nicht bewerkstelligen. Erfahrung und Übung, und mit ihnen Enttäuschung und Überraschung, sind die unumgänglichen Begleiter einer wirksamen ethischen Reflexion.

Meinen Sie also, dass philosophische Besinnung und Kritik einen therapeutischen Charakter haben kann?

Martin Seel: Ja, durchaus: vor allem deshalb, weil es sich um Selbsttherapie handelt, die ihre Basis in einsamer oder gemeinsamer Selbstverständigung hat.

Sind denn Tugenden aus Ihrer Sicht lernbar? Und wenn ja, wer sollte Tugenden lehren?

Martin Seel: Hier möchte ich paradox sagen: Sie sind lernbar, aber nicht lehrbar. Dies folgt aus dem, was ich eben gesagt habe: Die Ausbildung von Tugenden und auch Laster ist wesentlich eine Sache der individuellen Selbstformung, die im günstigen Fall von beständigen Lernprozessen begleitet wird. Das bedeutet freilich weder, dass man den eigenen Charakter insgesamt in Regie nehmen könnte, noch, dass man nicht auf die Hilfe und das Beispiel anderer angewiesen wäre. Dennoch bleibt der Gedanke eines Tugendlehrers ein hölzernes Eisen. Die Fähigkeit, im eigenen Handeln diverse Tugenden zu beweisen, hat nicht die Verfassung eines Expertenwissens, das in feinen Dosen an die Laien weitergegeben werden könnte. Denn es gibt hier weder Laien noch Experten. Wohl aber gibt es Menschen, die anderen durch Erziehung, Anleitung, Imagination und Animation auf die Sprünge helfen können, indem sie veranschaulichen oder vormachen, wie es trotz allem möglich ist, sich selbst und den anderen einigermaßen gerecht zu werden.

Sollten heute Philosophen bestimmte Tugenden in den Mittelpunkt stellen, wenn nicht fördern? Etwa Gerechtigkeit, Engagement, Solidarität?

Martin Seel: Dies sind wichtige und unbedingt zu stärkende soziale Tugenden, über denen aber auch die stärker individualethischen Tugenden nicht vergessen werden sollten, wie beispielsweise Humor, Selbstachtung und Selbstvertrauen. Denn ohne diese werden jene nicht umsichtig wirksam werden können. Außerdem ist zu beachten, dass gerade die primär sozialen Tugenden in einer Gesellschaft wie der unseren nicht allein individuelle, sondern zugleich institutionelle Werte bezeichnen: Ohne gerechte Institutionen beispielsweise bleibt das individuelle Bemühen um Gerechtigkeit immer auch ohnmächtig. Daher hat die Förderung von Tugenden von vornherein eine politische Dimension.

Wie können Philosophen die verschiedenen Formen der Gier, etwa in der Finanzwelt, analysieren und kritisieren?

Martin Seel: Gerade an diesem Beispiel zeigt sich die eben erwähnte politische Dimension der Rede von Tugenden und Lastern. Das Problem der Finanzmärkte und ihrer Regulierung liegt ja nicht in erster Linie an der persönlichen Gier der Akteure, die auf dem Parkett der Börsen zugange sind. Es liegt vor allem an den systembedingten Imperativen, denen die Finanzindustrie gehorcht, und ihrer Indifferenz gegenüber den Entwicklungen der Realwirtschaft. Hier gegenzusteuern – und damit auch die Spielräume individueller Gier zu verringern – ist eine eminent politische Aufgabe, die zudem nur im internationalen Maßstab angegangen werden kann.

Warum brauchen wir eine neue Tugendlehre? Reicht im Alltag nicht der kategorische Imperativ Immanuel Kants als Orientierung völlig aus, der mich mahnt, immer zu prüfen, ob meine Lebensmaxime allgemeines Gesetz für alle werden kann?

Martin Seel: Der kategorische Imperativ oder andere Formen eines Instrumentalisierungsverbots im Verhalten der Menschen untereinander reichen allein deshalb nicht aus, weil sie angesichts konkreter Situationen viel zu wenig aussagen können. Und weil sie nicht in der Lage sind, der Möglichkeit von normativen Konflikten gerecht zu werden. Eine moderne Tugendlehre erinnert demgegenüber an die praktische Auslegung allgemeiner moralischer und rechtlicher Grundsätze, wie sie in der Gestalt einer Pluralität von Tugenden und Lastern in unserem alltäglichen Leben wirksam ist – und dort auch immer wieder verhandelt wird. Denn das ist der Sinn der Tugenden: Denen, die sich um ihren Besitz bemühen, eine Deutung ihres Lebens zu geben, die es ihnen erlaubt, ihr Dasein in Selbstachtung und in mit anderen geteilter Selbstbestimmung zu vollbringen.

Buchhinweis: Martin Seel. 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue.

S. Fischer. Frankfurt am Main. 288 Seiten. 18,95 €

Dieser Beitrag erschien zuerst im April 2012 in der empfehlenswerten Zeitschrift Publik Forum.

Hinweis am 2.1.2019: Über das neue (2018) Buch von Martin Seel “Nichtrechthabenwollen” klicken Sie hier.

Coypright: christian modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

Mit Erzbischof Woelki ins Getto?

