Das Böse in der Welt und der allmächtige, gütige Gott: Pierre Bayles Fragen.

Ein Hinweis anläßlich des Geburtstages von Pierre Bayle am 18. November 1647 (gestorben am 28.12.1706)

Von Christian Modehn

Pierre Bayles Buch „Dictionnaire philosophique“ war eines der am meisten gelesenen Bücher im 18. Jahrhundert. Viele Philosophen der Aufklärung haben dort ihre eigenen Ideen und Vorstellungen entdeckt bzw. vertiefen können.

Eines der Hauptthemen von Pierre Bayle als Philosoph ist die Frage nach dem Bösen in der Welt. Sein Dictionnaire befasst sich ausführlich mit dem Thema. Es geht um die unbestreitbare Aussage: Das Böse, auch das moralisch Böse, existiert in der Welt; daran gibt es keinen Zweifel. Wenn man diese Erkenntnis innerhalb der christlichen Religion mit der göttlichen Wirklichkeit als Schöpfergott verbindet, kommt man zu den für Gott notwendigen Prädikaten: Gott ist gütig. Und. Gott ist allmächtig. Diese beiden notwendigerweise göttlichen Eigenschaften lassen sich aber nicht gleichzeitig widerspruchsfrei denken bezogen auf das Böse. Wäre Gott allmächtig, hätte er das Böse nicht zugelassen, selbst wenn man den Ursprung des Bösen in der Freiheit des Menschen sieht: Warum hat der allmächtige Gott dann die Freiheit als Bedingung des Bösen zugelassen, also auch geschaffen? Will Gott vielleicht nur seine Allmacht (der Erlösung dann) demonstrieren, wenn er die sündigen Menschen dann doch wieder retten will? Und wo bleibt die Güte in einer Welt des Bösen? Der vollständig gütige Gott könnte nicht mehr auch der gerechte Gott, weil er auch die Bösen gütig (also ungerecht) behandeln würde. Und auf seine Allmacht verzichtet, Böse zu bestrafen.

Pierre Bayle zeigt, wie die Vernunft angesichts der Gottesfrage nicht weiterkommt.

Manche Interpreten meinen: Bayle wollte so den Glauben, als blinden, unvernünftigen Sprung in den Glauben, rechtfertigen. Dabei ist bekannt, dass Bayle selbst als Calvinist nicht allzu viele religiöse persönliche Leidenschaften hatte.

Andere, wie die Bayle Interpretin Elisabeth Labrousse, plädieren für eine skeptische Deutung: Bayle wollte zeigen, dass Menschen wichtige religiöse Fragen gar nicht erkennen können. Er wollte für Bescheidenheit und Toleranz eintreten.

Bayle war (und ist) ein viel beachteter Philosoph (er war auch Theologe). Königin Sophie Charlotte in Berlin schätzte ihn und besuchte ihn, den protestantischen Flüchtling aus Frankreich, sogar in Rotterdam; Leibniz sah in ihm wohl einen der entscheidenden, anregenden Gegner. Im Schloß Charlottenburg zu Berlin diskutierte er mit König Sophie Charlotte über Bayle … das waren noch Zeiten …

Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon

Böse Diktatoren und grausame Herrscher: Zur Aktualität des Schriftstellers de Sade.

Hinweise zum „Marquis de Sade“

Von Christian Modehn

Haben die grausamen und bösen Herrscher heute, die sich Politiker nennen und als solche auch in der internationalen Gemeinschaft behandelt werden, haben diese Herren also de Sade gelesen? Wahrscheinlich nicht. Aber sie handeln wie der Marquis aus dem 18. Jahrhundert: Er hat offenbar in seinen Texten seelische Dimensionen freigelegt, die nicht nur ihn allein betreffen, sondern eben auch andere Menschen, Herrscher, Übermenschen, Halbgötter. Angesichts der bestialischen Brutalität so vieler, etwa in Syrien jetzt, in Yemen, im Südsudan oder am Kongo usw., von der indirekten Grausamkeit der Waffenproduzenten usw. ganz zu schweigen, ist eine Reflexion auf die (viel beachtete) Schriftstellerei des Marquis de Sade vielleicht hilfreich. Denn Hintergrund seiner grausamen Lebenspraxis und “Philosophie” ist die Erfahrung der total bösen Welt bzw. Natur und dem entsprechend: die Erfahrung eines Gottes, der selbst grausam ist. Und was tun solche Menschen, die solches erleben und meinen erkannt zu haben, etwa als Herrscher und Dikatoren: Sie folgen eben dieser bösen Natur, diesem bösen Gott, diesem göttlichen Bösen … und gerieren sich selbst grausam. Wie Diktatoren und gewalttätige Herrscher das göttlich empfundene Böse verehren, wäre ein eigenes Thema.

Aufgrund zahlreicher Diskussionen im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin wird hier noch einmal ein Text über de Sade vorgestellt und zur Diskussion empfohlen, verfasst Ende 2014.

Vor 200 Jahren, am 2. Dezember 1814, ist der Marquis Donatien Alphonse François de Sade im Alter von 74 Jahren im Hospiz zu Charenton gestorben.

Für den „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ ein Anlass, an den sich Philosophen nennenden Schriftsteller und sein umfangreiches Werk zu erinnern: „Sein Angriff auf Gott übertrifft an Unerbittlichkeit alles Dagewesene“, so die Philosophin Susan Neiman in ihrem Buch „Das Böse denken“ (Suhrkamp Verlag, 2006, Seite 286). De Sades Werk (und sein Leben) können – wenn man denn sehr starke Nerven hat – Einsichten gewähren in die widerwärtigsten Aspekte und Abgründe der menschlichen Existenz. „Sade wollte, dass seine Leser (durch die geschilderte Flut von Schreckensbildern,CM) leiden“ (S. 259). „Für diesen Philosophen haben sogar deskriptive Schilderungen normative Kraft“ (S. 262). Und diese Beschreibungen sind fast immer ausführliche Darstellungen von Qualen und Leiden, die Herrenmenschen, Männer, gelegentlich auch Frauen (Juliette usw) unschuldigen Opfern der eigenen Lust wegen antun. De Sade kennt absolut kein Mitleid, keine Empathie; die Protagonisten seiner umfangreichen Texte töten und zerfleischen z.B. ihre eigenen Kinder, aus dem einzigen Grund, „ihre Orgasmen zu steigern“, betont Susan Neiman (ebd.).

