Über den “Gott der Vernunft” – in Zeiten der Krise: Interview mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn

1.
Wir wollen über den Zusammenhang nachdenken, der zwischen der persönli-chen Bindung der Menschen an Gott und der fragenden, reflektierenden Ver-nunft besteht. Und da haben viele gleich zu Beginn schon die Schwierigkeit an-gesichts der aktuellen „Coronavirus“ – Epidemie: Zeigt sich in dieser heftigen Krankheit nicht schon, dass wir mit vernünftigen Argumenten offenbar kaum verstehen können, dass diese unsere Lebens-Welt eine gute Schöpfung eines gu-ten Gottes sein soll?

Lieber Herr Modehn, Sie sprechen in ihrer Frage von der Vereinbarkeit des per-sönlichen Glaubens an Gott mit der reflektierenden Vernunft. Und bei dem Thema kann es keine kurz gefaßten, bloß “formel-hafte” knappe Antworten geben!
Wenn wir einen vernünftigen, also auf Verstehen setzenden Zugang zur Gottes-frage suchen, dann müssen wir, so denke ich auch, vom Glauben von Menschen an Gott den Ausgang nehmen. Nur wenn wir in der Frage nach Gott vom Glau-ben an ihn ausgehen, ist deutlich, dass wir nicht von einer objektiven metaphysi-schen Größe sprechen, wenn wir „Gott“ sagen. Ebenso ist dann klar, dass wir unter Gott nicht eine Ursache im naturwissenschaftlichen, physikalischen, bio-logischen oder evolutionstheoretischen Sinn verstehen, auf die der Ursprung des Universums sowie dann auch alles, was in der Welt geschieht, zurückgeführt werden könnte. Gott lässt sich nicht als Operator, auch nicht im Sinne eines Erstverursachers, einsetzen, um damit zu kausalen Erklärungen für das, was in und mit der Welt geschieht, zu kommen.

Gott ist die Referenz im Glauben von Menschen an ihn als den Ursprung des Universums, der Welt und alles dessen, was mit ihr und in ihr geschieht. Dieser Glaube, den der christliche Glaube als Glaube an Gott den Schöpfer aussagt, geht zusammen mit den Fragen nach Sinn und Bedeutung unseres eigenen Da-seins in der Unendlichkeit des Universums. Die Vernunft, sofern sie die Ideen von Gott und Welt ausbildet und nach Sinn und Zweck fragt, geht insofern wi-derspruchsfrei zusammen mit dem Schöpfungsglauben, insofern dieser gerade keine Welterklärung beansprucht, sondern auf eine religiöse Weltsinndeutung ausgeht.

Ein Konflikt tut sich nicht zwischen Vernunft und Glaube auf, sondern er ent-steht dort, wo verkannt wird, dass der Glaube es nicht mit Tatsachenbehauptun-gen und die Vernunft nicht mit Verstandeserklärungen zu tun hat. Gott, das Uni-versum, die Welt, das sind Vernunftideen, die keine Wirklichkeit beschreiben, auf die wir zeigen könnten. Mit ihnen geht es um Deutungen, die zu Aussagen über die Bedeutung und den Sinn unseres Daseins in der Welt kommen wollen.

Vernunft und Glaube vertragen sich durchaus, was jedoch nicht heißt, dass dem Glauben, der rational nachvollziehbar sein will, nicht genau dadurch auch immer wieder erhebliche Schwierigkeiten entstehen. Eine der elementarsten Schwierig-keiten ist die, die Sie, lieber Herr Modehn, ansprechen. Es ist die Frage, wie mit der Existenz Gottes, gerade dann, wenn wir ihn als Ursprung des Seins und Grund alles Sinns denken und im Glauben unser Vertrauen auf ihn setzen, zugleich die vielen Übel in der Welt, – so jetzt auch die Corona-Epidemie, ver-einbar sein können.

Wie ist mit dieser Schwierigkeit, die Theologen seit jeher sich den Kopf zerbre-chen lässt, umzugehen? Ich meine so, dass wir erstens uns eben dies noch ein-mal klarmachen: Gott ist kein verursachendes Prinzip, mit dem unser nach kau-salen Erklärungen suchender (wissenschaftlicher) Verstand arbeiten kann. Auf die Frage, „warum kann Gott das zulassen?“, gibt es keine ebenso einfache wie plausible Antwort. Zweitens führt uns diese Schwierigkeit aber auch dazu, die Transzendenz Gottes als des Urhebers von allem, streng und groß genug und d.h. ins Unendliche hinein zu denken. Gott ist als der Schöpfer von Himmels und Erde der unbedingte Grund des Universums und damit der Einheit von al-lem. Als solcher steht er aber nicht unter den Bedingungen, unter denen wir ihn denken und seine Allwirksamkeit auf die Erfahrungen, die wir mit uns selbst und mit der Welt machen, zu beziehen versuchen. Das bringen wir zum Aus-druck, wenn wir von der „Unerforschlichkeit“ der Wege Gottes sprechen oder mit Jesaja 55,8f. uns an das Gotteswort erinnern: „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege hö-her als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.“

Wenn wir also Gott mit den Übeln in dieser Welt in Zusammenhang bringen, so jetzt z.B. mit dem Corona-Virus, dann sollten wir das nicht mit dem Anspruch verbinden, eine Antwort auf die Warum-Frage zu bekommen. Das würde ja nur bedeuten, dass wir uns Gott und die Motive seines Handelns nach unseren Vor-stellungen und Erklärungsmöglichkeiten zurechtlegen. Vielfach ist man ja so verfahren und tut das manchmal heute noch. Dann wird z.B. gesagt, dass das Übel, eine Krankheit, ein Erdbeben usw. Gottes Strafe für ein sündhaftes Fehl-verhalten der Menschen seien. Das geht so aber nicht, weil es Gott unseren be-grenzten Maßstäben des Denkens und Urteilen unterwirft.

Von Gott zu reden, heißt, vom Glauben an ihn zu reden. Damit bewegen wir uns in einer religiösen Weltdeutung, die ebenso zu unserem vernünftigen Weltzu-gang gehört, aber von dem der Naturwissenschaft, des Recht, der Wirtschaft, der Kunst usw. verschieden ist. Die religiöse Weltdeutung erklärt uns die Welt nicht, aber sie öffnet uns die Augen dafür, dass die Wirklichkeit im Vorhandenen nicht aufgeht, dass wir nach dem Sinn fragen, ihn aber nie ganz zu fassen be-kommen.

Gott ist kein Prinzip, um die Welt zu erklären, sondern eine gute Idee, mit der wir Menschen unser vernunftbegabtes menschliches Leben in dieser Welt gera-de in seiner Kontingenzanfälligkeit und Unbegreiflichkeit verstehen, uns dazu verhalten können, dass wir des Insgesamt der Bedingungen unseres Daseins nicht selbst mächtig sind. Dennoch sind wir immer schon auf Verstehen ausge-richtet, auf ein Verstehen unserer selbst, ein Verstehen der Welt und unseres Da-seins in ihr. Keiner lebt einfach so dahin. Jeder hat zumindest die Möglichkeit, hin und wieder innezuhalten, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: Wo will ich eigentlich hin? Was ist der Sinn meines Lebens?

Hier hat die Gottesfrage ihren Sitz im Leben, bei der Frage nach dessen Sinn. Zur Erklärung der Welt brauchen wir Gott schon lange nicht mehr. Diese Auf-gabe haben die Wissenschaften übernommen, die, wenn sie vernünftig sind, dar-auf verzichten, hypothetisch Gott dort einzusetzen, wo eine rationale Erklärung (noch) nicht möglich ist. Auch für das Corona Virus wird ein Impfstoff gefun-den werden, mit dem dann auch die durch dieses Virus verursachte Krankheit erfolgreich bekämpft werden kann.

Was aber bleibt und seit jeher so war, das ist zum einen die Angst vor der unbe-rechenbaren Lebensgefahr, zum anderen aber auch der unerschütterliche Mut, ihr zu widerstehen. Beides resultiert aus unserer Vernunft. Die Angst kommt daher, dass wir uns unserer Begrenztheit, Endlichkeit und Kontingenzanfällig-keit bewusstwerden. Der Mut wiederum kommt aus dem Vertrauen darauf, dass das Leben seinen Sinn – trotz alles Bösen und Schlimmen, das dagegenspricht – in sich selbst trägt. Dieser „Mut zum Sein“, von dem auch Paul Tillich sprach, stellt sich der Angst entgegen und mobilisiert alle verfügbaren Kräfte, für die Förderung des allgemeinen Wohls zu arbeiten.

Dass unser Leben einen Sinn hat, ist nichts, wovon wir ein Wissen haben. Aber die Ahnung, dass es so sein könnte, kommt in uns auf, sobald wir merken, dass wir nach dem Sinn gar nicht fragen würden, wenn wir nicht schon im Sinn wä-ren und ihn mit allen unseren Sinnen, mit jedem Atemzug gleichsam, erfahren würden. Diesen Sinn, in dem wir immer schon sind und den wir doch nicht zu fassen bekommen, nennen wir Gott. Gott ist der unbegreifliche Sinn des Gan-zen, Sinngrund wie Sinnabgrund.

Wir sehen immer noch fassungslos auf das Schreckliche, das geschieht und er-schrecken vor den Übeln und dem Bösen in der Welt. Aber im Vertrauen auf Gott wird zugleich doch immer auch das andere möglich, dem Zweifel und der Verzweiflung ein trotziges Dennoch des Mutes und der Hoffnung entgegenzu-setzen.

2.
Wenn man durch vernünftige Überlegungen „trotzdem“ an der Überzeugung festhält: Diese unsere Welt ist zwar unvollkommen, aber die Frage nach Gott lässt sich nicht verdrängen, „totkriegen“, könnte man drastisch sagen: Dann müssen wohl aufgrund dieser unabweisbaren Frage „Spuren“ des Göttlichen, des Ewigen, in der Seele und der Vernunft der Menschen doch „vorhanden“ sein. Und dann bleibt die Frage richtig und sinnvoll: Bietet auch die Vernunft einen Weg, Gott wahrzunehmen und zu verehren?

Die Spuren des Göttlichen sind in uns vorhanden. Vorhanden in uns ist der gött-liche Sinngrund unseres Lebens, als Ahnung gewissermaßen. Vernünftige Ein-sicht kann uns insofern durchaus dazu bringen, auch den Gottesgedanken als vernünftig zu betrachten. Dazu können Menschen sogar dann bereit sein – und sind es häufig –, die sich als Atheisten betrachten. Auch ohne selbst an Gott zu glauben, ist es möglich, dessen wichtige Bedeutung für das menschliche Leben einzusehen. An Gott zu glauben ist demgegenüber ein existentieller Vollzug, mit dem ein Mensch bewusst sich dazu bekennt, dass er auf den Sinn des Ganzen vertraut – auch noch gegen den Augenschein und alle Erfahrung.