Mit Erzbischof Woelki ins Getto ?
Religionskritik, also kritisches Beobachten faktischer Religionen, ist immer ein Element der Philosophie.
Darum einige neue Hinweise, publiziert am 9.9.2011:

Es ist ein feines Zusammentreffen: Rainer Maria Woelki ist seit einigen Wochen offiziell Erzbischof von Berlin, da wird am 9.9. 2011 im Tagesspiegel publiziert, dass das Oberverwaltungsgericht Berlin – Brandenburg die Einrichtung einer nur für Jungen reservierten Schulen des Opus Dei in Potsdam definitiv gestattet hat. Bisher hatten Gerichte in Brandenburg diesen sonderbaren Schultyp zurückgewiesen. So hat der an einer Opus Dei Universität in Rom (Santa Croce) promovierte Berliner Erzbischof eine gute pädogogische Adresse in seiner Nachbarschaft. Damit wird der Anteil der Opus Dei Mitglieder und Opus Dei Freunde in Berlin und Potsdam noch einmal steigen, zur Freude des Erzbischofs. Aufgrund dieser Tatsachen wurden wir gebeten, weitere Korrespondenten Berichte über Rainer Maria Woelki – auch aufgrund der starken Nachfrage auf dieser website – neu und erweitert zugänglich zu machen. Wir weisen zudem auf den eigenen Beitrag “Ein Freund des Opus Dei zu Gast in Berlin” auf dieser website hin.

Die theologische Doktorarbeit Rainer M. Woelkis hat zwei Professoren der Opus Dei Universität Santa Croce in Rom als “Betreuer”: Prof. Antonio Miralles, ein spanischer Opus Dei Priester, und Prof. Klaus Limburg, ein deutscher Opus Dei Priester; Miralles wird vom Fach her, auf diversen Websites, manchmal als systematischer Theologe vorgestellt, manchmal als Liturgiespezialist. Der Zweitgutachter Prof. Klaus Limburg ist Spezialist für Altes Testament. Die Doktorarbeit Woelkis über die “Pfarrei” gehört zweifelsfrei in den Bereich praktischer Theologie oder der systematischen Theologie. Was hat da ein Alttestamentler als Zweitgutachter zu suchen? Einige wenige Seiten in der Doktorarbeit Woelkis sollen die Gemeinden im “alten Israel” behandeln, ein ausreichender Grund, einen Alttestamentler hinzuziehen? Sicher nicht. Woelki brauchte den Deutschen Prof. Klaus Limburg, weil sein Erstgutachter, der Spanier Prof. Antonio Miralles, gar nicht oder ganz wenig Deutsch spricht. So wurde eine Doktorarbeit auf Deutsch bei einem nicht oder kaum deutsch sprechenden Professor eingereicht und angenommen. Ein bißchen ungewöhnlich, meine Beobachter. Dass Miralles wenig oder kein Deutsch spricht, bezeugen Aussagen des emeritierten Theologen Prof. Anton Ziegenaus aus Augsburg, der selbst in den neunziger Jahren an der Opus Dei Universität Santa Croce lehrte und dem Opus Dei nahesteht; in einem Telefongespräch am 25.7. 2011 wurde von Ziegenaus bestätigt, dass Prof. Miralles nicht oder ganz wenig deutsch spricht. Prof. Klaus Limburg, jetzt Aachen, bestätigt in einem Telefongespräch am 9.9.2011 ebenso, dass Miralles nicht oder wenig Deutsch spricht. Wer die Publikationen des Erstgutachters Prof. Miralles durchschaut, findet in den Literaturlisten, etwa zur “penitenzia”, Buße, keine deutschen Literaturhinweise, obwohl gerade die Bußgeschichte in der deutschsprachigen Theologie gründlichst erforscht wurde und sozusagen erwähnt werden muss, will man auf der Höhe der Forschung sein. Das heißt abermals: Prof. Miralles kann offenbar auch nur sehr begrenzt Deutsch lesen. Summa summarum: Die Doktorarbeit Woelkis über die Pfarrei wurde letztlich von einem Alttestamentler, also einem Fachfremden Theologen, “betreut”. Es kam, so die Vermutung unserer Korrespondenten, offenbar nur darauf an, möglichst schnell und einfach einen Doktortitel zu haben.

Die folgenden Informationen gehen auf Anfang Juli 2011 zurück, wurden zu dem Zeitpunkt auch publiziert, sind immer noch bedenkenswert:
Am Dienstag, 5.7.2011, fand eine Art Fragestunde statt, zu der Bischof Rainer Maria Woelki, der neu ernannte Erzbischof von Berlin, eingeladen hatte. Nicht nur die eigentlich Betroffenen, zahlreiche Journalisten, waren dabei, sondern auch etliche Priester und Mitglieder der Gemeinden. So wurde kreuz und quer gefragt, nach der Bindung an Köln und der Einschätzung des Gesellenvaters Adolph Kolping…

Information am 7.7.2011: Der religionsphilosophische Salon erfährt, dass eine Zusammenfassung der Doktorarbeit Rainer M. Woelkis in der Kölner Dombibliothek plötzlich wieder aufgetaucht ist, sie ist dort lesbar, aber nicht zu entleihen. Es ist aber nicht die Doktorarbeit selbst, sondern eine art Kurzfassung.