Interessant und weiter zu diskutieren ist ein Hinweis zur aktuellen Bedeutung des „Philosophen“, den jetzt der de Sade Biograph, der Historiker Prof. Volker Reinhardt mitteilt: „Mit dem Grauen der nationalsozialistischen Konzentrationslager und der stalinistischen Gulags … gewannen die de Sadeschen Visionen einer entmenschlichten Welt unheilvolle Aktualität. Ähnlichkeiten zwischen den Folterschlössern seiner Romane und den Vernichtungslagern der SS traten im Licht der historischen Erfahrung gespenstisch hervor. In Auschwitz wie in Silling (einem der Lust-Folterorte de Sades, CM) galt das Töten wehrloser Opfer als verdienstvolle Tat, der ein höherer Befehl zugrunde lag. Für die „Libertins“ (also jene sich absolut frei=unverantwortlich  fühlenden „Philosophen“ des 18. Jahrhunderts CM) in den Werken de Sades war es der Wille der Natur, der die Schwachen ausgelöscht sehen wollte“ (Volker Reinhardt, De Sade. C.H. Beck Verlag München 2014, S 414f).

„Die Natur“ deutet de Sade als System allgemeiner Unordnung, Brutalität und Ungerechtigkeit. Es gibt für ihn keinen göttlichen Plan im Ganzen der Welt. Die einst religiös verklärte „Vorsehung“ (also das Gelenktsein der Welt durch einen guten Gott auch in allen Schicksalsschlägen) wird nun „barbarisch“ (siehe S. Neiman, S. 275) genannt. In einer solchen sinnlosen wie grausamen Welt/Natur, meint de Sade, sei es für den gebildeten Menschen nur konsequent, dieser Natur eben zu entsprechen und also seinerseits grausam zu leben und zu handeln. Brutalsein heißt also nur Natürlichsein in dieser oberflächlichen „Philosophie“. In einer eigentlich bösen Schöpfung ist es sozusagen das Beste, wenn der Mensch böse handelt. Dass dabei nur die Wahnvorstellungen einer kleinen Clique von absoluten Herrschern und Herrenmenschen bedient werden, kann de Sade nicht wahrnehmen. Mir scheint, er kann seinen eigenen hermeneutischen Standpunkt nicht reflektieren; das ist ein entscheidender Mangel für einen, der sich Philosoph nennt.

Georges Minois fasst in seiner umfangreichen Studie “Geschichte des Atheismus” (Weimar 2000, S. 443) dieses besondere Profil des Schriftstellers de Sade zusammen: “Das Abgleiten zur Moral des Übermenschen ist hier offenkundig, jedoch mit jenem =sadistischen= Akzent, bei dem das individuelle Glück im Unglück der anderen besteht. Der Mensch, der mit der Natur im Einlang lebt, ist der böse Mensch. Es ist die Natur, die die Verbrecher hervorbringt”.

Wenn man aber noch –traditionsbedingt – die Natur/Welt für eine Schöpfung Gottes hält, dann muss man – so de Sade – selbst Gott für eine „ungebrochen bösartige Macht“ (so die Interpretation von Susan Neiman) halten. De Sade schreibt: Ein solches göttliches Wesen muss „äußerst rachsüchtig, barbarisch, ungerecht und grausam sein … grausamer noch als jeder Sterbliche (Zit. von Susan Neimann, S. 283). Der Gott de Sades ist ein grausamer Gott. De Sade lässt über seinen Protagonisten Saint Fonds den Gott sagen: „Hat euch das immer wiederkehrende Unheil, mit dem Ich das Universum überflute, nicht davon überzeugt, dass ich einzig Aufruhr und Chaos liebe und ihr mir nacheifern müsst, um mir zu gefallen“ (zit in S. Neiman, S. 285).

Der „Philosoph“ de Sade lehnt Gott total ab, ist aber doch bereit, diesem grausamen sozusagen „atheistisch fromm“ zu entsprechen: Indem er – in seiner Praxis und schlimmer noch in seinen unerträglichen Texten – selbst grausam wird.

Wenn sich die Frage nach der Geltung von Tugenden und ethisch gutem Leben stellt, so bietet de Sade eine – es sei erlaubt dies zu sagen – eine postmoderne Antwort: „Tugend und Laster sind einzig eine Frage der Sitten und Gebräuche eines Landes, nichts anderes“ (interpretiert Susan Neiman diese Überzeugung de Sades, S. 279). Noch einmal: „Tugend und Laster sind lediglich eine Sache der Meinung und der Geographie“ (S. 278). Bei dieser total gewollten und behaupteten (!) Relativität gibt es also keinen verpflichtenden Grund, selbst tugendhaft zu sein, im Gegenteil: Bei dem bösen Gott und der ohnehin grausamen Natur soll der Herrenmensch bitte schön seinerseits grausam sein. Das ist seine wahre Tugend. „Juliette (die grausame Protagonistin eines der berühmten Romane) vergottet die Sünde“ (S. 282).

Dass die Welt insgesamt von Grausamkeit geprägt ist, bedarf keiner Verdeutlichung, wenn es um eine bloße Phänomenbeschreibung geht. Bei de Sade kommt eine neue Dimension hinzu: Die letztlich totale Zerstörung selbst wird als Projekt und als Ziel behauptet. Und in der grausamen Zerstörung wollen bestimmte Herrenmenschen noch ihre letzte Lust erleben. Und dieser Aspekt interessiert die Menschen. „Wie jedem großem Verbrecher gelingt es de Sade, uns durch sein Werk zu faszinieren, und es sieht nicht so aus, als würde es an Anziehungskraft verlieren“ (S. 286).

Interessant ist, dass die Philosophin Susan Neiman de Sade mutig einen „großen Verbrecher“ nennt. Dem stimmen einige französische Schriftsteller und Künstler überhaupt nicht zu. Volker Reinhardt skizziert im Schlusskapitel seiner genannten, umfangreichen Studie von 2014 einen breiten Strom von französischen Autoren (Nietzsche kannte den Marquis offenbar nicht. Volker Reinhardt weist auf durchaus inhaltlich ähnliche Perspektiven hin).

Diese französischen Schriftsteller gehören, voller Wohlwollen und Sympathie für den Marquis, zur positiven Wirkungsgeschichte des „großen Verbrechers“ (Neiman). Allein die Tatsache erweckt schon Erstaunen, dass die Werke de Sades in der berühmten „Bibiothèque de la Pléiade“ (im durchaus „berühmten“ und hochangesehenen Verlag Gallimard, Paris) vorliegt, sozusagen neben den Werken von André Malraux und Milan Kundera steht. Darf man fragen, ob dorthin de Sade gehört? Aber etliche große Autoren wie Baudelaire, Apollinaire, Bréton usw. haben de Sade als Helden der Freiheit und Emanzipation gefeiert und von dem „guten Menschen de Sade“ allen Ernstes gesprochen. Selbst Albert Camus, sonst kritisch gegenüber Gewaltideologien wie dem Stalinismus, wollte de Sade „Ehre erweisen“. Viele die sich mit diesem gewalttätigen „Philosophen“ befasst haben, sagt Volker Reinhardt (S. 392) „haben seine (de Sades) Sprache und Ideen entschärft, indem sie ihn für ihre eigenen Vorstellungswelten und Theorien vereinnahmt haben“ Reinhardt spricht sicher zu Recht bei diesen von Sympathien für de Sade dahinschmelzenden Autoren von „selektiver Lektüre und der „Kunst des zielgerichteten Weglassens“ (ebd.).