Vielleicht kann man es aber auch so sagen: Durch vernünftiges Nachdenken kommt man dahin, zu sagen, es ist durchaus sinnvoll, einen Gott als den unbe-greiflichen Sinn des Ganzen von Welt und Leben zu setzen, weil nur dann, wenn das Ganze überhaupt einen Sinn hat (über unser Verstehen hinaus), auch allem anderen, um das wir uns bemühen und für das wir uns einsetzen, ein Sinn zu-kommt, d.h. den Einsatz wirklich lohnt. Etwas Anderes ist es demgegenüber, dem Gott sich persönlich anzuvertrauen, von ihm alles zu erwarten (auch dann, wenn ich es nicht verstehe und mit seiner Liebe nicht zusammenbringe, wie jetzt gerade die Corona-Epidemie) – und gerade daraus die Energie zum vernünftigen Denken und Handeln zu gewinnen.

3.
Nun werden verschiedene Menschen eben auch verschiedene Begriffe und Bil-der von ihrem Gott entwickeln und darstellen. Welchen Sinn macht es dann, sich bei dieser Vielfalt zwischen „wahren“ und „falschen“ Gottesbegriffen und Got-tesbildern zu unterscheiden? Kann das Kriterium für eine Unterscheidung aus einer bestimmten Theologie stammen? Oder sollte das Kriterium nicht aus einem emphatischen Begriff der Vernunft – im Sinne der umfassenden Menschlichkeit – kommen?

Da wir Menschen es sind, die Gott setzen, Gott denken, sich Gott vorstellen, an Gott glauben, sind wir insofern immer mit unserer Individualität im Spiel. Ent-sprechend differieren die Gottesbilder. Vernünftigerweise müssen wir uns aller-dings auch klarmachen, dass Bilder von Gott Bilder von dem sind, wovon wir uns im Grunde kein Bild machen können. Bilder zeigen immer etwas im Unter-schied zu anderem, das sie nicht zeigen. Das passt insofern nicht zu Gott, mit dem wir den unbegreiflichen Sinn des Ganzen, das Unbedingten, Unendliche, das Allumfassende, Alleine meinen.

Im Wissen um die Uneigentlichkeit unseres gegenständlichen Redens von Gott kommen wir dennoch nicht umhin, dabei immer auch Vorstellungen von ihm aufzurufen. Außerdem ist es die Leistung der Religionen, Erzählungen von ih-rem Gott zu überliefern und so sein Bild im Wandel dieser Überlieferungen in dessen ganzer Vielfältigkeit zu entwerfen.

Eine vernünftige, rationale Theologie, die die religiösen Überlieferungen histo-risch-kritisch zu verstehen versucht und zudem alle Gottesbilder als menschliche Konstruktionen aus ihrem „Sitz im Leben“ heraus rekonstruiert, braucht ein transreligiöses Kriterium, um über deren „Wahrheit“ zu entscheiden. So ist es heute auch, dass wir, wie Sie richtig sagen, es nicht mehr einer bestimmten posi-tionellen Theologie überlassen, über richtig oder falsch in den Angelegenheiten von Gottesbildern zu entscheiden. Maßgeblich ist jetzt, ob sich Gottesbilder als lebensdienlich erweisen und mit dem übereinstimmen, woran sich die vernünfti-ge, d.h. universal gültige Moral der „Menschenrechte“ orientiert. Entscheidend sind ethische Kriterien, oder eben die Frage, ob es sich um einen Gott handelt, der Menschen guttut, ihrer begründeten Existenzangst zum Trotz, den „Mut zum Sein“ (Tillich) stärkt, ihnen hilft, sich „zu bejahen als bejaht“ (Tillich).

4.
Ist der lebenspraktische Ort der Vernunft des Menschen vorrangig im Gewissen zu finden? Was wahr und falsch ist, gut und böse, „spricht“ doch dort?

Wenn es um wahr oder falsch, um gut oder böse geht, ist rationale Begründung bzw. unser moralisches Urteil gefordert. Die Entscheidungsmacht fällt insofern in unsere menschliche Vernunft. Ebenso gilt für ethische Normen: Wenn sie uns nicht von außen auferlegt sind, wir insofern ihnen nur folgen, weil wir dazu ge-zwungen werden, dürften wir dies kaum als ein moralisches Verhalten bezeich-nen. Im guten Willen hat das gute und verantwortliche Tun seinen anthropologischen Ort. Im Wollen des Guten hören wir auch das Gewissen sprechen. Es sagt uns, was wir, sofern wir zu uns selbst sollen stehen können, wollen sollen. Wenn wir es dann doch nicht tun, befällt uns daher das schlechte Gewissen.

Insofern ist es richtig zu sagen, dass der praktische, die je eigene Lebenspraxis mitbestimmende Ort der Vernunft das Gewissen ist – auch wenn natürlich eben-so zu sehen ist, dass wir keineswegs ständig in ethisch relevanten Gewissensent-scheidungen stehen.

5.
Wenn im Gewissen und seiner vernünftigen Prüfung sozusagen auch Gott spricht und das Handeln bestimmt wird: Dann ist alle Ethik, die sich unmittel-bar aus dem Buch der Bibel ableiten will, doch eher an eine zweite Position zu setzen. Mit anderen Worten: Ist auch die Ethik der Christen zuerst und vor allem vernünftige, allgemein menschliche Ethik?

Ob Gott aus unserem Gewissen spricht ist noch einmal eine andere Frage. Zu-nächst einmal ist, wie gesagt, das Gewissen die Stimme unserer praktischen Vernunft. Die Stimme des Gewissens spricht auch dort, wo einem Menschen weder die vernunftgeleitete Gottesahnung aufkommt, noch gar an Gott geglaubt wird. Zu behaupten, ohne Gott gebe es keine Moral, ist unsinnig.

Lieber Herr Modehn, Sie nehmen mit ihrer Frage bezeichnenderweise auch auf das manchmal geübte Verfahren Bezug, ethische Kriterien aus der Bibel abzu-leiten. Es verweist auf diese andere Spur, die ebenfalls zur Religion gehört und der zu folgen ist, wenn wir verstehen wollen, wie die Religion zu einer bestimmten Moral führt, auf die ihre Anhänger sich verpflichtet wissen. Eine Religions-gemeinschaft lebt nie nur von der Vernunft der Religion, sondern immer auch von der Autorität Heiliger Schriften, von den darin von Gott offenbarten Ver-heißungen und Geboten.

Eine rationale Theologie, der wir hier gefolgt sind, betrachtet die der Heiligen Schrift der Christen zugehörenden Gottesgebote als moralische Intuitionen, de-ren Geltungsanspruch sich daran bemisst, inwieweit sie uns als lebensdienlich einleuchten bzw. mit den auf der Achtung vor der Menschenwürde jedes Einzel-nen aufbauenden „Menschenrechten“ übereinstimmen. Sie müssen sich als sinn-volle Normen einer für alle Menschen gültigen Ethik darstellen lassen – was zumeist aber auch möglich ist.

Copyright: Prof. Dr. Wilhelm Gräb, Theologe in Berlin und Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die heutige liberale Theologie: „Ein Appell zum Selberdenken“

Ein Interview mit dem protestantischen Theologen Wilhelm Gräb
Die Fragen stellte Christian Modehn

Sie haben kürzlich als einer der wichtigen Theologen, die die heutige „liberale Theologie“ vertreten, gesagt: „Die liberale Theologie hat es heute besonders schwer“.
Bevor ich nach den Gründen für diese Aussage frage: Was ist denn – kurz gefasst – eine heutige, moderne liberale Theologie?

Liberale Theologie denkt von der Religion der Menschen her. Sie ist die Explikation eines Denkens, das ein Sich – Befassen mit den existentiellen, letztlich auf den Sinn des Ganzen gehenden Grundfragen des Lebens ist. Liberale Theologie behauptet jedoch gerade nicht, auf diese Fragen eine abschließende Antwort zu haben. Sie beruft sich weder auf das biblische Offenbarungszeugnis, noch auf die Lehren und das Bekenntnis der Kirche. Sie appelliert an die Fähigkeit zum Selbst-Denken in Verbindung mit dem Empfinden, dass das Leben immer wieder dazu nötigt, zu fragen, was ihm Bedeutung gibt, wie ich mich selbst und mein Dasein in der Welt verstehe.
Diese Sinnfragen sind religiöse Fragen, die zur Theologie, d.h. in ein Gott-Denken führen. Nichts in dieser Welt ist von der Art, dass es nicht auch erschüttert werden und zerbrechen könnte. Auch mit der Rede von Gott und seinem Handeln in der Welt verbindet liberale Theologie dann aber nicht das Versprechen einer unerschütterlichen Sinn- und Heilsgewissheit. Genau dadurch steht sie im Gegensatz zu einer fundamentalistischen Denkungsart. Sie gibt die Vorläufigkeit, Relativität, Endlichkeit menschlichen Seins und Denkens, auch dann und dort zu, wo es sich auf Gott bezieht. Gott steht der liberalen Theologie für den Unbegreiflichen Sinn des Ganzen und der Glaube, bzw. das Vertrauen auf ihn für die menschliche Fähigkeit, diese Unbegreiflichkeit aushalten und in Lebensenergie umsetzen zu können.
Mit liberaler Theologie müssen wir keine absoluten Wahrheitsbehauptungen aufstellen, nicht unbedingt auf unserem Recht beharren. Dann können wir die Vielfalt der Meinungen und die Unterschiedlichkeit der Lebensformen wie auch der religiösen Tradition und Positionen ohne Gefahr eines Verlustes der eigenen Identität anerkennen und aushalten. Darin liegt der Freiheitsgewinn liberaler Theologie. Das macht sie allerdings auch unbequem. Sie verlässt sich nicht auf kirchliche oder staatliche Autoritäten. Sie ist kritisch gegenüber Machtansprüchen, die von dort ausgehen. Sie bietet damit allerdings auch keine absolute Sicherheit.