Am 6. 7. wurde mitgeteilt:
– Uns irritiert zunächst: DER TAGESSPIEGEL meldet am 6. 7. die beiden Exemplare der Doktorarbeit Woelkis seien verschwunden, das Exemplar aus der römischen Uni und das Exemplar aus der Dom Bibliothek in Köln. Als Buch liegt die Doktorarbeit Woelkis nicht vor. Das Verschwinden der öffentlich einsehbaren Doktorarbeit ist sehr bedauerlich. Will man die Arbeiten entfernen, um etwas zu vertuschen? Woelki wurde bekanntermaßen im Jahr 2000 an der OPUS DEI Universität in Rom zum Dr. theol. promoviert. Dieses Detail wird in manchen kirchenoffiziellen biographischen Notizen bereits verschwiegen, wie : http://www.erzbistum-koeln.de/erzbistum/weihbischoefe/woelki.html. Gelesen am 5. 7. 2011 um 21.00.

Es ist auch nach der Pressekonferenz völlig unklar:
– Warum hat der damals in Bonn wohnende Woelki eine theologische Promotion nicht an der katholisch – theologischen Fakultät in Bonn selbst angestrebt? Da hätte er sich die weiten Wege nach Rom sparen können, denn ein Doktorand muss sich doch wohl ab und zu mal an seiner Uni blicken lassen. Das gilt doch wohl auch für die Opus Dei Universität?

– Ist die Arbeit eines Leiters eines Priesterseminars so wenig auslastend, dass man nebenbei promovieren kann?
– Warum wollte Woelki an einer Opus Dei promovieren? Die Entscheidung für „Santa Croce“ ist doch kein Zufallsergebnis. Diese Uni rühmt sich auf Ihrer website heute, (siehe die Startseite der Opus Dei Uni: http://www.pusc.it/ gelesen am 5. 7. Um 21. 15 Uhr )
dass einer der „ihren“ Erzbischof von Berlin wurde. Woelki gehört in der Sicht der Uni einfach dazu, er ist sozusagen bis heute Teil der Opus Dei Uni. Kann man das angesichts dieser Meldung im ernst leugnen?
Man muss nicht Mitglied im Opus Dei sein, um in den Kategorien dieser Vereinigung zu denken. Es gibt ja auch die Vereinigung der „Priester vom Heiligen Kreuz“, die mit dem Opus eng verbunden ist, mit 4.000 Mitgliedern. Wer mag da wohl alles Mitglied sein?
Das Bekenntnis, nicht zum Opus Dei zu gehören, sagte gar nichts. Was sind die theologischen Opus Dei Kennzeichen: Absoluter Gehorsam gegenüber dem Papst, Treue zum Katechismus, Treue zur vorgegebenen Lehre, an der nichts “gerüttelt” werden darf; “meine Hände sind gebunden”, dieses Wort fiel oft in der Pressekonferenz; also Eigeständnis, nicht eigenständig handeln zu können usw. usw.

– Warum also ausgerechnet eine Promotion bei der Opus Dei Universität Santa Croce? Ging es dort besonders schnell? War es dort aufgrund von Beziehungen besonders einfach?

Die Antwort könnte heißen: Weil dort sein Freund und Förderer Kardinal Meisner auch ein Freund des Hauses ist. 1997 z.B. hielt Meisner an dieser Opus Dei Universität einen Vortrag. Das ist keine Frage: Dort gehen nur Leute hin, die mindestens mit dem Opus Dei sympathisieren. Die anderen, denen grundlegende Reformen der römischen Kirche vorschweben, denen die “ecclesia semper reformanda” heilig ist”, würden sich vielleicht dort eher nicht so wohl fühlen…

– Dass die Doktorarbeit Woelkis verschwunden ist, stimmt nachdenklich: Jetzt ist sie offenbar plötzlich wieder da. Trotzdem beibt die Frage: Wer ist der Doktorvater und der Zweitgutachter? Dr. theol. Woelki wird das sicher alsbald mitteilen. Nebenbei: In der Entstehungszeit der Doktorarbeit Woelkis war Dr. Georg Gänswein, heute Sekretär des Papstes, an dieser Opus Dei Universität in Rom Dozent!