Der Historiker Volker Reinhardt hat zweifelsfrei recht, wenn er nicht als Moralapostel auftritt, sondern den Menschen de Sade und sein Werk verstehen will. Sicher sind die entsetzlichen Dimensionen, die er beschreibt, doch Teil der menschlichen Psyche. Und wer verstehen will, muss auch die historischen Umstände seiner Zeit, auch der früheren Zeit der Kirche, verstehen: Haben wir vergessen, wie der Dominikanermönch Las Casas voller Abscheu die Morde an den „Indianern“ durch die spanischen Eroberer, allesamt strenge Katholiken, beschreibt? Haben wir vergessen, wie die Opfer der Inquisition nach langem Foltern auf den Scheiterhaufen verbrannt wurden? Über erotische Empfindungen der Henker ist dabei kaum die Rede. Dies ist der Unterschied zu de Sade. Er erlebte einen Staat und eine Kirche, die voller Lüge und voller Gewalt waren. Beides hat der heranwachsende junge de Sade gesehen und gern übernommen.

Der Marquis wuchs in einer Region auf, die weitgehend noch zum Herrschaftsgebiet des Papstes gehörte, es handelte sich um das „Comtat Venaissin“, das nach dem Sieg über die ketzerischen Katharer (Albigenser, die „Reinen“) im 13. Jahrhundert dem römischen Oberhaupt zufallen war. Wie die Katharer, so Reinhardt, meinte de Sade, noch gegen die Diktatur des offiziellen Christentums, der Kirche, vorgehen zu müssen.

Der kleine Marquis Donatien Alphonse François de Sade (geboren am 2. Juni 1740) wurde vor allem von seinem Onkel, dem Weltpriester Abbé Jacques Francois de Sade, erzogen, dieser war, wie Reinhardt schreibt, „den fleischlichen Genüssen überaus zugetan“. In seinen ersten literarischen Texten verarbeitet der junge Marquis seine Erfahrungen mit dem auf Lust und Pfründen bedachten Klerus; de Sade zeigt sich, so Reinhardt, „als konsequenter Gegner des Christentums, das er als Betrug im Dienste der Mächtigen demaskieren will“ (S. 47). „Der Klerus ist für den Marquis eine gigantische Hilfstruppe der Despoten zur Verdummung und Ausbeutung der Masse, die es ihren Blutsaugern durch ihren stumpfen Abergauben nur zu leicht macht (ebd).

Die „Wurzeln“ für die spätere radikale Gottesleugnung des Marquis wurden also in praktischen Erfahrungen in der Jugend schon gelegt. „Bruder Raffael etwa, der einflussreichste unter den mörderischen Mönchen des Horror Klosters Saite Marie des Bois genießt die besondere Gunst des Papstes, damit ähnelt der Mönch von ferne dem Abbé de Sade…“(S. 49).

Später studierte der junge Marquis im hoch angesehenen und sehr teuren Jesuitenkolleg Louis le Grand in Paris, dort wurde er in die Welt des Theaters eingeführt und erlebte zum ersten Mal die Qualen christlicher Blutzeugen, der Märtyrer, aber auf der Bühne. Kaum verheiratet, in einer arrangierten Ehe, kümmert sich der Marquis um „Lust-Stützpunkte“ (S. 76) in Versailles und anderswo, wo er seine Damen zwingen will, heilige Gegenstände, Kreuze usw. zu entehren. Wenn die gekauften Damen sich weigerten, vollzog er selbst allein die Profanierungen (78). Er hatte eine tiefe „Wut darüber, (religiös) in die Irre geführt und mit der falschen Religion abgespeist worden zu sein. Damit protestierte der Marquis gegen eine Gesellschaft, die sich mit dem wirkungslosen, bedeutungslosen Gott eingerichtet hatte, sein Atheismus war auch eine „Rebellion gegen die Gesellschaft“ S. 79). Diese verlogene Gesellschaft hindert den Marquis daran, so meinte er, seine eigenen sexuellen Gelüste umfassend ungestört auszuleben.

Zur weiteren Biographie verweisen wir gern auf das Buch von Volker Reinhardt, dabei wird deutlich, wie stark der Marquis einerseits von Lügen lebte, etwa auch im Umfeld der Französischen Revolution in Paris. Er selbst wollte unbedingt durch Lügen sein eigenes Leben schützen. Den Nihilismus, den er gegenüber seinen Opfern anwandte, galt nicht für ihn selbst. Der nihilistische Denker wollte sehr gern gut leben. Das Leben war ihm doch ein positiver Wert…

Jedenfalls erobert sich de Sade seine absolute Herrschaft über die dann nur als Dinge, als Gegenstände, verstandenen Menschen.

Eine von vielen Fragen zu de Sade bleibt weiter offen: War er psychisch krank und wenn ja, was wahrscheinlich ist, wie bestimmt war die seelische Krankheit.

Fest steht: Das Leiden der sexuellen Opfer wurde von de Sade als Lustmaximierung erlebt (S. 39). Reinhardt spricht auch von einem „völligen Mangel an Empathie“ (S. 81). „De Sade nahm mit seiner üblichen Gleichgültigkeit für das Leiden der anderen den gesundheitlichen Ruin und sogar den Tod seiner Lustobjekte in Kauf“ (S. 121). Hatte sein Gehirn vielleicht bestimmte physische Schäden, aufgrund derer er sozusagen von einer moralischen Verantwortung entlastet werden könnte?

Wie weit kann das Ausleben der Lust gehen: Das ist die Kernfrage der Texte de Sades. Hintergrund für diese (kranke) Lebenspraxis ist die Überzeugung: Der Mensch ist nur Materie, sonst nichts (S. 180). Eine Überzeugung, die man auch heute oft hört. Diese Natur zwingt förmlich bestimmte Menschen dazu, Laster zu haben. Dies ist das Glaubensbekenntnis des Herrn de Sade. „Der Mensch ist ein zum Egoismus verdammtes Triebwesen“ (S. 278).