Was hat denn heutige liberale Theologie zu sagen, wenn Gläubige bekennen: „Jesus Christus ist der Erlöser“. Dies ist ja eine Formel, die etwa im Umfeld von Weihnachten oft gesprochen wird…

Das Bekenntnis des christlichen Glaubens, zu dem die Aussage gehört: dass von dem Menschen Jesus ein erlösender, von der Sünde befreiender, d.h. die Trennung von Gott überwindender Impuls ausgegangen ist und ausgeht, versteht liberale Theologie nicht als einen Inhalt bzw. Gegenstand des Glaubens – wie es in der kirchlichen Theologie der Fall ist. Liberale Theologie versteht die Aussagen des christlichen Bekenntnisses bzw. Dogmas als Anregung zur religiösen Selbstdeutung. Von Jesus, so sagt die liberale Theologie, kann deshalb eine erlösende Wirkung ausgehen, weil er Gott auf die Erde geholt hat. Gott, so wie Jesus ihn von Anfang an zeigt, in seinem Leben, bis hin zum Tod am Kreuz, ist nicht der machtvolle Herrschergott. Er ist die Kraft, die in den Schwachen mächtig ist. Gott ist der, der als der Abwesende anwesend ist, die ohnmächtige Macht der Liebe.
Wenn ich mich zu dem in Christus Mensch gewordenen Gott bekenne, heißt das also, dass ich mich selbst als zur Freiheit bestimmt verstehe, keiner höheren Autoritäten verpflichtet als dem Anspruch, den ich an mich selbst stelle: Nämlich ein Mensch zu sein, ein menschlicher Mensch, d.h. der „Menschheit“ in mir, also der Idee der Humanität verpflichtet. So ist Gott da, so ist er in allen da, sofern sie sich nur der Kraft bewusst werden, die in ihnen ist – und sich auf diese Kraft verstehen. Ein Kinderlied zu Weihnachten bringt diese liberaltheologische Deutung von Weihnachten gut zum Ausdruck: „Alle Jahre wieder kommt das Christuskind…“, wo es in der letzten Strophe heißt: „ist auch dir zur Seite, still und unerkannt, dass es treu dich leite an der lieben Hand“.

Auch in Ihrem neuen Buch „Vom Menschsein und der Religion“ haben Sie betont: Für eine heutige liberale Theologie ist die Verbindung der Menschen mit der grund-legenden Sinnfrage entscheidend. Da öffnen Sie einen weiten Raum, der über die dogmatische Gottesfrage hinausführt: So dass auch Menschen ihre religiöse Spiritualität wahrnehmen können, die gar nicht kirchlich sind, aber nach dem grundlegenden Sinn suchen. Ist dieses Denken nicht ein großes weites, durchaus „ökumenisches“ Angebot?

Die dogmatischen Inhalte des christlichen Glaubens sagen nichts über eine andere Wirklichkeit aus, sondern über andere Möglichkeiten des uns selbst Verstehens, was für uns unser Leben bedeutet, worin wir seinen Sinn finden und was uns darauf hoffen lässt, nicht vergeblich zu leben. Liberale Theologie zeigt diese Möglichkeit des Umgangs mit der Verschiedenheit der Konfessionen und Religionen auf. Sie weist darauf hin, dass mit und in den Konfessionen und Religionen andere Möglichkeiten unseres Selbstverständnisses gefunden werden können, und damit andere Möglichkeiten auch zu einer Deutung des Sinns unseres Lebens, dessen Unbegreiflichkeit zum Trotz.

Wäre diese theologische Weite nicht auch eine Basis für ein inter-religiöses Gespräch etwa mit Buddhisten und auch für ein Gespräch mit Humanisten, die von der Sinnfrage bewegt sind?

Natürlich, die Gegenstände bzw. Inhalte des Glaubens beschreiben ja keine objektive, unabhängig von uns Menschen, unserem Selbst- und Weltverständnis, gegebene Wirklichkeit. Die Inhalte des christlichen Glaubensbekenntnisses drücken aus, wie ein Christ sich in seinem Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt versteht. Die Lehren des Buddha tun das auf ihre Weise. Ein Humanist entfaltet heute sein Selbst – und Weltverständnis am ehesten, indem er auf Formulierungen der Menschenrechtserklärungen Bezug nimmt. Das legt sich heute auch einem Christen nahe, dem es bei manchen Aussagen des christlichen Glaubensbekenntnisses schwer fällt, diese als Ausdruck seines Selbstverständnisses zu lesen.

Nun dann doch zu der zentralen Frage: Warum wird diese große Weite liberal – theologischen Denkens heute nicht wahrgenommen, nicht geschätzt und auch „offiziell“ kirchlich nicht empfohlen und gefördert?

Den Kirchen-Institutionen geht es zumeist nicht um das Christentum, nicht um den religiösen Sinn, den das Christentum den Menschen anbietet. Den Kirchen geht es um ihre Selbsterhaltung. Die, so meinen sie, hängt an der Geltung der Lehren, Bekenntnisse und moralischen Appelle, für die sie eintreten. Diese Auffassung von kirchlicher Autorität führt dazu, dass die liberaltheologische Freiheit zum Selbst-Denken, auch in religiösen Fragen, sowie auch die Reduktion des Bekenntnisses auf einen Ausdruck menschlichen Selbstverständnisses, als Bedrohung eben dieser Autorität erscheinen. Deshalb wird diese liberal-theologische Freiheit nicht geduldet, sondern sie wird abgelehnt und als Weg in die Beliebigkeit denunziert.

Ist also die Ablehnung der heutigen liberalen Theologie auch ein Hinweis auf die tief sitzende Angst vieler Menschen, die nur Sicherheit suchen, auch hundertprozentige eindeutige Sicherheit in ihrer Religiosität?

Das wird man so sehen müssen. Nur, so denke ich, es ist den meisten Menschen bewusst, dass es keine absolute Sicherheit gibt und auch die Religion ihr Konto heillos überzieht, wenn sie diese verspricht. Worauf es doch ankommt, ist, angesichts all der Unsicherheiten und permanenter Kontingenzanfälligkeit dennoch den Lebensmut nicht zu verlieren und hoffnungsfroh bleiben zu können. Lebensmut und hoffnungsfrohe Zuversicht entstehen aber nicht aus fundamentalistischer Rechthaberei. Die macht lediglich borniert. Sie entstehen und erneuern sich immer wieder z.B. dadurch, dass Menschen sich selbst nicht nur als ein Zufallsprodukt der Natur, sondern inmitten allen Lebens, das leben will, sich als ebenso absichtsvolle wie unendlich geliebte Geschöpfe Gottes verstehen.

Sollte man als liberaler Theologie heute diese falsche Sicherheit, manche sprechen von Sicherheitswahn, kritisieren und dabei helfen, diese Mentalität zu überwinden?

Ja, gerade die Theologie sollte es als eine ihrer wichtigsten Aufgaben begreifen, deutlich zu machen, dass der religiöse Glaube keine Sicherheit schafft, sondern dazu befähigt, mit den unvermeidlichen Unsicherheiten besser, d. h. rational und zugleich mutig, die Angst ernst nehmend, aber zugleich hoffnungsstark umzugehen. Gerade im Zeitalter der ökologischen Lebensgefahr ist diese Aufgabe von der Theologie energisch wahrzunehmen. Weder eine religiös-fundamentalistische Leugnung der Gefahr hilft weiter, noch sind hysterische Panikreaktionen angebracht. Was es braucht, sind langfristig wirksame Strategien des Umbaus der Industriegesellschaft wie auch gravierende Änderungen des Konsumverhaltens. Dazu ist ein langer Atem nötig, wie er vielleicht doch am ehesten auch aus einem risikosensiblen und zur Selbstzurücknahme ermutigenden Gottvertrauen kommt.

Zum Schluss: Hat es dieser liberalen Theologie und ihren wenigen Gemeinden bzw. Kirchen an einer Emotionalität und Gemeinschaftserfahrung gefehlt? Wie lässt sich die nun einmal rationale liberale Theologie und Emotionalität versöhnen?

Es mag sein, dass dort, wo eine liberale Theologie gesucht und betrieben wird, eine Theologie, die aufs Selbst-Denken auch in den Fragen der Religion und des Glaubens ausgeht, die emotionale und affektive Dimension der Religion manchmal zu kurz kommt. Im Grund ist das aber ein Missverständnis. Denn, da es liberaler Theologie gerade nicht um die Anerkenntnis der objektiven „Wahrheit“ von Glaubensinhalten ankommt, sondern um deren das je eigene Selbstverständnis transformierende Bedeutung, zielt sie nicht nur auf den Verstand, sondern immer auch auf Herz und Gemüt. Vielleicht sind aber auch Gemeinden, die eine liberale Theologie betreiben, was die Praxis ihrer Gottesdienste anbelangt, in ästhetischen Formen gefangen, die heutige Menschen emotional nicht mehr ansprechen.

Ist die Kritik am heutigen „Niedergang“ der vom Ursprung her „liberalen Demokratie“ auch ein Thema heutiger liberaler Theologie?

Ich weiß gar nicht, ob wir vom Niedergang „liberaler Demokratien“ sprechen sollten. Der Begriff des Liberalen, so wie ich ihn jetzt in Bezug auf die liberale Theologie gebraucht habe, verträgt sich ja weder mit Parteiungen, noch beschreibt er einen Vorgang, den man historisch als irgendwann einmal gegeben oder erreicht bezeichnen könnte. Ob in der Religion oder der Politik, Liberalität beschreibt sowohl eine Haltung wie eine Aufgabe, die solange nicht erledigt sind, als es sich der Fundamentalisten und Extremisten von Rechts wie von Links zu erwehren gilt.

Sollte man vielleicht in Zukunft eher von liberal-sozial oder sozial-liberal sprechen?

Es hat in Deutschland bekanntlich mal eine „sozial-liberale Koalition“ gegeben. Das war nicht das schlechteste. Aber weil diese Bezeichnung an Parteien denken lässt, würde ich sie eher vermeiden wollen. Das Liberale ist sozial, allein schon deshalb, weil das Selbstdenken, zu dem es den Einzelnen auffordert, immer in sozialen Beziehungen verortet, kommunikativ ist und ausgerichtet auf das Wohl aller.

Zur Vertiefung wird noch einmal auf das neue Buch von Wilhelm Gräb empfehlend hingewiesen: “Vom Menschsein und der Religion”, dazu auch das einführende Interview auf dieser website!

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb, Theologe in Berlin
Und Religionsphilosophischer Salon Berlin. Veröffentlicht am 27.11.2019

“Vom Menschsein und der Religion”: Ein neues Buch von Wilhelm Gräb

WEITER DENKEN: Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb
Die Fragen stellte Christian Modehn


Ihr neues Buch „Vom Menschen und der Religion“ vermittelt eine zentrale Er-kenntnis von einer geradezu universalen Bedeutung: Jeder Mensch befasst sich auf seine Art mit der Sinnfrage, mit der Frage nach dem Sinn des eigenen Le-bens und „des Ganzen“. Und diese Sinnfrage, so schreiben Sie immer wieder in dem Buch, sollte auch der Mittelpunkt der Theologie, der christlichen Theolo-gie, sein. Das ist eine ungewöhnliche, über alles Kirchliche hinaus in die Weite des Menschlichen führende Aussage. Warum ist gerade diese in meiner Sicht „universale Basis-Theologie“, unter den Bedingungen der „Säkularisierung“ jetzt so entscheidend für Sie
?