Aber abgesehen von diesen kirchenpolitischen Fakten, die zeigen, wie schwer es ist, die Wahrheit zu finden, wenn man es mit der Macht einer Geheimorganisation, dem opus dei, zu tun hat. Da müssen alle Bekenntnisse Mitglied oder Nichtmitglied zu sein notwendigerweise im Nebulösen verbleiben. Die Frage ist: Will die Kircheführung vielleicht bewusst das Nebulöse, das Unklare, das Mysteriöse? Beispiele im Umgang mit der eigenen Vatikan – Bank usw. gibt es in Hülle und Fülle …
Woelki bemühte sich am 5. 7. 2011 als aufgeschlossener Seelsorger zu erscheinen; er konnte aber nicht verbergen: Er will „die“ Lehre der römischen Kirche durchsetzen und umsetzen. Das Wort Katechismus nannte er oft, dort steht die Glaubenssubstanz sozusagen fest verankert drin. Wie ein goldener Schatz muss er gehütet werden. Goldene Schätze ändert man ja bekanntlich nicht. Aber goldene Schätze sind immer etwas Totes.
So viel wurde klar: Ein Bischof „hat“ die Wahrheit, er muss sie nur durchsetzen. Miteinander und Dialog gibt es da nicht mehr. Der Bischof als ausführendes Organ der vatikanischen Bürokratie und Dogmatik, das ist der Gesamteindruck.
Diese Überzeugungen kann man als Katholik ja gerne glauben, man muss nur die Konsequenzen sehen: Dieses Verständnis des Bischofsamtes entspricht nicht mehr im entferntesten der heutigen theologischen Forschung. Dadurch stellt man sich ins theologische Abseits. Können es sich Bischöfe und Päpste leisten, die theologische Arbeit zu ignorieren? Die Antwort lautet: Faktisch wird das mit Macht durchgesetzt. So funktioniert Hierarchie.
Wer in einer Stadt wie Berlin „die“ Wahrheit einfach anwenden will, führt seine Kirche ins intellektuelle Getto. Da darf dann nur noch nachgebetet und gehorcht werden. Nur wenige, vielleicht die letzten verbliebenen Senioren, werden sich zu einer solchen Haltung noch aufraffen. So ist abzusehen: Die römische Kirche wird in absehbarer Zeit zur „Sekte“ (wir scheuen eher dieses Wort, hier aber ist es mal angebracht): Die kleine Schar kümmert sich dann nur noch um den eigenen rechten Glauben.
Alle freie Diskussionen unter gleichwertigen Partnern sind dann verschwunden, alle Kreativität, alles Experimentieren und Wagen, alle ökumenische Zusammenarbeit etwa in Form von gemeinsamem Abendmahl sind auf den Sankt Nimmerleins Tag verschoben. Muss man noch betonen: Nur wer sich wandelt und ändert und reformiert, ist lebendig?
Beginnt mit Bischof Woelki der Weg zur katholischen Sekte? Die „kleine Herde der Hundertfünfzigprozentigen“ haben sich ja viele Bischöfe immer gewünscht. Sie wissen natürlich auch, dass sie dann über unendlich weniger Finanzmittel verfügen…Nebenbei: Spirituell Interessierte verlieren dadurch bestimmte Treffpunkte des Austausches. Ein moderner, demokratischer Katholizismus, das haben wäre eine Kirche, die viele Berliner interessieren könnte. Aber: moderner Katholizismus – das ist nur noch ein Traum…

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Wenn die Kirche einen Tyrannen liebt: Ein Hinweis auf die Geschichte der Dominikanischen Republik

Am 30. Mai 1961 wurde Rafael Leonidas Trujillo, Dominikanische Republik, erschossen.
Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 29.5.2011.

Der Schriftsteller Mario Vargas Llosa, gestorben am 13.4.2025 , hat auch den vielfach beachteten Roman “Das Fest des Ziegenbocks” verfasst (2000, auf deutsch 2001), in dem die politischen Verhältnisse unter dem Diktator Rafael Leonidas Trujillo in der Dominikanischen Republik beschrieben werden. Wir haben 2011 einen Beitrag veröffentlicht – anläßlich der Ermordung Trujillos fünfzig Jahre zuvor -, einen Beitrag, der sich vor allem mit der merkwürdigen, d.h. skandalösen Beziehung des Diktators Trujillo mit der katholischen Kirche, auch mit dem Vatikan, befasst. Dies als ein Beispiel für die Verbundenheit des Vatikans unter Papst Pius XII. mit  rechtsextremen Diktaroren, wenn sie denn nur heftig antikommunistisch sind und nach außen hin alles tun, um die katholische Kirche im Land zu fördern. Kircheninteressen sind wichtiger als Menschenrechte, war das Motto, dem Papst Pius XII. schon im Umgang mit Hitler folgte.

1.

Im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon ist immer Raum für Religionskritik. Und manchmal reicht es aus, anlässlich von „Gedenktagen“ an Tatsachen und Zusammenhänge zu erinnern, die z.B. die enge Verquickung von diktatorischen Regimen mit den Religionen bzw. Kirchen aufzeigen. Etwa die äußerst freundschaftliche Beziehung zwischen der katholischen Hierarchie sowie den meisten Priestern in der Dominikanischen Republik mit dem Regime des Diktators Rafael Trujillo. Er beherrschte das Land von 1930 bis zu seiner Ermordung am 30. Mai 1961. Er wird in Publikationen aus der Dominikanischen Republik heute meist „Tyrann“ genannt, ein Titel, der an die übelsten römischen Willkürherrscher der Kaiserzeit erinnert… In dem dokumentarischen Roman von Vargas Llosa „Das Fest des Ziegenbocks“ wird anschaulich ein Eindruck geboten von den Lebensumständen zur Zeit des Diktators, vor allem in den letzten Wochen vor seinem Tod.

2.