Soll dieser Egoist nur aufpassen, dass er nicht von anderen Egoisten erschlagen wird, um es einmal in einer schlichten utilitaristischen „Ethik“ zu sagen. Dass de Sades Denken auch heute nicht von gestern ist, haben diese knappen Hinweise sicher gezeigt. Über die aktuelle Gewalt in der Welt, den Städten, könnte durchaus einmal im Zusammenhang mit de Sade gesprochen werden. Warum hat P.P. Pasolini 1975 den Film „Die 120 Tage von Sodom“ realisiert? Was spürte er, wie stark war sein Wissen, dass die von de Sade beschriebene Grausamkeit heute lebt? Wie außergewöhnlich und „einmalig“ ist die von de Sade beschriebene Grausamkeit? Braucht “man” die Schilderungen solcher Monstrositäten, um an die eigenen Möglichkeiten der eigenen Verirrung erinnert zu werden? Haben diese bestialischen Schilderungen de Sades als Schilderungen dann einen gewissen Charakter der “Reinigung”? Sind etwa Menschen, die de Sade gelesen haben, dadurch bessere Menschen geworden? Darüber wurde bisher nicht berichtet.

Die Bücher von Volker Reinhardt und Susan Neiman liegen zur weiteren Diskussion vor. Über den radikalen Atheismus des Marquis wäre noch ausführlicher zu sprechen. „De Sade und die Gottesfrage heute“ wäre ein Thema auch für (christliche) Akademien. Die Frage ist: Wie kann Gott als gut bezeichnet werden in einer Welt der Grausamkeit (auch heute)? Ist Gott nun gut oder grausam? Ist er beides? Oder sind es zwei Götter? Ist die Frage nach Gott in dem Zusammenhang vielleicht gar abwegig? Aber: Diese Frage bewegt die Menschen seit Urzeiten. Sie könnte doch wieder einmal gestellt werden, ohne dogmatische Scheuklappen oder vorgegebene Katechismuswahrheiten.

In unserem “Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin” werden wir diese Frage aufgreifen.

Copyright: Christian Modehn Berlin, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Der Mensch ist böse… und von Gott geschaffen. Ein religionsphilosophischer Salon

Der religionsphilosophische Salon Berlin nimmt sich am MITTWOCH, den 26. Oktober 2016, ein schwieriges Thema vor, bei dem schon jetzt absehbar ist, dass man da nicht mit klaren Definitionen die Diskussion beruhigt verlassen kann. So ist das mit der Philosophie: Sie fördert das weitere Fragen und Suchen! Kant sprach vom “Hang (Tendenz) zum radikal Bösen im Menschen”: Wie lässt sich das be-greifen und wie “bewältigen”?

Wegen der Veranstaltungen der Galerie Fantom können wir diesmal nicht an einem Freitag, wie sonst eher üblich, zusammenkommen. Ich hoffe, auch dieses Datum am Mittwoch “passt”. Und nochmals Danke an den Verein der Galerie Fantom, dass wir nun schon seit einigen Jahren die Räume der Galerie Fantom zur Miete nutzen können. Solche Großzügigkeit ist ja nicht selbstverständlich in Berlin (wo es, nebenbei gesagt, immer noch kein eigenes “Haus der Philosophie” gibt, hingegen mehrere Literaturhäuser…)

Der Ort unseres Salons: Hektorstr. 9 in Wilmersdorf. Beginn: 19 Uhr. Studenten haben freien Eintritt. Die anderen sollten, wenn möglich, 5 Euro für die Raummiete zahlen.

Das Thema “Der Mensch ist böse…. und von Gott geschaffen” ist bewusst kurz vor dem Reformationstag (am 31.10.) gewählt. Wir nehmen Bezug auf neue philosophische Arbeiten zum Bösen, etwa auf das Buch von Bettina Stangneth “Böses denken” (Rowohlt 2016), aber auch auf die umstrittene, aber allgemeine christliche Lehre von der Erbsünde. Und wir fragen uns, ob eine christliche Spiritualität, ob christlicher Glaube möglich und sinnvoll ist, ohne das seit Augustin gängige, sich orthodox nennende Konzept der Erbsünde. Luther (und Calvin) sah das Verderben der Erbsünde so total, dass er für die freie philosophische Überlegung (als Hilfe im Leben) nichts übrig hatte. In dieser Überlegung werden uns auch die Studien des Philosophen Kurt Flasch inspirieren. Schon jetzt dazu herzliche Einladung. Details folgen. In jedem Fall plädieren wir, vom religionsphilosophischen Salon,  selbstverständlich für die Gültigkeit der freien Form der Philosophie, die nicht nur “von der Sünde Verdorbenes” hervorbringt…

Zur Ergänzung: Der Text des newsletters, der an 420 AbonnenTinnen am 16.10. gesendet wurde: 

Der nächste Salon findet ausnahmsweise an einem Mittwoch statt, am Mittwoch, den 26. OKTOBER 2016 um 19 Uhr in der Galerie Fantom, Hektorstr. 9 in Wilmersdorf. Dazu herzliche Einladung! Für die Raummiete bitte ich um 5 Euro.

Unser Thema, durchaus wieder aktuell:

„Gott ist gut – aber die Menschen sind böse“.

Es geht also um die Frage: Wie lässt sich in philosophischen Reflexionen zum (moralisch) Bösen Stellung nehmen? Hilft der biblische, immer noch kirchlich vertretene Mythos der Erbsünde da weiter? Darauf spielt der Titel an. Oder kann das böse Tun der Menschen auch in der Begrenzung auf den Menschen selbst verstanden – und möglicherweise eingeschränkt werden? Wird das Böses-Tun reduziert oder gar verhindert, wenn die kritische Reflexion des Menschen auf sich selbst gepflegt, gebildet und Allgemeingut wird? Das war dich der Anspruch der uns so wichtigen AUFKLÄRUNG!

Ist das moralisch Böse an die dumme Gedankenlosigkeit in einer für Kritik blinden Gesellschaft gebunden? Liegt darin der tiefere Sinn des Wortes von der „Banalität des Bösen“? Ein Wort, das die Philosophin Hannah Arendt auf den eigentlich zur Selbstreflexion unfähigen, für sich selbst gedankenlosen „Schreibtischmassenmörder“ Adolf Eichmann anwandte? Auch auf Kants Wort vom „radikal Bösen“ werden wir uns beziehen, um so Impulse zu geben, für eine etwas tiefer gehende Klärung des moralisch Bösen. Dabei werden wieder einmal, auch explizit, die Größe und die Grenze philosophischer Reflexion deutlich.

Nebenbei: Der Titel mit Blick auf den biblischen Mythos der Erbsünde wurde auch wegen der Nähe zum Reformationsfest am 31. Oktober gewählt. Bekanntlich spielte die Erbsünde (leider) eine entscheidende Rolle im Denken der Reformatoren Luther und Calvin. Ihre polemische Abweisung von der teuflischen Vernunft und der Philosophie hat darin ihren Grund. Ob ein Christentum ohne den Mythos Erbsünde aus kommt, könnte sich im Verlauf unserer Debatten zeigen. Zum Thema Luther und die Philosophie habe ich einen kl. Beitrag verfasst, zur Lektüre klicken Sie bitte hier.