Dass wir die Zukunft nicht bestehen und die drängenden ökonomischen und vor allem ökologischen Probleme einer stetig wachsenden Weltbevölkerung ohne weitere Fortschritte in Wissenschaft und Technik nicht werden lösen können, scheint allen klar. Auch die Kunst und die Künste gehören selbstverständlich zu den entscheidenden Möglichkeiten, die wir Menschen haben, um unsere kreati-ven Fähigkeiten in die Gestaltung einer lebensdienlichen und entwicklungsoffe-nen Welt einzubringen. Nur die Religion, die doch seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte nicht nur die Basis von Wissenschaft und Kunst war, sondern auch sich mit diesen fortschreitend entfaltet hat, erscheint vielen heute als entbehrlich. Sie wird mit den institutionalisierten Religionen und mit den Glaubens- und Morallehren der Kirchen identifiziert. Es wird die gefährliche politische Macht, die die ihre Repräsentanten durch die Berufung auf göttliche Autorität gewinnen können, angeprangert.
Viel zu wenig gesehen wird jedoch, dass die Zukunftsfragen einer das Überleben der Menschheit sichernden nachhaltigen Entwicklung eine alles entschei-dende religiöse Dimension bei sich haben. Was das Leben jedes einzelnen letzt-lich trägt, der Glaube an den Sinn des Ganzen, das hält auch die Anstrengungen in Wissenschaft und Technik, Politik, Recht und Bildung in Gang. Gerade dort, wo die Probleme immer drängender werden und globale Fehlentwicklungen, in die wir durch kollektives Versagen hineingeraten sind und die das Zutrauen in die Kräfte lebensdienlicher Zukunftsgestaltung rauben, ist das trotzige Dennoch eines religiösen Glaubens, der Inspiration, Kreativität und Gemeinsinn freisetzen sowie einen hoffungsvollen Lebensmut stärken kann, wichtiger denn je.
Doch dass Religion diese Bedeutung für unser Menschsein hat, dass sie es ist, die uns die Möglichkeiten entdecken lässt, mit denen wir über uns hinauswach-sen, weil sie größer sind als wir selbst um sie und uns in ihnen wissen, ist kaum im Blick. Die Religion ist kein öffentliches Thema in den so dringenden Debat-ten darüber, wie wir leben wollen, wie wir leben sollen, noch gar, was recht ei-gentlich ins Zentrum der Religion gehört, wie wir mit der offenkundigen Tatsa-che zurecht kommen können, dass wir des Insgesamt der Bedingungen unseres Daseins nicht mächtig sind, wir das Gelingen unserer noch so guten Absichten letztlich nie in der Hand haben.
Religion wird als Angelegenheit lediglich der hierzulande offensichtlich immer weniger werdenden „Gläubigen“, der Kirchen- und Religionsangehörigen aufge-fasst. Die anderen, die „Säkularen“, Konfessionslosen, Freigeister, Humanisten, Agnostiker geht sie nicht an. Doch in Wahrheit ist es so, dass wir alle in unserer Vorstellungkraft sehr viel ärmer werden, wenn wir das Bewusstsein von den Grenzen, die unserer Erkenntnis und unserm Wissen gesetzt sind, verkümmern lassen und die Möglichkeiten einer transzendenzoffenen, spirituellen Weltsicht und Sinneinstellung verspielen.
Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben, weil ich meine, dass es dringend an der Zeit ist, in der Religion, wir können auch sagen: Religiosität bzw. Spirituali-tät, eine Haltung dem Leben gegenüber zu sehen, aus der immer wieder neu In-spiration, Mut, Trost und Gemeinsinn erwachsen. Es verdankt sich dieses Reli-gionsverständnis den entscheidenden Impulsen protestantischer (Kultur-)-Theologie, wie sie von Friedrich Schleiermacher über Ernst Troeltsch bis zu Paul Tillich gesetzt wurden.
Ich habe der Rekonstruktion der Gegenwartsbedeutung dieser Theologietraditi-on in meinem Buch breiten Raum gegeben, stelle mich selbst in diese Tradition und führe sie fort, um – heute nun in transreligiöser und transkultureller Absicht – zu diesem anderen Reden über die Religion beizutragen. Religiös zu sein, ist eine der besten Möglichkeiten, die wir Menschen haben, um einen verlässlichen Halt in unserem je individuellen Leben zu haben und dann auch den enormen Herausforderungen begegnen zu können, vor die wir uns im Zeitalter der ökolo-gischen Lebensgefahr gestellt sehen.


Nun gibt es die bunte Vielfalt von Religionen. Diese aber sind nicht immer und nicht automatisch konstruktiv im Sinne der Menschlichkeit und des Respekts der universalen Menschenrechte. Welches Kriterium haben Sie, um humane Religi-onen von den de facto ins Inhumane abgleitenden Religionen, „Sekten“, Ideolo-gien, zu unterscheiden?

Die Religion, von der ich spreche, ist, um mit Johann Gottlieb Herder zu reden, „in aller Menschen Herz nur eine“. Sie gehört zu unserem vernunftbegabten Menschsein. Zu ihr können alle finden, die einiger Selbstachtung fähig sind. Dann merken sie, dass die schon von den Theologen der Aufklärung als „Ange-legenheit des Menschen“ entdeckte Religion eine transzendenzoffene Sinnein-stellung ist, die aus dem tröstlichen Gefühl einer Gründung unseres Ichs im Göttlichen erwächst.
Mit dem Glauben an Heilige Schriften, kirchliche Dogmen, gar einem Gehorsam religiösen Führern gegenüber hat diese Religion der Humanität, wie ich sie nen-ne, nichts zu tun. Das heißt aber nicht, dass diese Religion der Humanität nicht auch in den Religionen, wie sie als mehr oder weniger verfasste Institutionen, mit ihren Traditionen, ihren Lehren und Ritualen, Symbolen und Lebensregeln existieren, gefunden und praktiziert werden kann. Genau dies dürfte vielmehr weithin der Fall sein, schon deshalb, weil eine gesellschaftliche Kommunikation über diese Religion der Humanität noch nicht entwickelt ist. Das Anregungspo-tential, das die Heiligen Texte der Religionen, ihre Kunstschätze, ihre Theolo-gien und ethischen Reflexionen in sich bergen, ist außerdem immens. Es wäre töricht, wenn die Religion der Humanität, die ich in meinem Buch auch als eine transversalen Religion der Menschenwürde und Menschrechte beschrieben habe, ihre Inspiration nicht auch aus Quellen der großen geschichtlichen Religionen schöpfen würde.
Dennoch ist das Verhältnis der Religion der Humanität zu den religiösen Insti-tutionen, Traditionen und Gemeinschaften ein durchaus kritisches. Ich argumen-tiere entschieden gegen jede Vorweggeltung eines kirchlichen und religionsinsti-tutionellen Autoritätsanspruchs. Es ist nicht schon deshalb etwas heilig und den gläubigen Gehorsam gebietend, weil ein Klerus sich auf höhere Offenbarung, geheiligte Traditionen und göttliche Einsetzung beruft. Ob eine Religion bzw. Elemente in ihr gut oder schlecht sind, entscheidet sich daran, ob dort unsere menschliche Fähigkeit, aus freier Einsicht „glauben“ zu können gefördert wird, oder auf blinden Glaubensgehorsam verpflichtet werden.
Glauben zu können, will dann als Realisierung einer unserer besten menschli-chen Möglichkeiten verstanden sein. Wer aus freier Einsicht glaubt, tut dies im Wissen um die Unverfügbarkeit der Zukunft wie unseres Daseins überhaupt, ein Wissen, das in Glauben übergeht und das den Kern im Grunde jeder Religion darstellt.


Wichtig ist für sie der „Lebensglaube“, also die Gewissheit, dass mein und unser Leben „im letzten“ einen Sinn hat. Diesen Lebensglauben können, so sagen Sie, auch Kunst, Literatur, Film und Musik vermitteln. Aber warum, wie Sie dann schreiben (S. 318), „befriedigen diese dann doch nicht unsere Sinnbedürfnisse“?
Dieser Lebensglauben, der ein unbedingtes Vertrauen in den Sinn des Ganzen ist, muss immer wieder dem Wissen um die Unbegreiflichkeit dieses Sinns ab-gerungen werden. Sonst wäre es ja kein Glauben, kein grundloses, ins Wagende hinein sich vollziehendes Grundsinnvertrauen. Das eben macht den Unterschied wahren religiösen Glaubens von Ideologien und totalitären religiösen Lehren aus. Doch wer schafft das, so zu glauben?

Letztlich ist dieses sich auf der Grenze bewegende und das menschliche Maß wahrende Glauben, zu dem die Religion der Humanität ermutigt, eine unmögliche menschliche Möglichkeit. Das hat vernünftig Theologie seit jeher dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie vom Glauben als Gottesgeschenk sprach, als Tat Gottes, mit der dieser den Glauben in uns hervorbringt. Viele religiöse Den-ker sprechen zudem vom Glauben als einem Widerfahrnis, zu dem wir uns nicht entschließen können, sondern das an uns geschieht, so freilich, dass es nur dann für uns wirksam wird, wenn wir es annehmen und uns bewusst dazu verhalten.
Was ich an der von Ihnen zitierten Stelle von der Kunst und den Künsten sage, gilt insofern auch von der Religion. Auch sie befriedigt nicht unsere Sinnbe-dürfnisse, jedenfalls nicht so wie das gemeinhin verstanden wird, als hielte sie eine friedigende Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens bereit. So ist es gerade nicht. Dennoch erweckt die traditionelle Religion oft genau diesen Anschein, als habe sie sie verbindliche Antworten auf die großen Fragen nach dem Woher und Wohin unseres Daseins. Anders die Kunst. Ich sehe ihren Vor-zug und das, was sie für die Religion bedeutet, genau darin, wie ich an anderer Stelle sage, dass „sie die Wunde des Sinns offenhält“.
Gerhard Richter sagt es so: „Die Kunst ist die reine Verwirklichung der Religiosität, der Glaubensfähigkeit, Sehnsucht nach ,Gott‘. […] Die Fähigkeit zu glauben ist unsere erheblichste Eigenschaft, und sie wird nur durch die Kunst ange-messen verwirklicht. Wenn wir dagegen unser Glaubensbedürfnis in einer Ideo-logie stillen, richten wir nur Unheil an.“ (Notizen 1988)
Und früher schon notierte Richter, der einer der bedeutendsten Bildermacher unserer Zeit ist: „Die Kunst ist nicht Religionsersatz, sondern Religion (im Sinne des Wortes, ,Rückbindung’, ,Bindung’ an das nicht Erkennbare, Übervernünftige, Über-Seiende). Das heißt nicht, dass die Kunst der Kirche ähnlich wurde und ihre Funktion übernahm (die Erziehung, Bildung, Deutung und Sinngebung). Sondern weil die Kirche als Mittel, Transzendenz erfahrbar zu machen und Religion zu verwirklichen, nicht mehr ausreicht, ist die Kunst, als veränder-tes Mittel, einzige Vollzieherin der Religion, das heißt Religion selbst.“ (Notizen 1964-65)
Kunst ist Religion und Religion ist Kunst, ohne dass wir eine Kunstreligion erfinden müssten. Die für die Erfahrung der Kunst offene Religion ist die Religion, die zu uns unruhigen Menschen passt, weil sie unser Verlangen nach dem Vollkommenen wachhält. Sie befriedigt nicht unsere Sinnbedürfnisse, sondern hält unsere Sehnsucht nach Sinn wach – nach einem Sinn, der endlich verstanden werden kann, so dass wir vielleicht das Gefühl bekommen, doch in diese Welt zu passen, obwohl wir nie ganz in ihr zuhause sind.