Die Erinnerung an Trujillo ist aus mehreren Gründen wichtig:
Viele Millionen Touristen haben die Dominikanische Republik in den letzten 30 Jahren besucht; die Kenntnis der Geschichte dieses Landes zu vertiefen scheint deswegen eine Notwendigkeit zu sein.
Für religionskritische Fragestellungen ist der Zusammenhang zwischen der Trujillo Diktatur und der Katholischen Kirche des Landes bzw. des Vatikans hoch aktuell, weil dort eine Art Musterbeispiel erlebt werden kann, wie die katholische Kirche bzw. der alles bestimmende Vatikan/Papst einen Diktator duldet und ihn sogar jubelnd unterstützt aus dem einzigen Grund, weil dieser sich finanziell äußerst großzügig gegenüber der Kirche als Institution verhält. Hinzukommt, dass die kirchliche Überzeugung, der Kommunismus sei der allerböseste Feind, das Interesse gefördert wird, einen sich extrem antikommunistisch gebenden Tyrannen zu unterstützen.
So war der Katholizismus in der Dominikanischen Republik damals „doppelt“ gläubig; er glaubte an die Macht seiner immer weiter auszubauenden Institution – selbst mit Geldern des Tyrannen – und er glaubte, dass der Kommunismus der böse Feind sei.

3.

Wir erinnern an einige Fakten:
Rafael Leonidas Trujillo Molina (geb. 1891) war unstrittig einer der extrem brutalen und in vielfacher Hinsicht „gerissenen“ Diktatoren Lateinamerikas; sein Geheimdienst und sein Spitzelwesen haben wahrscheinlich weitere Diktatoren inspiriert…Trujillo betrachtete die Dominikanische Republik als seinen Privatbesitz; die „demokratischen Institutionen“ waren nichts als Kulisse; Menschrechte galten nichts, Oppositionelle wurden verfolgt und bestialisch ermordet; der Diktator beanspruchte den „Zugriff“ auf jede Frau seiner Wahl; die Presse war gleichgeschaltet, das Volk musste diesem grausigen „Benefactor“, dem sich Wohltäter nennenden Herrscher, zujubeln; beinahe jeder Tag des Jahres war ein Gedenktag der Familie Trujillo, die Hauptstadt Santo Domingo wurde nach seinem Namen umbenannt.
Er war nicht nur ein Freund General Francos, sondern auch respektiert von westlichen Politikern, weil er dem Credo der Zeit entsprach, den Kommunismus als den teuflischen Feind schlechthin ausrotten zu wollen. US – amerikanische Politiker unterstützten ihn und er bot ihnen Unterstützung an. Kardinal Spellman (New York) lobte ihn öffentlich in höchsten Tönen. Mit dem Vatikan (Pius XII.) schloss Trujillo am 16. 6.1954 ein Konkordat, Papst Pius XII. empfing ihn persönlich; das Konkordat erklärte den Katholizismus zur offiziellen Religion.

4.

Es ist Ausdruck für Naivität und Dummheit  auch in den “theologischen und kirchenrechtlichen Studien” in Deutschland, wenn etwa Pater Josef Funk SVD in seinem Buch “Die Religion in den Verfassungen der Erde” (1960, Kaldenkirchen) auf Seite 135 voller Lob das Konkordat des Vatikans mit dem Diktator Trujillo bewertet:  “Das Konkordat ist ein wahres Musterbeispiel dafür, wie einträchtig Kirche und Staat miteinander verkehren und wie sie zusammenarbeiten können zum Besten des Volkes”. Pater Funk war Jahre lang, bis ca 1975  Dozent, aber “Professor” genannt an der Ordenshochschule St. Augustin bei Bonn. Ein Foto dokumentiert die Privataudienz, die Pius XII. dem Diktator Trujillo am 16. 6. 1954 gewährte anläßlich der Konkordatsunterzeichnung: LINK:

5.

Vor dem Konkordatsabschluß im Vatikan hatte Trujillo seinen Freund Franco in Spanien besucht, dort erklärte er feierlich: Das dominikanische Volk gehöre zur spanischen Rasse, es sei dadurch zutiefst mit dem katholischen Europa verbunden. Damit grenzte er sich von den „Negern“ im Nachbarland Haiti ab. Dieser Rassismus, diese abgründige Verachtung der Schwarzen, wurde zur volkstümlichen nationalen Ideologie, die das Denken vieler Politiker und so genannter Eliten, aber auch des „einfachen Volkes“ dort bestimmt. So wird den in der Dominikanischen Republik geborenen Haitianern bis heute die gesetzlich zustehende dominikanische Staatsbürgerschaft nicht zuerkannt… „Noch immer kommt es vor, dass Kindern (haitianischer Eltern) in der Dominikanischen Republik die Taufe verweigert wird, damit nicht mit der Taufurkunde die Tür zur Staatsbürgerschaft geöffnet werden könnte“, schreibt Michael Huhn, ein Kenner der Verhältnisse.

6.

Als Trujillo 1930 die Macht übernahm, war die katholische Kirche institutionell und personell äußerst schwach. Der Diktator förderte von Anfang an den Klerus, um im Land Schulen zu errichten; er brauchte die Kirche insgesamt, damit sie in Predigten und caritativen Projekten die Einheit der Nation fördere. Gerade im Grenzland zu Haiti (etwa in Dajabon) setzt er seit 1936 Jesuiten ein, damit sie die „spanische Kultur“ dort verteidigen gegen die ungebildeten „Neger“ im Nachbarland Haiti. Bezeichnenderweise hielt der Diktator dort am 2. Oktober 1937 die Rede, in der die „Bereinigung der Lage“ angekündigt wurde, einen Tag später begann der Massenmord an mindestens 18.000 Haitianern… Die Kirche in der Dominikanischen Republik „bedauerte diese Ereignisse und rief diffus zur Vergebung auf, „als ob nicht klar gewesen wäre, wer Opfer war und wer Täter“, schreibt der Kenner des Landes, der Mitarbeiter des katholischen Hilfswerks ADVENIAT Michael Huhn.