Ich bitte um Anmeldung per email,nicht nur wegen der begrenzten Plätze in dem Philosophischen Salon, sondern auch, um den angemeldeten TeilnehmerInnen vorher noch ein paar kurze Texte zur notwendigen gedanklichen Vorbereitung zuzusenden. Wer sich eine sehr sinnvolle und wertvolle philosophische Lektüre gönnen will, was ich ja für unseren Salon eigentlich immer empfehle: Sollte das neue Buch der Philosophin Bettina Stangneth „BÖSES DENKEN“ (bei Rowohlt 2016 erschienen, Preis: 19,95 €) lesen.

Mit freundlichen Grüße und auf ein Wi(e)dersprechen,

Christian Modehn

Bitte schon vormerken: Der Salon im November findet wegen der Nähe zu dem von uns traditionell gefeierten Welttag der Philosophie schon am FREITAG, den 18. November 2016 um 19 Uhr statt. Am 14. November denken alle Philosophen an den 300. Todestag des großen LEIBNIZ, darum werden wir aus dem Umfeld seines Denkens debattieren, Näheres folgt.

Denk mal: Zum Tag des offenen Denkmals.

Ein philosophischer Hinweis von Christian Modehn

Am vergangenen Wochenende (am 10. und 11. September 2016) fand wieder der „Tag des Offenen Denkmals“ statt, ein kulturelles Ereignis, das offenbar immer mehr Interessierte findet und nicht nur in Deutschland „begangen“ wird. Auch über diese beiden”Gedenktage” hinaus bleibt die Besinnung auf das, was offene Denkmäler denn zu denken geben, wichtig. Der Tag des offenen Denkmals ist vom Titel her verlockend für eine philosophische Meditation. Und sie könnte sozusagen wie eine Art Begleitmusik gelten für alle, die an dem Tag und auch sonst Orte und Häuser betreten und betrachten, die sich – offiziell – Denkmäler nennen.

Zunächst könnte man sprachphilosophisch meinen, das Substantiv Denkmal sei ursprünglich eine verbale Befehlsform gewesen, in dem Sinne von „Nun denk mal“ angesichts eines bestimmten Raumes und Ortes. Ich finde die Erneuerung des Denkmal-Begriffes aus dem Geist der verbalen Aufforderung „Denk mal!“ recht hübsch und hilfreich.

Die philosophische Frage wäre vorher aber doch die: Welche Gebäude, Orte und Räume werden dann vom wem eigentlich zu Denkmälern offiziell erklärt? Ich denke, mit starker Abwehr, an die überall noch anzutreffenden Denkmäler der Kriegshelden, „die für Volk und Vaterland gestorben“ sind, im 1. Weltkrieg etwa. Mir tun die Hinterbliebenen natürlich leid und die Toten selbst auch, die sich in jungen Jahren als “Kanonenfutter”, der Begriff ist treffend, im Rahmen des nationalistischen Wahns (von anderen Europäern und Christen ebenso) abknallen lassen mussten. Schlimm ist, dass diese Denkmäler heute auf die Kriegsumstände, also etwa auch auf das „Kanonenfutter“, nicht aufmerksam machen. Von daher sind diese Denkmäler in dieser gegebenen Form (!) eben wohl keine Orte, die von vornherein zum Bedenken des Friedens und der Überwindung jeglichen Nationalismus führen. Wo sind genauso zahlreich vertreten die Denkmäler, Denkräume, etwa für die wenigen Widerstandskämpfer in der Nazi-Zeit?

Es gibt auch Orte, die noch keine offiziellen Denkmäler sind, dies aber – zumal in diesem Jahr – werden sollten: Etwa die Orte und Plätze, wo Flüchtlinge im vergangenen Jahr willkommen geheißen wurden; und die Flüchtlings – Unterkünfte, die vielen, die von Rechtsradikalen dann in Brand gesetzt wurden aus purem Hass. Diese Häuser sind Denkmäler, dort sollte man verweilen im Sinne von Denk-Mal politisch weiter!  Also: Denken an den Humanismus, als der Basis menschlichen Miteinanders. Denken an die spontane Hilfsbereitschaft als Ausdruck eines neuen menschlichen Miteinanders! Aber diese Orte kommen in den Listen der Denkmals-Orte am 10. oder 11. September nicht vor. Ähnliche Gedenkorte wären etwa auch jene Häuser, wo heute die Büros von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International untergebracht sind. Lebendiges und aktuelles Gedenken könnte man das nennen.

Natürlich kommt man, philosophisch gesehen, überall und immer ins philosophische Denken. Darum sollte man beim Tag des Offenen Denkmals eben unterscheiden: Einerseits wird das Denken aktiviert im Sinne des klassischen, kulturellen historischen Wissens: Ich sollte also lernen und wissen, so lautet die Aufforderung, dass in diesem Schloss XY, als Denkmal, Großfürst Isidior mit seiner Geliebten Charlotte im 18. Jahrhundert lebte. Das ist alles Sache der Historiker, die bei den Denkmälern zurecht ihre Aufgaben sehen.

Andererseits: Das philosophische Denken und Gedenken ist vom historischen Wissen und Gedenken auch verschieden: Philosophisch wird es, wenn man fragt: Warum gibt es eigentlich bestimmte Orte und Räume, die explizit an einigen Tagen zum Denken auffordern? Sind nicht alle Orte erstaunlich? Ist nicht mein Leben, unser Leben, erstaunlich und verwunderlich? Von Sokrates wird berichtet, dass er auf der Straße längere Zeit meditierend “verwundert” stehen blieb und nur nach nachdachte. Thaumazein nannten die Griechen diese elementare philosophische Erfahrung! Worüber wundert sich der Philosoph und kommt dadurch ins Denken? Über das Erstaunliche, dass er da ist, dass die Welt da ist, dass wir erkennen können, gut sein können, leben dürfen, andere Menschen als Geschenk erleben usw. Von daher ist für Philosophen jeder Tag ein Tag des offenen (also einladenden) Denk Mal! “Tage des offenen Denkmals” wären philosophisch gesehen Tage, an denen sich Menschen austauschen über dieses Erstaunen, dieses sokratische “Thaumazein”…

Damit ist gar nichts gegen das Bedürfnis gesagt, historisch viel mehr und immer mehr zu wissen von den offiziell zu denkwürdig erklärten Häusern. Aber alle, die am 10. und 11. September durch Denkmäler laufen oder durchgeschleust werden und sonst sowieso durch Museen fotografierend eilen, sollten sich aber fragen: Was geben und bedeuten mir diese Räume und Orte denn nur wirklich für mich in meinem Leben und in meinem Fragen? Geben sie mir zu denken? Oder habe ich gar schon wieder schnell vergessen, was denn Großfürst Isidor mit seiner Charlotte in seinem Schloss XY alles gemeinsam unternommen hat? Kurz und gut: Historisches Wissen ist flüchtig, weil es im allgemeinen nicht den eigenen Geist, die “Seele”, berührt. Historisches Wissen muss per se äußerlich bleiben und wird deswegen leider oft schnell vergessen. Philosophisches Wissen, es ist Weisheit, ist anders: Da erinnert man sich sein Leben lang an eine Erschütterung, die viele Minuten dauerte, weil man sich angesichts von Großfürst Isidor, um bei diesem Beispiel zu bleiben, doch fragte: Was macht eigentlich gemeinsames Leben aus, was bedeutet Macht und Herrschen, was bedeuten Reichtum und Luxus im Schloß XY?