Hinweis auf die Neuerscheinung: Wilhelm Gräb, Vom Menschsein und der Religion. Eine praktische Kulturtheologie. 2019.
https://www.mohrsiebeck.com/buch/vom-menschsein-und-der-religion-9783161565649

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin und Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

“Religion: Gefährlich UND unentbehrlich”. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn: 1. Zur Kultur des Gedenkens. 2. Zur Aktualität Schleiermachers. 3. Zu den Namen berühmter Kirchen, wie der “Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche”.

1.Dieser Monat November ist von vielen „großen Gedenktagen“ bestimmt. Wie können wir verhindern, dass diese vielen Tage der Erinnerung, etwa an die Pogromnacht, den schwierigen Start der Republik 1918 usw. von der oft wirkungslosen Routine der Kulturveranstaltungen überdeckt werden. Mit anderen Worten: Wie kann das eigene kritische Nach- und Vorwärts – Denken inmitten der Ge-Denktage neu bewegt wird?

Ich bedauere es jedes Jahr wieder aufs Neue, dass in den 1990er Jahren aufgrund einer Entscheidung der Regierung Kohl der 3. Oktober, der Tag des Beitritts der neuen Länder auf dem Gebiet der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, und nicht der 9. November, der Tag des Mauerfalls durch die friedliche Revolution der Menschen in der DDR, zum Feiertag erklärt wurde. Der 9. November ist das richtige Datum für einen deutschen Nationalfeiertag – wenn es einen solchen Tag überhaupt geben soll. Wenn schon, dann dieser Gedenktag, mit diesen Erinnerungen, die widersprüchlicher nicht sein könnten.

Die Novemberrevolution von 1918, die Ausrufung der Republik und dann der Unwille weiter Teile des Bürgertums, der ganz großen Mehrheit auch in den Kirchen, die junge deutsche Demokratie zu wollen! Viel zu eng war gerade in den evangelischen Landeskirchen die Bindung an die Monarchie und das landesherrliche Kirchentum. Thron und Altar gehört für die meisten Protestanten zusammen. Der 9. November gibt daher mit seiner Erinnerung an die Ausrufung der Republik in Deutschland eine Veranlassung, für die Demokratie als die beste aller Staatsformen einzutreten und sich klarzumachen, dass sie die Mitbeteiligung aller braucht, ebenso die parlamentarische Kontrolle, die Gewaltenteilung und eine freie Presse. Angesichts des weltweiten und auch bei uns aufkommenden Populismus von rechts, durch den Minderheiten für sich in Anspruch nehmen, Volkes Wille auszusprechen, sind die Stärkung des demokratischen Bewusstseins und die Aufklärung darüber, wie Demokratie funktioniert, ungemein wichtig.

Gedenktage bieten immer die Chance, nicht nur des Vergangenen zu gedenken, sondern sich zu fragen, ob wir heute nicht vor vergleichbaren Herausforderungen stehen.

Der 9. November 1938 kann nicht bei dem Entsetzen über die Judenpogrome und die Ermordung der europäischen Juden durch die Deutschen stehen bleiben. Denn wir erleben erneut Anschläge auf Synagogen und andere jüdische Einrichtungen. Ebenso schlimm finde ich die bis in die bürgerliche Mitte unserer Gesellschaft reichende Islamfeindlichkeit, wie sie sich im Widerstand gegen die Errichtung von Moschen in unseren Städten ausdrückt und in der Angst vor fremden Religionen und Kulturen, die Geflüchtete und Migranten seit langem zu uns bringen, sich zeigt. Der 9. November ist kein Tag nur der Erinnerung an den Nazi-Mob, der vor 80 Jahren die Synagogen anzündende und jüdische Geschäfte plünderte. Er ist ein Tag, der uns zur Stellungnahme herausfordert, wie es um unser Verhältnis bestellt ist zu den 5 Millionen Muslimen, die in unserem Land wohnen und arbeiten und auch zu dem glücklicherweise wieder neu aufblühenden jüdischen Leben in unseren Städten.

Gedenktage sind eine gute Gelegenheit, die Probleme anzusprechen, vor denen unser Gemeinwesen heute steht. Alle Gedenktage halten, wenn sie sinnvoll begangen werden, sich in der Widerspannung zwischen einer gefährlichen Erinnerung und einer problembewussten Erwartung. Der 9. November 1989 erinnert an die unfassliche Freude über den Fall der Mauer. Jeder, der damals dabei war, weiß, was er gerade getan hat, als ihn die Nachricht erreichte. Eine Revolution ohne Blutvergießen ist möglich! Zugleich sehen wir heute aber auch das Problem, dass viele in den neuen Ländern das Empfinden haben, nicht anerkannt, bis heute Bürger zweiter Klasse zu sein. Da ist psychologische vieles ganz schwierig. Es gibt keine einfachen Lösungen. Aber der 9. November als Tag des Gedenkens an eine friedliche Revolution in Deutschland ist eine große Ermutigung für alle, die den Glauben daran festhalten, dass Menschen, die guten Willens sind, ohne Waffen, ja ohne Androhung von Gewalt, die Welt zum Guten verändern können.

2.Auch an einen der viel zitierten und immer studierten protestantischen Theologen wird im November erinnert: An den 250. Geburtstag von Friedrich Schleiermacher am 21. November. Manche Beobachter stellen sich bei solchen immer wieder kehrenden Gedenktagen die provozierende Frage: Ist nicht auch über Schleiermacher alles gesagt? Und ist nicht das Gedenken an ihn mit entsprechenden Feierstunden, Festschriften etc. auch Ausdruck „kultureller“ Gedenk-Routine? Und vielleicht Verschleierung der Tatsache, dass man kirchlicherseits einige Aspekte seines Denkens nicht realisieren kann und will? Etwa seine aktuelle Lehre von der christlichen Gemeinde?

Schleiermacher wird von Theologen und Kirchenleitungen gern der „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“ genannt. Es gibt jetzt sogar eine Sonderbriefmarke zu Ehren seines 250.Geburtstages. Als diese im Berliner Dom vor kurzem der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, ist auch wieder an diesen angeblichen „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“ erinnert worden. Doch er wurde dies leider nicht und auch heute müsste sich in unseren Kirchen erst noch enorm viel ändern, bevor Schleiermacher seine Ideen zu einer Kirche, die in die moderne Zeit passt, auch nur einigermaßen verwirklicht sähe.

Gewiss, Schleiermacher ist seiner Zeit selbst auch Kompromisse mit der dem landesherrlichen Kirchenregiment unterstehenden preußischen Kirche eingegangen. Aber er hat sich doch mit dem König, Friedrich Wilhelm III., aufs heftigste angelegt als dieser im sog. Agendenstreit auch noch über die gottesdienstlichen Ordnungen bestimmen wollte. Schleiermachers Ideal war eine sich von unten, durch die Selbsttätigkeit der Gemeinden aufbauende Kirche, die radikale Trennung von Thron und Altar, Kirche und Staat. Er wollte eine christliche Gemeinde, die ihre Angelegenheiten selbst regelt, weil sie durch die Mitbeteiligung aller an einer Verständigung über die alle gleichermaßen betreffenden Belange des Lebens zusammengehalten wird. Die Religion gehörte für ihn essentiell zum Menschsein, weil ihm das Bewusstsein der Gottesbeziehung zugleich der Grund menschlicher Freiheit war. Den religiösen Glauben verstand er als eine unerschöpfliche Quelle der Lebenskraft, als Grund einer allen Menschen mitgegebenen Befähigung zu Autonomie, zur Selbstbestimmung in den religiösen wie in allen anderen Dingen des Daseins.

In seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ (1799), 10 Jahre nach der französischen Revolution, entwickelte Schleiermacher sein bis heute inspirierendes Kirchenideal. Er sprach von der Kirche als einer „vollkommenen Republik“, in der alle wechselseitig aufeinander wirken, Geben und Nehmen allen gleichermaßen eigen, die Unterscheidung zwischen Priestern und Laien aufgehoben ist. Eine Kirche, die dennoch nicht nur ein frommer Zirkel ist, sich nicht aus der Welt zurückzieht, sondern die „Anschauung des Universums“ betreibt, die Suche nach dem Sinn des Ganzen und unseres eigens Dasein zu ihrer Sache macht.

Es braucht Orte und Gelegenheiten in der Gesellschaft, wo wir uns über die existentiellen Fragen des eigenen Lebens und wie über das, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält, verständigen können. Dass die Kirche ein solcher Ort in der Gesellschaft sein könnte, das war Schleiermachers Traum. Ich meine seine Impulse sind aktueller denn je!

3.Im Jahr 1918 wurde das Kaiserreich in Deutschland beendet. Kaiser Wilhelm II. zog ins Exil. Er ist der Enkel von Kaiser Wilhelm I., der nun wahrhaftig nicht als Friedensfreund und Anti-Kolonialherr (bezogen auf seine Afrika-Politik) gelten kann. Warum hat die evangelische Kirche heute nicht die Courage, die nach Kaiser Wilhelm I. benannte „Gedächtniskirche“ endlich mit einem neuen, dem biblischen Glauben entsprechenden Namen auszustatten? Das gleiche gilt für die Kirchennamen „Kaiser Friedrich Gedächtniskirche“ oder „Königin Luise Gedächtniskirche“? Was soll diese offenkundige Bindung der Kirche an ihre alten Herren und Herrinnen der Staatskirche?