7.

Trujillo ließ es sich nicht nehmen, jede große „kulturelle“ Propaganda – Festivität mit einem Segen des Klerus zu krönen. Er förderte den Bau eines Priesterseminars, „um einen Klerus heranzubilden, der den Kommunismus bekämpft“. Trujillo kümmerte sich persönlich um den Bau des neuen Marienwallfahrtsbasilika „Alta Gracia“ in Higüey, die allerdings erst 1971 eingeweiht wurde, aber er finanzierte den massiven Betonklotz (französischer Architekten), der heute noch von Touristen besichtigt, vor allem aber von frommen Katholiken aus der ganzen Karibik besucht wird.
Der Jesuit Oscar Robles Toledano, Vizerektor der Universität von Ciudad Trujillo und enger Vertrauter Trujillo, wurde 1953 sogar als Mitglied der dominikanischen Delegation zur UNO entsandt; Erzbischof Ricardo Pittini aus dem Salesianerorden (seit 1935 in Ciudad Trujillo) wagte es nie, eine Stimme des Protests in der Öffentlichkeit gegen das brutale Regime zu erheben. „Pittinis öffentliches Verhalten war von totaler Unterwerfung unter die Diktatur geprägt und darüber hinaus lobte er den Diktator öffentlich“, schreibt der Politologe Jesus de Galindez, er wurde nach der Veröffentlichung seiner kritischen Studien vom Diktator umgebracht…
Wer noch einen Rest Glauben sich bewahrt hatte, wurde von dem gleichgeschalteten Klerus enttäuscht.
Dass die Katholische Kirche heute im Land wenig enthusiastisch ist, keine Theologen der Befreiung kennt, rührt von dieser tiefen Entfremdung zwischen den Menschen und der Kirche aus dieser Zeit…

8.

In dem Konkordat verpflichtete sich die Kirche, sonntags in jeder Messe zu beten: „Herr, schütze die Republik und seinen Präsidenten“ (Artikel 26, Protokoll). Katholischer Religionsunterricht wurde nun in allen Schulen obligatorisch; andererseits wurde es der Kirche zugestanden, aus eigener Entscheidung auch ausländische Priester ins Land zu holen. Dadurch hatte sie sich einen letzten Freiraum bewahrt.
Es waren ausländische Priester, Spanier und US Amerikaner, die dann 1960 massiv das Regime kritisierten. Der angeblich so fromme Diktator versuchte, die endlich einmal aufmüpfigen Bischöfe von La Vega und San Juan aus dem Wege zu schaffen. Sie hatten vor allem dafür gesorgt, dass am 25. Januar 1960 von den Kanzeln aller Kirchen ein Hirtenbrief verlesen wurde: Er erinnerte nach dreißig Jahren kirchlichen Schweigens an die Menschenrechte .“Obwohl die Regierung in dem Hirtenbrief mit keinem Satz erwähnt wurde, verstanden die Gläubigen die Kritik“, schreibt Michael Huhn. Als sich allerdings danach der Konflikt zuspitzte, bekamen sie es dann doch mit der Angst zu tun: In einem Brief vom 10. Januar 1961 boten sie dem Diktator als Versöhnungsgeste an, „die Priester aufzufordern, sich nicht weiter zu politischen Fragen zu äußern“, schreibt Michael Huhn, sofern dadurch die Attacken des Diktators auf den Klerus unterbleiben…Diese Ängstlichkeit konnten viele progressive Priester der Hierarchie kaum verzeihen…

9.

Aber als dann nach der Ermordung des Tyrannen in freien Wahlen der eher linke Politiker und Schriftsteller Juan Bosch zum Präsidenten gewählt wurde, unternahm die Hierarchie alles, um ihn als kommunistische Gefahr zu diffamieren. “Noch mehr Ärgernis erregte, dass viele Priester ankündigten, allen Anhängern Juan Boschs die Absolution in der Beichte zu verweigern“, schreibt Michael Huhn…Der Schatten der Tyrannei bestimmte noch Jahre kirchliches Handeln. An einer „Aufarbeitung“ der Vergangenheit zeigt sich die Kirche kaum interessiert… Nach einer nur 8 Monate dauernden Regierungszeit wurde Juan Bosch, auch mit Hilfe des CIA, im September 1963 gestürzt. Ein alter Vertrauter des Tyrannen, Joaquin Balaguer, ein frommer Katholik und Antikommunist, übernahm dann viele Jahre die höchste politische Verantwortung…

10.