Bemerkenswert von philosophischer Seite ist: Auch Kirchengebäude, manchmal Gotteshäuser genannt, sind bei den Tagen des offenen Denkmals, in Berlin etwa, reichlich vertreten. Eigentlich wird ja in Kirchen de facto mehr das Beten gepflegt und das Singen usw als das umfassend kritische Denken. Darum ist es bemerkenswert, dass sich die Kirchengemeinden selbst dem Denken verpflichtet wissen: In Kirchen soll also ganz offiziell auch philosophisch und kritisch und religionskritisch gedacht werden! Das wäre ja eine frohe Botschaft!

Trotzdem meine ich: Wir alle brauchen wohl auch philosophische Tage des „Denk mal!“ Und diese Tage sind eigentlich immer, an jedem Tag.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Salon am Freitag, den 23. September 2016: “Erfindet euch neu!”

Der nächste religionsphilosophische Salon findet am FREITAG, den 23. September 2016, um 19 Uhr in der Kunst-Galerie Fantom in der Hektorstr. 9 in Wilmersdorf statt. Das Thema wird sich auf das Buch des französischen Philosophen Michel Serres beziehen: “Erfindet euch neu!” (bei Suhrkamp erschienen, 77 Seiten, 8,30 €).

Dr. Hans Blersch, Mathematiker und praktischer Philosoph und etlichen Teilnehmern unseres Salons bereits bekannt, wird uns in das Thema einführen. Die These von Michel Serres, wie sie auf dem Buch Cover “Erfindet euch neu” mitgeteilt wird, heißt: “In der kurzen Zeitspanne, die uns von den siebziger Jahren (1970 ff.) trennt, ist ein neuer Mensch geboren worden. Er oder sie … kommuniziert nicht mehr auf die gleiche Weise, nimmt mehr dieselbe Welt wahr, lebt nicht mehr in derselben Natur” (wie etwa Michel Serres, Jahrgang 1930!). Ist also (schon wieder ?) ein Bruch der Generationen entstanden? Ist die junge Generation (in Europa oder weltweit ?) der alten überlegen? Hat die ältere Generation die Chance, sich neu zu erfinden? Dies sind nur einige Fragen, die sich spontan stellen.

In jedem Fall: Herzliche Einladung. Und – wegen der begrenzten Plätze – bitte Anmeldung an: christian.modehn@berlin.de   Teilnahmegebühr für die Raummiete: 5 Euro. Studenten bezahlen nichts… Es wird ein interessanter Gesprächs-Abend zur Möglichkeit, “sich neu zu erfinden”…

Mutter Teresa, die Heilige mit dem Burn-Out!

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 27.8.2016

Eine Ergänzung am 1.9.2016: Die folgende Kritik an Mutter Teresa erscheint mir selbst noch viel zu milde, wenn man die Studien von Geneviève Chénard (2013) (“Les côtés ténébreux de Mère Teresa”) berücksichtigt oder die älteren Arbeiten von Christopher Hitchens oder die Hinweise des indischen Schriftstellers Aroup Chatterjee. Unser Beitrag bleibt dennoch lesenwert, weil er auf die seelischen Leiden der Mutter Teresa hinweist, die 50 Jahre dauerten und nicht “bearbeitet” wurden…

Am 4. September 2016 hat Papst Franziskus auf dem Petersplatz die katholische Ordensfrau Mutter Teresa (geb. 1910 in Skopje, gestorben 1997 in Kalkutta) heilig gesprochen. Nach katholischer Lehre ist sie nun nicht nur göttlich bestätigtes Vorbild für alle Katholiken. Sondern auch, „zur Ehre der Altäre erhoben“, wie die offizielle Lehre betont, ist Mutter Teresa für die bittenden Menschen, die sich an sie „wenden“, so etwas wie eine Art Beistand „an Gottes Thron“. Über dieses immer noch gültige römisch-katholische Denkbild ließe sich ausführlicher diskutieren im Jahr der Erinnerung an die Reformation…   Mutter Teresa ist weltweit eine allseits bekannte Ikone der Barmherzigkeit. Und man freut sich natürlich, dass in dieser heutigen Welt der brutalsten Macht, diese Frau so viel Zustimmung findet. Und man freut sich doch auch, dass sie als Beispiel der Hilfsbereitschaft hoch gelobt wird. Sie ist als Heilige in jedem Fall viel sympathischer als etwa der heilige Gründer des internationalen Geheimclubs Opus Dei, Josemaria Escriva oder der fromme Scharlatan, der heilige Pater Pio in Süditalien.

Dennoch werden sich manche Leser, kritische Leser, fragen: Kann diese Nonne tatsächlich Vorbild sein, “heiliges Vorbild”, wie die katholische Presse jetzt ständig behauptet? Kann Mutter Teresa Vorbild sein in ihrer strikten Betonung einer Leidens”mystik”, von der Martin Kämpchen in der Jesuiten-Zeitschrift “Stimmen der Zeit” (2010) berichtete: “Daraus hat sich im Orden (Mutter Teresas) eine Leidensmystik entwickelt, in deren Mittelpunkt der gekreuzigte Christus steht. Wie Christus soll der Patient (in den Häusern Mutter Teresas) seine Leiden eher ertragen, anstatt zu versuchen, sie zu mildern”.

Mutter Teresa wird etwa in hinduistischen Kreisen Indiens als die „Mother“ wie eine Göttin verehrt und in der Kirche erinnern viele Darstellungen (Mutter Teresa mit sterbendem Kind usw.) an Marien-Darstellungen, etwa an die Pietà. Gibt es nun, katholisch gesprochen, gleich zweimal „die Mutter Gottes“? Noch einmal soll der Spezialist für indische Religionen und Spiritualitäten Martin Kämpchen zitiert werden: “Im christlichen Symbolbereich nähert sie (Mutter Teresa) sich der Madonna mit dem weiten Schutzmantel an, unter dem alle Platz finden; im Hinduismus sind es die Muttergottheiten Durga und Kali, die gerade in Kalkutta besonders verehrt werden. Mutter Teresas Resolutheit läßt an die Dämonen tötende Durga denken, ihre Barmherzigkeit verbindet sich mit der gütig-milden, schenkenden Neigung von Kali”. Die Frage ist, wie stark im hinduistischen Indien heute auf die Heiligsprechung Mutter Teresas reagiert wird: Ist sie vielleicht eine gemeinsame katholisch-hinduistische Heilige, wenn nicht “Mutter-Gottheit”? Wäre dieses interreligiöse “Mischung” der Heiligen dem Vatikan sympathisch und der “Lehre” entsprechend? Wird Papst Franziskus eine “multireligiöse Heilige” nun etablieren?