Was wäre gewonnen, würden diese Kirchen umbenannt in „Christuskirche“ oder „Johanneskirche“? Es würde doch die gefährliche Erinnerung, die die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche oder auch die anderen, die Sie nennen, potentiell wachhalten, um die Chance ihrer öffentlichen Aktualisierung gebracht. Es ist sicher richtig, darauf hinzuweisen, dass das zu wenig geschieht. Aber dass diese Kirchen immer noch die Namen wahrhaft unrühmlicher deutscher Kaiser und Königinnen tragen, gibt doch wenigstens die Chance, bei Gelegenheit öffentlich anzusprechen, wie gefährlich es wird und welch ruinöse Folgen es hat, wenn die Religion politisch vereinnahmt wird und die Kirche dies um eigener Vorteile willen auch noch willfährig unterstützt.

Gerade die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ist eine der wenigen Kirchen, die für weit mehr als nur kirchliche Belange stehen. Sie repräsentiert als Ruine zugleich ein Mahnmal und wird als solches durchaus wahrgenommen. Daran lässt sich anknüpfen und das riskante Verhältnis von Kirche und Staat in die öffentliche Debatte ziehen. Diese Chance würde mit einer Namensänderung vertan. Die Kirche hätte vielleicht ein besseres Gewissen, aber sie hätte sich zugleich aus der Öffentlichkeit nur noch weiter auf ein vermeintlich moralisch einwandfreies Ruhekissen zurückgezogen.

Wir hatten im Frühjahr mit dem sog. Bayrischen Kreuzerlass auch die Situation, dass die CSU sich vom Aufhängen des Kreuzes in bayrischen Amtsstuben politische Vorteile versprach. Anders als zu Zeiten der Kaiser Wilhelm I und II haben sich die Kirchen, die katholische vor allem, dagegen gewehrt. Das war sicher auch richtig so. Dennoch hätte ich mir gewünscht, dass sie nicht nur darauf bestanden hätten, dass das Kreuz ein religiöses und kein kulturelles Symbol ist, sondern sie in die Offensive gegangen wären – etwa so: Wenn ihr schon das Kreuz als Symbol unserer kulturellen Identität anerkannt wissen wollt, dann müsste das ganz massive Konsequenzen für eure Politik haben. Dann verträgt sich das überhaupt nicht damit, dass ihr gerade in Bayern diese inhumane Rhetorik gegenüber Flüchtlingen betreibt und für eine immer rigorosere Abschottung Deutschlands und Europas gegenüber Migranten eintretet.

Ich finde, angesichts der immer offenkundigeren gesellschaftlichen Randständigkeit, um nicht zu sagen Belanglosigkeit der Kirchen, sollten sie jedem Versuch eines weiteren Rückzugs auf sich selbst und ihre rein religiösen Belange widerstehen. Ihre Aufgabe ist es, die kulturelle und politische Ambivalenz der Religion, damit ihre Gefährlichkeit wie ihre Unentbehrlichkeit zum öffentlichen Thema zu machen.

copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Was kann, was sollte Europa von Afrika lernen?

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn im Juli 2018

 

  1. Sie hatten sich im Frühjahr wieder zur Vorlesungen in Südafrika aufgehalten. Je länger man dort lebt, umso größer wird sicher der Abstand zu Europa und zu Deutschland in der Hinsicht, vermute ich mal: Also, dass man sich wundert, welche Themen uns in Europa so wichtig sind und welche dann vor Ort in Afrika entscheidend sind. Ein Beispiel nur: In der europäischen Presse wird Afrika pauschal als Problemkontinent dargestellt; vieles Wertvolle wird hier wohl nicht gesehen, trotz aller politischen Korruption auch in (Süd) Afrika. Welche positiven Eindrücke sind für sie in Afrika entscheidend geworden?

Was mich jedes Mal wieder begeistert, wenn ich in Afrika bin, das ist die Lebensenergie der Menschen. Die sozialen und politischen Probleme sind ungleich größer als in Europa, aber die deprimierende Stimmung, die hier so schnell über uns kommt, kennt man dort nicht. Dass es sich um überwiegend junge Gesellschaften handelt spielt dabei gewiss eine Rolle. Aber ein ebenso großes, wenn nicht sehr viel größeres Gewicht kommt einem eigentümlichen Merkmal afrikanischer Kultur zu.

Verallgemeinerungen sind immer schwierig, auch hier. Dennoch kann man sagen, dass die afrikanische Kultur kommunal und sogar kosmologisch in ein größeres Ganzes einbindet. Der einzelne fühlt sich immer als lebendiger und unverzichtbarer Teil einer Gemeinschaft und mit dieser in das Universum seiner sozialen Welt eingebunden. Das meint ja der zentrale Begriff „Ubuntu“. Blicken wir auf die ökonomischen Erfolgsbedingungen, so hat diese kulturelle Formation, die im südlichen Afrika mit dem Xhosa-Wort „Ubuntu“ beschrieben wird, natürlich auch Nachteile. Aber wir schrecken inzwischen ja doch eher davor zurück, unser Modell sozio-ökonomischer Entwicklung, das nach wie vor auf Wachstum und Profitsteigerung ausgelegt ist, als nachhaltig und zukunftsfähig auszugeben.

Demgegenüber stellt die Sinneinstellung, die es macht, dass der einzelne sich als ein unverzichtbares Element im großen Ganzen eines sozialen Organismus versteht, ein attraktives Element afrikanischer Kultur dar. Aus dieser Sinneinstellung entspringen ein unwahrscheinliche Lebensfreude und ein ungebrochener Lebensmut. Es liegt mir fern, die sozialen und erst recht die politischen Verhältnisse in den Ländern Afrikas zu romantisieren. Die Probleme, vor denen sie stehen, sind riesig und die politischen Eliten sind weithin korrupt. Aber ich kann von diesen Problemen keine Erwähnung machen, ohne zugleich zu betonen, dass die Staatsgrenzen überall in Afrika von den Kolonialmächten hinterlassen wurden. Die künstlich geschaffenen politischen Einheiten umschließen in einem Land wie Nigeria über hundert verschiedene Ethnien und Sprachen. Insofern kommt es eher einem Wunder gleich, als dass es Anlass sein kann, mit besorgter Miene auf Afrikas zu blicken, wie viel doch zusammenspielt, wie viel unternehmerischer Geist am Werk ist, wie lebendig die Kunstszene und die Musikkultur in allen Ländern Afrikas ist. Wenn es nur noch besser gelänge, Good Leadership and Good Governance – wovon in den Medien im südlichen Afrika permanent die Rede ist, weil das Wissen da ist, dass es das am dringendsten braucht – entstehen zu lassen, dann bräuchte niemand um die Zukunft Afrikas besorgt zu sein.

 

  1. Gelingt es den so vielfältigen, auch in kirchlicher Lehre und Liturgie unterschiedlichen Kirchen in Afrika einen gewissen Zusammenhalt und gemeinsame Praxis zu finden? Falls es da noch Probleme gibt, sind diese eher theologischer oder eher politisch – sozialer Prägung?

Die Kirchen stellen in nahezu allen Ländern Afrikas (südlich der Sahara) einen enorm wichtigen Faktor im öffentlichen Leben dar, allein schon deshalb, weil ihnen die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung angehört, in den Ländern des südlichen Afrika sind es fast 90 %, in den Ländern West- und Ostafrikas ist demgegenüber auch der Islam relativ stark vertreten, was bekanntlich immer wieder auch zu religiös aufgeladenen, gewaltsamen Konflikten führt.

Was den Zusammenhalt und die Zusammenarbeit der Kirchen anbelangt, so suchen die Kirchenleitungen sie energisch, aber ihre Bemühungen werden von der Basis kaum mitgetragen. Hier zeigt sich eine Kehrseite der „Ubuntu“-Kultur. Sie stärkt enorm die Bindungskräfte in der Social Community, auch die in der eigenen Kirchengemeinschaft. Sie setzt aber kaum Bridging-Forces frei. Die „Ubuntu“-Kultur trägt kaum dazu bei, die Markierungen zwischen den Kirchen zu überbrücken. Und diese Markierungen werden nach wie vor durch die sozialen und kulturellen Unterschiede (wozu die überkommenen Race-Issues gehören) als durch theologische gezogen. Auch die liturgischen Differenzen, die Stile der gottesdienstlichen Feiern, sind höchst unterschiedlich, spiegeln dabei aber die sozialen und kulturellen Zugehörigkeiten.

Das macht für mich immer noch eine der besonders enttäuschenden Erfahrungen in Südafrika aus, dass die südafrikanische Gesellschaft nie mehr so sehr getrennt ist, wie sonntagmorgens zwischen 10 und 11 Uhr, also zu den Zeiten der unterschiedlichen Gottesdienste.

 

  1. In Südafrika halten sich auch viele Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Staaten auf. Auch da, so hört man in Europa, gibt es Probleme: Die „reichen“ Südafrikaner wollen nicht mit den ärmeren Leuten aus Zimbabwe usw. teilen. Gibt es auch Projekte des Miteinanders von Südafrikanern und „anderen“ Afrikanern? Könnten die für deutsche Flüchtlingsarbeit interessant sein, man spricht ja so viel von inter-kulturellem Austausch….

Es gab vor drei Jahre gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Einheimischen und Wirtschaftsmigranten aus den ärmeren Ländern im nördlichen Sub-Sahara-Afrika. Aber in Südafrika hat man daraufhin nicht angefangen Grenzzäune zu errichten und eine Politik der Abschottung zu betreiben. Im Gegenteil die südafrikanische Regierung legte einen National Action Plan vor, zu dem auch der Kampf gegen Racism and Xenophobia gehört: www.opengovpartnership.org/documents/south-africas-third-national-action-plan-2016-2018

Die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten ist politisch gewollt und wird von den Kirchen tatkräftig unterstützt. De facto sind es die Kirchen, vor allem die African Initiated Churches und die pentekostalen Kirchen, in denen die Geflüchteten und Migranten Aufnahme finden. Staatliche Sozialhilfe gibt es für sie nicht. In den Kirchen finden sie Anschluss, sodass sie nicht ins Bodenlose fallen.

Wenn ich gegenwärtig das Gerede verfolge, das sich nur noch darum dreht, wie Europa seine Außengrenzen schützen und die wenigen, die es noch schaffen durchzukommen, wieder auf offene Meer hinaustreiben kann, nötigt mir der Umgang mit Geflüchteten und Migranten in Südafrika eher Bewunderung ab. Natürlich gibt es an der Basis harte soziale Verteilungskämpfe. Aber die Politik dort scheint mir nie zu vergessen, dass es um Menschen geht, die in Not sind.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

“Was die Seele eines Menschen gesunden lässt.” Weiterdenken. Von Prof. Wilhelm Gräb

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb im Februar 2018.