30 Jahre lang hat die Kirche der Dominikanischen Republik geschwiegen; sie hat sich unter Trujillo recht wohl gefühlt, weil er den Klerus reich beschenkte, ständig neue Kirchen baute und kirchliche Bildungszentren finanzierte. Bei so viel Wohlwollen war die Kirche bereit zu schweigen, mehr noch: Entgegen aller sonst geltenden rigiden Moralvorstellungen drückten die Bischöfe alle Augen zu, wenn der Diktator seine dritte Ehe nach der Scheidung kirchlich feiern wollte. Und des Diktators unehelichen Kinder wurden kirchlicherseits nicht, wie damals sonst üblich, ausgegrenzt, sondern gefeiert.
Erst als sich weltweit die Stimmung gegen Trujillo drehte, zog die Kirche bzw. der Vatikan mit und entdeckte das Eintreten für die Menschenrechte (auf einmal) als göttliche Pflicht.
Ohne eine Revolution des Denkens, die ein Papst, in dem Fall Johannes XXIII., vollzieht und auch gegen Widerstände durchsetzt, ändert sich nichts Grundlegendes in der römischen Kirche weltweit…

11.

Am 30. Mai 2011 wurde in der Altstadt von Santo Domingo endlich ein Museum eröffnet, das den Widerstand gegen die Trujillo Tyrannei dokumentiert. Es handelt sich um das “Museo Memorial de la resistencia dominicana”, es befindet sich in der Calle Arzobispo Nouel 210, und ist immer dienstags bis sonntags von 9.30 bis 18 Uhr geöffnet; Luisa de Peña Díaz ist die Direktorin des Museums. Dort sind zahlreiche Dokumente des Widerstands gesammelt, es zeigt u.a. die berüchtigte Folterkammer “La 40” in dem Gefängnis des Tyrannen, es bietet ein Verzeichnis von 50.000 Opfern aus dieser Zeit. Die dominikanische Regierung hat das Museum zusammen mit 5 privaten Stiftungen finanziert. 50 Jahre nach dem Tod Trujillos kann eine Zeit der kritischen Besinnung weiter gefördert werden. Ob die Rolle der Kirche dabei kritisch zur Sprache kommt, bleibt abzuwarten.
Jedenfalls wurde eine staatliche Kommission gebildet, die bis zum Jahr 2012 verschiedene Veranstaltungen organisiert, um vor allem den Schülern und Studenten die Zeit der Tyrannei nahezubringen, “denn sie ist der Ausgangspunkt der dominikanischen Demokratie”, sagte Eduardo Diaz, der Präsident der “Stiftung 30. Mai”. Er sprach an dem “Monumento a los Heroes del 30 de Mayo”, und nannte den Tag der Auslöschung des Tyrannen “la noche luz”, “die Licht Nacht”.

Literaturhinweise:
Der Beitrag von Michael Huhn erschien in dem Buch „Kirche und Katholizismus seit 1945“, Band 6: Lateinamerika und Karbik, 2009, Schöningh Verlag, dort die Seiten 229 bis 247.

Jesús de Galindez, La era de Trujillo, Editorial Americana, Buenos Aires, 1958.
Der baskische Hochschullehrer Galindez wurde von Mitarbeitern Trujillos (in Zusammenarbeit mit dem CIA) in New York entführt, in Santo Domingo wurde er, der Oppositionelle, den Haien zum Fraß vorgeworfen. Er gilt noch heute als “verschwunden”. Manuel Vaszquez – Montalban hat über Galindo einen Roman verfasst.

Wir empfehlen außerdem den dokumentarischen Roman von Julia Alvarez, einer Dominikanerin, die in den USA lebt, über die vier Schwestern Mirabal, die sich dem Widerstand gegen Trujillo widmeten und dabei ihr Leben riskierten. Auf Deutsch erschienen im Piper Verlag. Nur eine der Schwestern überlebte den Widerstand. Der Titel: “Die Zeit der Schmetterlinge”.

Hulio Rodriguez Grullon, Trujillo y la Iglesia, Santo Domingo 1991

Jose R. Cordero Michel, Analisis de la era de Trujillo, Santo Domingo 1999.

Lauro Capdevilla, La dictatura de trujillo, Santo Domingo 2000. (aus dem Französischen übersetzt, dort bei Harmattan).

Esteban Rosario, Iglesia catolica y oligarchia, Santiago de los Caballeros, 1991.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

An “Etwas” Glauben. Auf der Suche nach dem göttlichen Geheimnis

Die Etwas-Gläubigen. Immer mehr Menschen in Holland glauben nicht mehr an die kirchliche Dogmatik. Aber an ein göttliches Geheimnis

Von Christian Modehn, ein Beitrag aus PUBLIK FORUM am 23.4.2010.

“Ich bin nicht christlich und auch nicht gläubig. Ich bin aber auch keine Atheistin. So genau weiß ich das alles nicht. Vielleicht gibt es etwas, ein Geheimnis, das unsere Wirklichkeit trägt.« Die Niederländerin Marjoleine de Vos spricht über ihren Glauben so offen, weil sie weiß, dass sich viele andere Menschen in ihren Worten wiederfinden. Sie arbeitet als Journalistin bei der holländischen Tageszeitung NRC Handelsblad.

Über sechzig Prozent der Niederländer sind aus der Kirche ausgetreten, und das nicht nur, weil sie Geld sparen wollen. Sie finden die traditionellen Vorstellungen von Gott und die kirchliche Moral nicht mehr überzeugend und glaubwürdig. »Diese Menschen sind sozusagen am Nullpunkt der offiziellen Kirchenlehre angekommen«, sagt der protestantische Theologe Gijs Dingemans aus Groningen. »Sie haben sich von allem befreit, was sie nicht mehr nachvollziehen können. Und plötzlich entdecken sie: Da gibt es aber immer noch etwas, das alles Alltägliche übersteigt. Diese Menschen nennen wir auf Holländisch die ›Ietsisten‹. ›Iets‹ bedeutet ›etwas‹. Diese Leute glauben immer noch etwas. Aber was ist dieses Etwas?«

Gijs Dingemans hat in Büchern den neuen spirituellen Trend, diese »Etwas-Glaubenden«, untersucht. In der Tageszeitung Trouw wurde darüber wochenlang diskutiert. Tagungen fanden zu dem Thema statt. »Dabei diskutierten wir über die von uns sogenannten ›oberflächlichen Etwas-Gläubigen‹, die eher gleichgültig etwas Beliebiges zwischen Himmel und Erde annehmen, aber nicht weiter danach fragen. Interessanter ist es, mit den selbstkritischen Etwas-Gläubigen zu sprechen. Sie spüren, dass dieses verwunderliche Etwas, das sich mitten im Leben als große Frage zeigt, durchaus ein Weg zum Lebensgeheimnis sein kann«, kommentiert Gijs Dingemans.

Sein Kollege, der Theologe Herbert Wevers, kann dem nur zustimmen: »Nach einem Begräbnis mit mehr als hundert Teilnehmern haben sich viele Jüngere als Ietsisten geoutet«, berichtet der protestantische Pfarrer aus Den Haag. »Angesichts des plötzlichen Todes eines jungen Mannes sagten sie mir: ›Irgendetwas muss es doch über dieses kurze Leben hinaus geben.‹«

Pfarrerin Christiane Berkvens-Stevelinck aus Rotterdam erlebt, dass Ietsisten nicht immer spirituelle Einzelgänger sind. Sie interessierten sich durchaus für kommunikative Projekte, etwa für die Gestaltung neuer Riten anlässlich von Geburt, Hochzeit, Tod, Scheidung. Als Theologin der Remonstranten-Kirche ist die freie Ritengestaltung einer ihrer Arbeitsschwerpunkte. Christiane Berkvens-Stevelinck hat darüber ein Buch geschrieben. »Diese Menschen verspüren eine spirituelle Sehnsucht, sie wollen angesichts wichtiger Lebenserfahrungen über den Alltag hinausschauen.«

Gijs Dingemans meint sogar, in dem auf ein Minimum reduzierten Etwas-Glauben dem göttlichen Lebensgeheimnis auf der Spur zu sein: »Für viele ist der Glaube an etwas Höheres verbunden mit der Bejahung eines unendlichen Geheimnisses, eines Mysteriums. Sie benennen es nicht genauer; vielleicht haben sie eine Scheu, Gott dadurch zu klein zu machen.«

Dingemans weiß, dass die »Etwas-Gläubigen« nicht in die herkömmlichen Kirchgemeinden zurückkehren werden. »Sie erleben das tiefe Lebensgeheimnis beim Spaziergang im Wald, im achtsamen Hören von Musik, beim aufmerksamen Betrachten von Kunst, im Gespräch ohne Hast.« Gibt es bei ihnen neue Formen des Gebets? »Wer seine Hoffnung in brüchigen Worten aussagt, drückt Sehnsucht aus, Unzufriedenheit mit der bestehenden Welt. Und wer das Geheimnis des Lebens als Basis seines Glaubens betrachtet, wird alles Lebendige verteidigen«, sagt der Pfarrer dazu.

Die Ietsisten vertreten keine eigene Moral. Sie folgen den vernünftigen Weisungen einer allgemein-menschlichen Ethik. Doch die Perspektiven reichen weiter: Es entsteht eine größere Ökumene, in der sich Menschen unterschiedlicher Kulturen als gleichrangig verstehen, weil sie sich alle mit dem Geheimnis des Lebens verbunden fühlen. – Die traditionellen Kirchen sind überrascht: So gänzlich unreligiös, wie oft behauptet, sind die Leute, die vor Jahren die Kirchen verließen, offenbar doch nicht.

Noch erstaunlicher: Sogar unter den Christen der katholischen Kirche Hollands zum Beispiel gibt es einen Trend zum »Etwas-Glauben«: Im Jahr 1966 erklärten 38 Prozent der befragten Katholiken, sehr mit der katholischen Glaubenslehre übereinzustimmen; 1996 waren es noch drei Prozent. So kommt für sie ein personaler und trinitarischer Gott nicht mehr infrage.

Bei den protestantischen Kirchen in den Niederlanden ging der Anteil der »streng Gläubigen« von 56 Prozent im Jahr 1966 auf 31 Prozent im Jahr 1996 zurück. Die herkömmliche, alte Dogmatik, dies zeigen heutige Umfragen, gibt es nur noch in den theologischen Lehrbüchern, jedoch kaum mehr in den Köpfen der Gläubigen.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

“Laien gibt es nicht“

“Laien gibt es nicht“: Katholiken in Holland

Holland: Die katholischen Gemeinden sollen aus ihren eigenen Reihen die Vorsteher für die Eucharistie wählen

Von Christian Modehn
Mskr. abgeschlossen am 21. Nov  2007

Einmal im Jahr wählt die Gemeinde „de Duif“ („Die Taube“) an der Amsterdamer Prinsengracht
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