Für ihn ist eine heilige Mutter Teresa die stärkste Stütze für seine theologische Lieblingsidee, die Barmherzigkeit unter allen Umständen zu fördern. Universale Barmherzigkeit ist, hier nur nebenbei gesagt, etwas anderes als universale Gerechtigkeit. Es ist eine alte Erkenntnis, dass der Arme, dem Barmherzigkeit erwiesen wird (ein Stück Brot etwa als Geschenk erhält), zunächst dankbar ist; aber immer wieder nach der viel dringenderen Gerechtigkeit schreit. Ist Gerechtigkeit für alle primär? Gewiss doch! Auch dies ist ein anderes Thema.

Es ist keine Frage, dass Mutter Teresa und die von ihr gegründeten Ordensgemeinschaften viel Gutes getan haben und tun. Eben Barmherzigkeit zeigen, so, wie sie Barmherzigkeit verstehen: Die Ordensleute leben als Arme und den Armen, was  in Indien für Ordensleute in ihren nicht gerade erbärmlichen Klöstern so selbstverständlich nicht ist. Und die Schwestern und Brüder Mutter Teresia kümmern sich um die Ärmsten, die Sterbenden, und bieten ihnen eine Art erste Hilfe an, sie kümmern sich auch um Obdachlose in Europa oder Leprakranke in Afrika. Das verdient Respekt. Keinen respekt verdient die allgemeine Abweisung von theologischer Reflexion oder die Zurückweisung, den Verbleib der  vielen Spenden freizulegen, die diese armen Nonnen erhalten…

In jedem Fall werden nach dem 4. September 2016 noch mehr (katholische) Lobeshymnen auf die „Mutter“, die Nonne Teresa, gesprochen werden. Bei einem solchen Jubelfest, das einmal mehr die Strahlkraft des Katholizismus anzeigen soll, sind kritische Fragen natürlich für die Veranstalter deplaziert, um der umfassenderen Wahrheit willen jedoch wohl notwendig. Die Veranstalter von Heiligsprechungen ließen sich durch kritische Fragen allerdings nie stören. Und kritische Studien zur “Mutter” werden a priori abgewiesen, stammen sie doch, so meint man, von Feinden der Religion…Den “Medien” gar, wie etliche Prälaten sagen. Wie manche Schemata im Denken sich doch so durchsetzen bis in neue politische Gruppierungen hinein.

Trotzdem,  in aller Kürze einige zentrale Tatsachen, die einer weiteren wissenschaftlichen Vertiefung bedürfen: Wird es eines Tages auch umfassend-kritische Studien über Mutter Teresa und ihren Orden geben und nicht nur die üblichen Heiligengeschichten? Wir fürchten bei den Verhältnissen: Eher nicht.

Tatsache ist: Mutter Teresa hat von theologischen Reflexionen niemals viel gehalten. Sie wollte nur fromm sein. Und dieses Modell einer theologiefernen Frömmigkeit hat sie ihren Ordenschwestern und Ordensbrüdern übermittelt, bis heute.

Mutter Teresa hat nie viel von medizinischen oder sozialwissenschaftlichen Kompetenzen für ihre Hilfszentren gehalten (von entsprechenden Studien für die Nonnen ganz zu schweigen).

Mutter Teresa hat angesichts des Elends der vielen Millionen Armen nicht von den gesellschaftlichen und politischen Ursachen der Armut gesprochen.

Mutter Teresa wollte nur persönlich helfen, eben nur „Barmherzigkeit” praktizieren. In persönlicher Hilfsbereitschaft sah sie als die Lösung der Probleme, nicht in politischer Aufklärung und politischer Arbeit.

Mutter Teresa hat, der Frömmigkeit des frühen 20. Jahrhunderts entsprechend, viel von Aufopferung, von persönlichem Selbstverzicht, gesprochen und diese Haltung auch total, möchte man sagen, gelebt.

Diese Selbstaufopferung als Selbstverzicht, als Verzicht auf die immer auch nötige Selbstliebe, ist wohl auch die Ursache für ihre lange dauernde tiefe seelische Erschütterung, man könnte sagen: seelische Krankheit (Depression).

Seit 2007 liegen die Tagebücher Mutter Teresa, post mortem, veröffentlicht vor. Ganz eindeutig ist: Mutter Teresa lebte über viele Jahre in tiefer spiritueller „Dunkelheit“, wie ihre Interpreten zugeben. Der Indien-Spezialist und Kenner der indischen Spiritualitäten, Martin Kämpchen, schreibt in der Jesuiten-Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ (2010): „Die Lektüre (der Tagebücher CM) belehrte mich, dass diese Dunkelheit die Ordensfrau Mutter Teresa tatsächlich fast 50 Jahre lang begleitet hat“.

Das heißt: Mutter Teresa lebte 50 Jahre, privat für sich allein, nur ihren Beichtvätern bekannt, in einem seelischen Zustand, den sie Gottesferne, ja Gottlosigkeit und Dunkelheit nannte. Ein etwas längeres Zitat: Schon am 3.9.1959 (!) notiert sie. „In meiner Seele fühle ich, dass Gott mich nicht will, dass Gott nicht wirklich existiert (Jesus, bitte vergib mir meine Gotteslästerungen – es wurde mir gesagt, ich soll alles aufschreiben). Diese Dunkelheit, die mich von allen Seiten umgibt – wofür arbeite ich? Wenn es keinen Gott gibt – wenn es keine Seele gibt, dann Jesus bist du nicht wahr. Der Himmel, welche Leere… Ich verausgabe mich selbst, doch ich bin mehr als überzeugt davon, dass das Werk nicht mein ist…Doch ich habe keinen Glauben, ich glaube nicht“ (in: Mutter Teresa, Komm sei mein Licht, Pattloch Verag, 2007, Seite 228 f). Diese Äußerungen Mutter Teresa werden von den vielen wohlwollenden Interpreten (es ist ja schwer, bei dieser heiligen Ikone, nicht rundum wohlwollend zu sein) als “dunkle Nacht” gedeutet. Damit wird Mutter Teresa eingereiht in die große mystische Tradition einer Theresa von Avila und eines Johannes vom Kreuz, auch sie sprachen ja in ihren wertvollen Büchern poetisch von ihren dunklen Nächten. Ob diese Verbindung zu den Mystikern des 16. Jahrhunderts so treffend ist, bloß weil auch Mutter Teresa ihren Zustand „dunkle Nacht“ nannte, ist fraglich. So wird Mutter Teresa jedenfalls “hoch gedeutet” und, so möchte man meinen, es wird übersehen, dass sie wahrscheinlich doch ein Burn Out, wie wir heute sagen, permanent erlebte, wenn sie nicht auch unter der Krankheit Depression litt. Das wäre selbstverständlich nicht schlimm, und es wäre für eine reife Gesellschaft auch nicht schlimm, dies öffentlich einzugestehen. Eine Krankheit ist keine Schande. Aber wenigstens den ständigen Burn Out öffentlich einzugestehen, passt der Kirche nicht; sie will ein bestimmtes Image von Mutter Teresa verbreiten. Und vor allem: Offenbar hat Mutter Teresa in all den langen Jahres ihres Burn Out bzw. ihrer Depression keine psychotherapeutische Hilfe bekommen. Psychotherapie (als “Erfindung von Sigmund Freud möglicherweise in katholischen Kreisen unbeliebt) stand offenbar außer Reichweite der Nonne Mutter Teresa. Sie wollte und musste wohl auch unter allen Umständen VORBILD sein, als eine Heilige wurde sie schon zu Lebzeiten bewertet und hoch “gespielt” möchte man sagen: Zudem: Wer unbedingt Vorbild sein will, sein muss, weil es übergeordenete Autoritäten wünschen, der bzw. die kommt schnell in psychische Verkrampfungen…

So wurde in katholischen Kreisen auch nicht über die Ursachen ihres 50 Jahre dauernden seelischen Leidens gesprochen. Auf Seite 228 in dem genannten Buch, erst post mortem pubiziert !, stehen, wie gesagt schon 1959 geschrieben, die entscheidenden Sätze Mutter Teresas: „Ich verausgabe mich…“ Und dann die Bitte, das Gebet, dass sie die ihr schon zu Lebzeiten zugewiesene Rolle der leibhaftigen Heiligen auch weiterhin erfülle: „Jesus, lass nicht zu, dass meine Seele getäuscht wird – UND LASS MICH NIEMANDEN TÄUSCHEN“.

Das heißt: Mutter Teresa wusste, dass sie auch bei ihren vielen internationalen Auftritten, bei Katholikentagen und bei den Reden zur Annahme des Friedensnobelpreises (1979), eigentlich die Leute „täuschen“ könne. Sie wusste: Ich sage öffentlich nicht das, was mein Inneres in der Tiefe wirklich bewegt. Sie sprach auch niemals über ihre möglicherweise politische Ahnung zu der himmelschreienden Ungerechtigkeit. Man darf nicht vergessen, Mutter Teresa war ja keine „dumme“ Nonne, sondern zuerst als Lehrerin und Nonne in einem vom Geist der Jesuiten geprägten Schulorden (“Loretto Schwestern”) tätig. Es gilt die Vermutung, dass Mutter Teresa als „Helferin der Sterbenden“ die unpolitische Rolle einer „Barmherzigen“ spielen musste. Solch ein “Heiligentyp”, eine absolut hilfsbereite Frau, wurde einfach in der katholischen Szene gebraucht. Wenn sie denn öffentlich “politisch wurde”, dann niemals als Kritikerin der Ursachen von Elend und Not. Etwa in Oslo, bei der Annahme des Friedensnobelpreises, sprach sie ausschließlich (!) und ständig von ihrer Kritik an der Praxis der Abtreibung in den bösen liberalen Gesellschaften. Darin folgte sie direkt ihrem großen Gönner, dem ebenfalls nun heiligen Papst Johannes Paul II. aus Polen. Und den Impulsen der Pro-Life-Bewegungen. Eine der wenigen kritischen Studien über Mutter Teresa hat der Theologe Werner Fischer verfasst, DTV 1985, jetzt, bezeichnenderweise, nur noch antiquarisch zu haben. Fischer weist darauf hin: Mutter Teresa ist Symbol für die „Inferiorität der Frauen in der Kirche (S. 177), sie war das „Ausstellungsstück konservativer Positionen“ , sie verbreitete in der Öffentlichkeit die These „Abtreibung ist schlimmer als Krieg“ (S.175). Auf das Festbankett zu ihren Ehren in Oslo 1979 verzichtete sie mit der Begründung “Ich bin nichts“! Und viele fanden diese Worte so heilig mäßig überragend und so prächtig-bewundernswert, weil sie nicht wussten: Diese Frau kann sich selbst eigentlich gar nicht lieben, sie kann sich nicht feiern lassen… Wenn sie sich öffentlich feiern ließ, dann nur als der selbst-vergessene und selbst-lose „Engel der Sterbehäuser von Kalkutta“.

Die Frage ist, ob auf diese seelische Befindlichkeit (also auch Krankheit) Mutter Teresas bei der Heiligsprechung hingewiesen wird. Dann gäbe es eine Chance, auch über die Selbstliebe als wesentlicher Form christlichen Lebens und vor allem: seelischer Gesundheit zu sprechen. Hat nicht Jesus gefordert, man solle „den Nächsten lieben WIE SICH selbst“ (Das würde ja bedeuten: Wer sich selbst nicht liebt, kann auch den anderen nicht lieben…)

Wenn Mutter Teresa hingegen als Vorbild katholischen Lebens, auch des Ordenslebens, heute hingestellt wird: Dann sagt man direkt: Leute, die sich total aufopfern, auf sich SELBST verzichten, sind heilig; Menschen, die auf Selbstliebe verzichten, sind heilig. Katholiken, die nur barmherzig und dabei total unpolitisch sind, die werden heilig. Wenn dies die Botschaft am 4. 9. 2016 wäre, dann wäre das ein großes theologisches und psychologisches Problem, vorsichtig formuiert.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.

 

300. Todestag von Leibniz: “Im Ganzen der Wirklichkeit offenbart sich die Gottheit”.

Das wird hoffentlich ein Tag der Philosophie, der Wissenschaften, der Kulturen, der Religionen: Tatsächlich in diesem hohen Anspruch, denn nur er wird dem universalen Denker gerecht: Dem großen Gottfried Wilhelm LEIBNIZ. Am 14. November und viele Tage vorher und nachher steht er – hoffentlich – im Mittelpunkt aller, die sich für die Entwicklung, ja, auch den Fortschritt der Vernunft interessieren und einsetzen: Vor 300 Jahren, am 14. November 1716, ist er in Hannover gestorben (geboren wurde er am 1. Juli 1646 in Leipzig). Der Religionsphilosophische Salon Berlin denkt schon heute an den 14. November und wird nach und nach Informationen und Fragen und Hinweise bieten. Und natürlich auch zu einem Salon-Gespräch im Umfeld des Welttages der Philosophie am 18. November einladen.