Die Fragen stellte Christian Modehn, Berlin.

Theologisches Denken ist sicher immer auch ortsbezogen. Immer mehr Menschen leben in Berlin, die Stadt wächst. Und mit dem Wachstum haben viele Bewohner auch ihre Probleme, man beachte die Knappheit und den hohen Preis von Wohnraum. Es gibt hier Auseinandersetzungen mit rassistischen Dimensionen. Zudem zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, dass sehr viele Menschen das Leben in Berlin auch seelisch als sehr belastend empfinden. Da stellt sich für Theologen und Pfarrer die Frage: Welche neuen Formen der Begleitung und Hilfe für Menschen in Berlin sind wichtig? Ich möchte das alte klassische Wort der Seelsorge aufgreifen und Sie fragen: Wie sollte Seelsorge heute durch Christen, durch Pfarrerinnen und Pfarrer angemessen gestaltet werden?

Die Herausforderungen, vor denen die christliche Seelsorge im heutigen Berlin steht, sind enorm. Auf der einen Seite nehmen die Probleme, die den Menschen auf der Seele liegen, immer weiter zu. Zumindest empfinden viele ihre Lage als schwierig, angesichts all dessen, was Sie gerade angesprochen haben. Und vieles mehr wäre noch zu nennen, was für eine zunehmende Zahl von Menschen den Eindruck verstärkt, sie seien abgehängt und würden schlicht übersehen. Auf der anderen Seite haben die Kirchen kaum noch eine tragfähige soziale Basis. Eine immer weiter dahinschwindende Minderheit der Berliner Bevölkerung gehört einer der beiden großen Kirchen an (Stand 2017: 16% Evangelisch; 9% Katholisch). Von einem relevanten Beitrag der kirchlichen Seelsorge zur Grundversorgung in therapeutischer Lebenshilfe kann da eigentlich kaum noch die Rede sein.

Nehmen wir die religiöse Situation in Berlin in den Blick, so sind allerdings auch die vielen christlichen, aber auch muslimischen und anderen Religionsgemeinschaften verbundenen Migrantengemeinden zu erwähnen, die für viele Menschen eine enorm wichtige seelsorgerliche Aufgabe wahrnehmen. Ich denke, wir müssen es uns überhaupt abgewöhnen, was die Präsenz des Christentums und der Religionen in Berlin anbelangt, nur an die Mitglieder der Ev. Landeskirche und des katholischen Bistums zu denken. Die religiöse Landschaft ist viel bunter als gemeinhin bekannt. Erst recht erscheint sie in ihrer ganzen Vielfalt, wenn wir auch noch denjenigen, die keiner organisierten Religionsgemeinschaft angehören, nicht pauschal die Religionslosigkeit bescheinigen.

Wenn nun aber die Frage die ist, wie in einer solchen urbanen Situation christliche Seelsorge angemessen geschehen kann, dann wird dies eine Seelsorge sein müssen, die sich wirklich um die Seele sorgt, die jedes einzelnen Menschen. Es sollte ihr darum gehen, das zu tun, was die Seele eines Menschen gesunden lässt. Das bedeutet, für andere da zu sein, sie zu stärken, damit sie ihr Leben besser bewältigen, mit den oft schwierigen inneren und äußeren Umständen besser zurecht zu kommen. Weder sollten religiöse Zugehörigkeiten oder Nicht-Zugehörigkeiten eine Rolle spielen, noch gar der Zweck verfolgt werden, eine Glaubensbotschaft auszurichten oder Menschen für die eigenen Glaubensgemeinschaft gewinnen zu wollen.

Eine Seelsorge, die sich wirklich um die Seele sorgt, hilft Menschen, dass sie zu sich und zueinander finden. Sie lässt sie erfahren, dass sie anerkannt, wertgeschätzt, geliebt sind. Sie sorgt für eine Atmosphäre des gegenseitigen Respekts, auch noch in Situationen kultureller oder religiöser Fremdheit.

Wenn man sagt, eine „Kernaufgabe“ der Kirche ist die Begleitung von Menschen, Seelsorge genannt. Dann ergibt sich die Frage: Was muss besser werden, dass Pfarrerinnen und Pfarrer wirklich als kompetente gebildete Seelsorger wahrgenommen werden. Sollte etwa die psychologische Ausbildung innerhalb der Theologiestudien also eine viel größere Rolle spielen?

Ich bin gar nicht so sehr dafür, sofort in andere Disziplinen auszuweichen. Die Theologie kann, wenn sie sinnvoll betrieben wird, enorm hilfreich sein für eine gute Seelsorge. Dann versetzt sie nämlich in eine kritische Distanz zum eigenen Glauben, zu den eigenen Einstellungen zum und Vorstellungen vom Leben. Dann macht sie fähig, sich in den Referenzrahmen anderer Menschen hineinzuversetzen.

Die Theologie ist ja eine hermeneutische Wissenschaft. Auch wenn sie die Kunst des Verstehen überwiegend auf Texte, und dabei auf vielfach sehr fremde und schwer verständliche Texte anwendet, so sind dies doch Fähigkeiten, die auch im Umgang mit Menschen und den „Texten“, die ihr Leben sind, sich als sehr brauchbar erweisen.

Ich plädiere also für eine Theologie, die Daseinshermeneutik und Religionshermeneutik betreibt. Sie schafft die besten Voraussetzungen dafür, Menschen in ihren Lebenslagen verstehen und ihnen zu einem hilfreichen Begleiter in den sie herausfordernden Lebensfragen werden zu können.

3.Neue Formen der Seelsorge brauchen vielleicht auch neue Orte der Seelsorge: Ins Gemeindehaus finden wenige, es ist diese berühmte „Schwellenangst“, die suchende und fragende Menschen hindert, in „Gemeindebüros“ zu gehen. Sollte sich das Modell der offenen Gesprächssalons, etwa in Galerien oder Kneipen, in Berlin nicht viel stärker durchsetzen: Also die Kirche verlässt ihre übliche „Binnenräume“ und ist zum Gespräch mit allen Menschen bereit.

Zur Kirche, zu den Pfarrern und Pfarrerinnen, kommt schon lange kaum noch jemand, wenn etwas auf der Seele lastet. Das Amt allein trägt die Seelsorge nicht mehr. Es ist die Person des Pfarrers, der Pfarrerin, die, ausgestattet mit seelsorglicher Gesprächskompetenz, dort den seelsorglichen Kontakt zu Menschen finden, wo dieser sich zwanglos ergibt. Das eben geschieht bei Gelegenheit, bei zufälligen Begegnungen, im Supermarkt und in der S-Bahn. Wichtig ist die persönliche Beziehung, ein Vertrauensverhältnis. Dass die Kirche aus sich herausgehen muss, will sie den Kontakt zu den Menschen finden, ist klar. Angesichts der Vielfalt der Lebenswelten, kulturellen Milieus und sozialen Zugehörigkeiten, ist das heute eine ganz besondere Herausforderung. Die Pfarrer und Pfarrerinnen können ihr selbstverständlich nur partiell begegnen. Seelsorge geschieht aber glücklicherweise immer dann, wenn Menschen bereit sind, aufeinander zu hören, sich in den anderen einzufühlen, die andere in dem zu verstehen, was sie bedrückt und womit sie alleine nicht fertig wird. Die Seelsorge ist tief eingelassen in unsere zwischenmenschlichen Beziehungsverhältnisse. Das zu wissen, kann den professionell in der Seelsorge Tätigen die Angst vor Überforderung nehmen. Es kann sie ebenso dazu ermutigen, sich für das seelsorgerliche Gespräch offen zu halten, wo immer es sich in den alltäglichen Zusammenhängen und Begegnungen ergibt.

Mit den Menschen das Leben zu teilen, selbst dort zu sein, wo es geschieht, im Glück wie in der Not, schafft die besten Voraussetzungen für eine gute Seelsorge, auch im scheinbar so unkirchlichen, urbanen Berlin.

copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Wo bleiben die Emotionen in den Kirchen Deutschlands? Zugleich ein Hinweis auf Weihnachten!

Ein neuer Beitrag der Reihe “Weiterdenken”: Drei Fragen an den Theologen Prof.  Wilhelm Gräb, Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn

1. Sie haben sich kürzlich zu Studien in Ghana aufgehalten und dort auch die zahlreichen und lebendigen Pfingstgemeinen kennen gelernt und deren Profil untersucht. Emotionen, Gefühle, körperlicher Ausdruck im Gottesdienst sind dort selbstverständlich. Ohne ein Klischee zu verbreiten: Liegt das daran, dass die Menschen in Ghana ohnehin kulturell immer viel mehr Wert auf emotionalen Ausdruck legen? Oder ist es auch der christliche Glaube selbst, der sich bei diesen Christen in Afrika eben nicht auf „karge“ Worte und begrifflich feine Predigten begrenzen lässt?

Ja, die Emotionen spielen in der afrikanischen Kultur und ganz besonders in afrikanischen Pfingstgemeinden, wie ich sie besucht habe, ein große Rolle. Das ist auch schon vielfach beschrieben worden. Pfingstgemeinden, auch hierzulande, zeigen eine stärkere emotionale Beteiligung, mit Zwischenrufen, erhobenen Händen, spontanen Gebeten und einer mitreißenden Musik.

Ich frage mich jedoch, ob die Unterscheidung emotional/rational die Sache trifft. Die Predigten, die ich in den Gottesdiensten einiger Pfingstkirchen in Ghana gehört habe, waren weniger durch Emotionalität als vielmehr durch eine sehr direkte Ansprache und ein sehr konkretes Eingehen auf praktische Probleme des täglichen Lebens gekennzeichnet. Gewiss, ich habe auch exaltierte Lobpreisgesänge erlebt, unverständliches Zungenreden und redundante Beschwörungen des Jesus-Namens. Wenn ich anschließend mit den Predigern sprach, dann konnten sie jedoch ganz nüchtern davon reden, dass ihre Gottesdienste auf genau diese Weise innere Beteiligung schaffen und ein intensives Gemeinschaftserleben hervorrufen.

In diesen Gottesdienste geschieht, dass sich den einzelnen mitteilt: Du bist gemeint, die göttliche Botschaft gilt dir, du gehörst mit allen anderen, die jetzt hier sind, zu einer großen christlichen Gemeinschaft. Ihr seid untereinander und mit dem Herrn Jesus verbundenen. Dies alles kraft des Heiligen Geistes, der jeden einzelnen von euch und die ganze Gemeinde mit seiner Energie erfüllt und antreibt. So auch die theologische Erklärung, die die charismatischen Prediger mir für die uns fremd erscheinende Art, Gottesdienst zu feiern, gaben.

Es gilt der Vorrang der Erfahrung vor der Reflexion, vielleicht muss man auch sagen, des Emotionalen vor dem Rationalen. Aber, was bedeutet das?

Inzwischen gibt es auch bei uns Anstrengungen, die Emotionen als ein Vermögen zur Erkenntnis und Bewältigung von Wirklichkeit neu in den Blick zu nehmen. In der Psychologie betreibt man Emotionsforschung. Es werden neue Wege zu einer Philosophie und auch einer Theologie der Gefühle beschritten. Es wird zwar bestritten, dass es besondere religiöse Gefühle gibt. Dennoch hat auch ein energisches Nachdenken über den Zusammenhang von Religion und Emotion begonnen – unter dem Vorzeichen allerdings der Rationalität der Emotionen. Die Emotion wird nicht gegen die Rationalität gestellt, sondern als eine eigene Form der Rationalität ausgewiesen. Sie gilt als eine spezifische und unverzichtbare Weise unseres Zugangs zur Wirklichkeit.

Unsere Emotionen machen es, dass wir uns bestimmten Gegenständen gegenüber auf präreflexive Weise angemessen verhalten, etwa, indem wir besonders vorsichtig werden, sobald wir eine Schlange sich im Gestrüpp bewegen sehen. Gefühle erschließen uns unmittelbar die Zustände unseres Daseins, obwohl diese durch wechselnde innere und äußere Umstände vermittelt sind. Gefühle machen es, dass wir vor Angst erstarren oder von Freude erfüllt sind, dass wir unser Glück kaum fassen können oder der Schmerz uns zu Boden drückt.

Unsere Emotionen sind es, die uns ganz bei einer Sache und zugleich ganz bei uns selbst sein lassen. Deshalb lebt in ihnen auch die Religion. Sie kommen in uns auf, dort wo wir vom Göttlichen ergriffen und zugleich in uns selbst vertieft werden.

Die vernünftige Rechenschaftsgabe folgt nach. Das ist dann die Reflexion auf solche Erfahrung des Ergriffenseins. Sie wird in den Pfingstkirchen im Anschluss an die Erzählung des ersten Pfingsten in Apostelgeschichte 2 eine Geisterfahrung genannt und auf diese Weise auch biblisch-theologisch begründet.

Entscheidend für mich war jedoch, zu sehen, welche Begeisterung der Gottesdienst in Menschen wecken kann. Das ist das eine. Das andere, was mich noch stärker beeindruckt hat, war, dass sich die religiöse Begeisterung in diesen Menschen in ein Engagement umsetzt, aus dem heraus sie unter den schwierigsten ökonomischen und politischen Bedingungen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, sie als einzelne den beruflichen Erfolg suchen und als Gemeinde ein soziales Netz zur gegenseitigen Unterstützung knüpfen. Der christliche Glaube wirkt hier als energische Lebenskraft.

2. Das führt uns zu der Frage: Warum sind eigentlich die meisten Gottesdienste in Deutschland, ja in Europa vielleicht insgesamt, so verkopft und damit oft so wenig bewegend, also langweilig? Das Kloster Taizé wird ja als einzige Ausnahme ständig zitiert… Ist der christliche Glaube also hier mehr Doktrin als eine emotionale Lebenshaltung? Könnte man hier also einiges von Ghana “lernen”?

Ich weiß gar nicht, ob unsere Gottesdienste so verkopft sind. Sie pflegen einen anderen Stil der Kommunikation und der ästhetischen Darstellung. Das muss auch so sein, wollen sie die Menschen in unserem kulturellen Kontext erreichen und emotional einbeziehen. Die Emotionen spielen aber auch in unseren Gottesdiensten eine ganz entscheidende Rolle, weil es nur so zu innerer Beteiligung, zu eigenem Dabeisein und zum Erleben von Gemeinschaft kommt.

Eine Predigt, die einen biblischen Text so auslegt, so, dass deutlich wird, was er uns über die Gegenwart Gottes in der Welt und in unserem eigenen Leben zu verstehen gibt, wird ihre Hörer doch nur dann erreichen, wenn sie sich zugleich innerlich angesprochen fühlen. Der gedankliche Nachvollzug der Rede muss begleitet sein davon, dass ich auch emotional ergriffen werde. Deshalb sind auch ästhetische Kategorien zur Beurteilung einer Predigt ganz angemessen. Dass eine Predigt schön war und sie mir gut getan hat, ist zugleich ihr höchstes Lob.

Was so von der Predigt gilt, gilt natürlich erst recht für die übrigen Elemente des Gottesdienstes, dass sie uns emotional ansprechen müssen, wenn wir uns durch sie zum Leben ermutigt und zu neuer Hoffnung angestiftet finden wollen.

In erster Linie schafft das natürlich die Musik, in unseren Kulturzusammenhängen am ehesten die Musik Johann Sebastian Bachs. Gerade jetzt wieder in der Advents- und Weihnachtszeit. Was wäre diese Zeit ohne die Musik Bachs oder Händels? Es ist diese Musik, die die Botschaft von der Geburt des göttlichen Kindes auch heute vielen, der Kirche ansonsten entfremdeten Menschen in die Seele schreibt, sodass sie etwas vom Glück der Gotteskindschaft empfinden.

Weihnachten überhaupt, dass dies ein solch mächtiges Fest ist, erklärt sich nicht aus Kommerz und Konsum allein, auch nicht daraus, dass die Familie zusammenkommt – was oft ja auch viele Probleme schafft. Die ungebrochene Attraktivität von Weihnachten, so meine ich, besteht darin, etwas von dem Wunder spüren, fühlen, erahnen zu können, dass es einen vollkommenen Neuanfang, doch noch ein Glücken der Menschheitsgeschichte geben könnte: Frieden auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen. Wie das sollte wirklich werden können, wird kein Verstand erfassen. Aber kaum jemand kann sich dem Gefühl entziehen, dass genau dahin doch aller Menschen Sehnsucht geht.

3.Der von Ihnen sehr erforschte Theologe Friedrich Schleiermacher sprach vom Gefühl, wenn er die Bindung des Menschen an die göttliche Wirklichkeit ansprach. Was meinte er eigentlich mit Gefühl, und warum ist dieses Gefühl im Sinne Schleiermachers offenbar so unbeachtet und im Allgemeinen als Kirchenpraxis verloren gegangen?

Schleiermacher war der Theologe, der die Bedeutung des Gefühls für die Religion erkannt hat. Dies aber genau deshalb, weil er als Theologe auf die grundlegende anthropo-theologische Bedeutung des Gefühls gestoßen ist. Er hat zunächst das Gefühl im Singular von den Gefühlen bzw. Emotionen im Plural unterschieden. Das Gefühl im Singular war für ihn gleichbedeutend der prä-reflexiven, also unmittelbaren Selbstbeziehung. Er konnte statt vom Gefühl auch vom „unmittelbaren Selbstbewusstsein“ sprechen. Was er damit meinte, war die Erfahrung von Präsenz, dessen, dass mir mein Dasein in der Welt gegenwärtig ist, erschlossen in seinem unbedingten Sinn.

Das, so Schleiermachers Theologie, ist zugleich die Gegenwart Gottes in der Welt. Gott ist da, sobald ich den ersten Atemzug tue und die Augen aufschlage. Er ist mir näher als ich mir selbst nahe kommen kann. Er ist das Licht, in dem ich sehe und die Luft, in der ich atme. Nicht zu sehen, nicht gegenständlich vorzubringen, aber da, als die Kraft, die mich überhaupt erst zu mir selbst und in die Welt bringt.

Suchen wir nach der Erfahrung, in der uns diese Präsenz Gottes in der Welt aufgeht, dann, so Schleiermacher, finden wir sie in unserem Selbstgefühl. Jeder Mensch, davon war er überzeugt, kann diese Erfahrung machen, aus einer nicht reflexiv erzeugten, sondern unmittelbar aufkommenden Selbstvertrautheit zu leben. Sie ist die Quelle unseres Lebensmutes. Benennen wir ihr „Woher“, so Schleiermacher, dann ist es angemessen, von Gott zu reden. An ihn wenden wir uns besonders dann, wenn der Lebensmut auf brüchigem Lebensgelände zu schwinden droht. Er ist das „Woher“ dessen, dass wir die uns zur Präsenz kommende Lebensenergie dennoch fühlen, dann aber auch auf den Höhen des Glücks und in den ganz alltäglichen Dingen.

Beweisen lässt sich diese Gottespräsenz nicht, auch niemandem mit noch so guten Argumenten andemonstrieren. Aber jeder, der einiger Selbstbeobachtung fähig ist, kennt doch dieses Selbstgefühl, eine jeden Selbstreflexion immer schon vorauslaufende Vertrautheit mit sich. Mit ihr ist Gott da, im Leben eines jeden Menschen, da als Kraft, die jeden und jede zu sich und zur Welt bringt.

Kinder leben diese Selbstvertrautheit und den Lebensmut, der aus ihr erwächst, ohne sie reflexiv zu brechen. Später müssen wir sie mühsam immer wieder zu erneuern versuchen, um angesichts all des Absurden und Schrecklichen, das diese Welt durchzieht und uns zerreißt, nicht ins Elend zu fallen.

Doch wiederum, deshalb ist Weihnachten ein so mächtiges Fest: Im Anblick des göttlichen Kindes und im Hören auf die Botschaft der Engel über den Feldern Bethlehems kann sich uns das Gefühl der Selbstvertrautheit und des aus ihr erwachsenden Lebens- und Hoffnungsmutes immer wieder erneuern. Dieses Gefühl entspringt unserer Geborgenheit im Göttlichen. Und es streckt sich aus, hinein in unsere Sehnsucht nach Frieden auf Erden und einem allen Menschen verheißenen Wohlgefallen.

Ob dieses Gefühl der Verbundenheit mit dem Göttlichen in der allgemeinen Kirchenpraxis zu wenig angesprochen wird, vermag ich gar nicht recht zu beurteilen. Ich jedenfalls kann mir eine pastorale kirchliche Praxis, vor allem die der Gottesdienste und Predigten, ohne die Absicht, genau dieses Gefühl anzusprechen, überhaupt nicht vorstellen. Ich setzte dieses Gefühl in jedem voraus und für mich hat alle religiöse Mitteilung nur dann einen Sinn, wenn es in ihr darum geht, Menschen tiefer über dieses Gefühl, das in ihnen ist, zu verständigen.

Darum jedenfalls sollte es m.E. in jedem Gottesdienst gehen, und ganz besonders an Weihnachten, darum, dass wir – alle Jahre wieder – die Geburt des Gottes auf dem Grund der eigenen Seele fühlen.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin